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Der Dagorista hält in allem das rechte Maß

Ihin da Achran

Ihin da Achran liebte dieses Schiff. Sie hatte die TIA'IR nach Arkon II überführen lassen, während sie selbst mit Charron da Gonozals TAI'GONOZAL auf dem Weg dorthin gewesen war. Was war ihr entgangen, weil sie das Schiff nicht selbst geflogen hatte!

Die TIA'IR war so verführerisch, dass Ihin die Zentrale nur ungern verließ. Selbst die goldenen Tropfen in den schneeweißen Ranken, die die Türrahmen bildeten, wirkten nicht protzig, sondern stilvoll. Überall hingen Tücher, die bei passendem Lichteinfall glitzerten. Bislang hatte Ihin kein einziges Element entdeckt, das rein funktional gestaltet gewesen wäre. Alles, vom Stuhl bis zum Holoprojektor, sogar die Sprungdornen im Innern des Transitionstriebwerks, war mit geschmackvoller Ästhetik ausgeführt. Dieses Schiff atmete den Geist seiner ursprünglichen Besitzerin, einer gewissen Prinzessin Crysalgira.

Das behauptete jedenfalls Atlan da Gonozal. Im Orbit von Arkon II, mitten in der Katastrophe des Absturzes einer Himmelsstadt, hatte dieser nicht nur seine Tarnung als Schatzjäger aufgegeben, sondern ihr auch eröffnet, dass er ein vor zehntausend Jahren verschollener Kristallprinz war. Eine unglaubliche Behauptung, die er aber durch eine erstaunliche Faktenkenntnis der Paradeuniformen jener Epoche hatte untermauern können. Wichtiger war Ihin, dass er und seine Begleiterin Belinkhar, die ehemalige Matriarchin eines Mehandorgespinsts, Verbündete im Kampf gegen den Regenten waren. Leider war Charron schon auf dem Weg nach Debara Hamtar gewesen, bevor er und sein Urahn sich hatten treffen können. Dabei hatte Atlan da Gonozal sogar versucht, ihn zu kontaktieren.

Ihin hatte ihren beiden Gefährten neue Tarnidentitäten besorgt. Davon besaß sie reichlich, weil sie immer wieder welche brauchte, wenn sie ihre Kurtisanen auf verdeckte Missionen schickte. Dann hatten sie sich auf den viel zu kurzen Flug von Arkon II nach Arkon III gemacht, ein Schnitt durch die Umlaufbahn, auf der sich drei der vier Planeten des Lenim Ranton bewegten.

Die Bordpositronik sprach mit Prinzessin Crysalgiras melodiöser Stimme. »Drei Geschütze sind auf uns gerichtet.«

Ihin runzelte die Stirn. Die Hoffnung, dass die ortungshemmende Wirkung der roten Lackierung ihr das ersparen würde, hatte sie nie ernsthaft gehegt. Schließlich befanden sie sich im Anflug auf die Zentralwelt der arkonidischen Flotte, im herkömmlichen Sprachgebrauch oft »die Kriegswelt« genannt. Aber dass die Abwehrbatterien bereits so weit draußen dermaßen dicht waren, hatte sie nicht in Erinnerung. Die optischen Sensoren lieferten von dem Planeten wenig mehr als einen verwaschenen Flecken. Die größtenteils ferngesteuerten Geschütze, die hier im All lauerten, blieben verborgen. Was keinesfalls bedeutete, dass sie zu weit entfernt gewesen wären, um die TIA'IR unter Feuer zu nehmen.

Ihin wischte das Holo des Soldaten, der sie angefunkt hatte, in eine zentrale Position. »Was soll das? Wissen Sie nicht, wer ich bin?«

»Doch, natürlich. Sie sind die Rudergängerin des Trosses.« Der Mann war nicht einmal ein Offizier. Dennoch schien er unbeeindruckt davon, mit einer der höchsten Würdenträgerinnen des Imperiums zu sprechen. Seit der Regent das Militär ständig als Rückgrat des Reiches pries, waren manche Soldaten der Meinung, dass dem Zivilisten zum echten Arkoniden die Flottenuniform fehlte.

Dabei trug Ihin sogar eine Uniform, nur eben die falsche. Aber mit diesem Burschen würde sie schon fertig werden. »Schalten Sie Ihr Hirn ein! Glauben Sie, ich habe Zeit, hier herumzutrödeln?«

»Ich habe Sie bereits auf Priorität gesetzt, Rudergängerin.« Der Soldat warf einen prüfenden Blick zur Seite. »Die Fähre wird Sie in Kürze erreichen.«

»Ich will keine Fähre!«

»Wie ich bereits sagte ...« Sein Tonfall wäre für die Belehrung einer minderbemittelten Rekrutin angemessen gewesen, »... sind alle zivilen Docks belegt. Wir erwarten viele Gäste zum Abschlussball der Akademie Rah'tor.«

»Der ist ja auch einer der Gründe, warum ich nach Arkon III muss!«

Er ließ sich nicht beirren. »Diesmal treffen ungewöhnlich viele Schiffe sehr kurzfristig ein. Alles, was Rang und Namen hat, war auf Arkon I, wegen des Pekah ti Mestit.« Mit diesem traditionellen Fest hatte man die Rückkehr des Regenten ins Arkon-System gefeiert.

»Wie Sie vielleicht wissen«, meinte Ihin zuckersüß, »war ich selbst nicht ganz unbeteiligt daran, den Tross nach Debara Hamtar und zurück zu geleiten.«

»Der zivile Schiffsverkehr liegt außerhalb meiner Zuständigkeit.«

»Dann geht Sie die TIA'IR ebenfalls nichts an! Ihre Sensoren sollten mittlerweile verifiziert haben, dass wir über keinerlei Offensivbewaffnung verfügen.«

»Jedes Schiff ist eine Waffe, wenn es mit ausreichend hoher Geschwindigkeit in ein Ziel rammt.«

Ihin sah zu Atlan da Gonozal und Belinkhar hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verhört hatte. Die beiden wirkten angespannt.

