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1. Was ist Pragmatik?

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Die Pragmatik ist eine Teildisziplin der Linguistik, die sich seit ihrer akademischen Etablierung – etwa mit der Gründung der Zeitschrift Journal of Pragmatics (1977), Levinsons wegweisender Einführung Pragmatics (1983) und der Gründung der International Pragmatics Association (1986) – zu einer großen und einflussreichen Forschungsrichtung entwickelt hat. Vom raschen Anwachsen der Pragmatik zeugen z.B. Neuerscheinungen wie The Pragmatics Encyclopedia, herausgegeben von Louise Cummings (2010), The Cambridge Handbook of Pragmatics, herausgegeben von Keith Allan und Kasia M. Jaszczolt (2012), die neunbändige Reihe Handbooks of Pragmatics (2010–2013), herausgegeben von Wolfram Bublitz, Andreas H. Jucker und Klaus P. Schneider, sowie The Oxford Dictionary of Pragmatics (2012) und The Oxford Handbook of Pragmatics (2015), beide herausgegeben von Yan Huang. Hinzu kommen neuere pragmatische Zeitschriften, z.B. Intercultural Pragmatics (seit 2004), International Review of Pragmatics (seit 2008) und Pragmatics & Society (seit 2010).

Gegenstand

Was ist der Gegenstand dieser wachsenden und einflussreichen Forschungsrichtung? Unser Ausgangspunkt in diesem Buch ist, dass die Pragmatik sich mit dem Hervorbringen und dem Verstehen von Bedeutung im Kontext beschäftigt. Was damit gemeint ist, lässt sich an Beispielen wie (1)–(3) illustrieren.

(1) Sie war’s nicht; sie auch nicht; ich glaube, es war sie.

Die Bedeutung der Äußerung (1) ist ohne die Kenntnis des situativen Kontexts nicht angebbar. Wir wissen nicht, wer zu wem spricht, auf wen mit sie jeweils Bezug genommen wird, und was es ist, das diese Personen (nicht) getan haben. Die wörtliche Bedeutung der Äußerung ist also stark unterbestimmt. Im Kontext einer Gegenüberstellung der Zeugin Anna mit potentiellen Einbrecherinnen können wir dagegen die Äußerung problemlos verstehen. Das pragmatische Teilgebiet, das sich mit der Bedeutung von Ausdrücken beschäftigt, die nur im Kontext eine Bedeutung erhalten können, ist die Deixis.

In Beispielen wie (2) gehört zur Bestimmung der Äußerungsbedeutung Kenntnis des vorangehenden sprachlichen Kontexts. Die Äußerung von Karl erhält ihren Sinn nur vor dem Hintergrund der Äußerung von Anna.

(2) Anna: Komm, lass uns heute Abend ins Kino gehen.

Karl: Ich muss für eine Prüfung lernen.

Karl will ja nicht einfach mitteilen, dass er für eine Prüfung lernen muss. Vielmehr gibt Karl mit dieser Äußerung indirekt zu verstehen, dass er Annas Vorschlag ablehnt. Das Beispiel zeigt, dass wir mit Äußerungen Handlungen vollziehen: Wir schlagen etwas vor, wir teilen etwas mit, wir lehnen etwas ab. Das kann auf direkte, explizite Weise geschehen oder auf indirekte Weise. Die Untersuchung von Sprechhandlungen, oder Sprechakten, ist eine zentrale Aufgabe der Pragmatik.

Auch in (3) ist der Kontext für die Bestimmung der Äußerungsbedeutung wichtig. Dabei ist es weniger der situative Kontext wie in (1) oder der sprachliche Kontext wie in (2), sondern vielmehr ein Wissenskontext, d.h. unser Welt- oder Alltagswissen, das wir bei der Interpretation heranziehen.

(3) Anna ging in die Kneipe und trank ein Bier.

