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Kapitel 2: Schicksal

"Möchten sie sich vielleicht hier hin setzen? Dann müssen sie nicht stehen". Das war Madeleines erster Satz, als wir uns begegneten.

Es war im späten Sommer, die letzte Augustwoche, als wir uns das erste Mal über den Weg liefen. Eine der Mittagspausen, in der ich manchmal in die Stadt ging, um der Arbeit für eine Stunde zu entfliehen, neue Kraft tanken. An dem Platz standen (und stehen immer noch) zwei Sitzbänke. Madeleine hatte gerade auf der rechten Bank Platz genommen, ich auf der linken. Wahrgenommen hatte ich sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht, als sich plötzlich über mir am Gebäude jemand dazu entschlossen hatte, mit Bauarbeiten zu beginnen, so dass Teile von oben herabfielen und ich dazu gezwungen wurde, aufzustehen. Madeleine mußte das bemerkt haben, ihr Angebot, mich ersatzweise zu ihr auf die Bank zu setzen, nahm ich dankbar an- im Stehen zu essen, ist nicht wirklich meine Sache.

Es war eine dieser Gelegenheiten, bei denen man schnell ins Gespräch kommt. Sie erzählte mir von sich - Dass sie Französin ist, aber hier geboren und aufgewachsen. Dass sie vor kurzem erst wieder aus Frankreich zurück kam, ziemlich mittellos und kaum Freunde hier hat. Dass sie gerade einen neuen Job in einer renommierten Bar am Sportplatz angenommen hatte, um über die Runden zu kommen. Und, für diese Offenheit bin ich bis heute dankbar, von ihrer dunklen Vergangenheit, die sie hinter sich lassen möchte. Es hat mich tief beeindruckt, wie offensiv sie bei der ersten Begegnung damit umging.

Sie hatte Schlüssel und Handy vergessen, kam nicht zurück in ihre Wohnung, musste warten, bis ihr Mitbewohner wiederkam - "Ich bin ziemlich verpeilt", sagte sie. Worauf diese Verpeiltheit beruhte, sollte ich in einem langen Prozess mit viel Geduld noch herausfinden.

Meine Handynummer schrieb sie mit Lippenstift auf die Rückseite eines Kassenzettel - Handy und Stift waren ja nicht verfügbar - und wir verabredeten uns spontan für Freitag abend.

Nach fast 2 Stunden Unterhaltung ging ich zurück an die Arbeit und sie wartete darauf, bis ihr Mitbewohner zurück kam und die Tür offnete. Ihre letzten Worte waren: "Das wir uns hier getroffen haben, war Schicksal". Wie schicksalhaft das noch werden würde, sollte ich noch sehen. Es war eine Begegnung, die uns beide an die Grenzen des Machbaren bringen würde. Und darüber hinaus.

Kapitel 3: Geduld

Dass man für Madeleine viel Geduld aufbringen mußte, zeigte sich am Tag der ersten Verabredung. Punkt 22 Uhr zur verabredeten Zeit war ich am vereinbarten Ort. Alleine. Und das sollte, natürlich, so bleiben. Was hatte ich auch erwartet? Die Chancen, dass das funktionierte, standen 50:50. Nach einer Stunde ging ich wieder. Sie hatte zwar meine Nummer, aber ich nicht ihre. Man konnte davon ausgehen, dass sie in ihrer sprichwörtlichen Verpeiltheit den Termin einfach vergessen hatte. Wenn da nicht mein kleiner Dämon diese kleinen fiesen Stiche versetzt hätte: "Sie hat dich vergessen, die kommt nicht, die wollte nicht, du bist einfach nicht der Typ, mit dem man was Trinken geht, sieh es ein." Jeder Mann hat so einen kleinen, fiesen Mistkerl im Ohr, ohne Ausnahme. Dabei hat der nicht mal einen Namen.

