Читать книгу Maria Stilke. Der Roman einer Lehrerin - Robert Heymann - Страница 6
II. Kapitel.
ОглавлениеMaria hielt sich jetzt meist im Speisezimmer auf, denn im Wohnzimmer standen Pfarrer und Kooperator fast unausgesetzt vor den Stehpulten oder sie arbeiteten am Schreibtisch, wenn der Beruf sie nicht abrief. Es kamen wechselweise Schreiben von der Regierung in München oder vom nahen Bezirksamt; die Stimmung wurde immer gedrückter. Dichter noch als früher lag der Schnee des Alters auf des Priesters Haupt. Die Fröhlichkeit des Kaplans war verstummt; er ging mit finsteren Mienen umher.
Einmal hörte sie vom Fenster aus, wie er am Marktplatz einen Trunkenbold zur Rede stellte, der dem Pfarrer den schuldigen Respekt versagte. Seine Augen glühten, zornige Worte kamen von seinen Lippen.
Sie konnte nicht verstehen, was jener antwortete. Aber aus dem Knäule der Worte löste sich eines heraus und schlug hart an ihr Ohr: „Pfarrerstochter!“
Sie dachte den ganzen Tag darüber nach, was sie getan haben könnte, dass sich der Zorn dieses Menschen gegen sie richtete. Die hässliche Bedeutung des Wortes blieb ihr noch verschlossen. Sie folgerte nur aus dem Ton und den Mienen des Trunkenen die Bösartigkeit, die gegen sie oder gegen den Pflegevater gerichtet war. Pfarrer Händel war ihr zweiter Vater, also war sie seine Tochter.
Aber das Wort klang in ihr nach. Instinktiv versuchte sie, die üble Bedeutung, die ihm innewohnen musste, zu enträtseln.
Sollte etwa die schwere Zeit, die über dem Pfarrhaus lastete, auf ihre Schuld zurückzuführen sein?
Sie durchforschte ihr Gewissen, aber sie fand nichts, dessen sie sich anklagen durfte. —
In dem Speisezimmer stand ein altmodischer Glaskasten, reich geschnitzt, voll alten Porzellans. Der braune Divan, der schon Generationen gesehen, schmiegte sich warm an die dunkle Vertäfelung der Wand. In den Mauern befanden sich Nischen, wo Bücher standen; in einer sah man ein geschnitztes Kästchen mit dem heiligen Öl.
Pfarrer Händel setzte sich früher gerne vor das Harmonium und spielte. Das kam in letzter Zeit gar nicht mehr vor. Maria goss mechanisch die Fuchsien und Geranien, deren rote Blüten über die Fensterstöcke hingen, und mit besonderer Sorgfalt die Lieblinge des Pflegevaters, die sorgsam gehegten Kaktusstöcke.
Dann setzte sie sich unter das Gemälde der Madonna.
Wenn jemals Traurigkeit sie überkam, flüchtete sie hierher. Sie wusste selbst nicht, warum gerade dieses Bild solche Anziehungskraft auf sie ausübte. Vielleicht nur, weil Pfarrer Händel es mit fast zärtlicher Liebe hielt und oft ihr Auge darauf lenkte.
Der dunkle Rahmen schien eigens geschaffen, die schweren, feurigen Farben zu mildern. Nur Raffael hatte eine solche Harmonie irdischer Schönheit und frauenhaft-mütterlicher Güte in seinen spätesten Madonnenbildern gefunden. In der alten Pinakothek in München hatte sie ein solches Gemälde von seiner Meisterhand gesehen. Seitdem war sie bestrebt, zwischen diesem Bildnis und der Madonna Raffaels Übereinstimmungen festzustellen. Denn sie liebte die Marien des italienischen Meisters und verehrte ihn voll idedaler Kindlichkeit.
Neben der Muttergottes hingen die uralten Familienbilder in ebensolchen schwarzen Rahmen.
Aber nichts konnte ihr Ruhe und Frieden geben angesichts der wachsenden Unruhe im Pfarrhaus. Die Köchin ging mit verärgertem Gesicht umher und schlug die Türen, je näher der Tag ihrer Entlassung rückte. Im Dorf war eine seltsame Bewegung. Irgend jemand hatte in der Nacht aufreizende Plakate vor den Wirtshäusern angeschlagen. Sie hörte nur davon sprechen; denn morgens, als sie ausging, hatten die Bauern sie schon entfernt. Wenn sie durch das Dorf ging, fiel ihr auf, dass man sie sonderlich betrachtete. Auch über Anna Wagners Benehmen hatte sie sich nicht getäuscht. Die Freundin und deren Eltern zogen sich von ihr zurück.
Was hatte sie getan?
Sowohl der Pfarrer wie der Kooperator gingen nicht weiter darauf ein, wenn sie auf solche Erfahrungen zu sprechen kam. Pfarrer Händel sagte, das sei Einbildung, und der Kaplan bemerkte, die Niederbayern seien ein wenig zugängliches und leicht zu Roheiten neigendes Volk, was ihm der Pfarrer strenge verwies.
Die Wahrheit aber war die: als nach dem Tode der seit nahezu dreissig Jahren im Pfarrhaus treu und gottesfürchtig tätigen Köchin eine neue aus München angekommen war, hatte sie es sich gleich angelegen sein lassen, die Verhältnisse im Pfarrhof nach ihrer Weise auszulegen. Dass in Raubingen eine gewisse Maria Stilke erzogen wurde, für die Pfarrer Händel regelmässig Geldbeträge einzahlte, weil er Vaterstelle an ihr vertrat, fiel ihr bald auf und stimmte sie nachdenklich.
Pfarrer Händel gehörte nicht zu jenen Geistlichen, die in religiöser Überzeugung schematische Gedankenlosigkeit duldeten. Er räumte mit den alten Privilegien der Betschwestern auf und suchte in seinen Predigten durch einen neuen, freien Geist die Frömmigkeit der Gemeinde in edler Weise zu wecken. Der Erfolg war, dass im Laufe der Jahre säumige Kirchgänger fleissig wurden, dass an Stelle der grossgezogenen Gewohnheit ehrliche. Überzeugung, wahrer Glaube trat. Vielen aber war diese Art ein Greuel, denn sie wollten nicht aus ihrer dumpfen Gedankenlosigkeit aufgeschreckt werden und waren ärgerlich über des Pfarrers Predigten, dass nur dessen Gebet Gott gefällig sein könnte, der aus reinem Willen zum Glauben heraus seinem Schöpfer sich näherte.
„Der Wille, Gott zu finden, führt immer zum Glauben, und der Glaube ist die Brücke zur Erlösung. Wo aber diese Brücke nicht auf den Fundamenten des wirklichen Gedankens steht, den inneres Suchen zum Grundstein wahrer Religiosität geschliffen, da ist sie wirklich auf Sand gebaut . . .“
So wandte sich der Pfarrer gegen geschwätzige, gedankenlose Beter. Es gab manchen, der ihm übel wollte, als er vor etwa sechzehn Jahren von einem kleinen Pfarrdorf am Chiemsee zu seiner jetzigen Gemeinde versetzt ward. Bald aber fanden die, welche es ehrlich mit ihrem Glauben meinten, den wahren Kern. Ohne dass die Neider und Wühler schwiegen, mehrten sich von Jahr zu Jahr das Ansehen und die Liebe, die Pfarrer Händel genoss.
Da brachte plötzlich die neue Köchin die Mär unter die Leute: Der Pfarrer hat eine Tochter!
Da er nicht den Mut besitzt, sie öffentlich anzuerkennen, dies Kind der Sünde aber nicht verleugnen will, so lässt er sie als seine Pflegetochter in Raubingen erziehen!
Die alten Weiber schworen auf die Wahrheit dieser Entdeckung. Mit den Einzelheiten hatte es ja seine Richtigkeit. Seit Jahr und Tag wusste man, dass in den Ferien die Pflegetochter auf den Pfarrhof kam. Die Mär wurde ausgebaut und aufgebauscht. Schliesslich kam sie der Regierung zu Ohren.
Pfarrer Händel wurde vor das Bezirksamt gerufen. Der Regierungsrat ersuchte ihn um Rechtfertigung.
Der Pfarrer, der immer aufrecht das Haupt getragen, sprach:
„Maria Stilke ist mein Pflegekind. Das ist alles, was ich zu sagen habe. Beweise lehne ich ab.“
Der Bezirksamtmann befand sich in Verlegenheit. Die bösen Stimmen verstummten nicht. In Nachbardörfern ging das Gerücht weiter, nahm immer grösseren Umfang an und drohte, in die breite Öffentlichkeit überzugehen.