Wir verstehen (3) so, dass zwei Ereignisse berichtet werden, die nacheinander stattfinden. Das ist aber in der wörtlichen Bedeutung von (3) nicht so vorgegeben. Vielmehr bedeutet der Konnektor und wörtlich nur, dass zwei Ereignisse verknüpft werden, ohne dabei eine Reihenfolge vorzugeben. Unsere Interpretation, dass Anna erst in die Kneipe ging und dann dort ein Bier trank, geht also über das wörtlich Gesagte hinaus. Dabei spielt ein Kommunikationsprinzip eine wichtige Rolle, das uns sagt, dass wir Ereignisse normalerweise als so geordnet begreifen, wie sie uns berichtet werden. Mit solchen Prinzipien beschäftigt sich die pragmatische Teiltheorie der Implikaturen.

Neben der Pragmatik interessiert sich auch noch eine andere linguistische Teiltheorie für Bedeutung: die Semantik. Während die Pragmatik die kontextabhängigen Aspekte von Bedeutung untersucht, beschäftigt sich die Semantik mit der kontextunabhängigen – oder wörtlichen – Bedeutung.

Satz vs. Äußerung

Eine wichtige Unterscheidung zwischen Pragmatik und Semantik betrifft die zu untersuchende linguistische Grundeinheit: Die Pragmatik untersucht die Bedeutung von Äußerungen, die Semantik dagegen die Bedeutung von Sätzen. Sätze sind abstrakte Einheiten, die mit Hilfe sprachsystematischer Regeln erzeugt werden. Ihre Bedeutung lässt sich auf Grundlage der Bedeutung ihrer Einzelteile (der Wörter) und deren syntaktischer Anordnung kontextfrei „berechnen“. Äußerungen sind dagegen konkrete Realisierungen von Sätzen durch Sprecherinnen oder Sprecher in bestimmten Äußerungssituationen zu bestimmten Zwecken. Die Bedeutung von Äußerungen lässt sich somit immer nur unter Hinzunahme von kontextuellem Wissen bestimmen.

Kontext

Der Begriff des Kontexts ist ein zentraler Grundbegriff der Pragmatik. Oben haben wir bereits gesehen, dass man mindestens drei Aspekte des Kontexts unterscheiden kann: Den situativen Kontext, der Eigenschaften wie die raumzeitliche Situierung oder die anwesenden Personen betrifft, den sprachlichen Kontext (auch Ko-Text genannt), der die eine Äußerung umgebenden Äußerungen umfasst, und den generellen Wissenskontext, das Hintergrund- oder Weltwissen, vor dem Sprecherinnen und Hörer eine Äußerung einordnen.

Wahrheitsbedingungen

Um semantische und pragmatische Aspekte von Bedeutung unterscheiden zu können, ist neben dem Begriff des Kontexts der Begriff der Wahrheitsbedingungen zentral. In formalen Theorien zur Satzsemantik geht man davon aus, dass die Bedeutung eines Satzes seine Wahrheitsbedingungen sind. Dahinter steht die Einsicht, dass jemand, der die Bedeutung eines Satzes kennt, auch weiß, unter welchen Bedingungen (oder in welchen Situationen) dieser Satz wahr ist. Zum Beispiel wissen wir, dass der Satz Anna trinkt Bier in allen Situationen wahr ist, in denen Anna Bier trinkt. Wenn wir die Bedeutung des Satzes kennen, können wir also in Bezug auf eine konkrete Situation beurteilen, ob der Satz in dieser Situation wahr oder falsch ist. In einer Situation, in der Anna Bier trinkt, wäre der Satz wahr. Dagegen wäre er falsch in einer Situation, in der Anna Limo trinkt. Dies kann man sich für eine Bedeutungstheorie zunutze machen: Wenn ich die Wahrheitsbedingungen eines Satzes angeben kann, dann habe ich zugleich seine (kontextunabhängige) Bedeutung erfasst.