»Sie glauben, wir wollen ein Selbstmordattentat verüben, indem wir uns mit Höchstgeschwindigkeit auf eine militärische Einrichtung stürzen?«

»Glauben fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Im Gegensatz zu den Feuerkontrollen für die Geschütze, die Sie erfasst haben. Wenn Sie nicht in eine Ruheposition einschwenken, bin ich gezwungen, Sie abzuschießen.«

»Sie sind ja wahnsinnig!«

»Ich bin nicht derjenige, der in einer unbewaffneten, zivilen Raumjacht vor den Mündungen von Raumgeschützen herumfliegt, die darauf ausgelegt sind, Schlachtschiffe zu bekämpfen.«

»Noch einmal: Ich bin die Rudergängerin des Trosses. Wenn Sie die zwölf mächtigsten Arkoniden der Gegenwart aufzählen, bin ich dabei. Wieso sollte ich etwas gegen das Imperium unternehmen?«

»Nehmen Sie Medikamente?«

»Was?«

»Vielleicht ist Ihre Wahrnehmung getrübt. Oder Sie werden gezwungen. Sie haben doch zwei Passagiere an Bord Ihrer Vergnügungsschaukel.«

Das war zu viel! Ihin konnte einiges wegstecken, aber eine Beleidigung der TIA'IR war inakzeptabel. Sie wischte den Soldaten zur Seite, holte die Triebwerkskontrollen ins Zentrum und zeigte dem Bengel, wie eine Beschleunigung von 650 Kilometern im Sekundenquadrat aussah. Das schaffte keines der ach so tollen Militärschiffe! Zugleich ließ sie die TIA'IR Ausweichmanöver fliegen. Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, als sie von den Anzeigen ablas, wie geschmeidig das Schiff reagierte.

Atlan da Gonozal trat an das sekundäre Kontrollpult. Man konnte die TIA'IR allein steuern, aber sie bot auch Möglichkeiten der Arbeitsteilung. »Glauben Sie, dass das klug ist?«

»Mit solchen Lümmeln kann man nicht reden.« Ihin hörte die Verzückung in ihrer eigenen Stimme. Dieses Schiff war einfach wunderbar. »So sehr er sich auch aufplustert, er wird schon nicht auf uns schießen.«

Mit Bedauern sah sie, wie ein Teil der Energieleistung von den Triebwerken abgezogen wurde, als da Gonozal den Schutzschirm einschaltete. Im nächsten Moment war sie froh darüber. Durch die transparente Kuppel der Zentrale sah sie grüne und gelbe Lichter aufflammen.

»Einschlag Impulsstrahl«, meldete Crysalgiras Stimme. »Waffeneinwirkung.« Sogar in dieser Situation klang sie noch elegant. Nun ja, sie war ja auch eine Positronik ohne Selbsterhaltungstrieb.

»Das war auf fünf Prozent der Leistung gedrosselt«, quäkte der Soldat von links außen.

Ihin war eher wütend als besorgt. Dennoch bremste sie ab. Sie wusste, wie weit sie ein Spiel treiben konnte. »Wenn Sie diese Uniform länger tragen wollen«, sagte sie schnippisch, »dann stellen Sie mich jetzt zum Oberkommando der Flotte durch. Ich will ohnehin die Mascantin sprechen. Und Sie sollten hoffen, dass Ihre Impertinenz dabei nicht zum Thema wird.«

»Ich befolge lediglich meine Befehle. Entweder eine Eskorte zu den zivilen Docks – die aber alle belegt sind – oder eine Fähre. Aber ich sehe gerade, dass Ihr Schiffchen zum Stillstand gekommen ist.«

Ihin verschränkte die Arme. »Ich nehme an, Ihre Befehle gestatten, meine Kommunikationsanfrage an das Oberkommando weiterzugeben?«

»Dem steht nichts entgegen.«

»Na, dann mal Attacke, Soldat!« Sie trennte die Verbindung.

Atlan da Gonozal trat in die Mitte der Zentrale. Obwohl sie gerade einmal vier Meter durchmaß, war sie der größte Raum in der TIA'IR. Der Transitionsantrieb nahm den größten Teil des Volumens ein, und die Unterlichttriebwerke, die gerade so eindrucksvoll ihre Leistungsfähigkeit demonstriert hatten, hätten einer wesentlich größeren Einheit zur Ehre gereicht. Wenn man dann noch die Energieerzeugung, den Maschinenraum und andere technische Einrichtungen berücksichtigte, blieb für Kabinen wenig Platz und für einen Aufenthaltsraum gar keiner. Ihin streichelte die Lehnen des Pilotensitzes. Die TIA'IR war trotz der stilvollen Einrichtung kein verzärteltes Luxusgefährt. Sie war ein Sprinter.

»Ein Jammer, dass Sie sie auseinandernehmen wollen.« Ihin seufzte. Sie bezweifelte, dass er dadurch auf wertvolle Hinweise der Prinzessin stoßen würde, aber ausschließen konnte sie es nach dem, was er über seine bisherigen Abenteuer berichtet hatte, auch nicht.

Da Gonozal reagierte nicht. Durch die Kuppel und den nun wieder transparenten Schirm betrachtete er Arkon III. Ihr kleiner Sprint hatte sie so nah herangebracht, dass der Planet jetzt den Großteil des Sichtfelds einnahm. »Was ist das?«, murmelte er.

Ihin bemühte sich, zu erkennen, was er meinte. Sie sah nichts Besonderes. »Arkon III«, sprach sie das Offensichtliche aus.

»Können Sie mir die Ausgabe der optischen Sensoren auf ein Holofeld geben?«

Sie sah Belinkhar an, die aber auch nicht zu wissen schien, was ihren Gefährten bewegte.

»Sicher.« Ihin tippte die entsprechenden Schaltflächen an, sodass eine leuchtende Anzeige in der Mitte der Zentrale erschien. Die TIA'IR übersetzte ihren Befehl so, dass sich das Holofeld von oben nach unten abrollte wie ein Teppich, sogar mit verzierenden Fransen an den Seiten, die sich wie in einem Luftzug bewegten. Ihin bemerkte, dass sie gerade lächelte.

Da Gonozal dagegen beschäftigte sich mit dem Inhalt des Holos. Er vergrößerte die Orbitalstationen, die zu drei Vierteln im Sonnenlicht liegende Planetenoberfläche, holte Ausschnitte heran, entfernte dann wieder den Betrachtungspunkt, nahm andere Gebiete in den Fokus.

Stirnrunzelnd trat Ihin neben Belinkhar. »Wissen Sie, was er sucht?«

Die grüne Farbe von Belinkhars Augen war unter Mehandor wesentlich häufiger als bei Arkoniden. Jetzt hatte sie die Lider etwas zusammengekniffen, während sie da Gonozal beobachtete, als fürchte sie, ihr könne eine Kleinigkeit entgehen, die sein seltsames Verhalten erklärte. Er wurde immer hektischer, ruderte mit den Armen, als wolle er aus der Bedienung des Holofelds eine sportliche Übung machen.

