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Pazifische Gräuel

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Gleich dem Seegang, waren die hinter mir liegenden Stunden unruhig gewesen. Seit einiger Zeit bildete ich mir ein, diese unregelmäßig auftretenden Schlafprobleme könnten etwas mit den Schockwellen entfesselter Sonnenstürme zu tun haben, die, wie ich schon bald online nachschaute, während der letzten Nacht das Erdmagnetfeld stark erschüttert hatten und darüber hinaus anhielten.

Wie dem auch sei, in dieser maritimen Umgebung urlaubbedingter Zwanglosigkeit, empfand ich die schlaflose Nachtruhe in meiner Balkonkabine an Bord der Lemurian Pearl vielmehr als eine Form milder Meditation, denn als etwas, um das mich kosmische Einwirkungen beraubt hatten. Bekleidet mit einem sandfarbenen Leinenanzug, unter dem Sakko ein elfenbeinweißes Hemd tragend und mit dunkelbraunen Segelschuhen an den blanken Füßen, verbrachte ich die Vormittagsstunden somit leicht ermattet bei ein paar Drinks in einem komfortablen Liegestuhl ausgestreckt und spähte zufrieden vom stark frequentierten Sonnendeck in die Weite des Pazifischen Ozeans. Die zahlreichen Fotografien und Tagebucheinträge, vergangene Landgänge nebst Sehenswürdigkeiten betreffend, würden nach meiner Heimkehr einiges an Material hergeben. Ja, bei Gott, auf diesem Schiff und in diesen Breiten konnte man es wahrlich aushalten! Natürlich, eine auf Touristen fixierte Infrastruktur gehörte dazu, doch empfand ich diese bisher als weniger störend, als die Vorgänge entlang Attraktionen anderenorts, wo möglicherweise eine mittelalterliche Burganlage wie ein halbfossiler Riesenkraken auf einer bewaldeten Anhöhe über einer Siedlung alter Baumassen thront, um durch deren von einer Unzahl an Souvenirläden, Nippes-Buden und deftigen Küchen gebildeten Speckgürtel böser Ernährung, Horden verschwitzter Touristen anhand Flotten kleiner Shuttlebusse an ihre eiserne Pforte zu karren, diese sodann ihres Geldes zu erleichtern, bevor sie bald wieder entlassen wurden, ebenso dickbäuchig wie hungrig und nicht minder angeödet ob ihrer eigenen Existenz. Hinab, in Richtung des grellen Durcheinanders aus schlechtem Essen, Kitsch und Gestank. Die nordamerikanische Atlantikküste und ihre Sehenswürdigkeiten waren indes famos gewesen, wenn auch frei einer wirklich antiken Patina. Der Panamakanal hatte mich inspiriert, und nun, nach einigen wonnevollen Tagen und von einem majestätischen Sternenzelt geschmückten Nächten inmitten pazifischer Wellen, längst vorbei an Isla Isabela, in westlicher Richtung unterwegs, das Solarreich Hawaii und seine Bewohner fortan in wundervoller Erinnerung behaltend, nahmen wir schließlich Kurs auf Papua-Neuguinea.

Ich stellte den alkoholfreien Ananascocktail auf einen niedrigen Beistelltisch und blickte nach rechts. Dort, in unmittelbarer Nähe, hatte vor ein paar Minuten eine wahrhaft hübsche Erscheinung ihren wohlgeformten Körper auf einer mit bunten Tüchern bedeckten Liege ausgestreckt. Ganz offenbar arbeitete die junge Dame an einem handgeschriebenen Text. Eine Schicksalsgefährtin?

Ich war bemüht, einen Blick auf die Zeilen zu erhaschen. Natürlich bemerkte sie den angestrengten Versuch und befreite mich schon bald durch ein Lachen, wie es einen vielschichtigen Charakter andeutet, aus der unbeholfenen Lage. Wie konnte ich sie während all der Zeit an Bord erst jetzt bemerkt haben? Rasch kamen wir ins Gespräch. Ihr klares, gut verständliches Spanisch schmeichelte den Ohren, und es imponierte mir zu bemerken, dass sie sich ebenso auf Französisch wie auf Deutsch, zumindest prinzipiell verständlich, ausdrücken konnte. Ihre Englischkenntnisse waren den meinen derweil überlegen, wobei ich versicherte, dass ich jene Weltsprache sehr wohl fließend verstand, während das Sprechen und Schreiben nach ihren spezifischen Vorgaben meinen Verstand von Zeit zu Zeit etwas überforderte. Die Kolumbianerin, Tochter eines Diplomaten und einer Pianistin, ward einst auf den klingenden Namen Camilla getauft. Hobbys: Die Schriftstellerei, Musik im Allgemeinen und Merengue im Speziellen, Tanzen, vor allem Salsa sowie das Reisen. Nun, mit Ausnahme der Vorliebe für jene mir bloß schwer zugänglichen Rhythmen und Tanzstile, hatten wir zumindest etwas gemeinsam.

Unter ihrer Vintage-Sonnenbrille funkelten mir schon bald emailleblaue Augen aus einem unschuldigen Gesicht indigener Züge entgegen, die als Kontrast zu ihrem tiefschwarzen gelockten Haar von der bewegten Geschichte Lateinamerikas exotisches Zeugnis ablegten. In ihrer mir sehr willkommenen Gegenwart verstärkte sich das Gefühl der Zwanglosigkeit, das eine Reise über große Distanzen oftmals begleitet, doch stets als eine Artung vergänglicher Segen empfunden und schon bald, in die Heimat zurückgekehrt oder entlang Landstrichen vertrauter Geschäftigkeit wandelnd, erneut sehnsüchtig vermisst wird. Gelöst plauderten wir über das Wetter, den gestrigen Auftritt der Schiffsband, das Essen an Bord und die Weltlage. Zentral- und Südamerika hatten sich nie im Fokus meiner Beobachtungen befunden, und umso mehr zeigte ich mich überrascht ob der geopolitischen Zusammenhänge, kulturellen Nuancen und alternativen Blickwinkel, mit denen sie unsere Konversation unter einem immer höher emporsteigenden Tagesgestirn zu bereichern wusste.

