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Jessie öffnete die Tür und ließ einen eisigen Luftzug hinein.

„Cora-Ann!“, rief sie.

Emily lächelte. Sie ging die Treppe hinunter und hob Butch hoch, der immer noch laut bellte. Ihr fiel ein Stein vom Herzen – und im selben Moment schämte sie sich dafür.

Emily mochte Cora-Ann. Sie und Jessie waren dicke Freundinnen. Manchmal war Emily direkt neidisch darauf, wie viel Zeit Cora-Ann mit Jessie verbrachte. Aber meistens fand sie es schön, wenn Jessies Freundin da war.

„Stör ich gerade?“, fragte Cora-Ann und blickte mit einem irritierten Grinsen von Emily zu Jessie.

„Nein“, erwiderte Jessie verlegen. „Wir dachten bloß, es wäre … jemand anderer.“

Cora-Ann schien sich zu fragen, was los war. Dann schlug sie sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Moment – es ist Samstag. Der Tag … Ihr dachtet, ich wäre … Oh nein, bin ich blöd! Emilys Schwester kommt heute nach Hause, stimmt’s? Mann! Und ausgerechnet jetzt platze ich hier herein.“

„Was heißt hier hereinplatzen“, entgegnete Jessie. Und dann fügte sie mit scherzhaftem Flüstern hinzu: „Wir brauchen dich. Du musst uns beschützen!“

„Jessie!“, schimpfte Emily.

Als Nancy ins Krankenhaus gekommen war, hatten Emilys Eltern der ganzen Familie befohlen, niemandem ein Wort über ihren Nervenzusammenbruch zu erzählen. Sie sollten allen sagen, Nancy besuche Verwandte in Kalifornien.

„Toll“, hatte Emily danach gedacht. „Als ob das jemand glauben würde.“

Aber als ein Monat nach dem anderen verstrich, hatten sie immer mehr Leuten die Wahrheit gesagt. Emily bezweifelte, dass es in ganz Shadyside noch irgendjemanden gab, der nicht von der ganzen traurigen Geschichte erfahren hatte.

„Seid ihr sicher, dass ich nicht lieber gehen soll?“, fragte Cora-Ann. „Ehrlich, ihr braucht es bloß zu sagen.“

Emily nahm sie bei der Hand. „Los, komm schon“, sagte sie und führte das Mädchen die Treppe hoch.

Oben angekommen, warf Emily einen Blick durch den Flur zu Richs Zimmer. Die Tür war geschlossen. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter.

Er hasst mich.

„Hey!“, rief Cora-Ann, als sie in Emilys voll gestopftes Zimmer kam. „Ihr seid euch wohl ganz schön nahe gekommen!“

„Das ist schon okay“, antwortete Jessie rasch und blickte zu Emily hinüber. „Komm, ich häng deine Jakke auf.“ Sie nahm Cora-Ann den blauen Parka ab – und ließ ihn auf den Boden fallen.

„Danke, sehr freundlich“, sagte Cora-Ann. Was Jessie auch tat, sie wurde niemals wütend. Kein Wunder, dass Jessie sie so mochte!

Emily hängte die Jacke auf. „Da wir nun schon im selben Zimmer wohnen, will ich dir zeigen, wo der Schrank ist, Jessie. Hier, siehst du?“

„Bloß weil ich nicht so ein Ordnungsfanatiker bin wie du und deine Mom ...“, begann Jessie.

„Ihr werdet euch doch nicht ernsthaft streiten, oder?“, fragte Cora-Ann.

„Ach, Quatsch“, versicherte Emily. „Wenn wir streiten, wird dir das nicht entgehen. Dann fangen wir an, uns zu schlagen.“

Cora-Ann wurde rot, und Jessie warf Emily einen scharfen Blick zu.

Das war ein schlechter Scherz, bemerkte Emily. Cora-Anns Eltern schlugen sich immer, wenn sie Streit hatten. Das war der Grund, weshalb das Mädchen sich so viel bei den Wallners aufhielt.

