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Sandra keuchte und riss ungläubig die Augen auf.

Ihre Arme schossen nach vorne. Dann wich sie zurück und hielt sich die Hände vor die Brust.

Tanja hörte die erschrockenen Schreie der anderen hinter sich.

Sie hielt das Messer hoch und zeigte ihnen die blitzende silberne Klinge. Dann fing sie an zu lachen. „April, April!“, rief sie spöttisch.

Fassungslos schaute Sandra auf ihren Pullover herab. Kein Blut.

„Hey“, stieß sie eher erstaunt als wütend aus.

Lachend drückte Tanja sich die Klinge in ihre offene Hand. Statt die Haut zu verletzen, verschwand die Klinge im Messergriff.

„Wahnsinn!“, hörte sie Rudy aufschreien. „Das ist ja ein Trickmesser.“

Tanja stieß sich das Messer in die Brust. Dann zog sie es wieder heraus und hielt es hoch. „Genau, die Klinge wird bloß in den Griff gedrückt.“

„Cool!“, rief Rudy und kam auf sie zu. „Kann ich es mal sehen?“

Tanja gab ihm das Messer. Sie hatte es am Nachmittag in einem Schreibwarengeschäft gekauft. Es war ein Messer, wie es auch auf der Bühne und im Film verwendet wurde. Sie hatte geahnt, dass es für das Treffen am Abend nützlich sein könnte.

Ihre Freunde lachten und unterhielten sich über ihren kleinen Streich. Nur Sandra wirkte immer noch wie betäubt.

Tanja freute sich über ihren Triumph. Doch dann überkam sie ein merkwürdiges Gefühl.

Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken. „Es wäre so leicht, wirklich jemanden umzubringen“, dachte sie plötzlich.

So einfach und schnell.

Was für ein komischer Gedanke ...

Tanja sah zu Sandra hinüber, die immer noch mitten im Raum stand. Obwohl sie unverletzt war, war sie wie erstarrt. Sie hielt die Hand auf die Stelle, an der das Messer sie berührt hatte.

Tanja hoffte, dass sie ihre Freundin nicht zu sehr erschreckt hatte. Sie streckte die Hand aus, um Sandra zu besänftigen.

Doch Sandra zuckte zurück. „Tanja“, zischte sie, „rühr mich nicht an. Ich meine es ernst.“

„Was ist denn los?“, fragte Tanja scherzhaft. „Das hier ist der Horrorclub. Kannst du keinen Scherz vertragen?“

„Einen Scherz?“ Sandra schüttelte den Kopf. „Du hast wirklich einen merkwürdigen Humor.“

„Sandra“, flehte Tanja, „sei mir bitte nicht böse!“

Sandra sah sie kalt an. Zornig kniff sie die großen, mandelförmigen Augen zusammen. „Du kennst mich doch, Tanja. Ich bin nicht böse, ich räche mich bloß.“

Wie immer versuchte Nora, die beiden Streithähne zu beruhigen. „Na, kommt schon. Es ist vorbei. Können wir das Ganze nicht einfach vergessen?“

Sandra starrte Tanja an und wiederholte nur eisig: „Wie ich schon sagte, ich bin nicht böse, ich räche mich bloß.“

Ein paar Minuten später war das Treffen zu Ende. Sandra und Nora brachen gemeinsam auf. Tanja begleitete sie an die Tür und hoffte, dass Sandra ihre Entschuldigung annehmen würde. Doch Sandra starrte Tanja nur kalt an und verabschiedete sich mit wenigen Worten.

Gekränkt ging Tanja ins Zimmer zurück und sah Maura und Sam eng nebeneinander auf dem Sofa sitzen. Sie unterhielten sich leise.

Tanja beobachtete sie von der Tür aus. Als Sam den Horrorclub vor ein paar Monaten gegründet hatte, waren Maura und er schon ein ganzes Jahr zusammen gewesen.

Doch es hatte so ausgesehen, als wollte er Maura loswerden. Immer wieder hatte er Tanja um eine Verabredung gebeten, bis sie endlich zugestimmt hatte. Ihr war zwar klar gewesen, dass es ihre Freundschaft mit Maura zerstören würde. Aber sie fühlte sich zu Sam so stark hingezogen wie zu keinem anderen Jungen.

Nun sah sie, wie Maura lachte und Sam leicht am Handgelenk berührte.

