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Scham und menschliche Dinge

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Im krassen Gegensatz zur Betrachtung des Menschen als durch die kosmische Erhabenheit herabgesetzt konzentriert sich die Handlung in Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges, in der kosmische Aspekte keine Rolle spielen, direkt auf die menschlichen Dinge im großen, aber dennoch menschlichen Rahmen. Um die menschlichen Dinge zu verstehen, inklusive der Geschichte des menschlichen Gefühlslebens, müssen wir wissen, was der Mensch ist. Der Reiz von naturwissenschaftlichen Herangehensweisen an Emotionen besteht darin, dass Emotionen unantastbare Einsichten in die menschliche Natur zu bieten scheinen, die das menschliche Erleben überall und für alle Zeiten erklären können. Die Zirkularität einer solchen Forschung ist offensichtlich. Um das menschliche Erleben zu erforschen, muss untersucht werden, was der Mensch ist, was wiederum durch die Erforschung des menschlichen Erlebens herauszufinden ist. Wer zu Emotionen forscht, weiß oft nicht genau, was sein Gegenstand ist, viele gehen aber von der einen oder anderen gewichtigen Annahme aus: Entweder behaupten sie zu wissen, was der Mensch ist, oder sie behaupten, bereits zu wissen, was eine Emotion ist – für alle Zeiten. Eine kritische Lektüre von Arbeiten aus Psychologie, Philosophie, Evolutionsbiologie und anderen Disziplinen führt zu der Schlussfolgerung, dass diese Annahmen üblicherweise falsch sind.

Es sollte uns allerdings überhaupt nicht überraschen, dass es solche Annahmen durchaus gibt. Zwar streben wir danach, uns selbst zu definieren, jedoch zeigt sich im Verlauf der Zeit sehr deutlich, dass diese Definitionen nicht zutreffend sind. Die logische Schlussfolgerung ist allerdings nicht, dass sich uns die wahre und endgültige Definition, die am Ende einer noch zu findenden Forschungsagenda steht, entzieht, sondern dass wir definitiv der Versuchung widerstehen sollten, diesbezüglich Definitionen vorzunehmen. Wenn kategorische Erklärungen bezüglich der Beschaffenheit und Bedeutung des Menschseins keinen Bestand zu haben scheinen, liegt das vielleicht daran, dass diese Beschaffenheit und Bedeutung selbst sich verändern. Dass das menschliche Wesen nicht festlegbar ist, ist zentral für meine Argumentation in diesem Buch. Carl von Linné hat unsere Spezies wie folgt klassifiziert: Homo, nosce te ipsum (»Mensch, erkenne dich selbst«). Dies impliziert die Unbeständigkeit der Subjektivität. Es ist gerade die Unterschiedlichkeit zwischen Achill und Hektor, durch die sie schließlich als Held und Besiegter voneinander abgegrenzt werden: Hektor hat im Gegensatz zu Achill nicht erkannt, was es bedeutet, menschlich (sterblich) zu sein. Das sich verändernde Schicksal dieser beiden Charaktere könnte als ein Anstieg in der Bedeutung der Weltlichkeit und ein Nachlassen der Gottesfurcht zusammengefasst werden. In jedem Fall bieten sie eine ausgefallene und überzeugende Studie über die Veränderlichkeit von Schlussfolgerungen darüber, was ein Mensch ist und tut.

Aber auch Historiker sind nicht immun gegen die Versuchung, die menschliche Natur definieren zu wollen. Eines der hervorstechendsten Mittel ist hier die Kunst des Übersetzens, wobei gegenwärtig die antike Geschichtsschreibung für eine Beschäftigung mit der Bedeutung des Menschen herangezogen wird. Wie wir gesehen haben, ist auch die Ilias da ein Paradebeispiel. Um dieses Thema näher zu beleuchten, werde ich besonders darauf eingehen, wie die Geschichtswissenschaft mit Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Kriegs umging. Dieses Werk hat den Ruf, sich um die Zeitlosigkeit der menschlichen Natur zu drehen, insbesondere in Bezug auf ihre emotionalen und irrationalen Eigenschaften. Anders als Homer beschreibt Thukydides einen Krieg, der zuverlässig datiert, lokalisiert und kontextualisiert werden kann. Wie deutlich werden wird, ist es der Geschichtswissenschaft zu verdanken, dass sein Werk für die Darstellung der menschlichen Natur als zeitlos bekannt ist. Tatsächlich wird jedoch die Veränderlichkeit der menschlichen Dinge gezeigt. Eine Durchsicht der Übersetzungen aus verschiedenen Zeiten erbringt letztendlich ein Verständnis der Bedeutung des Besonderen in Thukydides’ ursprünglicher Darstellung des Krieges, nicht des Allgemeingültigen. Und dieses Besondere, dieses kontextabhängige Verständnis menschlicher Dynamiken, schließt zwangsläufig affektives Erleben mit ein.

