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Noth Gottes
Оглавление2. Seligenstädter Krimi
von
Rita R. Schönig
Ein Regionalkrimi mit urigen Charakteren einer historischen Kleinstadt gepaart mit einer Menge Humor. Die Handlung ist frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Teile des gesprochenen Textes sind im Seligenstädter Dialekt verfasst und deswegen, die Grammatik betreffend, nicht regelkonform.
Impressum
Texte © Copyright by
Rita R. Schönig
Bildmaterialien © Copyright by
Rita R. Schönig
buch@rita-schoenig.de
August 2016
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-7427-7192-6
Überarbeitet 2021.
Seligenstädter Ausdrücke:
Babbeldasch Frau, die tratscht
Blätzje Keks, Plätzchen
Dabbes, Dilldobb tollpatschiger Mensch
derrabbelisch schlank – fast mager
Dorschenonner Durcheinander
Dreggsack schlimmer Mensch
Dreggwatz schmutziger Zeitgenosse
Flitzebooche gespannter Pfeil
Gassehocker sich auf der Straße Herumtreibender
gefezzt gestritten
Gegiggel albernes Kichern
Gelurt neugierig beobachten, lauern
Kreuderlikeer Kräuterlikör
Kabbesbabbeler Unsinn Redender
Kokolores Blödsinn/ Unsinn
Lulatsch langer Mensch
Pienzje leicht eingeschnappter Mensch
Simpel einfältiger Mensch
Schoiheilisch scheinheilig
Schnuud Mund
verklickern erklären
Wiwwel nervöser Mensch
Zores Streit
NOTH GOTTES
Fragmente dämmerten an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Entsprechend nahm das Hämmern in ihrem Kopf zu. Die Party - Dominik – Ben und Marco - Jana – auch Natascha - Corinna, Tanja und Selina. Lisa kannte sie alle. Dennoch kamen sie ihr, an diesem Abend, vor wie Fremde. Ob es an dem Wein lag, von dem sie zu viel getrunken hatte. Sie hatte Alkohol noch nie gut vertragen.
Eine unvergessliche Nacht, hatte Dom ihr versprochen. Jetzt konnte sie sich kaum erinnern. Nur, dass sie dachte, sie würden schweben; leicht wie ein Schmetterling, mal durch gleißendes, dann wieder durch getrübtes Licht. Mal kamen ihr die Farben so intensiv leuchtend vor, dass ihre Augen wehtaten oder geheimnisvoll schimmernd, nahezu nur zu erahnen.
Noch nie zuvor in ihrem Leben fühlte sie sich so voller Leben und zügelloser Erregtheit. Ihre distanzierte Zurückhaltung war wie weggeblasen. Jeder berührte jeden und vergnügte sich ungeniert, bis …?
Das Fieber, das ihren Körper in feurige Erregung versetzt hatte, war verflogen. Stattdessen überzogen Schauer ihre Haut. Die Stille um sie herum wirkte beängstigend und unwirklich. Scheinbar bleierne Gewichte lagen auf ihren Augen. Hals und Nacken schmerzten und ihre Arme und Beine fühlten sich an wie gelähmt. Auch rebellierte ihr Magen.
Mit enormer Anstrengung versuchte sie ihre Augenlider ein wenig zu öffnen. Ein fahles Licht zuckte durch die Dunkelheit. Wo bin ich? Wo ist Dominik? Die SMS, so wichtig. Warum antwortest du nicht? Wo bist du? Marie. Der Mörder unserer Eltern – endlich gefunden.
Blasse, verschwommene Gesichter, ohne jede Regung, blickten sie auf sie herab.
Keine echten Menschen. Eine Malerei an der Decke.
Mit größter Mühe gelang es Lisa, ihren Kopf anzuheben, in dem sich alles drehte. Flackernde Kerzen, hinter Gitterstäben. Weiße Nelken in einer Vase auf dem Boden und dahinter, auf einem Sockel zwischen Säulen, stand ein schmächtiger Mann mit schulterlangen Haaren. Seine Augen waren geschlossen. Dennoch drückte sein Gesicht endloses Leid aus.
Ich kenne diesen Ort. Aber wie komme ich hierher? Und weshalb?
Ein Schatten beugte sich über sie. Den Einstich in ihren Hals bemerkte sie kaum. Das Erbärmbildnis auf dem Holzaltar verblasste, und schließlich löste sich NOTH GOTTES KAPELLE komplett auf.
Donnerstag, 27. August 2015 – 8:30 Uhr
„Helene, hast du des gelese?“ Herbert tippte mit dem Zeigefinger auf den Artikel der wöchentlichen Ausgabe der regionalen Zeitung. „Jetzt randaliern die schon wieder auf dem Friedhof, genau wie vor zwei Jahrn.“
„Ach Herrje. Diese Vandalen. Was treibt die Kerle nur an, den Toten die Ruhe zu nehmen?“
Helene beugte sich über Herberts Schulter und rezitierte murmelnd:
„Erneut Vandalismus auf dem alten städtischen Friedhof. Noch unbekannte Täter verwüsten mal wieder verschiedene Grabstätten. Gestecke und Blumenschalen werden von den Gräbern gefegt und Laternen aus ihren Verankerungen gerissen und zerschlagen. Sachdienliche Hinweise nimmt die örtliche Polizeidienststelle dankbar entgegen.“
„Und die Polizei tappt mal wieder im Dunkeln. Genau wie vor zwei Jahrn. Da wurde die Jungspunde auch nur durch Kommissar Zufall erwischt.“
Helene tätschelte kurz Herberts Arm. „Die Polizei kann nicht auch noch jede Nacht auf dem Friedhof patrouillieren.“
„Ja warum denn net? Und wenn ich des schon wieder hör‘. Sachdienliche Hinweise nimmt die örtliche Polizeidienststelle gerne entgegen. Ja, von wem denn? Von den Toten? Oder solle wir, die Angehörigen, uns nachts auf dem Friedhof rumtreibe und dene Kerle des Handwerk lege?“
Nachdenklich presste Helene die Lippen zusammen und Herbert warf ihr einen mehr als skeptischen Blick zu.