Die ihrem Wesen zu eigene Melange aus Schönheit, Stärke und echter Intelligenz, wie sie oftmals auch die Götter evoziert, rang mir ehrliche Bewunderung ab. Amüsiert bemerkte ich eine deplatzierte Verlegenheitsregung ihr hübsches Gesicht durchhuschen, als sie mich darum bat, ein paar Zeilen aus ihrem aktuellen Roman Probe zu lesen, an denen sie seit ihrer Einschiffung herumtüftelte. Da meldete sich der Kapitän mit einer Mitteilung, zugleich ich ihr anerkennend zunickte, die über die Schiffslautsprecher sodann blechern tönenden Ausführungen, das bald in relative Nähe kommende Bikiniatoll und seine Geschichte betreffend, bloß beiläufig vernehmend. Sehr gerne kam ich der Bitte nach, setzte mich aufrecht hin, streckte begleitet von ihrem lieblichen Kichern den Rücken durch, entnahm meine Lesebrille der Sakkotasche und sichtete die Zeilen:

»Wie er dort zwischen den beiden freistehenden Säulen auf der breiten Steintreppe zum Allerheiligsten stand und seinen Blick über die alte Stadt schweifen ließ, neigte sich ihm eine unerhörte Erkenntnis zu. Hier war er nun, über alle Dinge erhaben, die Welt zu seinen Füßen. Falls er es wünschte, so konnte er ein jedes Leben beenden; die Kranken heilen, den Verfolgten Ruhe spenden, die Gerechten wie auch die Sünder schlachten. Das Schicksal des Planeten war an seinen Willen gebunden. Doch er stand allein, allein mit dieser Erkenntnis. Da war kein Gott, kein Versucher; nichts, was ihn auf diesen Umstand, die durch in erfüllte Prophezeiung ansprach. Etwas war eingetreten, das niemals hätte eintreten dürfen. Eine seltene Ansicht, die sich bloß in und durch seinen eigenen Leib offenbarte und ihn jene, die weiterhin in den bleiernen Nöten der Existenz verstrickt waren ob der ihnen derweil überlassenen Illusion, es gebe etwas zu erreichen, einen existenziellen Sinn, Augen aus unsichtbaren Sphären, die wohlmeinend auf sie hinabblickten und am Ende eines ruhelosen, leidgeplagten Lebens warte eine ungeheure Entdeckung, ein allversöhnendes Licht, beneiden ließ. Er wusste es besser, seine Augen waren wahrhaftig geöffnet worden. Die Hierophanten der zu seinen Ehren errichteten Tempel und Meditationshallen würden die Menschheit nicht über diese Erkenntnisse informieren, das war sein ultimatives Geschenk an die Hoffenden. An jene, die wie er zwar Menschen waren, doch deren Herzen und Seelen gebrochen würden, aufgrund einer Wirklichkeit …«

Ich schaute auf, hoffte alles in meinen stummen Gedanken ordnungsgemäß übersetzt zu haben. Unsere Blicke trafen sich – magnetisch, elektrisierend! Camillas Mimik war ein Gemisch aus hübscher Verlegenheit und unberechtigter Sorge. Offenbar war sie begierig zu erfahren, was ich zu ihren Zeilen sagen würde. Soeben überlegte ich noch, ob ich einfach weiterlesen sollte, da flüsterte sie verbindlich:

»Es ist ein Endzeitroman, ich …«

Irgendetwas war geschehen!

Irgendetwas hatte sich ereignet, irgendetwas … So ging es für eine zeitlose Weile, dergleichen hallte es Ewigkeiten in meinem schmerzenden Schädel. Es war nass, ich fühlte mich erstarrt, bäuchlings ausgestreckt auf einem unebenen Grund, der sich bloß langsam von meinen brennenden Augen fokussieren ließ. Feuchter Sand, weiß und gelb, teilweise schroff. Ja, ohne Frage, irgendetwas musste geschehen sein! Übelkeit – ich erbrach ein Gemenge aus jüngst geschlucktem Meerwasser, Verdauungssäften und Sonnendeckbewirtung. Mein Mageninhalt entleerte sich ungehemmt auf dem ohnehin feuchten Untergrund. Dann kämpfte ich mich auf. Ganz offenbar war ich gestrandet! Wobei …

Als ich nach oben blickte, erkannte ich weder einen hellblauen, wolkenlosen Himmel noch ein grelles Tagesgestirn selbigen durchfluten. Nein, vielmehr befand ich mich in einer Art Höhle, an deren steinernen Decke Reflexionen der grünblauen Wasseroberfläche sylphenhaft tanzten. Schroffe, rußschwarze Vulkanfelsen umschlossen den Strandabschnitt in sämtliche Richtungen, derweil das Meer unruhig schäumte. Seine Brandung schlug mit zunehmender Kraft an die Pseudoküste und umspülte die Sohlen meiner durchnässten Schuhe rauschend, dann sah ich es und vermochte nicht, es umgehend zu begreifen. Es schien gerade so, als sei diese unterseeische Grotte von einer Art Luftblase umschlossen, durch deren unteren Teil Meerwasser bis an die sandigen Gestade des Hohlraums drang, diesen jedoch nicht flutete. Ein isoliertes Biotop? Voraus blickte ich aus unbegreiflichen Gründen geradewegs in den Pazifik, diese ewige Weite.

Moment, was war das?