Thukydides (ca. 460–400 v. Chr.) nahm als athenischer General am Krieg zwischen Athen und Sparta teil, der 411 v. Chr. begann. Aufgrund seiner faktenbasierten und »objektiven« Erzählweise gilt er als Vater der Geschichtsschreibung. Seine Beschreibung des Krieges, den er als den größten Krieg aller Zeiten darstellt, kommt ohne Gottheiten und übernatürliche Kräfte aus und konzentriert sich stattdessen auf menschlichen Eifer und menschliche Angst als bedeutende Faktoren für die Entstehung und den Verlauf von Konflikten zwischen Gemeinwesen. An anderer Stelle habe ich Thukydides’ Werk als die erste Emotionsgeschichte dargestellt, weil in der Weise, wie die Ereignisse erzählt werden, deutlich wird, dass die Menschen dazu neigen, Leidenschaften zu erliegen, denen sie angeblich widerstehen können.26 Da Thukydides’ Darstellung viele Beispiele für die politische Argumentationsweise und Rhetorik Athens enthält, wird die Handlung dementsprechend von den Folgen von Angst und Eifer, von gesellschaftlich erwarteten Leidenschaften und vom Durchbrechen dieser Erwartungen getragen.

Das Gefühl, dass man das, was man sät, später ernten wird, ist zentral für das heutige Verständnis von dem, was laut Thukydides die anhaltende Bedeutung seines Werks ausmacht: dass er einen Krieg beschreibt, mit dem andere später ihre eigenen Kriege identifizieren würden. Diese Identifizierung mit Thukydides’ Werk wurde jedoch über die Jahrhunderte in großen Teilen dadurch beeinflusst, dass zahlreiche Leser sowie Übersetzer versucht haben, die Darstellung mit ihrem eigenen Verständnis von Geschichte, dem Voranschreiten der Zeit sowie der Bedeutung der Hauptfigur der Geschichte – dem Menschen – in Einklang zu bringen.

Die ruhmreiche Mary Beard, einst wohl die erste Fernsehhistorikern, bemerkte 2010, dass Thukydides’ Griechisch »aufgrund von Neologismen, unbeholfenen Abstraktionen und linguistischen Eigenheiten aller Art nahezu unverständlich ist«. Dieser Umstand hatte einen späteren griechischen Historiker, Dionysios von Halikarnassos, dazu veranlasst, Thukydides’ »gequälte Formulierungen« und »rätselhafte Obskuritäten« zu kritisieren. Er merkte an, dass, »wenn Menschen tatsächlich so sprechen würden, nicht einmal ihre Eltern dies ertragen könnten«. Sie bräuchten »Übersetzer«. Beard schlussfolgert, dass Übersetzungen, die »flüssig und leicht zu lesen sind, [...] das griechische Original sehr schlecht vermitteln. Je ›besser‹ sie sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie Thukydides’ Stil reflektieren.« Sie weist darauf hin, dass Thukydides viele der »geistreichen Bemerkungen, die ihm zugeschrieben werden, überhaupt nicht gemacht hat«.27