Pragmatik vs. Semantik

Vor diesem Hintergrund kann man den Gegenstand der Pragmatik in Abgrenzung zur Semantik mit Gazdar (1979: 2) auf folgende Formel bringen:

(4) Pragmatics = Meaning – Truth conditions

Für die Bedeutungsaspekte, die durch die Wahrheitsbedingungen abgedeckt sind, wäre demnach die (Satz-)Semantik zuständig, für die übrigen Bedeutungsaspekte die Pragmatik.

Die bisher skizzierte Auffassung von Pragmatik ist allerdings keineswegs die einzige, die in der Forschung vertreten wird. Manche Pragmatiker fassen den Gegenstandsbereich sehr viel weiter, etwa so, dass Pragmatik sich mit all jenen Aspekten der Sprache beschäftigt, die nicht im engeren Sinn zur Grammatik dieser Sprache gehören. (Bar-Hillel (1971) hat deshalb auch von einem „pragmatic wastebasket“ gesprochen.) Aus einer solchen Perspektive ist Pragmatik die Wissenschaft vom Sprachgebrauch. Diese Sicht kann man zurückführen auf Arbeiten von Charles Morris aus den 1930er Jahren, der zusammen mit Charles Peirce als einer der Gründerväter der Pragmatik gelten kann. Morris (1938: 6–7) hat unter Einfluss von Peirce eine Dreiteilung aus zeichentheoretischer Sicht vorgenommen, nach der die Syntax sich mit den formalen Beziehungen zwischen Zeichen beschäftigt, die Semantik mit der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, und die Pragmatik mit der Beziehung zwischen Zeichen und ihren Interpreten, also den Sprachbenutzern.

anglo-amerikanische vs. europäisch-kontinentale Schule

In der gegenwärtigen pragmatischen Forschung lassen sich nach Huang (2007: 4) zwei Schulen unterscheiden, die anglo-amerikanische und die europäisch-kontinentale Schule. Die anglo-amerikanische Schule vertritt einen eher engen Pragmatikbegriff, der in etwa dem eingangs erläuterten entspricht. Die europäisch-kontinentale Schule vertritt einen eher weiten Pragmatikbegriff, der stärker an Morris anknüpft. Nach Verschueren (1999: 7), einem Vertreter eines solchen weiteren Pragmatikbegriffs, lässt sich Pragmatik als funktionale Perspektive auf Sprache begreifen, die auch kognitive, soziale und kulturelle Aspekte einschließt:

„Pragmatics constitutes a general functional (i.e. cognitive, social and cultural) perspective on linguistic phenomena in relation to their usage in the form of behavior.“

Während die anglo-amerikanische Schule die Pragmatik als Komponente einer Theorie der Sprache betrachtet, die neben anderen Komponenten oder Teildisziplinen wie der Phonologie, der Morphologie, der Syntax oder der Semantik steht, vertreten Anhängereines europäisch-kontinentalen Pragmatikbegriffs die Sichtweise, dass Pragmatik quer zu diesen Teildisziplinen steht, indem sie eine funktionale Perspektive auf diese eröffnet. Zu beachten ist dabei, dass die Rede von den beiden „Schulen“ nur grob auf zwei wichtige Traditionen abzielt. Es ist klar, dass damit nicht die ganze Bandbreite dessen abgedeckt wird, was Pragmatikerinnen und Pragmatiker tun. Zugleich ist damit keine geographische Festlegung impliziert. Genau wie es Vertreter einer „europäisch-kontinentalen“ Pragmatik in den USA oder England gibt, gibt es auch Vertreter einer „anglo-amerikanischen“ Pragmatik in Italien oder Frankreich.