In einiger Ferne, wobei es schwer fällt unter solchen Umständen Distanzen korrekt zu bestimmen, bemerkte ich einen riesigen Schatten, wie er sich merkwürdig amorph auf- und abschraubte, den Ozean auf intelligente Weise zu durchschwimmen schien – und noch etwas anderes! Etwas, das aussah wie die desintegrierende Hülle eines Schiffs und … Meine Güte, unzählige beständig tiefer sinkende sowie in einem Versuch aufzutauchen befindliche Punkte, gleich dunklen Planktonklumpen, das Futter des aquatischen Gespenstes, das soeben dabei war, auf albtraumhafte Weise, wie mit Totenangeln bewehrte unzählige Fortsätze in Richtung jener Fütterung auszusenden, diese einzufangen und sich sodann eilfertig zuzuführen!

Ich vermochte nicht einmal zu schätzen, wie weit diese Szenerie tatsächlich von meiner Position entfernt war. Vielmehr klopfte ich hässliche Sandschlacken ab, die sich bereits in den Stoff meines getrockneten Anzugs gepresst hatten, säuberte das Gesicht und spähte noch ein paar Sekunden angespannt in die maritime Dimension. Was ich dort erkannte, wenn auch bloß schemenhaft, war ein Reich böser Andeutungen. Sie missfielen mir, es war besser zu gehen! Doch wohin? Es bot sich lediglich ein schmaler Felsspalt an, weg von dem beunruhigenden Ausblick, den dieser verwunschene Strand garantierte. Wohlgemerkt, ich hatte genug Platz um aufrecht zu gehen, doch musste ich die Arme etwas anwinkeln, um meine bereits ramponierte Kleidung nicht noch an den scharfen Felskanten zu ritzen, die hie und da die unbehauene Breite des Durchgangs bestimmten. Für Minuten quälte ich mich derart voran, bis ich schließlich das Rauschen der hinter mir liegenden Unterwasserlagune nicht mehr hören konnte.

Glänzende Sanddünen von gelber, dunkelroter und grünbeiger Farbe sowie hohe Auftürmungen uralten Sedimentgesteins, darin hellviolette und wie von allerlei bunten Farbpinseltupfern verursachte Einsprengsel, flankierten fortan meinen Weg durch ein unüberschaubares Areal auf unebenem Sandgrund. Meine ramponierten Schuhe trat ich von mir. Das Klima mutete gar tropisch an, und wenn ich nach oben blickte, erkannte ich massives Gestein, wie es in großer Höhe diese unterseeische, sauerstoffgefüllte Höhle von den sie umgebenden Ozeanfluten zu trennen schien. Von den Fluten und dem, was dort draußen seine Bahnen zog! Gemächlich kehrte die Erinnerung zurück, wenn auch vage. Was war mit Camilla, der kolumbianischen Schönheit vom Sonnendeck geschehen!? Ihre tiefblauen Augen bildeten eine der finalen Erinnerungen. Wobei, da war noch mehr! Dieses jedoch eher Gefühlen anstatt bildlichen Eindrücken verwandt. Ein Schlag gegen die Backbordseite des Kreuzfahrtschiffs, ein posaunenartiges Dröhnen, Schreie? Ja, Schreie hallten, und dieses Rumoren? Doch, ich war mir sicher. Daraufhin ein Empfinden, wie es bloß durch ein enormes Umherwirbeln entstehen kann, ein Aufschlag, das Meer, ein Sog. Schmerzen! Etwas umklammerte mich!? Mein Gott … Hatte die schöne Diplomatentochter den Vorfall überlebt? War sie etwa ertrunken oder gar zu einem Leckerbissen für was auch immer geworden!? Vielleicht waren meine Sinne aber auch bloß überreizt gewesen. War jene künstliche Abgrenzung zum Reich des Pazifiks nicht ohnehin sonderlich genug? Wie konnte unser Kreuzfahrtschiff überhaupt auf irgendeine Weise versenkt worden sein. Ich meine, es musste doch offenbar … Oder war ich bloß alleine über Bord gegangen? Fragen über Fragen, vielleicht würde ich an diesem eigentümlichen Ort Antworten finden.

Für einige Zeit wanderte ich durch die surreale Umgebung. Ununterbrochen drang von der steinernen Decke eine starke Helligkeit, bei der es sich ganz offenbar um eine Art Lumineszenz handelte, denn weder konnte ich ein Gestirn noch künstliche Lichtquellen ausmachen. Somit war es taghell und von Zeit zu Zeit blickte ich im Schatten hochaufragender geologischer Schichten exotischer Färbung verwundert in Richtung der Höhlendecke. Bald schon setzte mein Herz einen Schlag aus, denn ich hatte mit einigem gerechnet, doch nicht mit der Entdeckung säulenflankierter Ruinen inmitten dieser subaquatischen Sandcanyons, die mich sofort an eine jüngst hinter mir liegende, mehrtägige Reise zu den Tempelstädten Jordaniens erinnerten. Petra, die einstige Hauptstadt der Nabatäer. Gewiss, eine Ähnlichkeit war in Anbetracht der Gesamtszenerie nicht von der Hand zu weisen. Doch zeigte sich das beeindruckende Bauwerk beinahe vollständig von Sandverwehungen sowie bunt schillernden Geröll- und Muschelansammlungen überdeckt. Ich trat näher und verweilte für einige Sekunden zögernd auf der Stelle, als ich Teile eines altmodisch uniformierten Menschenskeletts vor mir aus dem weichen Boden aufragen sah. Einem beißenden Schreck gesellten sich wilde Gedankengänge hinzu. Wie wahrscheinlich war es, dass eine weitere Person einst ihren Weg an die Küste dieses Biotops durch die Fluten des Pazifischen Ozeans gefunden hatte? War es nicht naheliegender, dass eine direkte Verbindung zur Oberfläche existieren musste? Doch wie sollte diese wiederum beschaffen sein? Weit und breit war kein Festland verzeichnet gewesen. Näherten wir uns nicht kurz vor dem Vorfall einer Inselgruppe? Die Flammen der Hoffnung wurden rasch von einer realistischeren Einschätzung der Lage erstickt. Diese skelettierten Menschenreste, die ich soeben etwas genauer in Augenschein nahm, sprachen nicht für eine Möglichkeit, der ebenso rätselhaften wie sonderbar schönen Umgebung zu entkommen, au contraire!