Und jeder Andere hätte vermutlich das Handtuch geworfen - ich hatte keine Telefonnummer, keine Adresse, nichts, was mir ermöglicht hätte, Madeleine zu treffen und nach den Gründen zu fragen, warum sie mich versetzt hatte. Bis auf einen - ich wußte, wo sie arbeitete: Eine Bar am Sportplatz. Internet sei Dank, man kann ja suchen und, von Zeit zu Zeit, auch finden. Und tatsächlich wurde ich fündig. Montag war dort Ruhetag, Dienstag würde ich hingehen.

Es war nur der erste Fall einer endlosen Reihe von Fällen, die mir ein unglaubliches Maß an Geduld abverlangen würden, und die jedes Mal diesen kleinen fiesen Teufel in mir wecken würden, der wieder Zweifel ins Hirn streute, warum ich mir das antue. Von meiner gesamten Ausbildung, Arbeit und meiner Persönlichkeit her war ich bis zu diesem Zeitpunkt an Pünktlichkeit und Verlässlichkeit gewöhnt. Hier wurde ich mit dem genauen Gegenteil konfrontiert, was meine Geduld bis an die Grenze strapazierte und weiter strapazieren würde. Vielleicht war es aber gerade diese Herausforderung, die reizvoll war. Das ist bei mir so, Herausforderungen müssen angenommen und gemeistert werden.

Ich würde noch lernen müssen, wie viele Anläufe es brauchen würde, sich mit Madeleine zu verabreden, wie viele Male der Vertröstung ich an kalten und regnerischen Abenden verbringen würde (woran überhaupt nichts Romantisches war). Ich habe sie nicht gezählt. Irgendwann hat Madeleine bei jedem Mal danach dann den Hinweis gebracht, warum ich es mit ihr aushalte und nicht einfach weggelaufen bin.

Übrigens, als kleine Zwischenepisode: Vor dem Haus, in dem sie wohnte, standen eine Reihe von Mülltonnen. Da ich ziemlich oft unten warten mußte, bis sie kam, habe ich irgendwann begonnen, den Tonnen Namen zu geben. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass ich alle Tonnen mit Namen kenne. Und weil auf den Tonnen die Beschriftung in mehreren Sprachen vorlag, konnte ich mir das Wissen aneignen, was bspw. „Mülltonne“ auf Türkisch bedeutet: çöp tenekesi.

Acht Verabredungen nacheinander führten zu acht recht einsamen Abenden in der Nähe ihrer Wohnung. "Meine Freundin/Schwester musste ins Krankenhaus", "Mir gehts nicht gut", "Ich bin nicht zu Hause", "Meine Mama ist da", oder einfach gar nichts.

Es ist wahrscheinlich meiner Hartnäckigkeit, meiner Neugierde und meinem Misstrauen geschuldet, dass ich nicht bereits nach dem dritten Mal das getan habe, wo Andere keinen Moment gezögert hätten: Die Notbremse zu ziehen und zu gehen. Vielleicht war es auch nur ein Hauch von einer Ahnung, dass Madeleines Probleme doch noch komplexer sind, als ursprünglich angenommen und dass ein Gehen die Sache schlimmer machen würde.

Und ich hatte Recht.

Spätestens seit diesem Zeitpunkt weiß ich: Es braucht viel Geduld im Umgang mit ihr. Sehr viel Geduld. Wenn man es genau nimmt- der Bedarf geht tatsächlich gegen unendlich. Nur ein ganz besonderer Mensch hat soviel Geduld wirklich verdient. Madeleine ist ein besonderer Mensch. Denn Madeleine ist eine Powerfrau. In vielerlei Hinsicht.

Kapitel 4: Powerfrau

Wann immer ich Madeleine bei der Arbeit gesehen habe, hat sie mich beeindruckt. Sie hat eine unglaubliche Fähigkeit, sich in Arbeit zu stürzen. Das fiel mir auch an jenem ersten Abend auf, als ich sie das erste Mal in der Bar besuchte. Nach der geplatzten Verabredung war das die einzige Anlaufstelle, die ich hatte. Ich war nicht einmal sicher, ob ich sie dort überhaupt finden würde. Wie sich herausstellte, mußte ich mir keine Sorgen machen. "Ich wußte, dass du kommen würdest", ihre ersten Worte. Damit war der Kontakt wieder hergestellt. Die Lippenstift-Handynummer hatte sie tatsächlich noch in ihrer Tasche.