Definitionsproblem

Das Grundproblem einer einheitlichen Definition von Pragmatik ist nach Levinson (1983: 9), dass Pragmatik sowohl die kontextabhängigen Aspekte sprachlicher Bedeutung untersuchen soll, also eng an die sprachlichen Strukturen selbst anknüpft, als auch generellere Prinzipien des Sprachgebrauchs aufdecken will, die relativ unabhängig von konkreten sprachlichen Strukturen sind. Um dem Dilemma zu entgehen, wurden Versuche gemacht, den Gegenstandsbereich der Pragmatik durch Aufzählung der Kernbereiche zu umreißen. So zählt z.B. Levinson (1983) Deixis, Implikatur, Präsupposition, Sprechakte und Konversationsstruktur zu den Kernbereichen der Pragmatik. (Huang (2007), ein Levinson-Schüler, zählt dagegen die Konversationsstruktur nicht dazu.) Umgekehrt klammert Levinson damit aber Themenbereiche wie kontrastive Pragmatik, interkulturelle Pragmatik oder historische Pragmatik als Gegenstände der Pragmatik aus. Auch das Handbuch von Horn/Ward (Eds.) (2004) zählt Deixis, Implikatur, Präsupposition und Sprechakte zur Domain of Pragmatics, außerdem Referenz und Definitheit/Indefinitheit. Es ist aber klar, dass solche Listen unbefriedigend bleiben, solange man keine konzeptuelle Definition von Pragmatik hat, die diese Kernbereiche verbindet und von anderen abgrenzt. Ariel (2010) fordert daher, einen kriterienbasierten Pragmatikbegriff zu erarbeiten. Als zentrales Kriterium setzt sie das Kriterium von Code versus Inferenz an: Alle Bedeutungen, die kodiert, also konventionell mit einem bestimmten sprachlichen Ausdruck verknüpft sind, sind nach Ariel unter grammatischem Aspekt zu behandeln. Alle Bedeutungen, für deren Verstehen Kommunikationsteilnehmer auf kontextuelle Inferenzen, also Schlussprozesse zurückgreifen müssen, sind unter pragmatischem Aspekt zu behandeln.

Inhalt des Buches

In diesem Buch werden wir uns nicht auf die eine oder andere Sichtweise von Pragmatik festlegen. Vielmehr geht es darum, einen Einblick in zentrale Forschungsfragen und -felder der Pragmatik zu geben und mit Hilfe von anschaulichen, auf die deutschen Fakten zugeschnittenen Beispielen und Übungsaufgaben zu eigenen pragmatischen Analysen anzuregen. Um das Buch kohärent zu gestalten, nehme ich die eingangs gegebene Definition als Bezugspunkt. Im Übrigen möchte ich hier Levinsons (1983: 6) Einsicht folgen: Um herauszufinden, was Pragmatikerinnen und Pragmatiker eigentlich so machen, ist es hier wie in jeder anderen Disziplin: „One must go and take a look.“

Zunächst stelle ich fünf zentrale Kernbereiche der Pragmatik vor: Sprechakte, Implikatur, Präsupposition, Deixis und Anapher. Ein Exkurs zu neueren Entwicklungen der Implikaturentheorie ergänzt diesen Teil. Im Mittelpunkt des Buches stehen die Interaktionen (Schnittstellen) zwischen der Pragmatik und anderen linguistischen Teildisziplinen. Beleuchtet werden die Schnittstellen zwischen Pragmatik und Lexikon, Morphologie, Syntax, Semantik, Prosodie und Sprachwandel. Der Schnittstellen-Zugang reflektiert aktuelle Forschungsansätze und ermöglicht es, die Vielzahl von Ebenen herauszuarbeiten, auf denen Pragmatik wirksam ist. Im letzten Teil des Buches werden Gegenstandsbereiche besprochen, die stärker auch diskursive, soziale und kulturelle Aspekte berücksichtigen, nämlich die Gesprächsanalyse und die kontrastive und interkulturelle Pragmatik. Im Kapitel zur experimentellen Pragmatik wird anhand von ausgewählten experimentellen Studien ein Einblick in neuere empirische Methoden der Pragmatik im Bereich des Spracherwerbs und des Sprachverstehens gegeben.

Dank

Für wertvolle Kommentare zu früheren Fassungen der einzelnen Kapitel möchte ich Jörg Meibauer herzlich danken. Verbleibende Irrtümer gehen selbstverständlich auf meine Kappe.

Einführung in die Pragmatik

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