„Wenn ich denke, was du grad denkst, dann denk net mal dran. Ich sag nur Nicole et cetera pp. Also, schlag dir des Mal ganz schnell aus em Kopp.“
Helene zuckte nur mit den Schultern und ihre Kopfbewegung diente erst recht nicht dazu diesen Gedanken aus ihrem Gehirn zu katapultieren. Nach wie vor war sie davon überzeugt, dass sie beide letztlich zur Lösung der Mordfälle vor zwei Jahren beigetragen hatten. Daran hatte Nicoles Gardinenpredigt – sie hätten massiv die Ermittlungen der Kriminalpolizei behindert – auch nichts geändert. Wenn Herbert diesen gewissenlosen Anwalt nicht Schachmatt gesetzt und ihm das Tagebuch hätte entwenden können wer weiß, ob die Wahrheit jemals ans Licht gekommen wäre.
Zweifellos wäre es besser gewesen, das Beweismittel sofort an Nicole Wegener, die leitende Kriminalhauptkommissarin, auszuhändigen und sich, genauso wie Sepp, Schorsch und Gundel enormen Ärger erspart. Hätte, hätte. – Schnee von gestern.
„DAS war ja wohl etwas ganz etwas anderes. Hierbei“, Helene klopfte energisch, ebenfalls mit ihrem Zeigefinger auf die Zeitung, „geht es um Zivilcourage und wahrscheinlich nur wieder um ein paar Jugendliche, die keinen Respekt vor der Totenruhe haben…“
„…und womöglich unter Alkoholeinfluss und Drogen stehe“, vollendete Herbert ihren Satz. „Ergo – Kriminelle.“
„Ach was.“ Angekratzt wedelte Helene mit der Hand. „Die werden nur kriminell, wenn sie so weiter machen.“
„Und du willst des verhindern, indem du dene nachts auf em Friedhof auflauerst?“
„Warum nicht? Wir können uns eine oder auch zwei Nächte um die Ohren schlagen. Wir haben die Zeit!“ Und du die Ausrüstung, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Hm. Die ewige Dankbarkeit der Bursche ist dir gewiss, wenn se wegen dir in de Knast komme.“
„Wehret den Anfängen“, beharrte Helene stur. „Außerdem bekämen die Randalierer womöglich nur eine Strafe auf Bewährung, wenn sie sich vorher noch nichts haben zuschulden kommen lassen. Und wenn die Burschen unter achtzehn Jahre sind, dann drohen ihnen bestenfalls einige Sozialstunden.“
„Na, du musst es ja wisse. Bei dir wohnt ja auch eine gewisse Nicole Wegener, ihres Zeichens Kriminalbeamtin“, brummte Herbert.
„Na, was ist jetzt?“ Helene stützte ihre Hände auf den Tisch. Sie fixierte ihren Lebensgefährten mit ihren großen blauen Augen und die Haut um ihre Nase kräuselte sich. Ein unverkennbares Zeichen, dass es ihr Ernst war.
„Und, wie stellst du dir des vor?“, fragte Herbert scheinbar gleichgültig. Er schielte über seine Lesebrille hinweg. Gleichwohl spürte auch er dieses Kribbeln im Bauch, ähnlich wie damals, als er und Helene aus dem Offenbacher Polizeipräsidium entwischt waren, um diesen kriminellen Rechtsanwalt an der Flucht zu hindern.
„Du willst tatsächlich nachts hinter einem Grabstein sitze und auf die Kerle lauern?“, erkundigte er sich nochmals.
„Ja“, nickte Helene. „Aber mit Kameras, von wegen der visuellen Beweise.“
„Und wie soll des funktioniern? Du weißt, dass der Friedhof drei Eingänge hat. Wir sind nur zu zweit. Die könnte da reinkomme, wo wir uns net grad unseren Allerwertesten plattsitze.“
„Ich sag nur, mobile Erfassung, genau wie das die Polizei bei den Verkehrskontrollen macht“, tönte Helene aufgekratzt. „Du bist doch unser Technikgenie und kennst dich mit dem ganzen elektronischen Kram aus. Lass dir etwas einfallen. Bestimmt hast du was Passendes in deiner James-Bond-Agenten-Schatzkammer, oder?“
„Schon“, grinste Herbert. „Trotzdem sind wir noch immer nur zu zweit. Es sei denn du hast en Liebhaber im Schrank versteckt?“
„Liebhaber? Wie kommst du jetzt ausgerechnet auf so eine Idee?“ Helene schmunzelte. „Bist du etwa eifersüchtig?“
„Und ob.“
Helene stand auf und packte die übergebliebenen Brötchen vom Frühstück in eine Tüte. Dann ging sie um den Tisch herum und drückte Herbert einen Kuss auf den Mund. „Döspaddel.“
„Hm, du schmeckst nach Himbeermarmelade.“ Er fuhr mit der Zunge über seine Lippen und kicherte. „Wenn uns jetzt jemand sehen könnt. Ich komm mir manchmal vor, wie en Teenager.“
„Und das in unserem Alter. Schande über uns.“ Helene lachte.
„Heißt es nicht, auch die Herbstsonne kann noch wärmen?“ Herbert drückte ihr ebenso einen Schmatzer auf die Backe.
