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Wie die Götter speisen

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Bis zum heutigen Tage habe ich den Weg zu jenem eigenartigen Ort und seinen Wundern nicht mehr gefunden. Ich erinnere mich noch vage, dass der Straßenname ein französischer war, ähnlich l'Opale oder St. Martin. Ein alter Bekannter hatte mich kurzfristig zu jener Veranstaltung eingeladen, und ich folgte seinem Vorschlag gerne. Wir suchten den Ort des Geschehens zur Mittagsstunde auf, und bald schon ließen wir den Lärm der Stadt hinter uns, um in einem der verlassenen Außenbezirke der Metropole das Ziel zu erreichen.

Dort, unweit eines alten Rangierbahnhofs, längs einer regennassen, bordsteinlosen Kopfsteinstraße, erstreckte sich eine mächtige Fabrikhalle aus der Frühzeit der Industrialisierung. Im Inneren des Gebäudes wurde ich sogleich von einer wundervollen, ebenso wärmenden wie imponierenden Pracht überrascht. Schlanke, großformatige Außenfenster unterbrachen in regelmäßigen Abständen die mit edlem Mahagoni vertäfelten hohen Innenräume. Die tatsächliche Größe der Anlage war mir damals unmöglich zu bemessen, und heute noch vermute ich, dass der Bankettsaal, den wir bald betraten, einzig in Folge des Abgehens einer spezifischen Kombination von Treppenläufen und steilen Stiegen sowie des Durchquerens bestimmter weiträumiger, mit musivischem Fußboden versehener Tanzhallen und Salons zu erreichen war.

Hie und da war Geschäftigkeit zu erkennen, adrett gekleidetes Personal ordnete Kristallgläser zu beeindruckenden Champagnerpyramiden an und nahm dabei bloß beiläufig Notiz von uns.

Bald schon setzte ich mich meinem Bekannten zur Linken an den unteren Teil eines mit goldbestickten roten Seidentüchern dekorierten Tischarrangements in Hufeisenform. Mir gegenüber, im rechten Winkel, saß der Gastgeber. Er trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug mit Gehrock, und sein glatt gekämmtes, zu einem kurzen Zopf geflochtenes Haar ließ feine, aristokratische Züge in einem dunkeläugigen Gesicht mittleren Alters erkennen. Zu beiden Seiten, den weitläufigen Saal zur Gänze ausfüllend, waren weitere dieser Festtafeln zu sehen, an denen sich ebenfalls eine erlesene Gesellschaft eingefunden hatte. Rot, Gold und Elfenbeinweiß waren die hier vorherrschenden Farben, die nebst dunkelbraun schimmernden, im Empirestil verarbeiteten Tropenholzoberflächen von luxuriösen Kristallkronleuchtern erhellt wurden.

Als ich über meine Schulter spähte, erkannte ich, dass die hohe Wand hinter mir eine durchgängige Glaskonstruktion darstellte, die von kaum sichtbaren Messingstreben getragen wurde – und während es im Inneren des Bankettsaals taghell war, verwehrte mir das Zwielicht des mittlerweile angebrochenen Abends einen genauen Blick nach draußen.

Zur Rechten unseres Gastgebers hatte derweil eine von prächtigem Granatschmuck überreich gezierte Dame fortgeschrittenen Alters Platz genommen. Ihr anachronistisches, weitgeschnittenes Ballkleid war von hellorangener Farbe, und obschon sie für jenen Anlass einiges an Kosmetik aufgetragen hatte, ließ ihre braunrote Fontange sie wie eine Emissärin einer längst vergangenen Epoche wirken. Zu meiner Linken bemerkte ich Claude, eine junge Halbasiatin von hohem Wuchs und athletischer Statur. Ihr Collier war, wie auch ihr Fingerschmuck, mit dunklen Türkisen besetzt, und das tiefschwarze Haar eines dezenten Pagenschnitts umfasste ein wohlproportioniertes Gesicht von intelligentem Ausdruck. Sie war mit ihrem schulterfreien Oberteil um einiges moderner gekleidet als ihr Gegenüber und höchstens dreiunddreißig Jahre alt.