Der Regierungsrat in München schwankte, was er glauben sollte. Schliesslich liess der Bezirksamtmann eine Gemeindeversammlung in Tannenau einberufen, die entscheiden sollte, ob Pfarrer Händel je durch sein Leben Ärgernis gegeben und welche Ansicht die Gemeinde in bezug auf Maria Stilke vertrat.
Diese Versammlung fand im Schulhaus statt. Fast alle Männer des Dorfes waren erschienen, der Amtmann selbst war zur Stelle. Zum ersten Male nahm der Lehrer des Ortes in dieser Sache das Wort. Er verstand sich nicht gut mit dem Pfarrer; denn während er gegen die geistliche Aufsicht in der Schule kämpfte, vertrat der Pfarrer das Prinzip, Schule und Kirche seien untrennbare Begriffe. Diese gegenteiligen Überzeugungen, die keine persönlichen waren, sondern von der gesamten Lehrerschaft wie der Geistlichkeit vertreten wurden, gaben zu manchem Konflikt den Anlass, mehr noch zu wachsender Erbitterung auf Seiten des Lehrers, weil Händel als Lokalschulinspektor sein Vorgesetzter war.
Um so schwerer fiel es ins Gewicht, dass der Lehrer rückhaltslos für das makellose Leben des Pfarrers eintrat. Die Versammlung endete, wie vorauszusehen war, mit einer für die Bewohner von Tannenau geradezu grossartigen Vertrauenskundgebung für ihren Priester. Am Sonntag, als der Pfarrer wieder die Kanzel bestieg, um zum ersten Male nach vielen Wochen die Predigt zu halten, dankte er der Gemeinde in rührenden Worten. Damit war seine Stellung gesichert, und die Stimmen, die ihn anklagten, mussten öffentlich schweigen. Aber im geheimen wühlten sie weiter und verbitterten dem Seelsorger das Leben.
Die neue Köchin nahm sich erst das Schicksal ihrer Vorgängerin zu Herzen; aber alsbald zogen Geschwätzigkeit und Klatschsucht auch sie von Treue und Vertrauen zum Pfarrhaus ab. —
So gingen zwei Monate um; die Zeit nahte, wo Maria nach Raubingen zurückkehren musste.
Sie hatte wohl bemerkt, dass man sie wieder freundlicher grüsste; aber viele, die zum Hut vor ihr griffen, blieben hinter ihr stehen und verfolgten sie mit den Augen. Schliesslich erfasste sie eine krankhafte Angst.
Diese Angst kreiste um das eine verhängnisvolle Wort: Pfarrerstochter. Sie liess alles Gefühl beiseite und begann mit scharfem Verstand das Wort zu zergliedern, Tag für Tag. Mitten in der Nacht fuhr sie einmal aus solchen Gedanken auf, setzte sich auf ihrem schmalen Lager hoch und starrte mit brennenden Augen vor sich hin.
Blitzartig hatte sich ihr Verstand erhellt. Sie hatte die Lösung:
Pfarrerstochter — nun begriff sie! Ein namenloses Weh krampfte ihr Herz zusammen. Sie hätte aufschreien mögen vor Scham und Verzweiflung. Die ganze Nacht sass sie so und grübelte. Am Morgen kam sie bleich zum Frühstückstisch. Der Pfarrer und der Kaplan sassen in dem Wohnzimmer mit den grün und weiss gestrichenen Tapeten, dem mächtigen, grünen Kachelofen und den gewaltigen Bücherschränken, die die Bibliothek enthielten.
Beiden fiel ihr verstörtes Wesen auf. Der Kaplan begab sich alsbald zur Messe, Pfarrer Händel blieb zurück. Er alterte stark. Maria sah es mit Schmerz und aufrichtiger Sorge. Sie würde gerne über das Leid, das sie selbst bedrückte, geschwiegen haben, hätte er nicht selbst davon begonnen:
„Mein Kind, in Dir ist etwas Fremdes. Ich würde es sehr schwer empfinden, wenn Du gerade vor mir Dein Herz verschliessen solltest. Willst Du mir nicht mitteilen, welches Leid Dich quält?“
Da machte der Schmerz sich Luft, der seit Wochen in diesem armen kleinen Herzen zusammengedrängt war. Sehnsucht, Ungewissheit, Scham und hilflose Liebe — das alles sprudelte mit einem Male hervor, und unter Tränen verriet sie alles — nur das Wort vermied sie . . . Pfarrerstochter.
Sie empfand das Wort so, als ob ihr jemand einen argen körperlichen Schmerz zufügte.
Pfarrer Händel hörte sie ruhig an bis zum Ende. Dann legte er die Pfeife beiseite, zu der er gern nach dem Frühstück griff, und antwortete:
„Gehen wir in das Speisezimmer.“
Der Madonna gegenüber nahm er mit ihr auf dem Sofa Platz. Sie merkte wohl aus seinem Wesen heraus, dass er entschlossen war, ihr bedeutungsvolle Mitteilungen zu machen. Er verschränkte die Arme und sah lange Zeit zu dem Bildnis hinüber. Maria Stilke fand nichts Absonderliches in dieser Art, denn sie hatte den Pflegevater oft so gesehen.
Endlich begann er:
„Ich hätte vielleicht nicht so lange zögern dürfen, Deinem natürlichen Verlangen, Näheres über Deine Eltern zu erfahren, nachzugeben. Du weisst nur, dass Deine Mutter gestorben ist, aber Du weisst nicht, unter welchen Umständen. Du hast nie etwas von Deinem Vater gehört, und ich hätte sehnlichst gewünscht, niemals über ihn sprechen zu müssen; denn das, was ich Dir sagen muss, ist vielleicht nicht geeignet, ihm Deine Liebe zu sichern, und es tut mir weh, diese Erinnerungen wachrufen zu müssen.
Ich habe meinem Gotte nichts genommen, als ich, damals noch ein junger Theologiestudent, von einer tiefen Zuneigung zu Franziska von Achenbach ergriffen wurde. Ich hatte, wie viele meiner Amtsbrüder, lange geschwankt, welchen Beruf ich ergreifen sollte. Ein tiefes religiöses Gefühl, das durch meine Eltern besonders gepflegt worden war, führte mich dem geistlichen Stande zu. Ich verkehrte damals viel im Hause des Herrn von Achenbach, der als Reichstagsabgeordneter in München eine bedeutende Rolle spielte und als geistreicher Vorkämpfer des Zentrums besonderen Einfluss auf mich ausübte. Der Sohn eines seiner Freunde, deren er viele auch im liberalen Lager hatte, Fritz Stilke, studierte Medizin und genoss das besondere Vorrecht, Franziska zum Eislauf zu begleiten oder gemeinsam mit ihr die Tanzschule zu besuchen. — Seine auffallende, hübsche Erscheinung, sein verbindliches Wesen und manche andere Vorzüge lähmten Herrn von Achenbachs Vorsicht und Misstrauen und übten auf Franziska einen verhängnisvollen Einfluss aus.
Ich will aufrichtig gestehen, dass meine Verehrung für dieses schöne und ausgezeichnete Mädchen nicht frei war von dem heimlichen, wenn vielleicht auch ungeklärten Wunsch, sie als Gattin zu erringen. In diesem Falle hätte ich natürlich das geistliche Gewand, das ich bereits trug, wieder ablegen müssen. Ich verbrachte eine qualvolle Zeit im Kampfe mit mir selbst, in verzweifeltem Ringen zwischen der Pflicht und meinem Glauben und dieser Liebe, die immer mehr Besitz von mir ergriff.
Franziskas scharfem Blicke blieb mein trostloser Zustand nicht verborgen. Sie zeichnete mich bei jeder Gelegenheit aus, aber ich sah wohl, dass sie einzig meinem Freunde Stilke anhing. So schmerzlich mich dies berührte und so sehr ich auch darunter litt, erleichterte es mir doch den endlichen Sieg über mich selbst. Ich habe nie aufgehört, Franziska zu lieben. Diese Liebe aber war nun frei von Schlacken, frei von Wünschen und Begehren.