„Obwohl mir anfangs schon e bissje die Muffe ginge. Net wegen dir und schon gar net wegen den anderen Drei, dem Sepp, dem Schorsch oder der Gundel. Die war und is mir schon dreimal egal. Ehrlich gesagt ging mir die Flatter wegen Nicole. Hätt net gedacht, dass des Mädche so cool is, wie mer heut so sagt.“
„Ja, sie ist schon ein prima Deern.“ Helene seufzte: „Deshalb habe ich auch ein richtig schlechtes Gewissen. Wir haben uns und sie ist noch immer alleine.“
„Meinst du sie fühlt sich ausgeschlosse?“
Helene zuckte mit den Schultern. „Wenn, dann lässt sie es sich nicht anmerken. Früher schaute sie zuerst bei mir rein; naja eigentlich war ich es, die in der Tür stand, wenn sie nach Hause kam. Jetzt ist sie immer ganz schnell in ihrer Wohnung verschwunden, wenn sie wirklich mal vor elf heimkommt.“
„Ja, vielleicht sollte wir uns wirklich mehr um des Kind kümmern. Wir könnte mal wieder schön zusamme esse, was meinst de?“
„Ich denke gerade an unseren gemeinsamen Urlaub in diesem tibetischen Schulungszentrum“, sagte Helene versonnen, „kurz nachdem die Morde aufgeklärt waren. Wir drei zusammen - wie eine kleine Familie.“
„Ja.“ Herbert lächelte. „Es waren die schönsten zwei Wochen, in meinem Leben, bis dahin. Und ich hab jede Minute genossen.“
„Das glaube ich dir auf Anhieb. Besonders, als Nicole und ich, nach unserem ersten Trainingstag, morgens in den Speisesaal schlichen ... wegen dem Muskelkater. Ich kam kaum aus meinem Bett. Nicole ging es ähnlich. Obwohl sie, schon aus beruflichen Gründen, einmal in der Woche ins Fitness Studio geht. Und du“, Helene boxte leicht auf Herberts Oberarm, „du hast nur gegrinst.“
„Au! Ich glaub, Nicole hätt mich am liebste in de Schwitzkaste genomme, wenn se gekonnt hätt. Ihr Blick am Frühstücksbüfett war jedenfalls alles andere als freundlich. Dafür hatte sie en mächtigen Appetit. Was die sich auf den Frühstücksteller gelade hat, hätt locker für e vierköppisch Familie gereicht. Vielleicht war’s auch einfach nur Wut.“ Herbert lachte herzhaft, bei der Erinnerung. „Aber nach der Massage ging es euch doch wieder besser, oder? Und die nächsten Tage hat’s euch doch auch gefalle?“
Helene nickte. „Gott sei Dank.“
„Und du kannst dich jetzt wenigstens verteidige, wenn dir so ein Hallodri an die Einkaufstasche will. Ich bin ja net immer an deiner Seite.“
„Apropos. An meiner Seite. Jetzt mal Butter bei die Fische. Ich schlage vor, dass wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen, damit unsere Lieben wieder in Frieden ruhen können.“
„Wir sind nur zu z w e i h e i t!“, erinnerte Herbert erneut.
„Mit der Gundel wären wir zu dritt.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst? In der Nacht auf em Friedhof rumzuhocke ist schon net besonders verlockend, aber zusammen mit der Gundel ist mehr als grauslich.“
„Ja, ich weiß, sie ist manchmal e lüt figgelinsch. Aber sag ihr das bloß nicht.“
„Ich weiß net mal was des bedeutet“.
„Schwierig, kompliziert“, erklärte Helene und rollte mit den Augen. Immer wenn sie aufgeregt war – und im Moment war sie mehr als kribbelig – kamen ihre norddeutschen Wurzeln zum Vorschein. „Trotzdem, sie ist eine gute Seele. Und du musst doch nicht gemeinsam mit ihr hinter einem Grabstein sitzen.“
„Na, da bin ich ja beruhigt“, brummte Herbert. „Trotzdem.
Du vergisst, dass der Friedhof nachts abgeschlosse is.“
„Die Rowdys kommen doch auch irgendwie hinein“, gab Helene unbeirrt zurück und presste die Lippen zusammen.
„Wahrscheinlich mache die ne Räuberleiter. Des wär in unserm Alter dann doch e bissje gewagt, und die Gundel heb ich schon gar net hoch.“
„Dann müssen wir uns auf dem Friedhof verstecken, bevor dort zugesperrt wird.“
„Wir müsste vielleicht Stunden dort verbringe.“ Herbert setzte seine Lesebrille ab.
„Na und!“
Sein ohnehin bröckelnder energischer Widerstand entschwand in die unendlichen Weiten des Universums. Oder wie er sich ausdrücken würde, ins Nirwana.
***
„Ihr seid verrückt! Wie grauslich.“
Mit dir bestimmt. Herbert verzog das Gesicht.
„Jetzt stell dich nicht so an.“ Helene deutete zum benachbarten Gebäude, das auf dem ehemaligen Grundstück der Häuslers errichtet worden war. „Jahrzehntelang hast du quasi mit zwei Leichen quasi Tür an Tür gewohnt und dann gruselt dich ein Besuch auf dem Friedhof.“
„Hör bloß auf. Noch heute kriege ich Gänsehaut, wenn ich daran denke“, antwortete Gundel. „Ich fürchte mich auch nicht vor einem Besuch auf dem Friedhof; mir graut es nur vor einem Besuch nachts auf dem Friedhof.“
„Papperlapapp. Wir müssen den Vandalen das Handwerk legen“, drang Helene weiter auf Gundula Krämer ein.