„Warum bin ich denn gar nicht eifersüchtig?“, wunderte Tanja sich. „Habe ich etwa schon genug von Sam?“

Noch vor zwei Monaten hatte sie geglaubt, ernsthaft in ihn verliebt zu sein. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher.

Sam hatte sich seit dem Tod seines Vaters vor drei Wochen stark verändert. Manchmal wirkte er so distanziert. Fast wie ein Fremder.

„Hey.“ Rudys Stimme ließ sie zusammenschrecken. Sie hatte ganz vergessen, dass er auch noch da war. Er war ganz leise an sie herangetreten. „Das war eine tolle Geschichte“, sagte er.

„Danke“, erwiderte Tanja unbehaglich.

Rudy lächelte sie an. Er war kleiner als Tanja, doch erstaunlich muskulös, seit er Kraftsport machte. Seine sanften braunen Augen sahen sie interessiert an.

Tanja hatte seine schönen Augen noch nie wahrgenommen. Rudy wirkte stark und gleichzeitig einfühlsam auf sie.

„Ich glaube, du wirst eines Tages berühmt“, prophezeite Rudy. „Tanja Blanton, Bestsellerautorin von Horrorgeschichten. Die Leute werden Schlange stehen, um deine gruseligen Geschichten zu lesen.“

„Ehrlich?“ Tanja war geschmeichelt. „Glaubst du das wirklich?“

„Klar glaube ich das“, sagte Rudy.

Er hatte den Satz kaum beendet, als Maura durchs Zimmer stürmte und ihn am Arm packte. „Worüber redet ihr beide?“, fragte sie misstrauisch.

„Nichts“, antwortete Tanja harmlos. „Wir reden bloß über meine Geschichte.“

„Heute sind alle so genervt“, bemerkte Maura, während sie Rudy immer noch am Arm festhielt und ihn zur Tür zog. „Das verstehe ich gar nicht.“

Auf dem Weg nach draußen warf Rudy noch einen Blick zurück. „Wir sehen uns in der Schule“, rief er Tanja zu.

„Nicht, wenn ich es verhindern kann!“, witzelte Tanja.

„Was für ein toller Spruch“, hörte sie Maura murmeln. Dann gingen beide hinaus.

Sam kauerte immer noch auf der Couch und starrte zerstreut auf seine Turnschuhe. „Jetzt sind nur noch wir beide übrig“, dachte Tanja.

Sie setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. Sie wünschte, es gäbe etwas, womit sie ihn aufmuntern könnte. Früher hatte er eine absolute Schwäche für Scherze wie den mit dem Trickmesser gehabt. Tanja und er hatten stundenlang über den größten Blödsinn lachen können.

Doch in letzter Zeit wirkte er fast immer düster.

„Bist du okay?“, fragte sie leise.

„Ja. Mir geht es gut“, erwiderte er abwehrend.

Tanja zuckte mit den Schultern. „Du bist heute Abend so still.“

Sam schwieg. Sie hasste es, wenn er so verschlossen war. Als würde sie gar nicht existieren. Sie nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen. „Die Geschichte, die du für mich geschrieben hast, ist super angekommen“, murmelte sie. „Es war toll von dir, mir damit auszuhelfen.“

„Das hab ich gern getan“, sagte er und drückte sanft ihre Hand. „Es hat mir Spaß gemacht.“

Tanja spürte ein leises Schuldgefühl. Sam hatte auch die letzten drei Geschichten für sie geschrieben. Sie war immer mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, doch ihm schien es nichts auszumachen.

Aber jetzt machte sie sich Sorgen. Vor allem, weil die anderen Clubmitglieder anscheinend Verdacht geschöpft hatten. Sie fürchtete um ihre Position als Clubautorin.

„Du hast Maura doch nicht etwa gesagt, dass du die Geschichte geschrieben hast, oder?“, fragte Tanja nervös.

Sofort zog Sam seine Hand weg. „Hey, nie im Leben.“

„Gut.“ Sie war erleichtert. „Ich glaube, Maura kann mich nicht ausstehen. Ich meine ...“

Sam unterbrach sie, indem er sie sanft auf die Lippen küsste. Tanja war angenehm überrascht. Sie wünschte sich, dass der Kuss andauerte. Sie wollte sich an die schöne Zeit erinnern, bevor Sam sich verändert hatte.

„Er sieht so gut aus“, dachte sie. Sie liebte es, wie seine dunklen Locken ihm ins Gesicht fielen, wie süß er aussah, wenn er lächelte. Damals, als er noch lächeln konnte.