Ich war gute Gesellschaft durchaus gewohnt, doch der Umstand, wonach meine verhältnismäßig gewöhnliche Kleidung dem namenlosen Ereignis augenfällig nicht entsprach, ließ eine subtile Barriere zwischen mir und den Anwesenden bestehen – die jedoch schon bald fallen sollte. Ich nahm wahr, wie die beiden Damen damit begannen, ihre Beine unter dem Tisch gegen etwas zu reiben. Nun kamen sie mit diesem Spiel zu mir herüber, und als ich mich noch wunderte, welche Merkwürdigkeit hier wohl vorbereitet wurde, sprang zu meiner großen Überraschung ein schwarzer Panther unter der Tischdecke hervor und kam mit seinem Oberkörper auf meiner Brust zum Liegen. Seine großen, im Lichterglanz des Bankettsaals hellgrün leuchtenden Augen mit ihren tiefschwarzen Pupillen blickten in die meinen, und die Aufmerksamkeit der Gäste verharrte ebenso erstaunt wie begeistert auf dem bemerkenswerten Vorgang.

Das juvenile Tier trug eine metallene Krause um den muskulösen Hals und während das Gewicht seines majestätischen, schwarz schimmernden Körpers warm und spürbar auf meiner Brust ruhte und sich einer kraftvollen Atmung folgend regte, wäre ich um ein Haar mit meinem Stuhl nach hinten gekippt; doch wie von Geisterhand gelang es mir, jene akrobatische Lage zu meistern.

Nun war der Bann gebrochen und ich bemerkte, dass man mich nicht bloß in den illustren Kreis jener elitären Verbindung aufgenommen, nein, sondern, wie mit einem geheimnisvollen Mal versehen, als einen Artverwandten anerkannt hatte. Nachdem sich die Großkatze wieder dorthin zurückgezogen hatte, von wo aus sie jüngst zum Sprunge angesetzt, reichte der schwarz gekleidete Gastgeber die erste Speise des Abends; dabei behielt er den Teller mit dem filetierten und fein säuberlich aufgeschichteten dunkelroten Fleisch beharrlich in der Rechten. Ich sollte zugreifen und sah, dass mir die reizende Mademoiselle, jene ältere Dame und auch mein Bekannter gespannt abwartend den Vortritt gewährten. Ich fasste eine der vorderen Scheiben und bemerkte, wie sich die eleganten türkisgezierten Finger Claudes bereits nach dem nächsten Stück streckten. Der sich anschließende Geschmack war mit nichts vergleichbar, was ich und, so wurde mir zwischen jenen Augenblicken bewusst, auch kaum ein anderer Mensch auf diesem Planeten je genossen hatte. Zuerst nahm ich an, es würde sich um Wildlachs handeln, doch als ich den tiefbitteren, zugleich hochedlen Geschmack auf meiner Zunge zergehen ließ, musste mich niemand der Anwesenden darauf hinweisen, dass es sich bei dieser Köstlichkeit um das rohe Fleisch eines Panthers handelte.

Nach dem Mahl hielt ich mich noch einige Zeit alleine in den langen Korridoren und aufwendig eingerichteten Räumen des Gebäudes auf. Überall suchte ich nach der schönen Claude, doch konnte ich sie nicht finden. Nachdem ich in einem der vielen holzvertäfelten, mit Pavé mosaique geschmückten Treppenhäuser ein großformatiges, aufwendig gestaltetes Emaillebild bestaunt hatte, das einem Triptychon verwandt das Leben eines Zirkuselefanten verherrlichte, führte mich mein ruheloses Wandern in die oberen Bereiche der Anlage, wo ich unvermittelt auf den dunkelgewandeten Gastgeber in seinen privaten Gemächern traf.

Hier würde ihn für gewöhnlich niemand aufsuchen, das wusste ich. Wir wechselten keine Worte, vielmehr übergab er mir wohlwollend eine frisch zubereitete Fleischplatte von augenscheinlich höchster Qualität. Unter einer Frischhaltefolie erkannte ich hauchdünne rosafarbene Scheiben, fein säuberlich angerichtet; ähnlich der exquisiten Delikatesse, die ich zuvor in seiner Gegenwart kostete. Der Wert jenes Geschenks war mir bewusst, ich nahm es dankend entgegen und mit nach Hause.

Dort verspeiste ich es …

Wahrlich, ein Teil von Claude wird für immer bei mir sein, und ich weiß nun, wie die Götter speisen.

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