»Er war sehr lange nicht mehr hier«, sagte Belinkhar. »Auch der Aufbau des Lenim Ranton hat ihn überrascht. Die Elysische Welt war ihm neu.«

Ihin schüttelte den Kopf. In was für eine seltsame Geschichte war sie da hineingeraten?

»Lass mich in Ruhe!«, fauchte Belinkhar plötzlich.

»Was meinen Sie?«

Belinkhar zuckte zu ihr herum. Ihr kurzes, rotes Haar hatte sie zu aggressiven Stacheln frisiert. Unwillkürlich wich Ihin einen Schritt zurück, womit sie an die Wand der Zentrale stieß.

Die Wut wich von Belinkhars Gesicht, als sei sie eine wächserne Maske, die jetzt schmolz. »Entschuldigen Sie!« Sie hastete hinaus.

Da Gonozal stand nun unbewegt. »Sind das alles Militäreinrichtungen?«, fragte er, ohne sich vom Holo abzuwenden.

»Ja. Arkon III ist die Zentralwelt der Flotte. Niemand darf sie ohne Freigabe des Militärs betreten.«

»Aber es gibt keinen unbebauten Quadratmeter auf dem gesamten Planeten! Noch nicht einmal offene Wasserflächen!«

»Das war eine der ökologischen Herausforderungen. Man musste die Wasserkreisläufe neu organisieren, nachdem die Meere mit Landeplatten bedeckt waren. Aber man hat es in den Griff bekommen. Nur die planetare Nahrungsproduktion ist eingebrochen. Arkon III wird zum Großteil über Importe versorgt, weil man die Notrationen nur für den Fall einer Belagerung verwenden will.«

»Und wozu dient dieser Moloch?«

Ihin umrundete das Holofeld. Da es halb durchsichtig war, konnte sie nun das entgeisterte Gesicht ihres Gegenübers betrachten. »Arkon III beherbergt das Flottenkommando«, sagte sie vorsichtig, als könne sich da Gonozals offensichtliches Entsetzen durch ein falsches Wort in einer Panikattacke entladen. »Hier liegen außerdem die größten Rüstungsfabriken des Imperiums. Labore für neue Entwicklungen. Natürlich Kasernen, Geschütze, Transitionsdämpfer, alles, was man zur Verteidigung des Planeten gegen einen massiven Angriff braucht. Und die Offiziersschule Rah'tor selbstverständlich, die übermorgen ihren Abschlussball feiert. Eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen zivile Besucher zugelassen sind, die nicht in irgendeiner Weise das Militär beliefern. Wenn es Sie beruhigt: Es gibt auch einige unbebaute Manövergelände, auf denen die Soldaten ausgebildet werden.«

Da Gonozal desaktivierte das Holofeld. Es rollte sich nach oben hin ein, eine Umkehrung des Effekts, mit dem es erschienen war. Dabei raschelte es sogar wie ein Teppich.

»Nein, das beruhigt mich nicht«, sagte er. Den Sitz des Kapitäns wollte er wohl nicht beanspruchen. Er aktivierte ein Prallfeld, auf das er sich niederließ.

»Was verstört Sie daran so sehr? Sagten Sie nicht, dass Sie auch ein Soldat sind?«

»Ich war sogar Kommandant des 132. Imperium-Einsatzgeschwaders.« Er lächelte freudlos. »Aber das ist lange her. Zu meiner Zeit diente das Militär dem Imperium.«

»Ich würde behaupten, das tut es heute auch noch.«

Er zeigte durch die Kuppel auf den Planeten. »Ein solcher Moloch dient niemandem. Er will gefüttert werden, oder er frisst denjenigen, der ihm nicht schnell genug gibt, was er verlangt. Das Imperium kann eine so gigantische Militärmaschine nicht unterhalten, ohne sie zu gebrauchen.«

Ihin kam es passend vor, wie da Gonozal für den Moment auf den Kapitänsplatz zu verzichten. Also setzte auch sie sich auf ein Prallfeld. »Wenn ich darüber nachdenke, gibt es im Rat und im Umfeld des Regenten tatsächlich viele Offiziere. Und der Adel fordert immer wieder, dass die Flotte weiter vorstößt und neue Gebiete für das Imperium ›erschließt‹, wie sie es nennen.«

»War das schon vor dem Regenten so?«

Ihin dachte an den Hof von Orcast XXII. zurück. Als Kurtisane hatte sie oft Konversation mit seinen Gästen getrieben, bis der Imperator Zeit für diese gehabt hatte. Damals waren Audienzen für hohe Offiziere an der Tagesordnung gewesen. »Die Flotte war immer wichtig. Unter dem Regenten ist sie vielleicht noch wichtiger geworden. Gerade in den letzten Wochen wurden neue Mittel für die Rüstung umgeleitet.«

»Wegen der Methans.«

Sie nickte. »Ich habe meine Kurtisanen an allen wichtigen Stellen Arkons. Man sagt, wer morgen in die höchsten Kreise aufsteigen will, sollte sich heute um eine Stabsposition bemühen. Oder, wenn er mehr riskieren muss, um ein Frontkommando.«

Sie folgte da Gonozals Blick und versuchte, Arkon III mit seinen Augen zu sehen. Die Planetendrehung brachte Ark'Thektran ins Sichtfeld, das Zentralkommando der Flotte. Für einen kurzen Moment hatte Ihin den Eindruck, die gigantischen Außentürme reckten sich ins All wie die Fangarme eines stählernen Monstrums.

Pertia ter Galen

»Sie haben die Lage ungefähr so sehr im Griff wie ein an Zwergenwuchs leidender Kadett, der versucht, einen für einen Naat gedachten Kampfanzug auszufüllen.« Pertia ter Galen wusste, dass sie genau verstanden wurde, obwohl sie leise sprach.

Veserk da Derems Aufmerksamkeit war ganz bei der Mascantin. Das Holo, das den Gouverneur von Arkon II bis zu den Schultern zeigte, schwebte über Pertias Schreibtisch. Hier studierte sie mit Vorliebe die Berichte ihrer Flotteneinheiten. Das bedeutete: aller Flotteneinheiten. Schließlich war sie die Oberbefehlshaberin der Flotte des Großen Imperiums. Was leider die Verantwortung einschloss, Gouverneuren deren Unfähigkeit bewusst zu machen.

»Die Feindseligkeiten sind zum Erliegen gekommen«, behauptete da Derem. Die von einem weißen Haarkranz umrahmte Glatze schimmerte.

»Für den Moment mag das zutreffen. Wobei mich erstaunt, dass Ihnen die Mehandor überhaupt Ärger gemacht haben. Werden Sie noch nicht einmal mit ein paar Chronnerzüchtern fertig?«

»Die Beschränkung der Handelsprivilegien sorgt für Unmut.«

»Tatsächlich?«, fragte sie scharf.