„Ja das schon. Aber warum wir?“ Gundel wand sich. „Ist das nicht Sache der Polizei? Warum unternimmt die nichts oder deine Frau Wegener?“
„Nicole ist bei der Mordkommission“, konterte Herbert. „Die komme nur, wenn en Mord passiert ist. Also en frische. Des, dort“, er zeigte ebenfalls in die Richtung des neuerbauten Nachbarhauses, „des war e Ausnahme. Außerdem, was da momentan auf em Friedhof passiert, is Sachbeschädigung. Und dafür is unser Stadtpolizei zuständig. Aber die komme ja net weiter, wie se selber zugebe. Deshalb bitte die um Hinweise aus der Bevölkerung. So steht‘s jedenfalls im Blättche.“
„Ganz genau“, bekräftigte Helene. „Und diese Hinweise könnten wir liefern. Du, ich und der Herbert.“
„Was ist mit dem Sepp und dem Schorsch?“
„Des muss ich dir jetzt net werklich erkläre?“ Herbert schnaufte tief. „Also, nix gege de Sepp. Des is en gude Kerl. Aber erstens is der net mehr so schnell auf de Füß und dann hört er schlecht. Der würd‘ übern ganze Friedhof plärre, wenn er überhaupt was bemerke tät. Will heiße, wir wärn aufgefloge, bevor die Lumpe was anstelle könnte.“
„Stimmt“, gab Gundel kleinlaut zu. Dann erhellte sich ihr Gesicht. „Und deshalb braucht ihr mich.“
Leider. Herbert rollte mit den Augen und sagte: „So is es.“
„Trotzdem. Mir wäre es lieber, wenn der Schorsch auch mitkommen würde. Ich könnte doch zusammen mit ihm in einem Versteck liegen? Eh …, also nicht so richtig liegen.“ Sie knetete verlegen ihre Hände. „Ich meine …, ich denke nur, vier Augen sehen mehr als zwei.“
Herbert räusperte sich und schüttelte in Gedanken den Kopf. ... dass Gundel und Schorsch …? Nein, so richtig vorstellen wollte er sich das nicht!
„Na gut. Ich red mal mit ihm“, sagte er letztlich. „Dann kann’s heut‘ Nacht losgehe.“
„Was? Heute schon.“ Gundel schlug ihre kleinen fleischigen Hände aneinander. „Eijeijei. Darauf bin ich jetzt überhaupt nicht vorbereitet.“
Donnerstag, 27. August – 20:30 Uhr
Die drei nächtlichen Friedhofsbesucher verharrten in ihrem Versteck, hinter der Mauer des Ehrenfriedhofs, der den Opfern des Zweiten Weltkriegs angedacht war, bis der Bedienstete der Friedhofsverwaltung die Örtlichkeit durch die südwestliche Pforte verließ.
„Hoffentlich schließt der jetzt net zu. Wie solle mer dann widder rauskomme?“, fragte Schorsch im Flüsterton.
„Im schlimmsten Fall mit einer Räuberleiter.“
Gundels spontaner Vorschlag brachte seine Gesichtsmuskeln kurzzeitig zum Zucken. Und bei Herbert machten sich erneut Bilder breit, die er nicht sehen und schon gar nicht umsetzen wollte.
„Hier, für Helene.“ Gundel drückte ihm einen aufklappbaren Campinghocker in die Hand; den zweiten hielt sie selbst fest umklammert. „Damit wir keine Blasenentzündung bekommen“, fügte sie erklärend hinzu.
Diese Äußerung auf mögliche urologisch bedingte gesundheitliche Auswirkungen überhörten beide Männer ebenso großzügig. Stattdessen zog Schorsch einen Flachmann aus seinem Rucksack und reichte ihn Herbert. „Hier, der is vom Sepp, aus soim Vorrat. Wenn er schon net dabei soi kann, dann kennte mer wenigstens bei jedem Schluck an en denke, hot er gemoant.“
„Na ihr seid ja auf alles vorbereitet“, brummte der und mahnte: „Denk aber net zu oft an Sepp.“ Spätestens jetzt wurde ihm klar, dass er diese Aktion bereuen würde.
Zielstrebig ging er auf die nahe gelegene Gebetskapelle zu, um sich im Inneren zu verbergen. Indessen spazierten Gundel und Schorsch zur Noth Gottes Kapelle, auf der gegenüberliegenden, nordwestlichen Seite des Friedhofs. Helene suchte sich einen Platz, zwischen den Gräbern, an der dritten Pforte. Alle vier waren von Herbert mit Taschenlampen, Kameras und Funkgeräten ausgestattet worden. Von Letzterem machte Gundel anfangs reichlich Gebrauch, bis er drohte, ihr die Sprechanlage wieder abzunehmen.
Fast zwei Stunden waren seither vergangen und noch immer ließen die Rabauken sich nicht blicken. Herbert streckte seine Beine aus und rieb über die Oberschenkel. Is halt des Alter. Er schaute auf seine Digital-Quarz-Armbanduhr. Er hatte sie erst kürzlich erworben. Abgesehen von der Zeit lieferte sie etliche unentbehrliche Informationen wie zum Beispiel einen Höhenmesser, plus Addition und einen Digitalkompass. Gut – im Moment brauchte er diese Zusatzfunktionen nicht wirklich. Ebenso wenig war die Auskunft über den Sonnenuntergang, bei gerade nachtschwarzem Himmel mit vereinzelten Sternen und der Sichel des zunehmenden Mondes. Gegenwärtig irrelevant. Hingegen verriet der Zeitmesser, um Viertel vor zehn, eine Temperatur von 21 Grad. Für eine Nacht im August schon noch beinahe kuschelig – ausgenommen, man befindet sich gerade auf einem Friedhof, der das Wärmegefühl empfindlich beeinträchtigt.
Entfernte Stimmen lenkten Herberts Aufmerksamkeit wieder auf den Grund ihres Hierseins. Er drückte die Sendetaste seines Funkgeräts, die er mit einer Zwei gekennzeichnet hatte.
„Schorsch, tut sich was bei euch?“, flüsterte er.
Es knackte kurz. „Nix. Die Gundel verbiet‘ mir nur den Schnaps.“
„Geht des vielleicht e bissje leiser?“
Nach einem erneuten Knackgeräusch zischelte er: „Mir is awer kalt.“
„Es is net kalt“, widersprach Herbert, in Erinnerung an die soeben abgelesenen 21 Grad. „Außerdem sollst du dich net vollsaufe.“
„Mit dem, was do in dem klaane Fläschje drin ist, werdst de net amol benewwelt“, maulte Schorsch zurück.