Auf der Uniform des Toten erkannte ich unterdessen keine mir geläufigen Insignien oder Hinweise auf eine Nationalität, bloß die Reste eines aufgenähten, violetten Stoffpentagramms auf schwarzem Grund mit verwitterten umlaufenden Lettern, prangten auf Höhe der eingefallenen Schulter, während ein goldenes Amulett an einer stabilen Kette zwischen den blank daliegenden Knochen inmitten des allgegenwärtigen Sandes funkelnd aufblitzte. Dabei wollte ich es belassen. Nicht für einen Augenblick dachte ich darüber nach, die Überreste noch genauer zu untersuchen. Vielmehr blickte ich ehrfürchtig die hohe Fassade empor. Unglaublich, diese vertrauten antiken Formen, doch unsagbare Distanzen von den Ursprüngen ägyptischer oder hellenistischer Kultur entfernt! Ich musste mir einen besseren Überblick verschaffen, aus diesem durch Dünen und Sedimentauftürmungen vorgegebenen Labyrinth entkommen, und so hechtete ich jene die steinerne Vorderseite des vermutlich einst als Kultstätte oder Felsengrab genutzten Bauwerks umgebenden Schichten empor, kletterte sodann über eine umgestürzte Säule sowie aus der Stirnseite gebrochene Steinquader, und mit einigen Schweißperlen auf der Stirn erreichte ich schließlich ein flaches Plateau wundersamer Färbung, von dem aus sich mein Blick in die Weite geradezu erschöpfte.

Es war unbeschreiblich, soweit ich spähen konnte und erst in sehr weiter Ferne von einem goldstaubigen Dunstschleier begrenzt, offenbarte sich mir ein jenseits der kosmischen Gestirne hell ausgeleuchteter Irrgarten aus Sand, Gestein, urtümlichen Ruinen, von fossilen Pflanzenresten und unvertrauten Baumgewächsen gezierten Plateaus geringerer Höhe, hoch aufragenden Tafelbergen, und all das, mein bescheidenes Wissen über Geologie und Meereskunde gleichsam ad absurdum führend, bekrönt von einem Himmelszelt aus schwarz funkelndem Vulkangestein. Ich sank auf die Knie, ließ meinen ernüchterten Blick weiter umherschweifen. Wie konnte all das bloß möglich sein? Merkwürdiger Weise verspürte ich weder Durst noch Hunger, und es wirkte beinahe so, als stehe dieser Ort nicht bloß aufgrund seiner verborgenen Position den Nationen der Erde exterritorial gegenüber. Da, plötzlich, in ungefähr fünfzig Metern Entfernung, inmitten eines weitläufigen, natürlich geformten Platzes, dessen Zuwege sich aus vier Richtungen durch die sandigen Canyons schlängelten, erblickte ich mit stolperndem Herzen eine Person – eine junge Frau! Sofort stand ich auf, doch mein verdammtes Zivilistendasein ließ mich soeben noch mit den Befindlichkeiten meines Nervensystems kämpfen, ich bekam einfach keinen Ton raus. Ich atmete ein, strengte mich an und … Jene offenbar ebenfalls Gestrandete irrte nicht minder orientierungslos umher, doch als sie die Mitte des sandbedeckten Platzes erreicht hatte, erkannte ich, wie dem Boden vor ihr eine schwarze Blase entwuchs, die sich, grotesk an Volumen zunehmend, auftürmte und gemeinsam mit in Schwingungen geratenen Sandpartikeln an Regung gewann. Die Person in nächster Nähe stand wie versteinert, und auch ich, obwohl mittlerweile in der Lage einen Laut zu äußern, verharrte ebenso angespannt wie stumm.

Die dunkelledrig schimmernde Ansammlung, dieser von Trichtern, Beulen und lichtreflektierenden Flächen organisch besetzte Kopf, hatte sich nun, einer zuvor lauernden Schlange vergleichbar, komplett aus dem Boden geschält, um sich, begleitet von einem spitzen Fiepen und rhythmischen Dröhnen, in die Luft zu erheben und einen langen Schleier dünner, pergamentartiger Fortsätze vom sandigen Grund zu lösen und ähnlich einem Fächer aus Lamellen hinter sich herzuziehen. Die unappetitlichen Arme des Kopffüßers waren bis zu jenem Moment mit dem Boden verbunden gewesen, und so fiel die junge Frau auf den Rücken, während die schiere Ausstrahlung des Monstrums meine Sinne und eine Schicht des Verstandes, von der ich bisher nicht annahm, dass sie existierte, auf eine üble Weise angriff. Das tintenfischartige Etwas wand sich mit erschreckender Leichtigkeit in der Luft hin und her, vollführte einem Papierdrachen ähnliche Bewegungen und entließ dabei ein hochfrequentes Pfeifen sowie gutturale Laute in die ansonsten totenstille Umgebung. Das an Papier oder Folie erinnernde Rascheln der dünnen, mindestens drei Meter langen Tentakel, gewann ebenfalls an Intensität, als zu meinem abermaligen, wenn auch gleichsam gesteigerten Schrecken, vier formverwandte Geschöpfe ihre bisher getarnten Leiber aus der Höhlendecke, einem Felsen, einem bunten Sandhügel und von einer mir nicht im Blickfeld befindlichen Stelle lösten, langsam einher schwebten und mich angesichts ihrer riesigen, von dunkelbraunen Hornfortsätzen und fleischigen Attributen bewachsenen, schwarzschimmernden Krakenköpfe an die dem Menschen zugestandene Position auf einer die offiziellen Wissenschaften verlachenden Evolutionsleiter gemahnten. Ich war alarmiert; sie umkreisten die sich aufraffende, zu einer Flucht kreischenden Entsetzens antretende Gestrandete wie Raubvögel. Da schleuderte der größte jener schwebenden Cephalopoden seine knisternden Fangarme ähnlich einem papierenen Windrad im Uhrzeigersinn herum, um die arme Frau daraufhin mit einer furchtbar effektiven Vorwärtsbewegung vollständig zu umschlingen und sie, flankiert von seinen Artgenossen, in die Lüfte des tropischen Biotops zu entrücken. Widerlich geschäftig schienen die Kreaturen noch mit ihrer Beute zu spielen, warfen sie durch die Gegend, fingen sie auf. Dabei drangen Pfiffe und tieffrequente Töne aus den organischen Zierden ihrer aufgeblähten Ballonköpfe in die Umgebung und mahnten mich zur Eile.