Er zuckte zusammen. »Die Sippen fühlen sich ungerecht zurückgesetzt.«

»Tun sie das? Und glauben Sie, das ist nur auf den Himmelsstädten um Arkon II der Fall?«

»Vermutlich nicht.« Immerhin klang er jetzt kleinlaut.

»Endlich etwas, bei dem wir einer Meinung sind. Die Mehandor jammern im gesamten Imperium, aber nur auf Arkon II bringen sie eine Himmelsstadt zum Absturz. Helfen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge: Wann ist so etwas das letzte Mal geschehen?«

Die Aufregung ließ die Augen des Mannes tränen. »Noch nie.«

»Aha. Ich bin also noch nicht senil. Obwohl Sie mich dafür zu halten scheinen.«

»Was? Wie kommen Sie denn darauf? Ich würde mich nie erdreisten ...«

Mit dem Ausstrecken der flachen Hand gebot sie Schweigen. »Wie viele Truppen muss ich noch nach Arkon II verlegen, damit dort Ruhe einkehrt?«

»Keine mehr. Wir regeln das hier vor Ort.«

»Ach so! Und ich dachte, eine Stadt aus Stahl sei auf Ihren Planeten gestürzt!«

»Das ist richtig.«

»Aber?«

»Wir haben Notfallpläne.«

»Wofür? Wie haben Sie sich auf eine Rebellion der Mehandor vorbereitet, die Sie durch stümperhafte Direktiven offensichtlich so gereizt haben, dass sie zu den Waffen greifen?«

»Es gibt keine Rebellion. Das war nur eine Splittergruppe.«

»Ich bin wirklich froh, dass ich Sie angerufen habe. Sonst käme ich tatsächlich auf die Idee, dass die Lage entgleitet. Ist Ihnen bekannt, was gerade auf Arkon I passiert?«

Fragend sah er sie an. »Das Fest zur Rückkehr des Regenten müsste doch schon vorbei sein?«

»Ja. Schade, dass Sie nicht kommen konnten, weil eine Stadt aus Ihrem Himmel gefallen ist. Das muss Ihnen gründlich den Tag verdorben haben.«

»Ich gebe zu, dass das nicht hätte passieren dürfen, aber ...«

Wieder schnitt sie ihm das Wort ab. Politiker durfte man nicht zu lange reden lassen. Ausflüchte waren ihr Terrain, dabei hatten sie Heimvorteil und konnten auch den klarsten Denker verwirren. »Es gab einen Zwischenfall an der She'Huhan-Grotte. Mit Toten. Ihre rebellischen Mehandor finden Nachahmer.«

»Ich versichere Ihnen, dass es keine Rebellen mehr auf Arkon II gibt! Bald wird hier alles wieder seinen geregelten Gang gehen.«

Pertia missfiel, dass der Mann eine Uniform trug. Er war kein Soldat. Aber da sie zumindest im Bildausschnitt keine Rangabzeichen erkennen konnte, ließ sie ihm diese Anmaßung durchgehen. Es wäre gut, wenn ihm die Uniform etwas mehr Autorität verliehe, die bei der Bewältigung der Katastrophe helfen mochte. Zumal deutlich wichtigere Aufgaben Pertias Aufmerksamkeit erforderten. Noch immer operierten einige Expeditionseinheiten außerhalb des Großen Imperiums, weil sie den Rückrufbefehl bisher nicht empfangen hatten. Noch immer befanden sich nicht alle Marginalwelten unter der Kontrolle der Flotte. Noch immer warteten Eingaben der Aras, die ihre Privilegien verteidigten, auf ihre Stellungnahme. Noch immer ...

»Also gut«, bestimmte sie. »Ich werde mich vorerst wieder den anstehenden Truppenbewegungen widmen. Es wäre gut für Sie, wenn mir dabei keine Verlegungen nach Arkon II in die Quere kämen. Ich könnte sonst dem Regenten vorschlagen, mir mit einer permanenten Garnison künftige Belästigungen vom Hals zu halten.«

»Das wagen Sie nicht!«

Sie legte die Fingerspitzen aneinander, lehnte sich zurück und beobachtete da Derem. Das Tränen seiner Augen konkurrierte jetzt mit dem Bruch einer Wasserleitung.

»Fragen Sie bei Gelegenheit auf einer der Marginalwelten nach, was ich alles wage«, flüsterte sie. »Wir bereiten uns auf einen Krieg vor, auch wenn das noch nicht jeder verstanden hat.«

»Sie werden keinen Anlass zur Unzufriedenheit mehr haben, Mascantin«, versicherte er.

»Enttäuschen Sie mich nicht.« Damit unterbrach sie die Verbindung.

Pertia prüfte die zwischenzeitlich eingegangenen Nachrichten. Keine davon hatte ihr Adjutant als besonders dringlich gekennzeichnet. Also beschloss sie, sich nach dem unangenehmen Gespräch etwas Zeit für sich selbst zu gönnen.

Sie verließ ihr Büro und schlenderte in den Wohnbereich. Der weiche Teppich knirschte unter ihren Füßen. In diesen Raum allein hätte die Unterkunft, die sie sich während ihrer Grundausbildung mit zwölf Kadetten geteilt hatte, zweimal gepasst. Große Holos verzierten die hellen Wände mit Ausblicken auf wilde Landschaften. Wälder, Meere, vor allem Berge.

Mit der Garderobe im Ankleideraum hätte man den weiblichen Teil eines mittleren Hofstaats ausstaffieren können. Von prachtvollen Roben über Partykleider bis zu einem verführerischen Hauch von Nichts gab es hier alles, was die Kollektionen der letzten zehn Jahre an Spitzenleistungen hervorgebracht hatten. Pertia hatte nur eine Handvoll dieser Stücke anprobiert. Sie fühlte sich unwohl, wenn sie aussah wie eine Praline, zumal es niemand gab, von dem sie sich vernaschen lassen wollte. So wie jetzt trug sie meist Felduniformen mit ihrem Rangabzeichen, ohne die Orden, die sie sich verdient hatte.

Sie ging an der Parade der Schneiderkunst und den Unmengen von Spiegeln vorbei zu der Ecke, die sie für ihre eigene Kleidung nutzte. Neben den Uniformen hingen dort auch zwei Dagoranzüge. Sie waren grau und schmucklos, aber so robust, dass sie nur alle zwei Jahre einen neuen brauchte, obwohl sie täglich trainierte. Routiniert wechselte sie die Kleidung. Die Uniform ließ sie zusammengefaltet auf dem Boden zurück, sie würde sie nachher wieder anziehen.