Herbert, der einige Zeit zuvor an dem hochprozentigen Mitbringsel gerochen und sich angewidert geschüttelt hatte, war anderer Meinung.
„Schluss jetzt. Gosche halte“, fauchte er in sein Sprechgerät.
Schlagartig setzte wieder Totenstille ein.
Eine gute halbe Stunde später meldete Helene mit deutlich bebender Stimme. „Herbert! Da ist wer. Aber ich bin mir nicht sicher, was das … Kommst du bitte?“
„Bin gleich bei dir.“
In geduckter Haltung huschte Herbert, im Schein seiner Hochleistungs-LED Stabtaschenlampe - laut Hersteller teleskopisch verlängerbar auf 41 cm, äußert robust, dennoch handlich, wasserabweisend und schockresistent, dazu mit drei Lichtprogrammen ausgerüstet – durch die Grabreihen.
Noch bevor Helene hinter dem Grabstein auftauchte, spürte er ihre eiskalte Hand an seinem Arm.
„Jesesmaria“, fluchte er leise. „Ich hätt beinahe en Herzkasper gekriegt.“
„Und ich erst. In der Kapelle bewegt sich etwas.“
Herbert legte die Stirn in Falten. „Du hast doch net von dem Sepp soim Gemixte …?“
„Döspaddel“, zischte sie.
„Da!“ Helene zeigte zum Eingang der Kapelle. Im selben Moment erhellte ein greller Blitz die Nacht. Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte ein dunkler Schatten, bevor er durch die Friedhofspforte davonrannte.
Erst durch mehrfaches Blinzeln war es Herbert möglich, die Umrisse seiner Umgebung wiederzuerkennen. „Was war jetzt des?“
„Entschuldige. Ich muss wohl auf den Auslöser gekommen sein“, antwortete Helene kleinlaut. „Geht’s denn wieder?“
„Hm, grad so“, brummte Herbert und rieb sich die Augen. „Zumindest wisse wir jetzt, dass des Tor net abgeschlosse is.“ Trotz seiner momentanen Sehstörung klang er irgendwie zufrieden. „Wo sind eigentlich die annern zwei? Und wieso melde die sich nett? Schorsch! Gundel“, rief er.
Dezente Zurückhaltung war jetzt nicht mehr vonnöten und seiner Meinung nach, die Sache für heute Nacht gelaufen.
Mit energischen Schritten marschierten er und Helene zu ihren beiden Hilfssheriffs. Doch anstatt pflichtgetreuer Wachposten trafen sie auf eine leise schnarchende, auf ihrem Stühlchen sitzende Gundel. Zudem lag deutlicher Alkoholgeruch in der Luft.
Unsanft schlug Herbert auf Schorschs Oberarm, dessen Kopf auf Gundels Schulter ruhte.
„Jesesna!“ Erschrocken zuckte er zusammen und schaute auf „Ach ihr seid ‘s. Is was passiert?“
„Genau des hätte wir gern von euch gewusst“, fauchte Herbert.
„Von uns? Bei uns war nix, odder Gundel?“
Die schüttelte gähnend den Kopf.
„Ihr habt also net gesehe, wer da in der Kapelle gewese is?“
„In der Kapelle? Wer soll en do gewese soi?“
Langsam begriff Schorsch, dass ihnen scheinbar etwas oder jemand durch die Lappen gegangen war.
„Do war nix“, antwortete er trotzig. „Des hätte mer gemerkt.“
Resigniert schüttelte Herbert den Kopf. „Des hat kein Wert mit dene zwei.“ Er wandte sich Helene zu. „Komm. Wir gucke mal in die Kapelle.“
Mit seiner Stabtaschenlampe in der erhobenen Hand, den Lichtkegel jetzt auf 100% eingestellt, schritt er auf den Eingang zu.
Noch bevor seine zittrigen Finger die Halsschlagader der jungen Frau berührten, wusste er, dass sie tot war.
Donnerstag, 27. August – 22:40 Uhr
„Polizei Seligenstadt, Kommissar Lehmann. Sprechen Sie bitte lauter. Ich kann Sie kaum verstehen. Sie haben was gefunden? – Eine Leiche? – Wo? – Ach. Auf dem Friedhof?“
Der Polizist legte die Stirn in Falten. „Hören Sie, wenn das ein Scherz sein soll? – Was? Die Leiche sitzt in der Noth Gottes Kapelle auf der Bank? Sagen Sie, haben Sie vielleicht etwas zu tief ins Glas geschaut? – Stocknüchtern, sagen Sie. Wie ist denn Ihr Name? Hallo, hallo.
Aufgelegt. So ein Depp“, wandte er sich seinem Kollegen zu. „Ich konnte ihn kaum verstehen. Faselte etwas von einer Leiche auf dem Friedhof.“
„Ach? Da gehören Leichen ja auch wohl hin.“ Kommissar Berthold Bachmann grinste und Hans Lehmann kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Die sollten allerdings in der Erde liegen oder zumindest in der Leichenhalle und nicht in der Friedhofskapelle sitzen.“
„Das ist freilich ungewöhnlich.“
„Vielleicht sollten wir doch mal die Kollegen von der K-Wache …?“
„Bloß nicht“, widersprach Bachmann. „Ich will nicht die Lachnummer des Monats werden.“
Für einige Augenblicke herrschte absolute Ruhe.