Dieser Sieg brachte mir eine Zuversicht und Ruhe, darin ich heute noch eine besondere Gnade Gottes erblicke. Hingegen wuchs meine Unruhe immer mehr, da ich sah, welch verhängnisvollen Einfluss Fritz auf Franziska gewann. Obgleich wir Freunde waren, zog ich mich immer mehr von ihm zurück, denn er entpuppte sich alsbald, als eine Natur, deren Grundsätze sich mit den meinen nicht vertrugen. Er entdeckte plötzlich sein besonderes Talent als Künstler; obgleich nicht nur sein Vater, sondern auch seine Freunde ihn beschworen, seine Studien nicht aufzugeben, sie wenigstens zu Ende zu führen, verliess er ohne weiteres die Universität und bezog die Akademie. Gewiss war er ein ungewöhnliches Talent, und ich bin sicher, dass ihm grosse Erfolge beschieden gewesen wären, wenn er die Fähigkeit besessen hätte, sich selbst zu zügeln. Seine offene Werbung um Franziska wurde von Herrn von Achenbach angesichts seines ungeklärten Lebensziels und auch wegen der Gerüchte, die über seinen Lebenswandel in Umlauf waren, zurückgewiesen. Da fasste er den unseligen Entschluss, die Geliebte zu entführen. Ich habe wenig Bestimmtes darüber gehört, ich weiss nur, dass Franziska, betört durch die Zusicherungen, die er ihr gemacht, ihm nach Amerika gefolgt ist.“
Der Pfarrer machte eine Pause. Die Erzählung strengte ihn sichtlich an. Maria warf leise ein:
„Meine Mutter . . .“
Er fuhr fort:
„Was sich drüben ereignet hat, weiss ich nicht, doch mag das Leben dieser unglücklichen jungen Frau, die in Newyork Fritz Stilkes Gattin wurde, ein unbeschreibliches Martyrium geworden sein, eine Kette von Enttäuschungen, Gram und Reue.
Trotz des unleugbaren Talentes, das Stilke besass, winkte ihm drüben nicht so schnell der Erfolg, wie er erwartet haben mochte. Sein Vater unterstützte ihn noch eine Weile; als er aber starb, hörten auch diese Zuschüsse auf. Franziskas Eltern sagten sich völlig von ihr los. Herr von Achenbach sandte der Unglücklichen im Zorn, den auch die Jahre nicht beschwichtigten, seine Verachtung über den Ozean nach.
Fritz geriet nun rasch auf schiefe Bahnen. Es scheint, dass er sich mancher Verirrung ergeben, bis ein Leiden ihn frühzeitig hinwegraffte.
Fremde Mildtätigkeit ermöglichte es Franziska, mit ihrem kaum zweijährigen Kinde nach Deutschland zurückzukehren. Eines Abends klopfte sie an das einsame Pfarrhaus am Chiemsee, wo ich damals als junger Pfarrverweser wirkte. Sie war müde, krank, vom Tode bereits gezeichnet. Sie hatte keinen anderen Weg zur Heimat gefunden als den in meine abgelegene Pfarrei, und ich dankte Gott dafür, dass er meinem Leben auf eine solche Weise noch einen besonderen Zweck verliehen hat. Ich habe Franziska gelobt, für ihr Kind als Vater zu sorgen. Sie selbst brachte ich, da sie auch jetzt noch den Zorn ihres einflussreichen Vaters zu fürchten hatte, nach Frauenwörth. Auf dieser stillen Insel im Chiemsee ist sie alsbald gestorben. Auf dem dortigen Friedhof findest Du, wenn Dich der Weg nunmehr einmal nach dieser Gegend führen wird, ihr Grab.“
Es trat ein langes Schweigen ein, das nur durch das leise Schluchzen Marias unterbrochen wurde. Sie ergriff plötzlich die beiden Hände des Pfarrers und führte sie wortlos an ihre Lippen.
Er sagte: „Du hast mir nicht zu danken, Maria, denn ich habe diese Pflicht stets nur als Segen empfunden. Da es mir als Priester nicht gestattet war, eine Familie zu begründen, obgleich ich mich so sehr nach diesem Glück gesehnt habe, so hatte Gott die Gnade, mir eine Tochter zu verleihen, deren Liebe ich gewiss auch jetzt noch sicher bin.“
Maria umarmte ihn, ohne zu sprechen. Sie wies schliesslich auf das Gemälde:
„Ist dies — meine Mutter?“
,,Ja. Fritz Stilke hat sie als Madonna gemalt. Es war gewiss sein bestes Werk und zeugt von seinem grossen Können. Zu einer Zeit, da dies Gemälde entstand, weilte Franziska schon in Amerika. Die Reinheit dieser Züge, das Leid dieses Antlitzes, in dem sich bereits der tiefe Schmerz sorgenvoller Mutterliebe spiegelt, die Klarheit und Tiefe der Augen, die Herbheit der Lippen gemahnten mich immer von neuem an die Vergangenheit, deren Erinnerung meinem Leben ein mildes, abgeklärtes Glück verliehen hat. Die, welche Franziska verurteilten, taten nicht nur Unrecht, sondern dachten auch sündhaft. Denn ihr Irrtum wurzelte in der Liebe, und diese mag uns noch so sehr irre führen — ihr Wesen liegt doch zu tief in dem göttlichen Gedanken begründet, als dass sie uns nicht schliesslich in irgend einer Form die Erlösung brächte.“
Diese Worte schrieb Maria Stilke für immer in ihr Gedächtnis. — — — —
Einige Tage später kehrte sie reifer, abgeklärter und ruhiger in das Seminar zurück, um ihr letztes Studienjahr zu beenden.
Was auch kommen möge, hatte Pfarrer Händel zu ihr gesagt, weihe niemanden ohne meine Erlaubnis in die Geschichte Deiner Herkunft und Deiner Eltern ein! Es war der letzte Wunsch Deiner Mutter, für ihre Familie tot zu sein, denn es sollte kein Makel und kein Vorwurf je auf Dich zurückfallen. —
Dieses Geheimnis zu wahren, wurde Maria schon bald nach ihrer Rückkehr ins Kloster bitterschwer.
Anna Wagner hatte die Gerüchte, die über die Herkunft ihrer Schulkollegin in Umlauf waren, ins Kloster getragen. Wenn auch nur wenige Seminaristinnen sich auf diesen Klatsch einliessen, so merkte Maria doch an der, wenn manchmal auch unbewussten Zurückhaltung der Freundinnen, dass das Gerede seine Wirkung nicht verfehlte.
Aber sie hielt sich standhaft und litt schweigend. Fast traten alle anderen Interessen vor der Erwartung zurück, mit der sie dem Eintreffen des Seminarlehrers Förster entgegensah. —
Eines Morgens kam er zur ersten Unterrichtsstunde.
Der Herbst färbte schon die Blätter gelb; die Kastanien standen in Gold getaucht, die Ulmen waren von braunem Raster übergossen, der Oktoberwind fegte die Herrlichkeit des Sommers durch die Strassen.
Thomas Förster war jetzt ganz anders, als damals auf der Ferienreise. Fast streng waren seine Lippen, in seinem Antlitz zeigte sich auch nicht der Schimmer eines Lächelns. Doch bald, nachdem er zu sprechen angefangen, kam ein warmer Glanz in seine Augen. Sein Gesicht erhellte sich bei dem Eifer, mit dem er vortrug, und selbst die Augen der Schwester Alfonsa, welche dem Unterricht als Aufsicht beigegeben war, weil Thomas Förster als unverheirateter Lehrer nicht allein im Kloster unterrichten durfte, blickten unverwandt den Lehrer an und lauschten.
Ein grosser Stolz füllte Maria Stilkes Brust und liess ihr Herz höher schlagen. Sie meinte, ihn nur für sich sprechen zu hören. Wie wandelte sich der Stoff unter seinen Worten, wie gewann plötzlich die Materie Blut und Leben!
Wie ein Feuerstrom ergoss sich seine Rede. Er sprach und dachte ganz anders, als man es sonst in diesem Saale gewohnt war. Einige Male war es ihr wohl, als zuckte Schwester Alfonsa zusammen. Sie sah einmal betreten zu Boden, als Thomas Förster bei einer historischen Rückschau auf die Geschichte der Päpste zu sprechen kam. Neben der rückhaltlosen Anerkennung, die er den besten unter ihnen zollte, geisselte er ebenso scharf das Zeitalter eines Alexander und verbreitete sich schnell in bilderreicher Sprache, sein Wissen in vielen Beispielen und Episoden nützend, über das Zeitalter der Borgia.
Nach Schluss der Stunde näherte sich ihm Schwester Alfonsa mit einer schüchternen Bewegung.
„Wir sind bisher über solche Details hinweggegangen, Herr Seminarlehrer“, meinte sie zögernd. „Ich würde mir selbstverständlich nicht erlauben, Ihnen irgend welche Vorschriften zu machen; ich bin nur verpflichtet, über jede Stunde, die Sie erteilen, Bericht zu erstatten, und ich meine . . . ich fürchte . . .“
Er unterbrach sie in seiner frohen, sicheren Art:
„Aber, ehrwürdige Schwester! Die Forschung ist doch frei! Wie könnte ich meinen Schülerinnen anderes lehren als die Wahrheit?“
Schwester Alfonsa schwieg.