Auf dem Weg zu ihrem Trainingsraum kam sie an ihrer Mitbewohnerin vorbei. Den Luxus dieser Wohnung gab es nur, um dieser Frau Freude zu bereiten. Wobei Atina Ulien inzwischen andere Vorlieben entwickelt hatte. Sie räkelte sich auf einer Formschaumliege. Ein moderner Fiktivspielhelm verbarg ihren Kopf. Bei diesem Gerät wurde garantiert, dass die Nanokontakte exakt dort ihre Position fanden, wo sie die stärkste Stimulation erreichten.

Atinas Körper hatte dem von Pertia einmal so sehr geglichen wie bei einem eineiigen Zwilling. Inzwischen musste Firtak immer häufiger operieren, um seine Kreation mit dem Original synchron zu halten. Während Pertias Trainingsstand ihr gestattet hätte, jederzeit an einem Dagorturnier teilzunehmen, bewegte sich Atina so selten, dass ihr Körper aufschwemmte – was durch die kulinarischen Genüsse, die sie sich zunehmend gönnte, beschleunigt wurde.

Als Atina glücklich aufseufzte, wohl, weil ihr Spiel eine belohnende Hormonausschüttung gewährte, fragte sich Pertia, ob sie und ihre Mitbewohnerin sich auch im Wesen, nicht nur im Körper, gleich geworden wären, wenn ihr Leben anders verlaufen wäre.

Nein. Natürlich nicht. Wenn Pertias Leben anders verlaufen wäre, wenn sie nicht schon beim Einsatz gegen die Piraten auf Heski'el eine hohe Offizierin gewesen wäre, dann wäre auch Atinas Leben ganz anders verlaufen. Dann wäre Atina in den Trümmern gestorben, statt zu Pertias Doppelgängerin zu werden.

»Enban da Mortur möchte Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen.« Pertia hatte die Hauspositronik auf eine formale Anrede programmieren lassen. Sie wurde ungern vertraulich angesprochen.

»Ich nehme das Gespräch hier entgegen.« Ihr Adjutant benutzte das Wort »dringend« nur, wenn es auch zutraf. Das meiste erledigte er geräuschlos im Hintergrund.

Aus dem Nichts entstand ein Holokubus mit dem Kopf des Mannes. Im Gegensatz zu Pertia trug er stets Galauniform, ohne jedes Stäubchen. Bei ihm war das keine Eitelkeit, sondern Ausdruck der Korrektheit seines Wesens. Vor allem hatte er sich die Uniform und sämtliche daran angebrachten Ehrenzeichen verdient.

»Was gibt es?«, fragte sie.

»Rudergängerin Ihin da Achran macht Ärger. Ihr Schiff ist in den Sperrkorridor eingedrungen. Der Soldat, der damit befasst ist, würde sie am liebsten abschießen. Das erscheint mir etwas voreilig.«

Pertia gestattete sich ein Seufzen. Da Achrans Eitelkeit war unübertroffen. Sie war eine Person, die eine Aura der Belanglosigkeit erzeugte. »Ich nehme an, sie will zum Abschlussball von Rah'tor.«

»Das auch. Vor allem aber will sie mit Ihnen sprechen. Vorher wird sie ihr Schiff nicht von der Stelle bewegen und auch den Schutzschirm nicht senken. Deswegen treibt eine Fähre nutzlos im All. Sie kann nicht andocken.«

»Mir bleibt auch nichts erspart«, grummelte Pertia. »Warten Sie, bis ich in meinem Büro bin! Dann stellen Sie durch!«

Ihin da Achran

»Ihr schießwütiger Soldat hat auf mein Schiff geballert!«, rief Ihin da Achran gerade dem Holo zu, das die Mascantin zeigte, als Belinkhar zurück in die Zentrale kam. Ihr Haar glänzte feucht, sie hatte wohl die Nasszelle benutzt, um sich zu entspannen. Es hatte offensichtlich nicht gewirkt. Ihre Augen zuckten, die Kiefer pressten fest aufeinander. Anscheinend hatte sie ein Problem, aber darum konnte sich Ihin jetzt nicht kümmern.

Pertia ter Galen trug keine der wunderbaren Uniformen, die der Oberbefehlshaberin der Flotte des Großen Imperiums zugestanden hätten. Stattdessen steckte sie in einem geradezu provozierend schlichten Dagoranzug. Grauer, grober Stoff, an den Säumen schwarz verstärkt, der Schnitt an den Schultern ... Ich muss mich auf das Gespräch konzentrieren!

»Ich werde prüfen lassen, ob der Soldat seine Befehle zu weit ausgelegt hat«, versicherte ter Galen gelangweilt. Sie trug ihr weißes Haar kurz. Ihr Gesicht war scharf geschnitten. Sie war neunzig Jahre alt und gut in Form, wie Ihin wusste.

»Unabhängig davon ist das ein weiterer Grund, warum ich einen Werftplatz für die TIA'IR brauche«, argumentierte Ihin. »Wer weiß, ob es zu Beschädigungen gekommen ist.«

»Ich dachte, Sie hätten den Schirm aktiviert?«

Belinkhar trat in den Aufnahmebereich. »Darauf können wir uns leider nicht verlassen. Ich bestehe auf einer Überprüfung!«

Ter Galens feuerrote Augen schienen die Mehandor zu zerschneiden wie Laser einen Körper auf einem Seziertisch. »Sie wurden mir noch nicht vorgestellt.«

Ihin machte eine übertriebene Geste in Belinkhars Richtung. »Das ist Miskha«, nannte sie den neuen Decknamen. »Sie wird eine Finanzierung für mich vornehmen.«

»Wenn die Sicherheit ausreicht«, ergänzte Belinkhar. Entweder sie spielte die skeptische Mehandor gut, oder ihre augenscheinliche Lust, alles und jeden anzuzweifeln, brach sich Bahn. Ihin fragte sich, wie Atlan – nein, wie irgendjemand – länger als einen Tag mit dieser schwierigen Person gemeinsam reisen konnte.