Cora-Ann hockte sich auf Emilys Bettkante. „Ihr seid wirklich ganz sicher, dass ich nicht störe?“

Emily wünschte, Cora-Ann wäre nicht immer so sehr darauf aus, anderen zu gefallen. Sie sah hübsch aus mit ihrem kurzen, rotbraunen Haar und ihrer Brille. Und es machte Spaß, mit ihr zusammen zu sein. Aber sie tat so, als ob jeder, der gern seine Zeit mit ihr verbrachte, ihr einen großen Gefallen damit täte.

„Cora-Ann“, erwiderte Jessie, „hör auf mit der Fragerei. Du kannst immer zu uns kommen. Immer.“

„Na ja, vielleicht nicht immer“, dachte Emily.

„Oh, ich muss dir was erzählen, Jess!“, verkündete Cora-Ann. „Rate, mit wem Annette Holloway gestern im Einkaufszentrum an der Division Street war?“

„Mit wem denn?“, fragten Emily und Jessie wie aus einem Munde.

Cora-Ann lächelte und hielt die beiden noch einen Moment lang hin. „Mit Teddy Miller. Ist das nicht unglaublich?“

Jessie schnappte nach Luft. „Nein! Was ist denn jetzt los?“

„Keine Ahnung. Mir hat sie erzählt, dass sie immer noch mit Pete Goodwin zusammen ist.“

Emily hatte sich an ihren Schreibtisch gesetzt und zog die oberste Schublade auf. „Hey, wo sind meine Süßigkeiten?“

„Ach, ich hab dein Zeug in die untere Schublade geräumt. Schließlich hast du das obere Regalbrett. Das ist nur gerecht.“

„Na ja, in Ordnung“, sagte Emily. Eigentlich war es ihr egal. Das war zwar typisch Jessie, aber wen kümmerte das? Emily war plötzlich richtig gut gelaunt. „Mach es dir doch bequem“, sagte sie zu Cora-Ann. „Du siehst so angespannt aus. Das macht mich ganz nervös.“

„Wie? Oh – ja, okay.“ Cora-Ann lehnte sich zurück, aber eine Sekunde später setzte sie sich schon wieder auf.

Emily fand eine Tüte mit Schokoladenkeksen in der unteren Schublade. Einen davon warf sie Cora-Ann zu.

„Oh, danke!“, rief Cora-Ann.

„Für jede Kleinigkeit ist sie so dankbar“, dachte Emily. „Es ist beinahe rührend.“

„Mmmm“, machte Cora-Ann. Sie hielt die Hand unter den Keks, um die Krümel aufzufangen. „Hey, soll ich runtergehen und Saft oder Milch holen?“

„Du bist doch nicht das Dienstmädchen“, antwortete Jessie barsch. „Emily, geh Milch holen.“

Alle drei lachten.

„Also, was ist jetzt mit Teddy Miller?“, fragte Emily.

„Immer mit der Ruhe. Gestern Abend war Annette zu einer Party bei Steve Arnold eingeladen.“

„Emily war auch auf dieser Party“, unterbrach Jessie.

„Wirklich?“, fragte Cora-Ann mit großen Augen. „Ich hab gehört, um Mitternacht ist die Polizei gekommen!“

„Ich hab’s geahnt“, dachte Emily. „Bloß gut, dass Josh und ich so früh gegangen sind.“

„Kommst du jetzt endlich zu der Sache mit Teddy Miller?“, drängelte Jessie.