Thukydides vermittelt den Eindruck eines universellen menschlichen Erlebens. In einer einfachen Lesart könnte dies als permanentes Vorhandensein von, oder zumindest als Potenzial für Eifer und Enthusiasmus verstanden werden, insbesondere im Zusammenhang mit Macht. Und wo es ein Streben nach Macht gibt, gibt es irgendwo anders irgendjemanden, der in gleichem Maße Angst empfindet. Diese menschlichen Faktoren der Angst und des Strebens nach Macht plagen jedes Individuum entsprechend seiner Nähe zum Ort der Angst oder den Instrumenten der Macht. Zu Beginn seines Werks kündigt Thukydides an, dass sich diese Dinge wiederholen werden, was in seiner Darstellung des Krieges, in dem das Streben nach Macht und die Angst vor Macht den Athenern und Peloponnesiern gleichermaßen bemerkenswert ähnliche Schwierigkeiten und Niederlagen bescherten, immer wieder bestätigt wird. Das, was Thukydides’ Darstellung definiert, könnte als emotionale Schwäche oder als das Versagen von Vorsicht und Vernunft sowohl in Bezug auf das Streben nach Macht als auch auf den Anstieg von Angst interpretiert werden. Die essenzielle Menschlichkeit dieser Schwäche fungiert als allgemeine Ursache dafür, dass diese Art von Krieg sich wiederholen wird, oder wenigstens, dass Kriege grundlegend ähnlich wirken werden.

In Einklang mit Beards Skepsis muss die Frage gestellt werden, wie dieser Eindruck von einem roten Faden in Thukydides’ Erzählung entstanden ist. Dieser steht gewiss in krassem Gegensatz zu Aristoteles’ Einschätzung dessen, was Historiker tun. Vermutlich hat der Philosoph in Thukydides’ griechischem Original keinerlei Behauptungen gelesen, die Zukunft in Bezug auf die menschliche Natur voraussagen zu können:

Denn ein Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben (man könnte die Bücher Herodots in Vers bringen, und sie blieben um nichts weniger eine Form der Geschichtsschreibung, in Versen wie ohne Verse), der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was geschehen ist, der andere dagegen, was geschehen müsste. Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar. […]. Auch wenn es sich also ergibt, dass er Geschehenes dichterisch behandelt, ist er trotzdem ein Dichter. Denn es gibt keinen Grund, warum nicht auch wirkliches Geschehen manchmal so sein kann, wie es wahrscheinlich geschehen würde und wie es dem bestimmten Charakter eines Handelnden nach möglich ist, dass es geschieht, und das ist es, was das Dichterische an seiner Behandlung dieses Geschehens ausmacht.28

Dennoch hat Thukydides einen geradezu gegenteiligen Ruf. Ich nehme an, dass der Grund hierfür im Dünkel seiner Übersetzer liegt, die für die Geschichtswissenschaft Ansprüche angemeldet haben, die Aristoteles für die Dichtung reserviert hatte.29 Die historiografische Bedeutung des Werks wird üblicherweise im 22. Kapitel des ersten Buchs verortet. Die zentrale Formulierung im griechischen Original lautet wie folgt: κατὰ τὸ ἀνθρώπινον (kata to anthropinon). Steven Lattimore übersetzt die entsprechende Passage folgendermaßen (hier in dt. Übersetzung; die zentrale Formulierung ist kursiv gesetzt): »Wenn aber [meine Worte] von irgendjemandem als hilfreich bewertet werden, der die schlichte Wahrheit bezüglich vergangener Ereignisse sowie jener, die entsprechend der menschlichen Natur in der Zukunft auf ähnliche oder vergleichbare Weise wiederkehren werden, sehen möchte, ist das genug.«30 Kata to anthropinon (hier: »entsprechend der menschlichen Natur«) wurde von den Übersetzern unterschiedlich interpretiert, wobei die Tendenz, etwas Zeitloses und »Natürliches« auszudrücken, charakteristisch ist für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Rex Warner zum Beispiel hat die Formulierung im Sinne von »die menschliche Natur als das, was sie ist« übersetzt, Robert Lisle als »solange Männer Männer sind«.31 Sogar die jüngste Übersetzung ins Englische von Martin Hammond geht in diese Richtung (hier in dt. Übersetzung, die zentrale Stelle abermals kursiv): »Ich bin zufrieden, wenn es von denen als hilfreich bewertet wird, die ein klares Verständnis dessen wünschen, was passiert ist, sowie dessen, was entsprechend der menschlichen Beschaffenheit irgendwann nach gleichem oder ähnlichem Muster wieder passieren wird.«32 Dasselbe gilt für Übersetzungen in andere Sprachen. Die deutsche Übersetzung von Vretska und Rinner beispielsweise lautet: »gemäß der menschlichen Natur«33. Insgesamt wird Thukydides als jemand dargestellt, dessen Zufriedenheit mit seinem Werk auf dessen Nützlichkeit als zeitloses Beispiel dafür, was ein Mensch ist und was er tut, beruht. Es ist eine Blaupause, die dazu dient, zu verstehen, warum sich Menschen in bestimmten Situationen, die aufgrund eines bestimmten Verhaltens entstehen, auf eben diese Art verhalten.