»Diese Sicherheit ist die TIA'IR«, fuhr Ihin fort. »Sie kennen doch die Mehandor. Wenn es ums Geschäft geht, wird alles genauestens geprüft. Deswegen brauchen wir eine vollständige Analyse der TIA'IR. Das Schiff muss komplett zerlegt und dann wieder zusammengesetzt werden. Dazu brauche ich Ihren fähigsten Mechaniker.«

»Ihnen ist schon klar, dass wir uns auf einen Krieg vorbereiten?«

»Sind die Ressourcen der Flotte dermaßen knapp, dass sogar Kapazitäten für eine 90-Meter-Jacht fehlen? Ich kann nicht glauben, dass Sie so stümperhaft kalkulieren.«

Erst runzelte ter Galen unwillig die Stirn, aber dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Wie es der Zufall so will, fällt mir gerade ein, dass es tatsächlich eine freie Kapazität gibt. Falls der Regent einverstanden ist. Er hat einen zivilen Auftrag an Yerum Uskach gegeben. Diese Spielerei kann sicher warten, wenn seine Rudergängerin so sehr in Not ist.«

»Wer ist Yerum Uskach?«

»Sie wollten doch den besten Mechaniker der Flotte. Das ist er.«

»Wir nehmen den freien Platz«, sagte Atlan, bevor Ihin etwas entgegnen konnte.

»Wer redet denn hier noch alles mit?«, fragte ter Galen.

»Ahir ter Desmor«, stellte sie auch Atlan da Gonozal mit seinem Decknamen vor. »Ein zuverlässiger Offizier aus meinem Tross, der die Arbeiten überwachen wird, damit nichts abhandenkommt.«

Während sie die rote, mit geschmackvollen Applikationen verzierte Uniform musterte, zeigte ter Galens Gesichtsausdruck, was sie von Trossoffizieren hielt. »Und der bestimmt, wo Ihre Jacht analysiert wird?«

»Ich gebe viel auf seine Meinung in dieser Angelegenheit.« Ein Teil von Ihin bereute bereits, dass sie zugestimmt hatte, die TIA'IR zerlegen zu lassen. Was, wenn dieses wundervolle Schiff dabei Schaden nähme? Aber Atlan da Gonozal konnte sehr überzeugend argumentieren, dass in dem Schiff möglicherweise brisante Informationen aus dem Methankrieg verborgen waren.

»Das soll mir egal sein«, versetzte ter Galen. »Uskachs Werft befindet sich im Orbit. Sie brauchen noch nicht einmal zu landen.«

Ihin stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich bin noch nicht fertig! Ich komme selbstverständlich auf den Planeten.«

»Der Abschlussball. Ich vergaß, dass Sie da natürlich nicht fehlen dürfen. Sie können von der Werft einen Orbitalfahrstuhl nehmen.«

»Das reicht nicht.«

»Mein Adjutant wird Ihnen die Koordinaten übermitteln und auch eine Erlaubnis für die Passage innerhalb des Sperrperimeters. Sie werden allerdings auf das Geleitschiff warten müssen. Alles andere würde meine Kanoniere nervös machen.«

»Das meine ich nicht. Ich muss Sie sprechen.«

»Wir unterhalten uns doch bereits.«

»Persönlich. Unter vier Augen.«

»Worum geht es denn?«

»Wenn ich das über eine Funkverbindung sagen könnte, bräuchte ich das Gespräch nicht.«

»Sie wissen, dass man als Oberkommandierende der Flotte ...«

»... viele Termine hat. So wie als Rudergängerin. Die Sache ist von äußerster Wichtigkeit für das Imperium.«

»Diese Phrase höre ich dreimal am Tag. Allerdings zugegebenermaßen selten von Ihnen. Schickt Sie der Regent?«

»Er ist involviert.« Das war noch nicht einmal gelogen. Wenn man jemanden stürzen wollte, war derjenige zwangsweise betroffen.

»In Ordnung«, sagte ter Galen. »Mein Adjutant wird Ihnen einen Termin geben.«

»Es ist dringend.«

»Ich freue mich«, ihr Tonfall ließ das Gegenteil vermuten, »morgen mit Ihnen zu Mittag zu essen.«

»Das wird reichen.«

»War es das jetzt? Oder muss ich jemand anderen bitten, an meiner statt meine Pflichten in der Flotte zu erfüllen?«

»Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis, Mascantin.«

Das Holo erlosch.

»Ter Galen praktiziert Dagor?«, fragte Belinkhar.

»Ja«, bestätigte Ihin. »Ich erinnere mich an einige Treffen im Umfeld des Regenten. Ter Galen hat stets darauf geachtet, zwischen ihren Terminen genug Zeit für ihr Training zu haben.«

»Waffenlose Selbstverteidigung bleibt sinnvoll«, meinte Atlan. »Der Körper ist die einzige Waffe, die man immer dabei hat.«

Belinkhars Kopf ruckte hin und her. Irgendwann schien er einzurasten. Sie wirkte wie ein Roboter mit motorischer Fehlfunktion. »Ich habe selbst ein paar Nahkampftechniken erlernt. Kantindor, die Wege des Körpers.«

»Davon habe ich noch nie gehört«, räumte Ihin ein.

»Auch unsere Kultur kennt eine waffenlose Kampfkunst.«

»Sie haben gesehen, dass ter Galens Anzug grau ist? Diese Farbe steht einer Laktrote zu, einer Meisterin.«

Belinkhar zuckte mit den Schultern, eine Bewegung, die in ein Schaudern überging. »Wenn mir jemand zu nahe kommt, verteidige ich mich ohnehin lieber hiermit.« Sie klappte den Ring an ihrer Hand auf. Unter dem hohlen Edelstein kam ein Dorn zum Vorschein.

»Gift?«, vermutete Atlan.

»Von Gedt-Kemar. Dem Planeten, über dem das Gespinst kreist, auf dem ich Matriarchin war. Dort gibt es Bleichsauger, die ihre Beute über Jahre frisch halten. Alle Vitalfunktionen bleiben intakt.«

Zweifelnd sah Ihin sie an. »Eine Dagormeisterin wird Ihnen die Brustplatte brechen, bevor Sie überhaupt bemerken, dass sie sich bewegt.«

Belinkhars Zähnefletschen war wohl als Lächeln gemeint. »Dann hoffe ich, dass ich die Mascantin nie wütend machen werde.« Sie schloss den Ring.

Pertia ter Galen

»Ein plötzliches Abschalten des Fiktivspiels wird von Ihrer Mitbewohnerin als unangenehm empfunden werden«, warnte die Wohnungspositronik.

»Das will ich hoffen«, gab Pertia ter Galen zurück. »Sind gesundheitliche Schäden möglich?«

»Nein. Eine leichte Desorientierung für wenige Zentitontas ist das Maximalrisiko.«

»Abschalten!«

Atina Uliens Glieder zuckten. Nörgelnd drehte sie sich auf die Seite. Die Formschaumliege stützte ihre neue Position. Atina hob die Hand und betastete damit den Helm, der auch ihr Gesicht vollständig bedeckte.