Nichts wie weg hier!

Soeben hatte einer der fliegenden Schrecken den perversen Reigen verlassen und eine Position oberhalb der Szenerie eingenommen, levitierte dort grausam träge und ließ die funkelnden Flächen, kleine Aushöhlungen inmitten seines ledrigen Haupts, wie in Absicht einer genaueren Observation umherfahren. Ich musste diese exponierte Position verlassen, erneut die Vorsprünge der Tempelfassade hinunterklettern oder besser hinunterspringen! Nicht ernsthaft rechnete ich mir Chancen aus, diesen Jägern in ihrer natürlichen, gut ausgeleuchteten Umgebung entkommen zu können. Gellender Donner unterbrach meine Flucht! Instinktiv ließ ich mich flach auf den Boden fallen, presste meine Handinnenflächen gegen die Ohrmuscheln, schloss die Augen und vernahm weitere Lärmwellen das fremdweltliche Areal mit enormen Schlägen und rollenden Schallkanonaden durchzucken. Ein beißender Schmauchgeruch verheerte die klare Luft. Vorsichtig öffnete ich ein Auge. Der schwebende Albtraum, jener teuflische Kraken war verschwunden, so wie auch seine Kameraden und der Körper ihres Opfers – abscheulich!

»Come on pal, get the hell over here!«

»Get up, you crazy fool!«

»Hey, move your lazy ass. Now!«

»Was … Hallo?«

»Howdy!«

Nun, was ich von der anderen Seite des Plateaus in mein Blickfeld treten sah, waren drei Männer mittleren Alters. Auf den ersten Blick dachte ich an Mitglieder eines Stammes Südseeeingeborener, doch rasch bemerkte ich, dass dies keineswegs zutraf. Wie sich herausstellte, handelte es sich um US-Amerikaner! Ja, tatsächlich. Nicht bloß hatte ich ihre Landsleute während vieler Reisen angetroffen, nein, hier nun verspürte ich ausnahmsweise eine ehrliche Freude aufgrund ihres Erscheinens, und so ließ ich die auf den zweiten Blick etwas sonderbar dreinblickenden, mit Fasern mir unbekannter Pflanzen bekleideten Herrschaften wissen, dass ich ihre Sprache beinahe perfekt verstand, das Sprechen und Schreiben in ihr mir jedoch Probleme bereitete.

Das war kein Thema, vor allem nicht für den Anführer der Truppe, ein Unterseeboot-Kommandant namens Paul J. Wilson, Träger des Navy-Cross und nun schon seit beinahe siebzig Jahren »Befehlshaber eines Brückenkopfes in der Unterwelt«, wie er seine finale Aufgabe umschrieb. Seine Mutter hatte deutsche Vorfahren, sie stammten aus der Eifel, und er besaß einige Sympathie für die Sprache der Weimarer Klassik. Der Militär gefiel sich sogar darin, in ihr zu lesen sowie zu schreiben, und so, nachdem ich mich aufrichtig bei einem jeden meiner Retter mit einem verbindlichen Händedruck bedankt hatte, stand er mir auf dem Weg zum Basiscamp Shangri-La Beach mehr oder weniger Rede und Antwort. Erst währenddessen realisierte ich die Gefahr, in der ich mich kurz zuvor befunden hatte, vollumfänglich. Die Schüsse aus einer antiquierten Army-Maschinenpistole hatten die fliegenden Ungetüme verjagt, die Courage mutiger Männer hatte mein Leben gerettet!

»… Seit siebzig Jahren? Wie soll denn das bitte möglich sein, Captain?«

»Das ist, ähm, wie sagt ihr? Delikat? Nein, ah, kompliziert. Ja, kompliziert. Mein Deutsch ist einge…, eingerostet. Seit Professor Abendroth kaputt ist, habe ich es nicht mehr gesprochen, höchstens gelesen. Wobei, wie ich merke, es ist ähnlich wie …«

»Fahrradfahren?«

»Yeah, Fahrradfahren!«

»Prima. Ähm, welcher Professor, kaputt? Sie meinen tot!?«

»Abendroth! Tot, ja. Du hast sein Skelett gesehen?«

»Stimmt … Oh, das war also … Wieso haben sie ihn nicht begraben!«

»Wait, wait! You have touched it! Hast du das Skelett angefasst?«

»Nein, ich …«

Für ein paar Sekunden musterte er mich mit dunklen Augen, ließ seinen breiten Sportlerkiefer dabei vor- und zurückspringen.