Ältere Übersetzungen sind in Bezug auf kata to anthropinon weniger eindeutig. Thomas Hobbes, der Thukydides als Erster ins Englische übersetzte, entschied sich sinngemäß für »entsprechend der Beschaffenheit der Menschheit«, Benjamin Jowett, der viktorianische Altertumswissenschaftler, für »in der Ordnung der menschlichen Dinge«.34 Beide Übersetzungen lassen Raum für Interpretationen. Die erste impliziert, dass die Beschaffenheit der Menschheit unbeständig sei, die zweite bezieht sich auf eine Kategorie – »menschliche Dinge« –, die nicht sofort verständlich ist. In den frühen 1980er-Jahren schrieb Marc Cogan ein Buch mit dem Titel The Human Thing – laut ihm die wörtliche Übersetzung von anthropinon, das von so vielen anderen als »menschliche Natur« übersetzt wird.35 Der Begriff wird im Griechischen sehr selten verwendet. Bei Thukydides kommt er nur einmal vor, weshalb es unmöglich ist, die genaue Bedeutung zu verstehen, wenn er nicht im Gesamtkontext von Thukydides’ Werk gesehen wird. Es sollte jedoch klar sein, dass Thukydides’ Verkündung der Universalität der menschlichen Natur, aufgrund derer sich die Geschichte wiederholt, genau eine dieser geistreichen Bemerkungen ist, die Thukydides nie formuliert hat. Es kann mit Sicherheit gesagt werden, dass definitiv nicht die »menschliche Natur« gemeint ist, denn auf sie bezieht sich Thukydides an anderer Stelle in seiner Darstellung des Krieges (ἀνθρωπείαν φύσιν – anthropeian physin).

Wenn die Bedeutung von Thukydides’ Werk in seiner Interpretation »der menschlichen Dinge« und nicht der menschlichen Natur liegt, ist es offensichtlich essenziell, zu klären, was damit gemeint ist. Ich behaupte, dass es Thukydides’ Kernaussauge ist, dass Menschen durch ihre Kontingenz, ihren Wankelmut und ihre Neigung, in Notsituationen von ihren Leidenschaften überwältigt zu werden, charakterisiert sind. Damit sind sie keine feste natürliche Kategorie, die aus der Geschichte eine Art vorhersehbare Wissenschaft macht. Das einzig Vorhersehbare ist, dass Menschen sich unberechenbar verhalten, wenn sie unter Druck stehen. Die wesentliche Zutat für diese Instabilität des Temperaments ist eine affektive Schwäche. Somit scheitern alle Versuche, das menschliche Handeln als rational zu beschreiben.

