Читать книгу Tod in der Viamala - Rita Juon - Страница 6

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1975

Der Wind pfiff ihm um die Ohren. So früh am Morgen war es empfindlich kalt, obschon der Sommer bereits in den Startlöchern war. Doch das kümmerte Angelo nicht. Erwartungsvoll und glücklich bretterte er auf seinem dunkelrot glänzenden Moped nach Süden.

Bereits nach wenigen Minuten hatte er sein Ziel erreicht. Er hatte Thusis verlassen, den unberechenbaren Wildbach Nolla auf der eleganten Brücke überquert und war am nördlichen Ausgang der Viamalaschlucht angelangt. Jetzt parkierte er sein Gefährt beim Maschinenhaus der Kraftwerke und stieg vorsichtig ab, um die Angelrute, die er zwischen dem Sitz und seinem Hintern eingeklemmt hatte, nicht auf den Boden fallen zu lassen. Er schloss das Mofa sorgfältig ab – man konnte nie wissen – und löste sein weiteres Gepäck vom Gepäckträger: eine Dose mit Würmern, einen Eimer für seine Beute, ein Bier und ein Butterbrot.

Auch ohne Fahrtwind war es hier kühl. Die Schlucht mit den mehrere hundert Meter hohen Felswänden hielt die Kälte des Winters bis weit in den Sommer hinein fest. Beim Kraftwerk standen die Felswände zwar nicht mehr so nah beieinander wie weiter südlich, aber richtig heiss wurde es hier nie. Diese Stelle des Hinterrheins kam Angelos Vorstellungen vom Paradies sehr nahe. Der Fluss bewegte sich hier ungezähmt über blank geschliffene Steine und kleine Sandbänke, seine Farbe ein aussergewöhnlich intensives Grün. Angelo schien es, als würde sich das Wasser freuen, aus der dunklen Viamala entkommen zu sein und dem Sonnenlicht entgegen zu fliessen.

Sein Weg war der entgegengesetzte, er folgte dem Hinterrhein aufwärts in die Schlucht hinein. Grosse Felsbrocken durchsetzten das Bachbett, dazwischen wechselten sich ruhige Becken und sprudelnde Wirbel ab. Wäre er eine Forelle, würde er zweifellos hier leben wollen.

Plötzlich durchzuckte ihn ein Bauchkrampf. Merda! Die Erdbeeren. Es war in jedem Frühsommer dasselbe. Sobald sie ihn in der Auslage vor dem kleinen italienischen Laden in Thusis anlachten, verdrängte er erfolgreich die Erinnerung daran, dass er sie nicht vertrug. Er kaufte sich ein Pfund oder lieber noch ein Kilo, damit sie auch für seine Frau und seine kleine Tochter reichten. Das Verzehren war der reine Genuss, nur die Gegenwart zählte, jeder Gedanke an früher oder später war ein Verbrechen. Bis sich die Folgen wenige Stunden später einstellten, zuverlässig wie die Rhätische Bahn.

Bauchkrämpfe. Durchfall.

Zum Glück gab es am Flussufer nicht nur Steine, sondern auch Büsche, und in diese verschwand Angelo blitzartig. Immerhin befand er sich an einem Platz mit überwältigender Aussicht auf das Bachbett, und der Luftzug aus der Viamala sorgte erst noch dafür, dass sich der Gestank Richtung Thusis verzog.

Aber was war denn das? Dort kauerte jemand am Ufer. Angelo kniff die Augen zusammen. Ganz klar, da hockte ein Mann. Bestimmt ein anderer Fischer, porca miseria! Jetzt war er gezwungen, viel weiter in die Schlucht hineinzugehen, und womöglich schnappte ihm dieser stronzo die Fische vor der Nase weg.

Angelo erhob sich eiligst und zog seine Hose hoch. Jetzt holte der andere mit einem Stein aus. Madonna, der musste einen riesigen Fisch gefangen haben, wenn er so viel Schwung brauchte! Das wollte sich Angelo nicht entgehen lassen. Er trat aus den Büschen heraus, als der Stein niedersauste.

Er landete nicht auf dem Kopf einer Forelle. Eine Forelle trug keinen olivgrünen Pullover. Der Mann war auch kein Fischer. Derjenige mit dem olivgrünen Pullover war ein Fischer gewesen, als er noch lebte. Jetzt lag er tot im Wasser, ertrunken oder erschlagen oder beides. Vielleicht war er doppelt tot. Der andere Mann lebte, er trug einen rostroten Pullover, der, der kein Fischer war. Sondern ein Mörder.

Sosehr er sich auch bemühte, Angelo bekam seine wirren Gedanken nicht auf die Reihe. Wie gelähmt stand er da, nur ein, zwei Dutzend Meter vom Geschehen entfernt. Er ahnte, dass er nicht hier sein sollte, war aber nicht in der Lage, sich zu bewegen und schleunigst wieder in den Büschen zu verschwinden.

Jetzt war es zu spät. Der Mörder hatte sich aufgerichtet und sich rasch nach allen Seiten umgeschaut. Angelo wurde womöglich noch eine Spur blasser, als er ihn erkannte. Und gewiss war er grün im Gesicht, als der andere ihn entdeckte und nun mit Riesenschritten zu ihm eilte und ihn am Kragen packte.

Angelo hatte schon immer geahnt, wie sich eine Maus fühlt, wenn sie erkennt, dass sie der Katze nicht mehr entkommen kann. In diesem Augenblick, als er kaum Luft bekam, die italienischen Flüche des Mannes hörte und im Augenwinkel eine Klinge dicht an seinem Gesicht erkannte, glaubte er es zu wissen.

«Schwöre beim Leben deiner Tochter, dass du keinem erzählen wirst, was du gesehen hast», zischte der andere.

«Ich schwöre es», flüsterte Angelo.

«Giuro sulla testa di mia figlia! Los, sag schon!»

Angelo räusperte sich, schluckte. Dio Cristo, lass mich in meinem Bett erwachen!, dachte er verzweifelt.

Die Klinge blitzte vor seinen Augen auf. «Giuro sulla testa di mia figlia», beeilte er sich zu sagen. «Ich werde keinem davon erzählen, ich schwöre es beim Leben meiner Tochter!»

Schwer atmend standen sie sich gegenüber, die Nasenspitzen nur eine Handbreit voneinander entfernt, Angelo auf den Zehen, weil der andere noch immer seinen Kragen umklammerte.

«Hau ab!», zischte er nach einer gefühlten Ewigkeit, als er Angelo von sich stiess. Dieser raffte seine Angelausrüstung zusammen und rannte, so schnell es das unwegsame Ufer zuliess, zurück zu seinem Moped.

Tod in der Viamala

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