Aber schon nach einigen weiteren Unterrichtsstunden zeigte sich eine kleine Verschärfung in der Aufsicht. Für Schwester Alfonsa trat die viel energischere und bestimmtere Schwester Clementina auf, die sich während des Vortrages ohne Unterlass Notizen machte.
Je begeisterter die jungen Seminaristinnen ihrem Lehrer lauschten, desto bedenklicheren Ausdruck zeigten Schwester Clementinas Züge.
Sie liess langsam das Notizbuch in den Schoss gleiten und sah den Seminarlehrer unverwandt, mit einer Mischung höchsten Erstaunens und der Missbilligung zugleich an, als er die Kulturgeschichte der Gegenwart behandelte und mit einem schnellen Rückblick auf das Altertum das stolze Gebäude der modernen Zivilisation mit kurzen, feurigen Strichen in den Staub zu legen suchte:
„Wer könnte behaupten, dass die Gegenwart gegenüber der Vergangenheit das Geringste gewonnen hat? Was haben wir vor dem Altertum voraus? Wohl haben wir Landstrassen, Kanäle, Eisenbahnen, Schiffe, Industrie und Künste.
Doch besassen die Babylonier nicht herrliche Segler, sandten die Phönizier ihre Schiffe nicht bis nach Afrika und zu den Kassiteriden?
Baute man nicht Tempel aus Gold?
Gingen die Karawanen Borsippas nicht nach Indien, und schickte nicht Babylon seine kunstgestickten Teppiche nach Phönizien und Hellas?
Ist je unser Webstoff schöner gewesen als das Leinen Sidons? Waren unsere Becher je glänzender als das grüne Glas Phöniziens? Haben wir schimmernderen Purpur, als ihn Tyrus aus Kermes geschaffen?
Wir fertigen Bücher mit schwarzen Lettern — aber ist unsere schwarze, tote Schrift etwa schöner als die Inschriften auf den Gräbern der Achämeniden zu Persepolis und den Felsen von Behistun? Was aber hat unsere Zivilisation gegen die Kultur der Antike eingetauscht? Wir haben das goldene Zeitalter in ein Grab des ewigen Schematismus verwandelt. Dort war eine Kultur, die auf der Liebe in jeglichem Sinne fusste. Unsere Zeit aber ist schwach geworden in ihren Anstrengungen; unsere Zeit ist wie ein Riesenungeheuer, das die idealen Kräfte zermürbt und die Persönlichkeiten in der Masse zerstampft.“
Am nächsten Morgen sprach die Oberin zu Thomas Förster: „Herr Seminarlehrer, ich habe die Empfindung, dass Sie allzusehr auf die Geschichte der Vergangenheit eingehen. Es ist Ihnen bekannt, dass Ihre Schülerinnen bereits im ersten Präparandenkurs das Altertum, und bis zum zweiten Seminarkurs die Geschichte des Mittelalters gelehrt bekamen. Ich bitte Sie also, sich streng an die Neuzeit zu halten.“
„Ehrwürdige Mutter“, entgegnete Thomas Förster, „das eine ist schwer von dem anderen zu trennen. Es gibt keine abgeschlossenen Epochen der Weltgeschichte, und um die besonderen Merkmale auch der Neuzeit zu verstehen, muss man wieder zu den Wurzeln aller Kulturerscheinungen zurückgreifen.“
„Ich wünsche aber, dass Sie den Geschichtsunterricht strenger in den Grenzen des Lehrplans halten“, entgegnete die Oberin in sichtlicher Ungeduld.
Thomas Förster schwieg. — — —
Nie waren die Seminaristinnen mit grösserer Bereitwilligkeit einem Vortrag gefolgt.
„Sie schwärmen alle für ihn“, bemerkte Schwester Benedikta voll Verzweiflung, denn sie sah den Konflikt bereits voraus und wünschte nichts sehnlicher, als dass Thomas Förster rechtzeitig in den schematischen Schulplan einlenken würde.
Aber in der Form seines Unterrichts liess er sich keine Vorschriften machen. Er verband mit dem Vortrag über Geschichte auch Streifzüge in das Gebiet der Literatur. Er kam über Schiller und Goethe hinweg auf die modernsten Dichter, nannte Namen, von denen nicht einmal Schwester Clementina jemals etwas gehört. Im Kloster war neben den klassischen Dramen, dem Nibelungen- und Hildebrandtslied auch das Wessobrunner Gebet in althochdeutscher Sprache gelesen worden. Der erste Teil aber, der den Versuch einer heidnischen Gestaltung der Weltanschauung in dichterischer Form darstellte, wurde stets fortgelassen. Thomas Förster kam gerade auf diesen Teil einmal zurück, obgleich ihm Schwester Clementina einen warnenden Blick zuwarf.
In ihrer Verlegenheit wandte sich die Oberin an den Superior. Der geistliche Rat war bestürzt, als er vernahm, in welch freizügiger Form der neue Seminarlehrer den Unterricht betrieb. Er stattete ihm plötzlich einmal selbst einen Besuch ab und hörte zu seinem Schrecken, dass Thomas Förster sogar auf das Gebiet der Philosophie überging.
Er wagte nicht, den schnell und mächtig hinfliessenden Redestrom des Lehrers zu unterbrechen. Aber er meinte, an den lautlos aufhorchenden Mädchen, an den glänzenden Augen, den geöffneten Lippen bereits den Grad der Zerstörung zu erkennen, den diese freie Form des Unterrichts angerichtet.
Nach Schluss der Stunde jagte er:
„Herr Seminarlehrer, ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie sich von Tag zu Tag mehr in Gegensatz zu dem hier herrschenden Lehrplan setzen. Unser Schematismus enthält weder Philosophie noch diese Form der Literatur . . .“
„Hochwürdiger. Herr Geistlicher Rat“, unterbrach ihn Thomas Förster fast heftig, „der Schematismus schlägt keine Brücken zum Leben, zur vernunftgemässen Bildung, mindestens nicht zur Fähigkenit einer eigenen praktischen Lehrtätigkeit. Dazu aber müssen diese jungen Damen erzogen werden. Die Frage, ob sie für den Unterricht der Unterklassen Philosophie benötigen oder nicht, erscheint mir dabei durchaus gleichgültig. Auch der Jurist hat zur Bildung von Schriftsätzen kaum die Kenntnis des Sophokles nötig und würde doch die humanistische Vorbildung schwer vermissen. Es handelt sich hier um Fundament!“
„Wenn wir Ihnen schon solche Freiheiten einräumen würden, Herr Seminarlehrer, dürfte sich Ihre Lehrtätigkeit auf dem Gebiete der Philosophie niemals über das rein Theologische hinaus bewegen . . .“
„Wenn Sie Theologie im Sinne des grossen Schleiermacher meinen, so . . .“
Nein, keinesfalls! Sie müssen sich durchaus an die christlichen Glaubenssätze und an das Dogma halten!“
„Ich muss Ihnen darauf erwidern, dass, wenn ich Philosophie überhaupt lehre, ich mich über ihre Geschichte verbreiten muss; eine gesunde Beurteilung derselben lässt aber doch keine Bevorzugung der Orthodoxie zu!“
Der Geistliche Rat schüttelte stumm den Kopf. Er war bereits mit sich einig, dass ein anderer Lehrer als Ersatz gesucht werden müsste. Die schroff ablehnende Form, in der Thomas Förster seinen Erfahrungen und seiner von unerschütterlichem Glauben getragenen Überzeugung entgegentrat, erbitterte ihn aufs Äusserste, um so mehr, als der Seminarlehrer sich auch weiterhin keinen Zwang auferlegte. — Thomas Förster war ein Enthusiast. Ungewöhnliche Fähigkeiten hatten es ihm ermöglicht, beinahe spielend seine Vorbildung zu meistern. Aber er konnte sich kaum in den Rahmen fügen, in den er nun gehörte. Er verlangte für sich und seine Schüler, für seine ganze Berufsklasse rücksichtslose Forschung, Lehrfreiheit und völlige Unabhängigkeit des Geistes.
Er vergass dabei, dass Selbstzucht die erste Bedingung für geistige Freiheit bedeutet. Er achtete keine Schranken und hatte, nur von dem Bestreben geleitet, seiner Überzeugung stets und bei jeder Gelegenheit Ausdruck zu verleihen, selbst im staatlichen Seminar schon mehrfach Anstoss erregt.
Eines Tages kam er in der Naturgeschichte sogar auf den Darwinismus zu sprechen.