Sie machte mir schnell klar, dass sie ihre Arbeit nicht vernachlässigen würde - es war ihr erster Job seit Langem - und sie machte ihn großartig. Ihr Eifer und ihre Art mit den Gästen umzugehen, ihr Wille, den Job gut zu machen, alles daran war überdurchschnittlich vorhanden.

Im Laufe der nächsten Wochen fuhr ich sie abends von ihrer Wohnung zur Bar, manchmal auch zurück, sofern es nicht zu spät wurde. Der Weg nach Hause war lang. Was Madeleine anging, konnte man sich sicher sein: Wenn sie etwas wirklich wollte, lief sie stur bis ans Ende der Welt. Leider auch im negativen Sinn, das fand ich später auch heraus. Da die Handynummern mittlerweile getauscht waren, lief die Kommunikation nun deutlich besser.

Madeleine war der Typ, der über seine Grenzen hinaus ging, wenn sie etwas wirklich wollte. Und sie wollte sich verbessern, alles hinter sich lassen. Sie arbeitete wenn es sein musste von sechs Uhr abends bis fünf Uhr morgens, ging weit über ihre Kräfte hinaus.

Eines Tages rief sie mich dann an, teilte mir mit, sie hätte den Job in der Bar geschmissen. Es war zu viel, schlecht bezahlt, sie kam mit dem Chef nicht zurecht und die Arbeitszeiten waren miserabel geplant.

Sie hatte bereits etwas Neues, eine andere Bar, in der sie, wie sie sagte, freiere Hand hatte, die Bar gestalten, wie sie wollte, da der Betreiber selbst nicht so erfahren war.

Dass sie sich dort austoben konnte, zeigte sie bald, übernahm die Halloween-Dekoration, kaufte die Deko ein und steckte unglaublich viel Engagement und Herzblut in die Sache. Wer ihr in die Quere kam, bekam ihr französisches Temperament zu spüren- Geduld war nicht ihre Sache. Sie machte einfach ihr Ding, volle Kraft voraus. Hätte sie die Titanic kommandiert, wäre diese bereits 5 Tage früher in New York angekommen und hätte 5 Eisberge und einen Leuchtturm vor sich her geschoben.

Tatsächlich hatte sie zwei Jobs - tagsüber putzte sie mit einer Reinigungsfirma, abends ging sie in die Bar bis morgens. Dass sie sich damit komplett überforderte, merkte sie nicht. Sie wollte raus aus dem Loch, Geld verdienen, unabhängig sein. Das war ihr deutlich wichtiger, als ihre Gesundheit. Sie fing an, müde zu werden und tagsüber zu schlafen, verpasste Termine. Doch Aufhören kam nicht in Frage, für sie stand zu viel auf dem Spiel, als dass sie ihren kleinen, aber wichtigen Neuanfang gefährden wollte. Und so machte sie weiter.

Was sie nicht bemerkte: Sie war zu diesem Zeitpunkt auf einem sehr unguten Weg. Im verzweifelten aber hoch ambitionierten Versuch, ihrer Misere zu entkommen, überanstrengte sie sich bis zur Erschöpfung, verpasste wichtige Termine bei Arzt und Amt, und damit den Teil ihres Lebens, der ihre soziale Grundlage für den Neuanfang bedeutet hätte. Sie war drauf und dran, in einen Teufelskreis zu geraten, aus dem sie nicht mehr herauszukommen drohte. Wenn sie nachts arbeitete, war sie tagsüber erschöpft, konnte sich nicht um ihr Leben kümmern. Wie sie diesen extremen Rhythmus durchhalten konnte, entdeckte ich erst spät. Fast zu spät.

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