»All right, okay. No problem! You know, alles was die Götter berühren ist ihnen fortan ähh, geweiht. Tabu für uns fromme Affen!«

»Götter?«

»Yeah, die fliegenden Polypen. Götter, gods. Wie soll ich sie anders nennen? Sie hatten außerdem keine panic vor meinen Patronen, es war der Lärm, der sie vertrieb.«

»Aha, aber fliegende Polypen?«

»Oh come on, du hast sie doch gesehen. Fliegende Tintenfische, squid, Kraken! Der Professor könnte dir das alles detailliert erklären. Wir sitzen hier nun schon seit den 1958er Jahren fest. Nachdem verantwortliche Stellen sich dazu entschlossen hatten, das Bikini Atoll und das, was bereits dabei war an dieser Stelle aufzutauchen, nuklear zu bombardieren und zum ähh Rückzug, ja, das ist das Wort, zu zwingen. Das ging einige Jahre so. Nachdem der Feind seine Aktionen schließlich eingestellt hatte, war es dann an uns, proud men of the Navy, die Sache unter die Lupe zu nehmen. Um herauszufinden, womit wir es zu tun haben, tauchten wir mit mehreren UBooten in unerforschte Tiefen und zu geheimen Pforten unter dem Meer hinab.«

»Das ist nicht ihr Ernst!?«

»Are you kidding me? Du hast den Bullshit doch gesehen! Willst du nun etwa mit mir darüber debattieren, ob der Rest der Story stimmt!?«

»Äh, naja«

»Blast it, crazy kraut! You are running around like a damn tourist amid a subterranean hell of flying polyps!«

»Okay, okay, kaputt«, ich hob die Arme wie ein Gefangener über den Kopf. Er winkte ab, beruhigte sein Temperament und sprach weiter:

»Hmm, hier unten ist alles etwas anders, you know! Darum altern wir nicht! Im Gegenteil: John … Johny, come here!«

Soeben verließen wir das Schluchtenlabyrinth und betraten eine weitläufige Höhlenlagune. Das Rauschen der Brandung und eine veränderte Zusammensetzung der Luft fielen mir sofort auf, hier und da wuchsen sogar Palmen von nie zuvor gesehener Pracht; ich glaubte uns in Sicherheit. Der herbeizitierte GI kam grotesk zuckend angewackelt, nickte unterwürfig. Er trug noch Teile seiner Armeeuniform, der Rest des Körpers war von pflanzlichen Stoffen bedeckt, und … »There you go. Schau mal!« Das war abstrus! Der Großteil seines Rückens war von einem rotbraunen Fell überwuchert und bot einen beunruhigenden Anblick, zu dem auch seine animalische Körperhaltung beitrug. Der Captain derweil hob großmeisterlich den Kopf, meinte:

»Das was göttlich ist, bleibt göttlich – godlike! So wie die Flugkraken! Alles wird konserviert, darum können wir nicht sterben, nicht einmal verhungern oder verdursten. Bloß durch Gewalt kann ein Leben beendet werden. Die Anzahl meiner Männer war nicht immer so gering. Dazu kommt, wir entwickeln uns wieder zu dem, was wir eigentlich sind und was wir im Ursprung waren, als uns die Alten einst schufen: Affen! Und dann bleiben wir so, für immer vermutlich. Fubar!«

»Gott!«

»Affen!«

»Äh …«

Ich war absolut überfordert. Dazu passierten wir nun zwei imposante Unterseeboote, die von ihrer Bauart tatsächlich verhältnismäßig alt wirkten. Wie tote Wale trieben sie im Wasser der Lagune, mit einigem Abstand zum Strand. Ein violettfarbenes Pentagramm, umgeben von einer Art Bannschrift, zierte die linke Seite des jeweiligen Kontrollturms. An Land, geschickt in Höhlen, unter Zeltbahnen und Tarnnetzen versteckt, erkannte ich Holzverschläge und eine Art improvisierter Besiedlung, wie sie den vorherrschenden Umständen angepasst schien. Bloß zehn Mann des Kommandotrupps waren übrig. Wohlgemerkt bestand dieser damals nicht bloß aus UBootfahrern, sondern auch aus speziell ausgebildeten Infanteristen, die unter anderem auf Professor Abendroth aufpassen sollten, während dieser mit einigen Gelehrtenkollegen die Gegend erkundete. Die Hälfte der Truppe zeigte Formen von Degeneration. Ohne Frage, bald würden ihre Körper zur Gänze von Fell bedeckt sein. Manche liefen bereits vollkommen unbekleidet, mit krankhaft gekrümmten Rücken umher – und diese entsetzlichen Augen! Irgendetwas hatte sich ihrem Blick beigemischt oder das verdrängt, was man als menschlich bezeichnen könnte.

»Aber mir fällt auf … Nun, an ihnen erkenne ich kaum Veränderungen, Captain. Wie ist das möglich!?«

Das fragte ich ihn später, als wir am Strand um ein befestigtes Lagerfeuer herum Platz nahmen, das zuvor auf archaische Weise, mithilfe von Feuersteinen und Bündeln getrockneter exotischer Flora entfacht worden war und ich mich abermals wunderte, wieso ich weder Hunger noch Durst verspürte. Den Umstand, dass es niemals dunkel wurde, empfand ich aufgrund ausbleibender Müdigkeit als durchaus angenehm, obwohl …

»Well, ah, ich habe einen starken Charakter und es gibt gewisse, naja, sagen wir Maßnahmen, wie man die Transformation stoppen kann.«, ging Wilson auf meine Frage ein und verwies auf: »Die Notizen des Professors! Da steht alles drin. Oh yes, der Worldwar war die Hölle gewesen, danach ging der Albtraum für mich schon bald weiter.«

Seine Untergebenen saßen ruhig um den knisternden Brand, die Blicke gesenkt. Ein weniger primatenartiger Militär arbeitete am Kommandoturm eines UBoots, während die züngelnden Flammen des Lagerfeuers ominöse Licht- und Schattenspiele auf den korrumpierten, einst von menschlicherem Ausdruck bestimmten Gesichtern seiner Kameraden hinterließen. Mir fiel auf, dass mein Gesprächspartner als einziger eine Waffe trug, ebenjene Thompson, mit der er zuvor mein Leben gerettet hatte. Als wolle er an General Douglas MacArthur erinnern, schob er sich eine alte Sonnenbrille vor die Augen, stopfte eine Corncob Pfeife mit getrockneten Algen sowie Kräutern, entfachte die Glut anhand glimmender Farnblätter aus dem Lagerfeuer, lehnte sich zurück und knurrte:

»Ha, ich könnte dich ja fragen, was es dort oben Neues gibt! But no, certainly not! Das würde mich bloß verärgern. Lass mich raten: Gewalt, Lügen, Geld … Soll ich weitermachen? In der Gegenwart der Gottheiten wird alles viel klarer. Wohlgemerkt gibt es viele verschiedene Arten ihrer Spezies hier in dieser Höhle und dort, dort weit unten sowie im Meer, im Pazifik um uns herum. In der lichtlosen Tiefsee existieren furchteinflößende Lebewesen, riesige Monster, von denen die allgemein bekannten Tintenfische, Kalmare und so weiter eine Art animalischer Abglanz sind. Manche von ihnen fangen ihre Beute lebendig und integrieren sie in ihren wirbellosen Leib. Von diesem tragischen Moment an ist das Opfer am Sterben gehindert. Sein Hirn wird nun bis in alle Ewigkeit von beispiellosen Substanzen durchflutet. Selbige Stoffe lassen die oder den Gefangenen luzide Halluzinationen der übelsten Art erfahren, und jene in diesem Zustand sodann freiwerdenden Angst- und Folterenergien bilden fortan eine ständige Nahrungsquelle für eine dieser uralten Abscheulichkeiten! It’s madness!

Ach, was sag’ ich, der Professor kannte sich besser mit diesen verrückten Sachverhalten aus, konnte sie auch entsprechend vortragen. Erst wenn man Science and ahhh, how you call it? Witchcraft! You know, Occultism… Ah, Okkultismus!«, ich nickte wissbegierig, »miteinander kombiniert, bekommt man ein sinnvolles understanding jener Dinge. Ein Teil seiner Aufzeichnungen befindet sich in meinem Besitz.«

»Oh!«, warf ich ein, »der würde mich sehr interessieren!«

»Keine Sorge Partner, das lässt sich arrangieren.«

Kurze Stille, er mehrte die Glut seiner Pfeife.

»Was ist nun mit der Dame, die von den Flugpolypen mitgenommen wurde, können wir sie nicht befreien?«

Qualmwolken stiegen aus Captain Wilsons Nase und seinem Mund, die Sonnenbrille verrutschte; er prustete, ganz so, als sei er dabei, sich jeden Moment zu verschlucken.

»No, by no means, haha! Die gods haben sie berührt, they have touched her! Sie ist jetzt ein lebendiges Tabu!«

»Hm, ein Tabu!? Aber was stellen diese Kreaturen mit ihr an?«

»Kreaturen, gosh! Sie wird zu einem Gefäß der Götter! Schon bald wird ein neuer Polyp sanft durch die Lüfte unserer vergessenen Welt gleiten, schon bald. Vorausgesetzt natürlich, sie haben sie nicht verspeist, also bevor sie sie geschwängert haben, meine ich.«

Mir wurde schlecht. Wilson stand auf, klopfte dabei kameradschaftlich auf meine Schulter.

»Warte hier Buddy, ich werde die Aufzeichnungen des Professors aus meinem Zelt holen.«

Das freute mich zu hören, ich war gespannt. Einen Anflug von Übelkeit nach wie vor bekämpfend, suchte ich meine Lesebrille in den Sakkotaschen. Bloß Sand! Augenscheinlich war sie verschwunden. Die finsteren Blicke der übrigen Anwesenden trafen sich nun aufgeregt. »Wie ein Rudel Schimpansen«, dachte ich und senkte das Haupt. Natürlich, in Anbetracht der jüngsten turbulenten Ereignisse, stellte der Verlust meiner Brille gewiss kein Hexenwerk dar. »So ein Mist, irgendwo muss sie doch sein! Diese Aufzeichnungen interessieren mich unge…«

Als ich wieder zu mir kam, stand die Welt Kopf! Das Pentagramm auf der Seite des UBootturms hatte eine sinistre Bedeutung angenommen und dumpfe Schmerzen pulsierten morsecodeartig, mit Ausgangslage Hinterkopf, gegen die Innenseite meiner Stirn. Da standen sie, den Schein des Lagerfeuers im Rücken, feierlich vor mir aufgereiht. Scheußliche Affenmenschen und solche, die ein ähnliches Schicksal erwarteten. Eine mir zuvor wohl verborgene, besonders arg degenerierte Gestalt hielt andachtsvoll ein aufgeschlagenes Buch in den haarigen Pranken, und während ich meine tatsächliche Lage vollends realisierte, Hände auf dem Rücken fixiert, mit den gefesselten Beinen an einer galgenartigen Holzkonstruktion aufgehängt, kopfüber baumelnd, bloß ein paar Handbreit vom sandigen Grund entfernt, trat eine Person grazil in mein verkehrtes Sichtfeld. Camilla!

Sie war wie eine Amazone bekleidet, oder besser gesagt, wie das Klischee einer eben solchen und trug einen bunten Kranz exotischer Gestaltung, der ihre schwarze Lockenpracht schimmernd bekrönte um das Haupt. Seine von pazifischer Gischt besprengte Fülle an Blüten, Knospen sowie Algen und Muscheln, korrespondierte dezent mit dem klaren Widerschein ihrer emailleblauen Augen. Ich wunderte, nein, ich sorgte mich! Mein Herz begann zu rasen, doch der bleierne Schatten eines bösen Schicksals hinderte mich ebenso wie das kräutergetränkte Tuch in meinem Mund daran, Laute zu formen. Da vernahm ich die Stimme des seitlich von mir posierenden Captain Paul J. Wilson, zeitglich er mehrere aus einem speckig glasierten Stein gefertigte Schalen auf dem Boden direkt vor mir platzierte:

»Nimm’s nicht persönlich! Dein blood hilft nicht nur dabei, die Götter zu besänftigen, es wird uns darüber hinaus Zeit verschaffen, die Degeneration etwas aufhalten! Ja, Zeit werden wir brauchen, und diese Lady hier wird meinem Nachwuchs eine gesunde Mutter sein. Irgendwann wird es dann genug frisches Blut hier unten geben und von Zeit zu Zeit werden wir die sacrifi… ahh, die Opferungen aussetzten, auf dass eine neu erstehende Gemeinschaft wachse und ihre Mitglieder fortan in der Gegenwart der Götter durch dieses inmitten pazifischer Fluten verborgene, tropische Eden auf ewig wandeln werden!«