„Der Kampf ums Dasein“, sprach er, „dem Sie eines Tages in irgend einer Form ausgesetzt sein werden, hat seit Uranfang der Dinge den Prüfstein für alles Lebendige abgegeben. Im Verfolg dieses Kampfes entwickelten sich die Arten; abgeschliffen durch Forderungen der Natur, Lebensgefahren und dadurch bedingte unerhörte Anstrengungen, wuchs, Generationen schwächlicherer Arten hinter sich lassend, der Mensch als Krone der Schöpfung bis zu seiner heutigen Grösse empor. Der Kampf ums Dasein hat ihn nicht nur über die Tiere erhoben; in ihm wächst auch die Persönlichkeit über sich selbst hinaus. Diese Höherentwicklung ist eine Frage nicht nur der Leistungsfähigkeit des Geistes, sondern auch seiner Souveränität, der Möglichkeit, sich über die ungezählten hindernden Elemente zu setzen, die das Leben des Einzelnen auch innerhalb des Organismus der Gesamtheit bedrohen. Jeder Mensch hat die sittliche Pflicht, an seiner Selbsterhebung mit allen Kräften zu schaffen, mit allen geistigen Waffen dafür zu kämpfen. In Ihre Hand ist dereinst das Schicksal so vieler Menschen gelegt. Sie bekommen diese Menschen sozusagen als Wachs, als Material, Sie können den Grund für ihre Vorwärts- oder Rückwärtsentwicklung legen. Darum müssen Sie wissen und stets darauf bedacht sein, dass das Leben eine Zusammensetzung unerhört komplizierter und widerspruchsvoller Elemente ist, in denen der Mensch sich behaupten muss. Das kann er nur, wenn er aus sich selbst heraus die Waffen für diesen Kampf erlangen kann, wenn er das rechte Verhältnis zwischen sich und dem unerhört grausam und gigantisch schönen Leben herzustellen weiss. Die Schwachen sind immer unterlegen — einem Naturgesetz zufolge, das seit tausenden und abermals tausenden von Jahren Geltung hat . . .“
Jetzt konnte es Schwester Clementina nicht mehr über sich bringen, länger zu schweigen. Sie unterbrach ihn:
„Herr Seminarlehrer, das alte Testament lehrt uns, dass der Mensch von Anbeginn an durch göttlichen Willen über alles Tierische gesetzt wurde, und dass diese Weltschöpfung vor sechstausend Jahren etwa durch Gottes Wort und Willen zustande kam.“
Thomas Förster warf den Kopf zurück:
„Wir haben jetzt Naturlehre, ehrwürdige Schwester, und nicht Religionsgeschichte. Es fällt mir nicht ein, die Grundsätze des christlichen Glaubens anzugreifen; ich dulde also auch nicht, dass man mir in meiner Eigenschaft als Lehrer Vorschriften darüber macht, in welcher Form ich meine Schülerinnen in das Gebiet der Wissenschaft einzuführen habe.“
„Aber der Schulplan schreibt doch irgend welchen Unterricht auf wissenschaftlichem Gebiete gar nicht vor!“ rief die Schwester, fast verzweifelt über einen in den Annalen des Klosters ganz unerhörten Widerstand.
„Der Schulplan!“ erwiderte Thomas Förster verächtlich. „Der Schulplan! Sollen denn diese jungen Mädchen, die so viele Aufgaben erwarten, blind durchs Leben gehen? Unempfänglich für die Schönheiten der Erde und für die geheimnisvollen Triebkräfte der Dinge? Die Wissenschaft ist eine unentbehrliche Begleiterin im Leben für den, der sich selbst verstehen und seinen rechten Platz im Dasein finden will.“
Schwester Clementina verliess das Klassenzimmer und holte zu ihrer Unterstützung wieder den Geistlichen Rat.
Indes führ Thomas Förster fort, über den Darwinismus zu sprechen; der Superior trat ein und hörte eben, wie der Seminarlehrer die Philosophie des Anaximander von Milet berührte und über Jean Lamarck hinweg Goethe als Zeugen für die materialistische Weltanschauung anrief.
Der Geistliche Rat begab sich sofort zur Oberin; kurz vor Beendigung der Unterrichtsstunde trat Schwester Clementina wieder ein und sagte:
„Herr Seminarlehrer, die Frau Oberin lässt Sie sogleich zu sich bitten!“ —
Maria war viel zu sehr mit den Gewohnheiten des Klosters und dem Lehrplan des damit verbundenen Seminars vertraut, als dass sie nicht schon nach den ersten Lehrstunden Thomas Försters mancherlei Besorgnisse gehegt hätte. Der Konflikt zwischen der Oberin und dem Superior auf der einen und diesem freien Lehrer auf der anderen Seite musste zu Ungunsten des letzteren entschieden werden, denn er konnte nirgends gegen seine machtvolle Gegnerschaft Unterstützung finden. Maria Stilke meinte allerdings, dass seine weltlichen Vorgesetzten die Art seiner Lehrtätigkeit billigen müssten.
Dem war aber nicht so.
Nachdem sich zwischen der Oberin und Thomas Förster ein kurzer, heftiger Auftritt abgespielt, wurde ihm erklärt, dass man auf seine weitere Lehrtätigkeit im Kloster verzichte.
Der Geistliche Rat war aufs Äusserste empört. Er hielt es nicht nur für seine Pflicht, dem weltlichen Seminar gegenüber diese Entlassung, die dort den Eindruck einer einseitigen klösterlichen Lehrtätigkeit erwecken konnte, zu rechtfertigen, sondern auch alles aufzubieten, die Schüler und Schülerinnen des, weltlichen Seminars vor einem Lehrer zu bewahren, der atheistische Grundsätze entwickelte und eine förmliche Anarchie in den Schulplan des Seminars zu tragen wagte.
Der ausführliche Bericht, den er an den Seminardirektor sandte; veranlasste diesen, nicht nur Thomas Förster selbst sehr ausführlich zu vernehmen, sondern auch unerwartet einer seiner Unterrichtsstunden beizuwohnen.
War es nun der Trotz, der dieser jungen, kraftvollen Natur innewohnte und sich gegen jede Bevormundung auflehnte, oder war es die Unmöglichkeit, sich von der Gewalt des Stoffes, der ihn jeweils mitriss, zu befreien — genug, es kam auch mit dem Seminardirektor zu einem Konflikt, der mit der vorläufigen Suspendierung Thomas Försters vom Amte endete.
Nun folgten endlose Verhandlungen und schliesslich eine Disziplinaruntersuchung von seiten der Regierung.
Thomas Förster legte frei und unumwunden seine Grundsätze dar und erwartete sorgenlos das Ergebnis dieser Untersuchung, die, wie er meinte, nur zu seinen Gunsten ausfallen konnte.
Indes merkten die Seminaristinnen, die bisher in atemloser Aufmerksamkeit dem Unterricht ihres Lehrers gefolgt waren, wieviel die Glocke geschlagen hatte. Thomas Förster kam nicht mehr nach dem Kloster; der Unterricht in Geschichte und Naturlehre wurde zunächst von Schwester Alfonsa gegeben, bis ein neuer Seminarlehrer für die beiden Fächer gefunden war.
Maria hatte immer noch gehofft, es möchte sich alles zum besten wenden. Sie verehrte Thomas Förster wegen seiner freudigen Wahrheitsliebe und war bisher begeistert seinem Geistesflug gefolgt. Aber sie empfand doch instinktiv, dass ihm trotz des ausgedehnten Wissens, über das er verfügte, die klare Abgeschlossenheit des Charakters fehlte, jene Überlegenheit, die allein den Lehrer befähigt, mit der Beherrschung seines Stoffes auch sich selbst und andere zu meistern.
Sie schloss in rührendem Glauben Abend für Abend den Seminarlehrer in ihr Gebet ein, flehend, der Himmel möchte ihm Erleuchtung senden, dass ihm aus seinem rücksichtslosen Streben keine Unbill erwachse und das Klosterseminar ihn nicht verlieren müsste.
Bis zu ihren letzten Ferien in Tannenau hatte sie die Disziplin des Klosters nie als drückend empfunden, die Vorschriften, nach denen sie und die übrigen Zöglinge leben mussten, als selbstverständlich hingenommen. Von dem Tage ihres Eintritts an waren ihrem Gesichtskreis ganz bestimmte Grenzen gezogen worden. Das Kloster gab ihrem Denken und Fühlen die Perspektive und hielt jeden höheren Gedanken, der sich etwa über das Schema erhob, mit Strenge nieder. Denn nicht nur der Schulplan war schematisch festgelegt; das ganze Leben, durch dessen Tor diese jungen Mädchen eigentlich erst treten sollten, war für sie in ein bestimmtes Schema zurechtgelegt, das wohl ausreichte, so lange die schützenden Mauern des Klosters diese Jugend umgaben und alle äusseren Gefahren von ihr fernhielten, mit dem Augenblick aber zerschellen musste, wo die Wogen des lebendigen Seins an diese papiernen Wände prallen würden.