»Das ist keine Fehlfunktion«, sagte Pertia. »Ich will mit dir reden.«

Atinas Finger tippten in die Luft über ihr. Wahrscheinlich projizierte die Spielpositronik Schaltflächen dorthin, oder genauer die Illusion von Schaltflächen, direkt auf Atinas Netzhaut.

»Du kannst deine Spiele erst wieder aktivieren, wenn ich die Blockade aufhebe.«

Mit trägen Bewegungen schob Atina den Helm vom Kopf und setzte sich auf den Rand der Liege. Ihre Schultern hingen schlaff herab, das Augenweiß war gelb verfärbt.

»Wie lange spielst du schon?«

»Was geht dich das an? Unsere Vereinbarung besagt, dass ich in der Freizeit tun kann, was ich will, solange ich in der Wohnung bleibe.«

»Nicht, wenn du deine Aufgabe gefährdest.«

»Ich habe mit niemandem Kontakt. Nur Chats, in denen ich Decknamen verwende.«

»So, wie du aussiehst, könnte man entdecken, dass wir nicht die gleiche Person sind.«

»Hast du einen K'amana? Oder einen Tschul?«

»Du solltest besser schlafen. Das hast du doch bestimmt eineinhalb Tage nicht mehr getan.«

»Ich war beschäftigt.«

»In deiner Scheinwelt.«

»Noch mal: Das geht dich nichts an, Pertia! Ich lebe dein Leben, ich denke wie du, wenn ich mich mit jemandem treffe, ich ...«

»›Mit jemandem treffen‹ ist ein gutes Stichwort. Ihin da Achran ist im System. Du wirst morgen mit ihr essen, bevor es zur Inspektion auf dem Manövergelände geht.«

»Mit der eitlen Benntun-Henne?«

Gegen ihren Willen musste Pertia schmunzeln. Bei diesem Vogel wechselte das Gefieder jeden Tag die Farbe. »Ich fürchte schon.«

Atina stand auf. Sie wirkte, als würde sie jeden Moment umkippen, schaffte es dann aber doch zum Getränkespender.

»Du solltest nichts Aufputschendes zu dir nehmen, sondern dich lieber ausruhen. Morgen wird ein harter Tag.«

»In deinen Diensten.«

»Jawohl, in meinen Diensten. So, wie wir es vereinbart haben, als wir dich aus den Trümmern gezogen haben. Und nur aus diesem Grund kannst du dieses Leben führen und dir die Fiktivspiele erlauben.«

»Milliarden Arkoniden spielen Fiktivspiele.«

»Aber nicht mit solcher Ausrüstung.« Sie nahm den Helm in die Hand. Kurz überlegte sie, ob sie ihn zerschmettern sollte. Sie kannte den verhängnisvollen Sog virtueller Welten. Auch die Flotte setzte sie ein, in Virtuarien, Illusionsräumen, in denen meist historische Schlachten nachgestellt wurden. Manche Kadetten entwickelten eine unwiderstehliche Lust, in diesen Simulationen zu sterben und so den ultimativen Kick wieder und wieder zu durchleben. Das war ein Grund, warum die Abschlussprüfungen in Rah'tor auf echtem Übungsgelände durchgeführt wurden. Ein Rekrut, der reale Gefahr unterschätzte, weil er immer auf eine weitere Chance spekulierte, war wertlos. Aber Atina war kein Rekrut. Pertia legte den Helm zurück.

»Weißt du, was es heißt, keine Freunde zu haben?«, fragte Atina, die K'amanatasse in der Hand. »Warte! Ja, das weißt du. Du hast nämlich keine. Aber bei dir ist das eine freie Entscheidung. Nein, Moment! Ich habe gelernt, wie du zu denken. Ich weiß, was du antworten willst: Als Mascantin kann man sich keine Vertraulichkeiten leisten und hat auch keine Zeit für Sozialkontakte. Richtig?«

Pertia presste die Lippen zusammen. Das hatte sie tatsächlich sagen wollen.

»Du willst so leben«, fuhr Atina fort. »Ich muss es. Das ist der Unterschied.«

»Du wolltest es auch.«

»Das ist dreiundvierzig Jahre her.«

Pertia verschränkte die Arme. »Also gut. Du willst wirklich nicht mehr? Ich soll dich aus meinem Dienst entlassen? Und was willst du dann machen? Was hast du gelernt, als meine Doppelgängerin? Kommandieren? Wer soll dir ein Kommando geben? Wer einen Offizier spielen kann, ist noch lange keiner. Du kannst mich auf einem Ball mimen, und wenn du ehrlich bist, genießt du das sogar.«

Atina nickte mit zusammengepressten Lippen.

Auch in Mimik und Gestik haben wir uns angeglichen, erkannte Pertia. Obwohl wir so unterschiedlich sind.

»Die Kleider. Das gute Essen. Diese Wohnung. Ich respektiere, wenn jemand die Freiheit höher schätzt als all das. Aber du bist nicht dieser Jemand, Atina.«

»Nein.« Sie setzte sich auf die Kante der Liege. Ihre Zehen spielten mit dem Teppich.

»Firtak wird dich operieren müssen«, sagte Pertia.

Atinas Kopf ruckte hoch. »Schon wieder?«

Schweigend sahen sich die beiden Frauen an.

»Gut«, gab Atina nach. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. »Wann kann ich das Spiel wieder anschalten?«

»Morgen Abend. Jetzt musst du schlafen, damit du morgen ausgeruht bist.«

»Das kannst du nicht machen! Ich bin kein Kind mehr! Ich bin achtundachtzig Jahre alt!«

Im Moment wirkst du ein halbes Jahrhundert älter. Pertia bezweifelte, dass sie selbst in fünfzig Jahren so verlebt aussähe.

Sie wandte sich ab und ging in ihren Trainingsraum. Dieser war das Gegenteil des luxuriösen Wohnbereichs. Abgesehen von ihrem Robotpartner war er leer. Die blau schimmernden Wände bildeten ein Zwölfeck. An jeder Seite hing in einem Holzrahmen ein aus groben Pflanzenfasern geflochtenes Blatt. Sowohl die Rahmen als auch die Blätter hatte Pertia selbst gefertigt, eine meditative Übung, ebenso wie die Kalligrafien, die jeweils eines der zwölf ehernen Prinzipien des Dagor benannten. Mäßigung, Gleichgewicht, persönlicher Einsatz ...