„Und wenn doch was dran ist?“
Bachmann presste die Lippen zusammen und zog die Luft ein. „Dann sind wir am A …“
„Du sagst es. Weißt du was, ich ruf den Josef an, der sitzt noch in seinem Zimmer. Der weiß bestimmt was zu tun ist. Schließlich ist er der Einzige von uns, der schon Erfahrungen mit Leichen hatte.“
„Stimmt“, pflichtete sein Kollege ihm bei. „Und gleich mit zwei und die waren mehr als tot, solange wie die in der Erde auf dem Häusler-Grundstück lagen. Mausetot, würde ich mal behaupten.“
Sekunden später meldete sich Polizeioberkommissar Josef Maier. „Was gibt’s?“
Lehmann schilderte ihm den mysteriösen, anonymen Anruf. „Eine Leiche auf dem Friedhof? Ach, in der Noth Gottes Kapelle?“ Der Leiter der Seligenstädter Polizeidienststelle lachte. „Hans, guckt mal auf den Kalender. Da steht August. Euer Aprilscherz kommt etwas zu spät oder zu früh, wie man’s nimmt.“ Gleichzeitig schaute er auf die Uhr. Was schon Viertel vor elf.
„Trotzdem, danke für den Weckruf, verehrter Kollege. Ich mach mich dann mal auf die Socken, sonst bekomme ich irgendwann noch Hausverbot von meiner Frau und muss in der Noth Gottes übernachten. Ach, keine Chance. Ist ja schon besetzt.“ Er kicherte.
„Ja, äußerst lustig“, brummte Lehmann. „Und wenn da doch etwas dran ist? Sollten wir nicht …?“
Josef Maier seufzte. „Also gut. Wenn’s euch beruhigt. Ich fahr dort vorbei. Liegt sowieso auf meinem Weg.“ Das stimmte zwar nicht ganz, aber ein kleiner Umweg und ein Stück am Main entlang, konnte nicht schaden. Immerhin würde er um diese Zeit mit keinen olympiaambitionierten Radrennfahrern zusammenstoßen oder auf übermotivierte Möchte-gern-Skater treffen.
***
Herbert drückte die rote Taste auf seinem Mobiltelefon.
„So, des wär erledigt.“
„Un, was mache mer jetzt?“, fragte Schorsch.
„Ja nix weiter. Die Polizei weiß Bescheid. Jetzt liegt’s an dene. Wir gehe jetzt Heia mache.“
Herbert nickte Helene zu.
„Wie kannst du jetzt schlafen?“, jammerte Gundel. „Gerade erst haben wir eine Leiche gefunden.“
„Von wir kann ja wohl net die Red sein“, murrte er ungehalten. „Wenn ihr statt zu saufe aufgepasst hättet, dann hätte wir den Mörder vielleicht dingfest mache könne oder zumindest täte wir den jetzt kenne.“
„Un wärn vielleicht auch abgemurkst worde“, begehrte Schorsch auf und machte eine unverkennbare Handbewegung entlang seiner Kehle. „Außerdem, hawe mer so viele von dene Blätzjer gegesse – die warn werklich gut“, wandte er sich Gundel zu. „Dem Sepp sein Selbstangesetzte konnt do fast nix ausrichte.“
„Also ich bin ganz froh, dass wir von all dem nichts mitbekommen haben“, äußerte diese mit zittriger Stimme und trank den Rest ihres Weines. „Wenn ich mir vorstelle, dass wir so quasi, wie heißt das, Zeugen eines Verbrechens geworden wären?“
Sie füllte ihr Glas erneut und schenkte auch ihrem Nachbarn nach.
„Habt ihr Saufnase noch net genug?“ Herbert warf beiden einen grimmigen Blick zu.
„Wir hätte des einfach allein durchziehe solle“, quengelte er noch immer, als Helene und er aus Gundels Haus auf die Straße traten.
„Es tut mir leid; meine Schuld.“ Sie hakte sich bei ihm unter. „Schon wieder habe ich dich in eine missliche Lage gebracht, nur weil ...“
„Muss es net. Erstens bist du net schuld an dem Besäufnis von dene und zweitens …“ Herbert gab ihr einen Schmatzer auf die Backe, „hätt ich ja nur nein sage brauche.“
„Eigentlich wollten wir ja nur die Grabschänder aufspüren. Stattdessen finden wir eine Leiche.“
„Ja, so ein Zufall.“ Im faden Schein der Straßenlaterne blitzte die Abenteuerlust in Herberts Augen. „Genau wie in der bayrischen Krimiserie. Die zwei Polizisten fahrn auch einfach nur so mit ihrm Streifewage in der Gegend rum und zack, finde die immer e Leiche.“ Er kicherte, wurde aber sofort wieder ernst. „Wir müsste versuche rauszubekomme wer des Mädche war.“
„Dazu brauchten wir ein Foto der jungen Frau, dass wir dezent herumzeigen könnten.“
„Habe wir doch.“ Triumphierend hob Herbert seine Kamera in die Höhe. „Ich hab aber net nur e Foto von dem arme Ding in der Noth Gottes gemacht. Ich hab den kompletten Tatort oder auch Fundort, des steht ja noch net fest, aufgenomme.“
„Grundgütiger!“ Helene schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Vielleicht ist da auch ein Foto von dem Mörder drauf. Du weißt doch, ich kam aus Versehen auf den Auslöser.“
Herbert horchte auf. „Ich glaub, des werd noch nix mit dem Heiabett. Jetzt müsse wir erst die Bilder in den Computer hoch lade.“
Donnerstag, 27. August 2015 / 22:55 Uhr
Josef Maier stieg auf sein kürzlich erworbenes E-Bike und fuhr, entgegen der Fahrtrichtung, die Bahnhofstraße hinunter. In Höhe der Stumpfaule, einem teils wiederhergestellten Turm zur ehemaligen Stadtmauer gehörend, brauste ein schwarzer Sportwagen aus der Mauergasse. Erschrocken sprang der Polizeioberkommissar vom Rad und schaute dem Wagen nach, bis zur Kreuzung, wo er wegen der roten Ampel, mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Kopfschüttelnd setzte Maier seine nächtliche Fahrt fort, überquerte die Aschaffenburger Straße und kam durch die Freihofstraße zum Freihofplatz.