Das war die Weisheit, die Maria Stilke in dieser letzten Zeit in sich aufgenommen. Sie war, bis sie Thomas Förster kennen gelernt, mit geschlossenen Augen umhergegangen. Es war ein bedeutungsvoller Zufall, dass zu der gleichen Zeit, da dieser ungebärdige Geist in ihren Lebenskreis trat, sich die Tragödie des Pfarrers in Tannenau abspielte. Da trafen plötzlich so viel Konflikte zusammen, die bislang völlig ausserhalb des Gesichtskreises des jungen Mädchens gelegen waren, dass es verwundert die Augen auftat und mit einemmal in dem bisher bekannten Leben ein zweites erblickte. Ein Leben, das nicht allein von klösterlichen Gesetzen geleitet wurde und sich einem bestimmten Zweck, der ihm anbefohlen war, unterordnete. Ein Leben vielmehr, das von dem gewaltigen Räderwerk der Leidenschaften getrieben wurde, in dem unergründliche Mächte sich ununterbrochen in gigantischem Ringen befanden, dessen Ausgang stets zweifelhaft war, ein Leben, das so mit Rätseln und Geheimnissen erfüllt schien, dass Maria Stilke zuerst angesichts der Kräfte, die diese Lebenssymphonie dirigierten, erschrak und nur ganz allmählich sich in die Erkenntnis neuer Wahrheiten hineinfinden konnte.
Ihr Geist war seitdem unablässig beschäftigt, die empfangenen Eindrücke zu verwerten, und so entstand eine neue Lebensanschauung in ihr, die manchen Gegensatz zu der im Kloster gelehrten aufweisen musste.
Ihre Nachdenklichkeit, die vermeintliche Verschlossenheit, die ihr stilles Wesen auslöste, erregten alsbald die Aufmerksamkeit der Schwestern. Schwester Benedikta, die Maria Stilke ins Herz geschlossen hatte, näherte sich ihr in dieser Zeit mehr als früher. Sie begriff, dass in Maria ein innerer Kampf begonnen hatte, der all diesen jungen Mädchen bevorstand, dem keine der Schwestern entkommen war, mit dem sich jede abfinden musste, wenn erst geheimnisvolle Töne im Herzen klangen, dunkle Triebe aufwachten, die ihre Rechte forderten, Ströme, die aus den lebendigen Quellen des äusseren Lebens aufsprangen und sich voll leidenschaftlicher Glut in die dürstende Seele ergossen.
„Du bist in letzter Zeit so in Dich gekehrt, mein Kind“, begann sie eines Nachmittags während einer Ruhepause, die das junge Mädchen mit einer Handarbeit ausfüllte. „Hast Du Sorgen? Quält Dich ein Kummer, den Du niemandem anzuvertrauen wagst?“
Maria, zu rein, zu naiv in ihrer Denkungsweise, um der geringsten Verstellung fähig zu sein, antwortete mit der impulsiven Frage:
„Wird der Herr Seminarlehrer Förster uns keinen Unterricht mehr erteilen?“
Schwester Benedikta hob das Haupt und liess die Hand mit der feinen Stickerei im Schoss ruhen.
„Soviel ich weiss, wurde er von der Frau Oberin entlassen.“
„Also doch!“ stammelte Maria, die noch immer gehofft hatte, es möchte nur eine kurze Unterbrechung des Unterrichts eingetreten sein, während sie hinwiederum die Furcht peinigte, er könnte krank sein und der Hilfe bedürfen.
Nun sie die Wahrheit erfuhr, wurde alles öde und leer um sie. Sie sah plötzlich, was sie nie vorher bemerkt: dass die Mauern, die das Seminar umgaben, grau und trostlos waren. Dass ein namenloser Druck über dem Kloster lag, dass die Atmosphäre, die es erfüllte, dumpf und ohne Frische war.
Sie war eine zu stille und anschmiegende Natur, um sich gegen die herrschende Strenge zu empören. Sie empfand sie aber als Ungerechtigkeit, und damit war in einem Augenblick aller Einfluss, den das Kloster seit Jahren auf sie ausgeübt, erloschen.
Schwester Benedikta betrachtete indes ihr Mienenspiel. Diese klugen, grauen Augen, deren milder Glanz von der Harmonie eines abgeklärten Charakters zeugte, schienen alles zu durchdringen. Obgleich sie wohl schon vierzig Jahre zählte, hatte sie sich ein jugendliches Aussehen bewahrt. Der schwarze Schleier, die düstere eintönige Tracht schienen das rosige, gesunde Antlitz eher zu heben als zu verdüstern, und die weisse Stirnbinde, die nie auch nur den Schatten eines Stäubchens zuliess, war wie ein Symbol ihres Lebens, das so rein, abgeklärt und ohne jede Furche war, wie eben diese Binde, deren blendendes Weiss für alle Äusserlichkeit unempfänglich schien.
Doch so, wie dieses Linnen stets erneuert werden musste, um ihre Frische und Reinheit zu bewahren, so läuterte auch Schwester Benedikta unablässig ihre Seele. Früher hatte manche Sünde in Gedanken dort Platz gefunden; jetzt aber war es nur mehr ein abgeklärtes Dasein, das sie führte, und die Läuterungen und die Busse, denen sie sich regelmässig unterwarf, stellten eigentlich nur mehr einen Tribut dar, den sie verflossenen Zeiten zollte.
So strenge sie aber gegen sich selbst und gegen die Gegenwart dachte, war sie gleichwohl stets bereit, den Massstab ihrer eigenen Vergangenheit bei anderen anzulegen. Indem sie so nie verlernte, die Menschen zu begreifen, war sie auch stets in der Lage, zu verzeihen, während in Schwester Clementinas steinernem Antlitz niemals der Funke jener Liebe aufleuchtete, die nicht nur fordert, sondern auch gibt.
„Welchen Grund hast Du, die Entlassung des Herrn Seminarlehrers zu bedauern, Maria?“ fragte Schwester Benedikta endlich. „Ich will Dir nicht verhehlen, dass Du soeben die Farbe gewechselt hast . . .“
„Ach, ehrwürdige Schwester!“ stammelte das junge Mädchen verwirrt, stockte aber sogleich wieder in seiner Rede. Es war ihr noch nicht zum Bewusstsein gekommen, welcher Art die Empfindungen waren, die sie für Thomas Förster hegte. Aber sie war kaum mehr imstande, ihre Bewegung zu verbergen, wenn Schwester Benedikta mit ihrer weichen Stimme seinen Namen aussprach. Da die Schwester ihren Gedanken nicht zu Hilfe kam, so suchte sie selbst nach einer aufrichtigen Antwort und fuhr schliesslich fort:
„Ich habe mich so ganz verwandelt gefühlt, so lange er hier war! Ich weiss das nicht recht in Worte zu fassen und möchte meine Empfindungen etwa mit den Augen eines Blinden vergleichen, der immer in die Dunkelheit geblickt hat und plötzlich über sich den Sonnenglanz des Himmels sieht.“
Schwester Benedikta nickte vor sich hin. Sie fand ihre Befürchtungen bestätigt.
„Mein Kind, die nächste Empfindung nach dem ersten Moment des Entzückens wäre wohl eine völlige Blendung, denn man sieht nicht ungestraft in den trügerischen Schein der Gestirne. Es ist ein Zeichen der Schwäche, sich Gegensätzen zu ergeben, Maria. Thomas Förster ist ein ebensolcher Gegensatz, wie die Sonne, die Du zum Vergleich gewählt hast.“
„Wie meinen Sie das, ehrwürdige Schwester?“
„Ich will sagen, dass das Ziel, dem wir alle entgegenstreben, was wir im Leben auch immer zu leisten versuchen, eine Harmonie sein muss, die uns frei von jeder weltlichen Abhängigkeit macht. Solche Abhängigkeiten führen uns zur Sünde . . .“
Maria erschrak. Sie fürchtete die Sünde nicht nur, sie verabscheute sie aus tiefstem Herzen. Bisher war sie ihr nur ein Begriff gewesen, und wenn sie zu fündigen glaubte, so konnte sie dem Geistlichen Rate, der der Beichtvater der Seminaristinnen war, höchstens Vergehen anvertrauen, die Verstösse gegen die Klosterregeln darstellten.