Thukydides’ Darstellung der Trauerrede des Perikles, in der dieser die Tugenden des athenischen Charakters preist und die Pest beschreibt, veranschaulichen dies perfekt. Perikles lobt den Mut und das Pflichtbewusstsein der athenischen Bevölkerung und weist auf ihre affektive Disposition als Garant dieser Tugenden hin. Die Athener sind gute Nachbarn und vermeiden es, andere zu verärgern. Sie respektieren das Gesetz, dessen Bruch als Quelle von Scham, Entehrung oder Schande (αἰσχύνη – aischyne) gilt. Sie gönnen ihrem Geist Erholung und verbannen schmerzliche Sorgen (λυπηρὸν – lyperon) durch Spiele und Feste. Sie lieben die Schönheit und das Wissen auf eine Art, die ihre Verweichlichung (wörtlich: »Weichheit«, μαλακία – malakia) verhindert. Nicht die Armut selbst ist eine Schande, sondern das Scheitern im Kampf, ihr zu entkommen. Stolz definiert somit das bürgerliche Leben. Anstatt über die Chancen des Erfolgs nachzudenken, überlassen sie das Ergebnis der Hoffnung (ἐλπίς – elpis), und ihr Leben gipfelt in Herrlichkeit statt in Angst (δέος – deos).36 Athen selbst, die Stadt, die sich auf ihre Ahnen beruft, garantiert und gestaltet diese Eigenschaften. Die Athener sind Liebhaber (ἐραστὰς – erastas) der Stadt, deren Macht durch mutige Männer mit der Verpflichtung, Schande zu vermeiden, erlangt worden ist. Diese dynamische Beziehung zeigt sowohl die Abhängigkeit ihres Gefühlszustands vom Wesen der Stadt als auch die mutige Verpflichtung, die die Zugehörigkeit zur Stadt impliziert. Ein allgemeines Gefühl der Erfüllung und Zufriedenheit mit dem Leben (εὔδαιμον – eudaimon)37 hängt von der Freiheit (ἐλεύθερον – eleutheron) ab, und Freiheit wiederum von Mut – oder wörtlich: einer Güte der Seele (εὔψυχον – eupsychon). Krieg wird somit zum natürlichen Mittel zur Zufriedenheit und durch die Logik der kollektiven Teilhabe an den politischen Institutionen gerechtfertigt. Krieg, Bürgerschaft, Mut (die Bekämpfung der Angst), Ehre, Liebe und Zufriedenheit sind alle Teil einer dynamischen Beziehung zwischen Individuum und Stadt.38 Nichts davon ist verzichtbar.

Diese Lobrede auf die affektiven Eigenschaften und heldenhaften Tugenden verliert ihre Bedeutung, als die Pest beginnt, in der athenischen Bevölkerung zu wüten.39 Der veränderte Kontext des bürgerlichen Lebens löst die enge Beziehung zwischen tugendhafter Bürgerschaft und ruhmreicher Stadt so weit auf, dass jeder Aspekt von Perikles’ Rede sich in das Gegenteil verkehrt. Die Bevölkerung, die von Angst überwältigt ist, befolgt die Gesetzte nicht mehr und sucht das Glück eher im Hedonismus als durch Mut. Da der Tod keine Unterschiede macht, wenn er durch die Straßen zieht, und keine heroische Tat ihn aufhalten kann, muss ein Verlangen sofort befriedigt werden. Die Gesetze und das Justizsystem geraten angesichts der wütenden Pest zu leeren Kategorien. Die Institutionen, die die Leute in die Stadt integrieren, brechen zusammen, und die nun wieder individualisierte Bevölkerung geht rücksichtslos ihren Leidenschaften nach. Weder eine Angst vor Gott noch die vor Bestrafung zügelt ihre Hingabe, die durch die Angst vor dem Tod motiviert ist. Thukydides vermittelt sowohl ein Verständnis der Leidenschaften als Ursache der Ereignisse als auch ein Verständnis der Gefahren, die von den Leidenschaften ausgehen, wenn sie nicht durch die Gemeinschaft kontrolliert werden. Diese Verstöße untermauern das Argument, dass Athen von der affektiven Kontrolle und dem Anbinden der menschlichen Dinge an die Polis abhängig war.