Vor ihm präsentierte sich die Basilika, das Wahrzeichen Seligenstadts in all ihrer Pracht, angestrahlt durch leistungsstark Scheinwerfer. Der Anblick erfüllte Maier immer wieder mit Stolz, so wie jeden gebürtigen Seligenstädter. Er verharrte einen Moment, bevor er durch die Große Maingasse zum Mainufer radelte. Die Stadtfähre, ebenso ein Sinnbild der Stadt, lag sicher vertäut am Ufer. Über eine kurze Wegstrecke auf der Mainpromenade erreichte er schließlich den Nordwesteingang des Friedhofs und somit die Noth Gottes Kapelle. Direkt fiel ihm die offenstehende Pforte auf. Die Grabschänder? Sollte er die Burschen in flagranti zu erwischen, so wäre das ein krönender Abschluss des ansonsten belanglosen Tages. Bloß schwierig in der Dunkelheit so ohne Taschenlampe und ohne Dienstwaffe. Die befand sich ordnungsgemäß verwahrt, auf der Wache.
Nicht, dass Josef Maier sie jemals gebraucht hätte und – Gott bewahre – hoffentlich nie brauchen würde. Dennoch hätte er sich jetzt ein klein wenig sicherer gefühlt. Sei es drum. Die Fahrradpumpe musste als Verteidigungswaffe genügen.
Er lehnte sein Rad an die äußere Mauer der Kapelle, genau neben den Metallrahmen, an dem die Friedhofsordnung und darunter Schilder die ein Radfahrverbot sowie auch ein Hundeverbot auf dem Friedhof anzeigten, hingen. Maier überlegte kurz, ob er sein E-Bike anketten sollte, letztlich hatte es eine ganze Stange Geld gekostet. Doch suchte er vergebens nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Dafür erspürte er ein Feuerzeug. Keine allzu große Lichtquelle – aber immerhin. Die Laterne an der Ecke der Kapelle beleuchtete nur halbkreismäßig den äußeren Bereich und die nächste Straßenlampe befand sich mittig der Dr.-Otto-Müller-Straße, die das Mainufer mit der Aschaffenburger-Straße verband. Beide waren mit Energiesparleuchtmittel ausgestattet und spendeten entsprechend nur unzureichender Helligkeit.
Der Polizeioberkommissar lauschte in alle möglichen Richtungen. Absolute Grabesstille. So, wie man es in der Nacht auf einem Kirchhof erwartet. Außer, man besaß die absurde Neigung, nach Einbruch der Dunkelheit auf Friedhöfen herumzustromern und höchstpersönlich für Unruhe zu sorgen, so wie diese vermaledeiten Grabschänder.
Maier fehlte dafür jedwedes Verständnis. Ebenso für anonyme Anrufer. Wenn man etwas zur Anzeige bringen will, dann soll man auch Manns oder Frau genug sein, seinen Namen zu nennen. Für alle anderen Loser ist das Internet zuständig, so seine Devise.
Kampfbereit, die Luftpumpe fest in der Hand, schlich er durch das Tor und in die Kapelle. Hier herrschte ebenfalls fast totale Finsternis. Abgesehen von zwei Kerzlein hinter den Gitterstäben, die nach Sauerstoff gierten. Ausgelöst durch den Luftzug, den der Polizeioberkommissar beim Eintreten verursachte – nur noch eins. Maier zückte sein Feuerzeug. Es flackerte kaum mehr wie die letzte wehrhafte Kerze.
Und dann sah er sie. Eine Frau, in einem weißen Kleid, die Arme seitlich am Körper anliegend, die Handflächen zeigten nach außen. Ihr Kopf lag in eigenartigem Winkel auf der rückseitigen Gebetbank, umrahmt von hellblonden gewellten Haaren. Die blauen Augen, mit dickem schwarzem Kajal umrandet starrten leblos an die Decke.
Donnerstag, den 27. August – 23:20 Uhr
Aufatmen im K11 des Offenbacher Kriminalkommissariats. Endlich war Dennis Brauer geständig seine Freundin, im Streit, erstochen zu haben. Die Festnahme fand um 14 Uhr 10 statt. Doch ein Alkoholspiegel von 2,3 Promille und sowie erheblicher Drogenkonsum verhinderten von Rechtswegen eine sofortige Befragung des Delinquenten. Lediglich die Tatwaffe, ein Küchenmesser mit einer Schrittlänge von 20 cm, konnte sichergestellt und zur KTU überbracht werden. Nach etwa acht Stunden in einer Ausnüchterungszelle veranlasste Nicole Wegener, Kriminalhauptkommissarin des K11 Offenbach, die Vernehmung Brauers.
Kriminalhauptkommissar Harald Weinert und sein Kollege Oberkommissar Lars Hansen führten das Verhör. Nicole verfolgte das Gespräch aus dem Nebenraum durch die einseitig durchsichtige Spiegelglasscheibe.
Trotz der belastenden Beweise – inzwischen konnten Denis Brauers Fingerabdrücke auf dem Messer eindeutig festgestellt werden – leugnete er zuerst vehement die Tat. Danach versuchte er durch Vortäuschung eines zeitweiligen Gedächtnisverlusts und später durch permanentes Schweigen, glimpflich davonzukommen. Erst nach Eingreifen des Pflichtverteidigers, der die Faxen seines Mandanten genauso dick hatte, knickte Brauer endlich ein.
Sichtlich genervt und müde verließen Hansen und sein Kollege den Verhörraum. Weinert streckte sich. „Der Bericht kann doch bestimmt bis morgen früh warten, oder Boss?“
Nicole nickte. „Wir haben Alles auf Video. Ab nach Hause. Ich lass den Kerl in die Zelle bringen und verschwinde dann auch. Und Jungs, morgen früh erst um zehn Uhr.“
Hansen salutierte stumm mit Zeige- und Mittelfinger. Weinert brachte nur ein müdes „Tschüss“ hervor. Nicole sah den Kollegen nach, wie sie den Gang entlang trotteten.