Nun aber, da Schwester Benedikta das Wort Sünde gebrauchte, tat sich vor Marias Bewusstsein blitzartig etwas Unerhörtes auf; ohne sie zu begreifen, fühlte sie Gefahren, für die sie bisher nicht das geringste Verständnis besessen; in diesem Augenblick bekam sie vor Thomas Förster Scheu und Furcht.
„Ich habe in letzter Zeit gesehen, ehrwürdige Schwester,“ fuhr sie zu sprechen fort, den Blick zu Boden gesenkt, mit Anstrengung ihre Gedanken sammelnd, „dass das Leben draussen, ausserhalb unserer Mauern, sich in den grössten Differenzen abspielt. Und wenn ich den Unterricht des Herrn Seminarlehrers richtig verstanden habe, so bedeuten diese Gegensätze gewaltige Werte, die alle zusammen in ihrem Aufeinanderstossen den Fortschritt erzeugen.“
Schwester Benedikta lächelte.
„Was ist der Fortschritt, mein Liebling? Und hat nicht Thomas Förster selbst in einer Unterrichtsstunde, der ich beiwohnte, diesen Götzen Fortschritt, den er auf der einen Seite anbetete, auf der anderen Seite mit mächtigen Hammerschlägen zertrümmert? Hat er nicht unsere Kultur verneint? Und glaubst Du im Ernst, dass Du irgend welche positive Arbeit leisten könntest, wenn Du Dich den Wogen solcher Gegensätze preisgäbest? Würdest Du Dich wirklich für stark genug halten, ihnen zu widerstehen? Fürchtest Du nicht, von ihnen verschlungen zu werden?“
Maria Stilke schwieg. Ihr Herz klopfte hörbar. Eine namenlose Angst vor dem Unbekannten, das sie nicht erklären konnte, das ihre Seele in Feuerlohe tauchte, erfüllte sie.
„Wie kann man diesen Gefahren entgehen, Schwester Benedikta?“ fragte sie endlich.
Da beugte sich diese etwas vor und nahm Marias Hände in die ihren:
„Ich wünschte, gerade Dir blieben die Kämpfe, die Enttäuschungen, welche auch Dich noch erwarten, erspart. Ich wünschte, Du müsstest nicht all jene Wunden erdulden, die uns das Leben schlägt, die vielleicht nie mehr vernarben und uns der wahren Glückseligkeit nicht teilhaftig werden lassen. Ich sehe diese Glückseligkeit in der alleinigen Hingabe an Gott, an den göttlichen Gedanken, der das Gute fordert, der unsere ganze Hingabe an das wahrhaft Schöne heischt, der auch von uns verlangt, dass wir unsere Seele mit dreifachen Mauern vor den Lockungen des Lebens verschliessen. Die Menschen dort draussen meinen, wir brächten dadurch besondere Opfer, während Gott und die heilige Jungfrau uns in Wahrheit ihre höchste Gnade beweisen, indem sie uns diesen Entschluss eingeben. Denn während wir auf die scheinbaren Freuden der Welt verzichten, haben die schweren Enttäuschungen, die vergifteten Pfeile, welche die Leidenschaft versendet, keine Macht über uns, und wir sind in Wahrheit glücklich, weil wir nicht um unserer selbst willen leiden, sondern in der Anbetung des Ewigen unsere höchste Freude erblicken.“
Maria lauschte dürstend auf diese Worte. Je mehr die Zeit vorschritt und je weiter Thomas Förster von ihr entfernt war, desto mehr wurde sie das Opfer einer Sehnsucht, gegen die sie wohl ankämpfte, die sie aber nicht zu unterdrücken vermochte. Lieber denn je flüchtete sie in solchem Zustand der Zwiespältigkeit, da sie noch am Kloster hing, indes ihre Seele schon ihre Schwingen prüfte, zu Schwester Benedikta. Die wurde nicht müde, für den Schleier zu werben. —
Der Winter war gekommen. Der Klosterhof lag im Schnee, die Silhouette der Stadt versank in dem Grau des Himmels, der sich bis zur Erde niederzusenken schien. Lösten sich die schweren Nebel, dass sie nicht mehr auf die Türme der Kirche drückten, dann war zwischen Himmel und Erde eine schier undurchdringliche Mauer von Flocken.
Ein harter, eisiger Winter.
Die graue Einsamkeit und Öde lastete schwerer als auf den anderen auf Maria. Die Trostlosigkeit in der Natur verschärfte noch den Konflikt in ihrem Innern. Da erfuhr sie eines Tages, dass Thomas Förster auf den Bericht des Superiors hin auch von seinem weltlichen Amt vorläufig suspendiert worden war.
Sie hatte gemeint, mit der Entlassung durch die Oberin hätte es seine endgültige Bewandtnis; ihr Gerechtigkeitssinn stempelte das Vorgehen des Geistlichen Rates als einen Akt der Leidenschaft, gegen den sie sich heimlich auflehnte. Die doppelte Niederlage des Seminarlehrers flösste ihrem Herzen eine neue, starke Empfindung ein, durch die es mit einem Schlage unempfänglich für alles Werben Schwester Benediktas wurde: Mitleid.
Das Mitleid, diese Schwester der Liebe, zog ihre Gedanken immer von neuem von dem Kloster zu Thomas Förster ab. Den Verlust seiner Stellung wertete sie nicht einmal so sehr nach seiner praktischen als ideellen Seite. Musste es einem Manne wie ihm, dem Stürmer, dem stets Begeisterten, nicht furchtbar werden, sich so gebrandmarkt zu sehen, ausgeschlossen aus dem Lebenskreise, dem er sich mit Leib und Seele ergeben? Sie stellte sich vor, wie er nun so ganz einsam sein musste, wie niemand um ihn war, der ihn verstand, der ihn trösten und aufrichten konnte.
Was würde aus ihm werden? Würde er nicht unter der Last, die man plötzlich auf seine Schultern legte, zusammenbrechen?
Ihre Empfindsamkeit steigerte sich von Tag zu Tag. Die Ungewissheit über sein Schicksal, das Schweigen, das darüber herrschte, wurden ihr schliesslich unerträglich. Da fasste sie endlich, vielleicht nur, um ihre innere Gequältheit los zu werden, einen absonderlichen Entschluss. Sie bedurfte dazu eines Mutes, den ihr erst ihre gänzlich veränderte Stellung zum Kloster verleihen konnte.
Sie schrieb an Thomas Förster einen Brief:
„Hochverehrter Herr Seminarlehrer!
Nachdem Sie so plötzlich unsere Schule verlassen und ich vergeblich gehofft, dass Sie Ihren Unterricht wieder fortsetzen würden, diesen Unterricht, der uns das lebendige Wort der Natur gelehrt, der mich zu völlig neuen Anschauungen geführt hat und für den ich Ihnen nicht genug danken kann, habe ich zum Überfluss erfahren, dass neue Prüfungen über Sie gekommen sind. Sie lächeln vielleicht nachsichtig über das Schulmädchen, welches sich berufen fühlt, Sie zu trösten. Aber das ist gewiss nicht meine Absicht. Sie sind so stark, stolz und unabhängig, dass Sie die Kraft, Gefahren zu widerstehen, wohl nur in sich selber finden können. Ich habe darüber nachgedacht und wurde plötzlich von der Angst erfasst, diese Quelle Ihres starken Geistes, aus der Sie so viel und so reich geschöpft, könnte doch einmal versiegen, weil Sie niemanden haben, an dem Sie die Lauterkeit Ihrer Lehre und den Erfolg Ihres Strebens erproben können. Habe ich mich nun logisch ausgedrückt? Ich wollte Ihnen sagen, dass ich Ihnen danken muss, dass ich dieser Dankbarkeit irgend eine Form geben wollte; dass ich sehr oft an Sie denke und dass ich Sie bitten möchte, nicht zu verzagen. Sie haben gewiss nicht im Sinne der Allgemeinheit gehandelt, aber untilgbare Schätze in die Seelen ihrer Schülerinnen gesenkt. Sie waren einmal so gütig zu mir, dass ich erwarten darf, Sie möchten mich nicht vergessen haben. Vor einigen Wochen haben sich unsere Schulschwestern mit sämtlichen Seminaristinnen photographieren lassen. Ich habe nur dieses eine Bild zur Verfügung, denn das zweite Exemplar hat sich Herr Pfarrer Händel senden lassen. Ich befinde mich selbstverständlich auch bei dieser Gruppe; vielleicht erinnern Sie sich trotz der schlimmen Erfahrung, die Sie hier machen mussten, noch gerne an Ihre Schülerinnen. Ich sende Ihnen diese Photographie mit und bitte Sie, an meiner Aufrichtigkeit nicht zu zweifeln.