„Moment. Pete war auch dort, und zwar mit einer von Annettes Freundinnen.“

Jessie untersuchte eine ihrer Haarsträhnen auf Spliss. „Pete ist solch ein Loser“, murmelte sie. „Ein Wunder, dass er noch nicht mit mir gegangen ist.“

„Da fällt mir etwas ein!“, rief Cora-Ann und klatschte in die Hände. „Ich glaub, ich hab einen Typen gefunden, der am Samstagabend mit dir ausgeht!“

„Hey, warte mal!“, rief Emily. „Du hast uns immer noch nicht erzählt, wie das mit Teddy war!“

„Moment, Moment“, sagte Cora-Ann. Alle drei bogen sich vor Lachen. Cora-Ann brauchte immer eine Ewigkeit, selbst wenn sie die einfachste Geschichte erzählte.

„Mach mal das Fenster auf, ja, Emily?“, sagte Jessie. „Es ist wie in der Sauna hier drin.“

„Bin ich etwa deine Sklavin?“, fragte Emily. Trotzdem sprang sie auf und öffnete das Fenster. Der eisige Luftzug tat ihr gut, obwohl er durch das dünne Baumwollgewebe ihres Kleides drang.

„Jedenfalls“, nahm Cora-Ann den Faden wieder auf, „jedenfalls war Annette stocksauer auf Pete. Und als Teddy sie daraufhin zum hunderttausendsten Mal einlud, mit ihm auszugehen, sagte sie Ja. Lisa Blume behauptet, sie hätte die beiden auf dem Parkplatz beim Einkaufszentrum gesehen. Sie hätten wie wild herumgeknutscht.“

Jessie tat, als wollte sie sich übergeben. „Wie abartig! Lieber würde ich Emilys Hund abküssen.“

„Also bitte“, protestierte Emily. „Butch ist gar nicht so übel.“

Die Mädchen kicherten und prusteten.

Doch das Lachen verstummte, als plötzlich das Knirschen der Reifen von Mr Wallners Auto in der verschneiten Einfahrt laut wurde.

Emily hörte, wie Butch über die Holzdielen im Flur lief und die Treppe hinuntersprang.

Sie drehte sich um und blickte auf die Einfahrt hinunter. Ihre Mutter öffnete gerade die hintere Seitentür des Autos. Jetzt erblickte Emily auch Nancy. Zwei Köpfe mit dem gleichen kupferfarbenen, glänzenden Haar. Wunderschön. Wie Feuer.

„Sie ist da!“, flüsterte Emily.

„Soll ich hier oben bleiben?“, fragte Cora-Ann.

Emily schüttelte den Kopf. „Ach was. Komm schon. Du gehörst doch sowieso inzwischen zur Familie. Ich möchte dich Nancy vorstellen.“

Emily verließ als Erste das Zimmer und ging zur Treppe.

Die Haustür öffnete sich.

Wie angewurzelt blieb Emily stehen. Jessie und Cora-Ann prallten von hinten auf sie drauf.

„Hallo!“ Mrs Wallner schaute mit einem breiten Lächeln zu ihnen hoch. Mit einem zu breiten Lächeln. „Hallo, Emily, hallo, Jessie, hallo – oh, hallo, Cora-Ann … wie schön, dass du vorbeigekommen bist.“

Emily merkte immer genau, wenn ihre Mutter nervös war. Sie wurde dann so außerordentlich höflich.

Mr Wallner kam hinter ihr herein und zog sich die Skimütze von seinem kahlen Kopf. „Der Zaun wackel schon wieder“, knurrte er. „Ständig sage ich den Kindern, sie sollen sich nicht draufsetzen. Und was machen sie?“ Er blickte zu den Mädchen hinauf. „Oh, hallo.“

Emily, Jessie und Cora-Ann kamen nach unten. Emily versuchte, an Mr Wallner vorbeizuschauen. „Wo ist Nancy?“, rief sie.

Mr Wallner hatte die Tür hinter sich offen gelassen.

Jetzt trat Nancy herein.

Emily erstarrte.

Nancy kam ihr so fremd vor, so benommen.

Sie taumelte ins Haus, die Augen weit aufgerissen.

„Nein!“ Emily stieß einen Schrei aus und starrte auf das blutverschmierte Messer in Nancys Hand.

Fear Street 46 - Besessen

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