Die Veränderlichkeit der menschlichen Dinge stand in Verbindung mit der Untätigkeit der politischen Institutionen, und so waren die Individuen in die Dynamiken der Polis eingeschlossen. Menschliche Dinge sind kollektive Dinge. Thukydides zeigt in seiner Darstellung des Krieges wiederholt, was passiert, wenn Individuen von Leidenschaften überwältigt werden und diese durch politische Institutionen ausleben. Die Tücken der menschlichen Dinge sind in dieser Dynamik zwischen Individuen und Institutionen zu finden. Bei Thukydides stehen die Menschen immer in einem Verhältnis zur Macht und zu ihren Institutionen, wobei die Macht entweder ausgewogen oder ungleich verteilt ist. Im zweiten Fall erliegen bei Thukydides die Mächtigen dem Eifer, die Ohnmächtigen der Angst. Beides bringt das Schlechteste im Menschen als Individuum zum Vorschein, aber es sind die Institutionen der Menschen, die sie in den Krieg treiben. Die Angst der Peloponnesier und das Streben Athens nach Macht haben ohne die politischen Strukturen, die Verortung des Menschen innerhalb der Polis, die ihr Schicksal besiegelt, keine Bedeutung. Obwohl Thukydides eindeutig die Demokratie der Oligarchie vorzieht, geht er davon aus, dass Machtdynamiken unabhängig von der Herrschaftsform zu Krieg führen und dass alle Regierungssysteme entweder dem Streben nach Macht oder – angesichts des Bestrebens anderer Regime, ihre Macht auszudehnen – der Angst unterworfen sind. Was Menschen tatsächlich tun, wie sie fühlen, wie sie handeln, ist herzlich chaotisch. Wenn es aber in Bezug auf die menschlichen Dinge Stabilität gibt, ist diese nicht in der Biologie zu finden, sondern im Konflikt zwischen Regimen, die Menschen sowohl integrieren als auch entfremden.

Ein Großteil von Thukydides’ Darstellung besteht aus Dialogen und Reden. Die zentralen Dialoge finden charakteristischerweise jedoch nicht zwischen einzelnen Personen statt, sondern zwischen Städten, denen jeweils eine individuelle Stimme gegeben wird. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der sogenannte Melierdialog, in dem Athen die Unterwerfung der Insel Melos fordert; andernfalls würde sie zerstört.40 Es spricht hier kein Individuum, sondern die jeweilige Stadt. Ich erwähne den Melierdialog an dieser Stelle, weil er insofern beispielhaft für Thukydides’ Darstellung der »menschlichen Dinge« ist, als er eine rationale rhetorische Herangehensweise mit einer These bezüglich der Macht bestimmter Leidenschaften und der Wirkungslosigkeit anderer kombiniert. Die Tatenlosigkeit ist hier in der Bedeutung von Armeen und der Logik politischer Institutionen begründet. Hoffnung führt zur Zerstörung der Schwachen, der Hass auf die Starken ist ein Zeichen ihrer Stärke.

Der Dialog beginnt mit einem wesentlichen Hinweis auf menschliche Auseinandersetzungen (ἀνθρωπείῳ λόγῳ – anthropeio logo). Athen behauptet, dass Gerechtigkeit hierbei nur möglich sei, wenn beide Seiten gleich mächtig seien. Bei Ungleichheit hingegen nehme die starke Partei, was sie könne, und die schwache unterwerfe sich, soweit wie nötig. Stärke und Schwäche sind hier jedoch nicht auf ein bestimmtes Individuum zu beziehen, sondern auf die kollektive Stärke der jeweiligen Gemeinwesen. Die menschlichen Auseinandersetzungen – in manchen Übersetzungen als »menschliche Erwägungen« oder »menschliche Angelegenheiten« bezeichnet – sind nicht von den staatsbürgerlichen Angelegenheiten zu trennen. Die Athener, die stärkere Partei in diesem Streit, fordern deshalb die vollständige Unterwerfung der Melier, die ansonsten der völligen Zerstörung entgegensähen. Dabei implizieren sie – was sie rechtzeitig deutlich gemacht haben –, dass Stärke bei menschlichen Angelegenheiten eine bestimmte Haltung erfordert. Sie lehnen die Neutralität oder Freundschaft der Melier ab, da eine solche Gnade angesichts der Machtdynamiken ein Zeichen der eigenen Schwäche sei. Tatsächlich befürchtet Athen zu diesem Zeitpunkt, schwach geworden zu sein. Der Hass (μῖσος – misos) der Melier hingegen ist ein Zeichen und eine Bestätigung der Macht Athens. Die Athener sehen in ihrer Rede in einer kollektiven affektiven Disposition eines Feindes eine Bestätigung für den eigenen politischen Willen zur Unterwerfung oder Zerstörung.