Ihre dankbare Schülerin
Maria Stilke.
Sie fand während des Spaziergangs einen unbewachten Moment, das Kuvert in einen Postschalter zu werfen.
— — — — — — — — — —
Später, als diese Angelegenheit zu Ohren der Oberin kam, beichtete sie Schwester Benedikta, dass sie ihm eigentlich nur ihr Bildnis hatte senden wollen. Aber das war ihr nicht gleich zum Bewusstsein gekommen. Schwester Benedikta sagte:
„Dieses Dein Vorgehen, Maria, war eine wirkliche Sünde.“
Maria geriet darüber in arge Zweifel. Es war aber die erste Sünde, über die ihr jedes Urteil fehlte.
— — — — — — — — — —
Thomas Förster erhielt Maria Stilkes Schreiben zu einer Zeit, wo er teils unter dem Druck der Verhältnisse, teils unter dem trostlosen Zustand des Winters, der ihn seine Armut noch schwerer empfinden liess, so sehr litt, dass er nahe daran war, seine Überzeugungen abzuschwören und die Regierung um Milde und Nachsicht zu bitten.
Er gehörte zu jenen Menschen, deren beweglicher Geist mit Feuereifer, eine Idee erfasst, die in trotziger Selbstverleugnung dieser Überzeugung willen zu Märtyrern werden, vorausgesetzt, dass an die Beständigkeit ihres Geistes keine ermüdenden Anforderungen gestellt werden.
Aber das Disziplinarverfahren gegen ihn hatte, schon der Eigenartigkeit und der Verlegenheit wegen, in die die Regierung versetzt war, kurze Beine. Der Winter drohte darüber hinzugehen, und Thomas Förster hatte inzwischen Musse, über sich und seine Anschauungen in der Einsamkeit nachzudenken.
Da erschien ihm allmählich manches in einem anderen Licht. Einwendungen, die schon der Seminardirektor gemacht, dass nämlich geistige und ethische Wahrheiten ebenso viel Unheil anrichten könnten, als sie sonst Gutes zu schaffen imstande sind, wenn sie den Schülern im Übermass verabreicht werden, musste er allmählich als gerechtfertigt anerkennen. Er gestand sich, dass er mit seiner Lehrtätigkeit, wenn auch im besten Glauben, mehr sich selbst gedient, statt dass er sich, frei von jedem Egoismus, in den Dienst der Schüler gestellt hätte.
Als ein Ästhet, der ohne äusserliche Schönheit nicht leben konnte, empfand er seine Armut schwerer denn je. Die Trostlosigkeit dieses Winters entmutigte ihn noch mehr; so versiegte allmählich seine Begeisterung und machte einer ruhigen Nachdenklichkeit Platz, als Maria Stilkes Brief ihn erreichte. Dieses Schreiben rief seine Leidenschaft von Neuem wach.
Er glaubte in diesem Brief, der eigentlich nichts war, als das vrworrene Stammeln eines jungen Lebens, das zaghaft den ersten Schritt ins Leben tat, eine untrügbare Bestätigung der Echtheit seiner Lehre, der Wahrheit seiner Ideen und der Uneigennützigkeit seines Auftretens zu sehen. Vielleicht hinderte ihn auch ein Rest von Eitelkeit, dem Glauben dieses schönen, jungen Mädchens entgegenzuhandeln und den Rückzug anzutreten. Er empfand von diesem Augenblick an nichts mehr von den entnervenden, äusseren Gefahren, die ihn umgaben, und war fester denn je entschlossen, allem zu trotzen, um die Grösse der Vorstellung, die Maria Stilke von ihm hatte, nicht zu zerstören, indem er widerrief. Wie stets die Zuversicht einer Frau den Mann adelt und über sich und seine Bedeutung erhebt, so schuf Maria Stilkes Glaube ihm neue Ausdauer und besonderen Stolz.
Er schüttelte die Melancholie, die ihn ergriffen, ab, und fand den Mut zu erneuter Tatkraft, beschäftigte sich bereits mit Plänen zu einem neuen Beruf. Er hatte anfänglich felsenfest an einen günstigen Ausgang des Disziplinarverfahrens geglaubt; aber schon die ersten Vernehmungen belehrten ihn, dass zwischen dem aufgestellten Schema und seinen Überzeugungen Abgründe lagen, über die weder sein Temperament noch die Nachsicht der Regierung Brücken schlagen konnte. Je länger sich die Verhandlungen hinzogen, desto schneller schwanden seine letzten Illusionen.
Impulsiv, ohne Rücksichten auf Formen, wie er sich immer gab, beantwortete er Maria Stilkes Brief, ohne zu bedenken, dass dieses Schreiben eher in die Hände der Oberin als in die des jungen Mädchens gelangen würde.
Mein Fräulein!
Wenn es mir gelungen ist, durch meine Lehrtätigkeit wirklich Gutes zu stiften, so steht das, was ich Ihnen geben konnte, in keinem Verhältnis zu dem unschätzbaren Dienst, den Sie mir erwiesen, zu dem Geschenk, das Sie mir dargebracht. Sie haben mir durch Ihre Zeilen nicht nur eine Freude gemacht, die ich kaum in Worte zu fassen vermöchte; Sie haben mir die Zuversicht, den Glauben und die Treue gegen mich selbst und gegen die sittliche Idee, die ich vertrete, wieder verliehen. Es ist also nur gerecht, dass ich Ihnen dafür nicht nur meine Dankbarkeit, sondern auch meine Bewunderung ausspreche, denn Sie haben einen schönen Mut bewiesen, Fräulein Stilke, dessen Vorbild mich stets im Leben zu den grössten Anstrengungen anfeuern wird. Lassen Sie mich hoffen, dass mit diesem Briefwechsel die Beziehungen, die für uns beide so segensreich begonnen, nicht zu Ende sind. Ich begebe mich sofort nach Abschluss des gegen mich schwebenden Verfahrens nach München, um dort eine neue Tätigkeit aufzunehmen, die mir Unabhängigkeit und ein unbeschränktes Feld der Arbeit verspricht. Mit dem Ausdruck steter Ergebenheit und grösster Hochschätzung verbleibe ich
Ihr Thomas Förster.
Der Brief gelangte zuerst in die Hände der Präfektin. Diese übergab ihn in grösster Bestürzung der Frau Oberin. — Maria Stilkes Sünde war gewiss nicht gross, als sie ihre reinen Empfindungen einem Manne mitteilte, der einen so grossen Einfluss auf ihre Jugend ausgeübt. Nach den strengen Vorschriften des Klosters aber, die allein für die Anschauungen der Oberin massgebend sein konnten, hatte sie sich eines Vergehens schuldig gemacht, das die grösste Disziplinwidrigkeit darstellte. Die Oeberin vernahm sämtliche Schwestern über die seelische Beschaffenheit des jungen Mädchens; es war ein Glück, dass Schwester Benedikta mit aller Entschiedenheit für ihre Freundin eintrat und alle Schuld auf den Einfluss des Seminarlehrers abwälzte. Der Superior sah sein Urteil über Thomas Förster und die sittliche Gefahr, die dieser Lehrer für die Klosterschule bedeutet hatte, bestätigt. So erschien Maria Stilkes Vergehen entschuldbarer. Immerhin wurde sie sowohl von der Oberin als von dem Geistlichen Rat aufs Strengste vorgenommen; sie unterwarf sich in dem Bewusstsein, nicht nur diese, sondern auch alle Schwestern des Klosters unverdient gekränkt zu haben. Sie bereute dies aufrichtig, und die Tränen, die sie darüber fand, nahm die Oberin als einen Beweis der Reue über das Glaubensbekenntnis, das sie in ihrem Briefe abgelegt. In Wahrheit war es dem Geistlichen Rat nicht gelungen, Maria Stilke von ihrer Anhänglichkeit zu Thomas Förster abzubringen. Die Vorwürfe vielmehr, die der Superior sowohl wie die Oberin gegen ihn erhoben, festigten in ihr die fast zärtliche Fürsorge, die sie für ihn empfand; alle Ermahnungen, die man deshalb an sie richtete, prallten an dem Wahlspruch ab, den der verehrte Lehrer ihr seiner Zeit mit ins Kloster gegeben und den sie unauslöschlich in ihr Herz geschrieben: „Treue ist der wahre Adel im Leben, denn sie birgt alle Tugenden.“
— — — — — — — — — —
Treue gegen ihn schien ihr sittliche Pflicht. —