Ein gemeinsames Essen, ein Glas Rotwein auf seinem kleinen Balkon; soweit ihr Plan für den heutigen Abend. Brauer hatte ihn zunichtegemacht. Ob sie jetzt doch noch anrufen sollte? Nein. Die Uhr zeigte halb zwölf. Ihre Beziehung war noch im Wachsen. Nur keinen Fehler machen, nicht wieder. Nicht gegenseitig auf die Nerven fallen.
Sie ging in ihr Büro, nahm ihre Tasche, machte das Licht aus und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage, wo ihr roter MX5 wartete. Auf der Fahrt nach Hause sah sie immer wieder sein Gesicht vor sich. Seine sanften braunen Augen, die einen Hauch von Wehmut ausdrückten und Furcht ... als sie sich zum ersten Mal küssten. Mit einem Lächeln dachte sie an die Nacht, die sie zusammen verbrachten, an ihre Unsicherheit beidseits, die sich jedoch schnell legte.
Mittlerweile kam es Nicole vor, als ob sie sich schon ewig kannten. Und dennoch, oder gerade deshalb, wollte sie kein Risiko eingehen. Nur nichts auf Spiel setzen, was diese Harmonie zerstören könne.
Sie gähnte. Jetzt erst fiel ihr auf, wie müde sie war, und drehte die Musik lauter.
„I want to break free “, schmetterte Freddy Mercury aus dem Autoradio. Der Text, so wird vermutet, drückte Mercurys sexuellen Konflikt aus. Er selbst outete sich offiziell aber niemals als Homosexueller. Nicole drehte noch eine Stufe höher. Den Song konnte – nein den musste man einfach laut hören. Außerdem half ihr, die ohrenbetäubende Musik wach zu bleiben. Erst am Ortsschild von Seligenstadt regulierte sie die Lautstärke.
Ein paar Minuten später stellte sie ihr Auto auf dem notdürftig beleuchteten Parkplatz, einen Katzensprung von ihrer Wohnung entfernt, ab. Im Haus war es dunkel. Nur das Flurlicht brannte. Das machte Helene schon immer so. Bis vor fast einem Jahr stand sie meist sogar in ihrer Tür, wenn Nicole nach Hause kam; oft mit einem Teller in der Hand auf dem ein Brot mit Wurst und Käse lag oder ein paar kalte Frankfurter Würstchen. Das hatte sich geändert, seit Herbert hier sozusagen eingezogen war.
In den Sommermonaten blieben die beiden abends länger weg, gingen am Mainufer spazieren, saßen außerhalb eines netten Restaurants in der Altstadt oder auf Herberts Terrasse. Manchmal war Nicole eingeladen. Aber eben nur manchmal. Ein wenig traurig war sie schon darüber. Insbesondere nach einem Tag wie diesem, hätte sie sich gerne mit ihrer Helene unterhalten, zumindest ihre Gesellschaft genossen.
Nicole seufzte. Nun ja, so ist das Leben. Man muss loslassen können.
Sie erinnerte sich an den Abend, als Herbert quasi bei ihr um Helenes Hand angehalten hatte. Nicht, dass die beiden hätten heiraten wollen. Aber, selbst wenn – Nicole war nur Mieterin in Helenes Haus, nicht ihre Tochter, obwohl sie es sich manchmal wünschte. In den vergangenen Jahren hatte sich zwischen ihnen eine enge freundschaftliche Beziehung entwickelt. Dennoch hatte sie keine Berechtigung, Helene in jeglicher Hinsicht etwas vorzuschreiben. Und das würde sie auch nie tun. Trotzdem hatte sich in ihrem Bauch ein warmes Kribbeln ausgebreitet, als Herbert sich sichtlich nervös erkundigte, ob er im Mädel-Haus, willkommen sei.
Nichtsdestominder fühlte sich Nicole – gerade jetzt – im Stich gelassen, wenn nicht vernachlässigt. Vielleicht war sie aber auch nur müde und deshalb in einem depressiven Stimmungstief.
Sie öffnete die Tür zum Balkon und ließ frische Luft in die Räume. Eine Gewohnheit, die sich im Laufe der Jahre zu einem Rituell entwickelt hatte. Ebenso der Blick über das Balkongeländer, auf die zurzeit gähnend leere Terrasse.
Ein Grund mehr, sich einen Schluck ihres heiß geliebten Greenoore zu gönnen, sozusagen als Trostpflaster. Der irische Whisky war das einzige hochprozentige Getränk, das Nicole sich ab und zu gestattete. Sie füllte die goldene Flüssigkeit einen fingerbreit ins Glas, setzte sie sich mit angezogenen Beinen auf den Liegestuhl und blickte in den dunklen Himmel.
Ein heimeliges Paradies, dachte sie gewiss zum tausendsten Mal. Die Stille wurde gelegentlich nur durch Stimmen später Wirtshausbesucher vom nahen gelegenen Marktplatze unterbrochen. Oder, wie jetzt, durch Nicoles knurrenden Magen. Seit einer kleinen Mahlzeit am Mittag, bestehend aus einem Salat mit Ei, Käse und Schinken, hatte sie nichts gegessen.
Lustlos bewegte sie sich in Richtung Kühlschrank und stellte schnell fest, dass der Inhalt kein kulinarisches Diner zuließ ... wieder einmal. Fast mitleidig lächelte sie das Mönchsgesicht von der Schachtel einer Käseverpackung an. Genug gegrinst, murmelte Nicole. Jetzt bist du fällig.
Mit einer Scheibe Knäckebrot, ihrer eisernen Reserve, dem Käse – die Ränder waren schon etwas gelblich und leicht gewölbt, aber trotzdem noch essbar – sowie einem Glas Cola machte sie es sich auf ihrer Couch bequem und schaltete den Fernseher ein.