In diesem Moment glaubte ich die Macht des Wahnsinns bereits in Besitz meines Hirns und mit der Durchsetzung jedweder Endnerven befasst. Auf ein »Gentlemen« und dem Deuten eines kurzen, geschärft schimmernden Dolches in Richtung seiner Untergebenen hin, stimmten diese einen Singsang an, und auch Camilla beteiligte sich vollkommen empathielos an jenem unheilverheißenden Choral. Unter einem der rauschenden Brandung nachempfundenen, rhythmischen: »Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä!«, führte der Zeremonienmeister die Schneide von hinten langsam an meinen Hals. Mein dem Tode geweihter Körper zitterte von Fängen der Angst gleich jenen stofflicher Materie gebunden in ein Schüttelfrost gebärendes Panikfieber hinein, schaukelte in seinem Drang zu leben wild hin und her, und dann spürte ich, wie die üble Dolchklinge dumpf in die Seite meines Halses eindrang und mit einem scharfen, pervers bedächtigen Schmerzensschnitt initiierte der Kopfschlächter die archaische Ritualopferung. Bereits jenseits von Zeit und Raum sah ich mit schwindendem Geiste Ströme blasenschlagenden Blutes, wie sie aus den durchtrennten Gefäßen meiner klaffenden Kehle hervorbrachen. Sie füllten die glänzenden Kultschalen, deren umlaufende Bildhaukunst ich in den letzten Sekunden meines Seins als die figürlichen Darstellungen unvertrauter Evolutionen deutete … Bis zu den erlösenden Sekunden, da eine existenzannihilierende Ohnmacht mein Ich unwiederbringlich packte und es – den Mythos einer körperunabhängigen Seele als das entlarvend, was er stets war: Unkenntnis der Lebensprozesse – in diesen finalen Gedankenzügen, einem tiefseeischen Echohall verwandt, ausklingen ließ:

»Ja, Menschen wie auch Affen kommen auf diesen plastischen Reliefs vor. Dinge, die im Meer leben. Geschöpfe, die in der Tiefe der Erde hausen, dort wo die Sonne niemals scheint. Städte auf dem Meeresgrund und Ausformungen bewussten Lebens, die alle bisher gesehenen Schrecken als hohl erscheinen lassen. Bildhafte Andeutungen, die …«

»Ahhhhh!!« Bei allem, was heilig ist!

Wie von einem Blitz erleuchtet, zappelte ich enthemmt in ein unerwartetes Erwachen hinein, betastete umgehend meinen Oberkörper, den Leinenanzug. Alles befand sich an Ort und Stelle, ordentlich. Mein Hals, mein Hals, oh Gott! Gute Güte, auch dort war alles unversehrt. Kein Blut, kein Leid, doch ein heißer Phantomschmerz schnürte meine Kehle. Was für ein furchtbarer Angsttraum, dieser Realismus, welch perverse Dämonie – und ein unbeschreibliches Glück, am Leben zu sein! Hmm, die wärmenden Strahlen der Sonne, eine wunderbare pazifische Brise, diese gemütliche Liege, die um mich herum flanierenden Reisenden, und zu meiner Rechten, das Juwel Kolumbiens! Ich drehte mich zur Seite, sicher würde Camilla noch mit ihrem Roman beschäftigt sein, ich musste ihr unbedingt von diesem entsetzlichen Tagtraum erzählen, ich …

»Oh!«

»Grüß Gott, junger Herr! Ach, nun schauen sie doch nicht so überrascht.«

»Pro…, Professor Abendroth!?«

»Sehr gut beobachtet, werter Freund. Beruhigen sie sich erst einmal. Schon gut, ich weiß, sie verstehen Englisch fließend, bloß Schreiben und Sprechen bereiten ihnen etwas Probleme, jaja. Gut, dass ich ihre Sprache indes vollumfänglich beherrsche, das minimiert die Wahrscheinlichkeit möglicher Missverständnisse, nicht wahr?«

»Ja, schon … Aber ich habe noch nie zuvor mit einem Skelett gesprochen.«

»Wissen sie, da haben wir etwas gemeinsam, annähernd. Ich habe auch noch nie als Skelett zu jemandem gesprochen. Normalerweise funktioniert so etwas auch bloß in Schauerromanen der letzten Jahrhundertwende, eigentlich sollte ich längst auseinandergefallen sein. Schauen sie mal! Ja, bitte doch, genieren sie sich nicht, ich arbeite gerade an meinen Aufzeichnungen. Ein Blick gefällig?«

Ich nickte. Mit einer scheußlich eleganten Bewegung reichte mir die zu anormalem Leben erwachte Knochenansammlung ein aufgeschlagenes Notizbuch. Der fragende Blick meiner Augäpfel zitterte über zwei altersfleckige Seiten, woraufhin des Gelehrten skelettierter Zeigefinger wie eine lepröse Made über den oberen Rand des Einbands kroch, um sodann auf das uralte Schriftbild des folgenden Absatzes zu tippen:

»Manche von ihnen fangen ihre Beute lebendig und integrieren sie in ihren wirbellosen Leib. Von diesem tragischen Moment an, ist das Opfer am Sterben gehindert. Sein Hirn wird nun bis in alle Ewigkeit von beispiellosen Substanzen durchflutet. Selbige Stoffe lassen die oder den Gefangenen luzide Halluzinationen der übelsten Art erfahren, und jene in diesem Zustand sodann freiwerdenden Angst- und Folterenergien bilden fortan eine ständige Nahrungsquelle für eine dieser uralten Abscheulichkeiten! It’s madness!

Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! Iä! …«

Abyssale Reminiszenz

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