Pertia konnte mit Prallfeldern Hindernisse im Raum entstehen lassen, um das Training anspruchsvoller zu gestalten, aber danach stand ihr diesmal nicht der Sinn. Sie ging zu ihrem Roboter und wählte eine Konfiguration für die Trefferzonen. Auch diese entstanden als Prallfelder, die sich nun blau leuchtend an der grob humanoiden Figur aufbauten, wo bei einem Arkoniden Kehlkopf, Esmusgeflecht, Augen und andere Vitalpunkte lagen. Für eine Wertung musste Pertia diese Ziele nicht nur berühren, sondern genug Wucht aufbringen, um das Prallfeld zu durchschlagen. Dann dämpfte ein Auffangfeld ihre Faust, ihren Ellbogen, ihr Knie oder womit immer sie den Angriff geführt hatte, so weit ab, dass sie sich nicht verletzte, indem sie gegen das Metall des Roboters geschlagen hätte. Für die Stärke der Prallfelder wählte sie einen niedrigen Wert. Außerdem befahl sie dem Roboter einen passiven Kampfmodus. Sie wollte sich nicht verausgaben.

Sie umrundete ihren Gegner und suchte eine Lücke in der Deckung der gepolsterten Arme. Schnell wechselte sie die Füße, achtete darauf, den Körperschwerpunkt immer mittig zu halten, um sich flexibel zu jeder Seite bewegen zu können. Als der Roboter einen niedrigen Block ausführte, sprang Pertia ihm entgegen. Mit dem rechten Fuß stieß sie sich an der Ellbogenbeuge ab und setzte über ihren Gegner hinweg. Bevor sich dieser umwenden konnte, trat sie mit der Ferse durch das Prallfeld, das die Nierengegend markierte. Dieses Überspringen konnte der Roboter nur schlecht abfangen, weil er selbst zu schwer war, um die Bodenhaftung aufzugeben und sein Schwerpunkt bei einer Rücklage außerhalb seiner Standfläche lag. Eine Schwäche dieses Modells.

Das Feld erlosch, aber der Roboter kämpfte weiter. Sein Programm würde erst enden, wenn alle Felder durchstoßen worden wären.

Pertia hätte allen Angriffen ausweichen können, die der Roboter im passiven Modus vortrug, aber sie blockte dennoch einige Schläge ab, um auch diese Techniken zu üben. Als ihr Zeigefinger das letzte Prallfeld, das über dem linken Auge, zertrümmerte, atmete sie heftig. Der Schweiß ließ den Trainingsanzug an ihrem angenehm warmen Körper kleben.

Pertia beorderte den Roboter in eine Ecke und ließ sich selbst im Zentrum des Raums nieder. »Licht dämpfen«, befahl sie. »Meditationsmodus.«

Sie spürte ihrem Herzschlag nach, der sich allmählich beruhigte. Dann ihrem Atem, wie er in die Lungen strömte. Obwohl sie wusste, dass das biologisch gesehen Unsinn war, stellte sie sich vor, wie er sie ganz ausfüllte, Brust, Bauch, Unterleib, Arme, Beine. Ihre Aufmerksamkeit durchwanderte ihren Körper, angefangen bei den Fingern, durch Rumpf und Kopf in den anderen Arm, dann tauchte sie durch ihre Beine bis zu den Zehen hinab.

Alles hing zusammen. Adern. Muskeln. Sehnen. Knochen. Alles trug dazu bei, dass ihr Körper funktionierte. Der Körper war die Wohnung des Geistes. Beides gemeinsam machte ihr Ich aus, Pertia ter Galen.

Pertia wiederum war nur ein kleiner Teil der Flotte.

Wie ihr Körper nach dem Training hochsensibel war, mit voll erwachten Sinnen, so war auch die Flotte von neuer Spannkraft durchdrungen, seit der Regent von der Rückkehr der Methans berichtet hatte. Wenn sich ein Kämpfer entschied, eine Herausforderung anzunehmen, gab es keinen Platz mehr für Unklarheiten. Kein Vielleicht, nur noch ein Ja oder ein Nein. Dieses Bewusstsein erwachte in der Flotte, inspiriert durch die Entscheidungen der Mascantin. Die Aras, die Mehandor, die Marginalwelten, der Adel – sie durften nicht mehr im Ungefähren verbleiben. Wenn ein Kämpfer in die Schlacht zog, konnte keines seiner Glieder zurückbleiben. Pertia war sehr zufrieden mit den Anordnungen, die der Regent auf ihr Anraten erlassen hatte. Zivilisten waren oft allzu sorglos. Es war die Pflicht der Flotte, die Schwachen zu schützen, obwohl sie darüber maulten wie Atina, wenn man ihr die Fiktivspiele vorenthielt. Für Weichlichkeit war in einem Krieg kein Platz.

Das Imperium konnte wie ein quengelndes Kleinkind sein. Das bewiesen die Unruhen von Arkon II und Arkon I. Auf einigen anderen Welten hatte es bereits Unmutsbekundungen gegeben, teilweise gewaltsam, aber bislang war alles lokal begrenzt aufgeflackert und rasch unter Kontrolle gebracht worden. Ihre Offiziere hatten Augenmaß bewiesen, Gewalt nur dort eingesetzt, wo sie notwendig gewesen war, Exzesse vermieden. Auch wenn sie wachsam bleiben musste, konnte die Mascantin mit dem bisherigen Verlauf der Dinge zufrieden sein.

Aber sie war es nicht. Sie fühlte sich, als ginge sie mit verbundenen Augen in einen Kampf. Wo waren die Methans? Der Regent, sonst eher zugänglich, verweigerte ihr die Auskunft über seine Quellen. Beinahe hätte sie geargwöhnt, er erläge einer der vielen spiritistisch-prophetischen Strömungen, die im arkonidischen Adel nie aus der Mode kamen und immer neue Katastrophen prophezeiten.

Aber da war diese Meldung des Aufklärers, der im Ufgar-System den Speicher des Lotsenschiffs ANETIS'KHOR aus dem Wrack geborgen hatte. Das Schiff warf viele Fragen auf, angefangen damit, was die Lotsen so weit entfernt von Hela Ariela und dem Korridor zu suchen hatten. Eines war jedoch klar: Das Schiff war durch Gefechtswirkung zerstört worden. Und mehr noch: Die auslesbaren Aufzeichnungen der optischen Sensoren zeigten einen Walzenraumer. Ein Schiff, das genauso aussah wie die Simulationen der feindlichen Einheiten in den Virtuarien, die Raumschlachten aus dem Methankrieg nachbildeten. Die erste Sichtung seit Jahrtausenden.

Pertia suchte nach der Ruhe in ihrem Innern.

Sie fand sie nicht.

Perry Rhodan Neo 64: Herrin der Flotte

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