Die Melier ihrerseits richten in ihrer Rede Bitten an Fortuna und an die Hoffnung: Ihr Glück im Krieg soll dem der Athener gleichen, ihre Hoffnung am Leben gehalten werden, solange sie nicht kapitulieren. Die Athener jedoch bezeichnen die Hoffnung laut den meisten Übersetzungen als »Trösterin der Gefahr«. Sich der Hoffnung hinzugeben, ist nur dann zu rechtfertigen, wenn sie mit greifbaren Mitteln zum Erreichen von Erfolg einhergeht. Die Athener weisen darauf hin, dass es noch einen Weg gibt, wie sich die Melier retten können, – Kapitulation – und dass es nicht klug wäre, wenn sie ihre Hoffnungen in unsichere Mittel – wie Prophezeiungen oder Orakel – setzten, die gemeinsam mit der Hoffnung zum Untergang führen würden. Die Athener sehen die Hoffnung als eine Art Augenbinde, die verhindert, dass Menschen ihr Schicksal sehen, welches jedoch unausweichlich ist, sofern keine konkreten Schritte unternommen werden, um es zu ändern. Dieses Festhalten an blinder Hoffnung geht mit der Sorge um Scham oder Schande einher, wodurch die Menschen davon abgehalten werden, das zu tun, was notwendig ist, um sich zu retten. Dies führt letztendlich zu einer noch größeren Schande, wenn die Menschen von den Ereignissen eingeholt werden. Die Athener sind von der Wahnhaftigkeit der Hoffnung der Melier überzeugt und kündigen die vollständige Zerstörung an.

Wie es für Thukydides’ Darstellung üblich ist, schließt sich an diesen Dialog eine Beschreibung der Ereignisse des Sommers an, gefolgt von einem kurzen Überblick über weitere Geschehnisse in Melos im darauffolgenden Winter. Der explizit menschliche Fokus des Dialogs, der Städte mit affektiven sowie die Vernunft betreffenden Eigenschaften verbindet, geht im trivialen Berichten der Ereignisse sofort verloren. Die Schmucklosigkeit von Thukydides’ Darstellung ist angesichts des Tons der athenischen Perspektive in Bezug auf die Ordnung der Dinge, die ihr vorausgegangen ist, wahrhaft erschreckend. Die Athener hatten die Melier gewarnt, dass der Natur entsprechend (φύσεως ἀναγκαίας – physeos anangkaias) die Starken über die Schwachen herrschen müssen. Thukydides’ gesamte Darstellung des Krieges illustriert sein Argument, dass alle menschlichen Dynamiken auf das Streben nach Macht und die Angst vor Macht, auf Stärke und Schwäche in einem ungleichen Verhältnis reduziert werden können. Letztendlich wird das Schicksal der Bevölkerung von Melos durch dieses natürliche Axiom, dem die menschlichen Dinge verpflichtet sind, besiegelt. Nach einer kurzen Erhebung schickt Athen Verstärkung nach Melos, um die Belagerung zu festigen. Die Melier werden besiegt und ergeben sich. Alle Männer im wehrfähigen Alter werden getötet, alle Frauen und Kinder als Sklaven verkauft. Melos wird zur Kolonie für athenische Siedler.

An vielen Stellen fehlen Informationen über die Gefühle der handelnden Personen. In den Monaten zwischen dem Melierdialog und der Zerstörung der Lebensweise der Melier trat vermutlich vieles von dem ein, was die Athener vorausgesagt hatten. Die Melier hielten sich an ihrer Hoffnung und ihrem Stolz fest, also an der Ursache für ihren entwürdigenden Untergang. Das Objekt der Hoffnung ist hier eine Fantasie, die Konsequenz der Ruin. Das Streben der Athener nach Macht besiegt den spärlichen Widerstand der Melier, aber für ihre Zerstörung ist gerade der Mangel an Angst verantwortlich. Hätten sie sich entsprechend den Erwartungen Athens gefürchtet, nämlich vor dessen Macht, dann hätten sie kapituliert und ihre Versklavung akzeptiert – aber sie hätten wahrscheinlich überlebt. Stattdessen konzentrierte sich die Angst der Melier auf die Schande, die mit einer Kapitulation einhergeht. In diesem Fall wird Stolz zu einer Form von Angst. Der Cocktail aus Hoffnung und Stolz, eine Kombination zweier negativer Dinge, hat das Schicksal der Melier nicht nur besiegelt, sondern es gemäß den Erwartungen Athens sogar noch verschlimmert.

Die Geschichte der Gefühle

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