„Wir waren so glücklich ...“

Sam rückte von ihr ab, als könnte er ihre Gedanken lesen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.

„Sam?“ Tanja wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. „Bist du noch da? Stimmt irgendwas nicht?“

Er nickte langsam. Seine Stimme zitterte. „Ich kann nicht anders. Ich muss dauernd an meinen Vater denken ...“

Sofort fühlte sie sich schlecht. Natürlich hatte Sam sich verändert. Sein Vater war ja vor kurzem gestorben.

„Es tut mir so leid“, murmelte sie.

„Es ... es gibt da etwas, was ich dir nicht erzählt habe“, sagte er zögernd. Sein Gesicht verdüsterte sich.

Sie wartete darauf, dass er weiterredete.

„Ich habe ihn gefunden. Er saß ganz normal an seinem Schreibtisch. Er saß aufrecht da, als würde er noch leben. Und in seinem Kassettenrekorder lief ein seltsames Band. Ganz laut.“

Sam holte tief Luft. Dann stieß er sie langsam aus und fuhr fort: „Ich sah ihn vor dem Kassettenrekorder sitzen. Ich ... ich bin hingegangen und hab was gesagt, und er ... er hat nicht geantwortet. Dann bin ich noch näher gekommen. Seine Augen waren zwar offen, aber er hat nicht mehr geatmet. Ich habe einen Krankenwagen gerufen, aber es war schon zu spät.“

„Haben sie festgestellt, woran er gestorben ist?“, fragte Tanja leise.

Sam schüttelte den Kopf. „Es ist ein Rätsel, Tanja. Ein absolutes Rätsel. Die Ärzte, der Leichenbeschauer – keiner konnte es herausfinden. Und zum Schluss haben sie bloß angegeben, dass es ein natürlicher Tod war.“

„Das ist echt furchtbar.“ Ihre Worte klangen hölzern. Doch Tanja wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.

„Es geht noch weiter“, meinte Sam, ohne sie anzusehen. „Die schlechten Neuigkeiten hören nicht mehr auf.“

„Was ist es?“, fragte Tanja zögernd.

„Dad hat uns nichts hinterlassen, wir sind so gut wie pleite. Vielleicht müssen wir sogar aus diesem Haus ausziehen. Kannst du dir das vorstellen?“

„Das tut mir wirklich leid.“ Tanja streichelte seinen Arm und versuchte, ihn zu trösten. „Es wird schon wieder werden“, sagte sie.

„Das muss es auch!“, stieß Sam aus. Plötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er sprang vom Sofa auf. „Ich will dir was zeigen“, sagte er und kniff die Augen zusammen. „Etwas sehr Seltsames.“

Tanja folgte Sam die Treppe hinauf zu seinem Zimmer im ersten Stock. Sie gingen leise, um Mrs Varner nicht zu wecken, die auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen war. Sam hatte erzählt, dass sie seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr in ihrem Zimmer schlafen konnte.

Sams Zimmer war zwar kaum groß genug für sein Bett, den Schreibtisch und den Schrank, doch es war ordentlich. An einer Wand hing das Poster eines Basketballspielers. An der Schranktür lehnte seine Gitarre.

Tanja starrte auf das gerahmte Foto, das auf seiner Kommode stand. Es war ein Schnappschuss von Sam und ihr, der bei einem Schulball gemacht worden war. Es war ein lustiges Bild, auf dem beide idiotisch grinsten.

Als Tanja sich von der Kommode abwandte, merkte sie, dass sie in ein Schlafzimmer im Nachbarhaus sehen konnte. Die Vorhänge waren offen, und es brannte Licht. Tanja konnte im Hintergrund des Zimmers unscharf eine Person erkennen.

Sam holte eine Kassette aus seiner Schreibtischschublade. „Ich spiele dir jetzt etwas vor“, sagte er ernst.

„Eine Kassette? Meinst du Musik?“

„Nein.“ Er steckte die Kassette in den Rekorder.

In diesem Augenblick tauchte im Fenster des Hauses nebenan ein Gesicht auf. Überrascht fuhr Tanja zusammen. Sie blinzelte und versuchte, das Gesicht deutlicher zu sehen.

Es schien unmöglich.

„Sam, sieh mal. Das ist Maura“, flüsterte sie erschrocken. „Spioniert sie uns nach? Was macht sie da drüben?“

Fear Street 58 - Die Mutprobe

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