Читать книгу Robert Louis Stevenson: Jekyll & Hyde. Kriminalroman - Robert Louis Stevenson, Robert Louis Stevenson - Страница 5

Auf der Suche nach Mr. Hyde

Оглавление

AN JENEM ABEND kehrte Mr. Utterson in gedrückter Stimmung in seine Junggesellenwohnung zurück und setzte sich ohne Appetit zu Tisch. Sonntags war es sonst seine Gewohnheit, sich nach beendeter Mahlzeit mit irgendeiner trockenen, theologischen Schrift auf dem Lesepult dicht neben den Kamin zu setzen, bis die Uhr der benachbarten Kirche zwölf schlug, um dann mit klarem Kopf und dankerfülltem Herzen zu Bett zu gehen. Heute aber nahm er, kaum dass der Tisch abgeräumt war, eine Kerze zur Hand und ging in sein Büro. Dort öffnete er den Geldschrank, entnahm dem Geheimfach ein Dokument, das auf dem Umschlag als Dr. Jekylls Testament bezeichnet war, und setzte sich mit gefurchter Stirn nieder, um dessen Inhalt zu studieren. Das Testament war von dem Doktor selbständig abgefasst worden, denn Mr. Utterson hatte sich geweigert, bei seiner Abfassung auch nur im Geringsten mitzuwirken, wenn er es auch später in Verwahrung genommen hatte. Es bestimmte, dass die Besitztümer von Henry Jekyll, Dr. med., Dr. jur., Mitglied der Königlichen Akademie usw., im Fall seines Todes an seinen ›Freund und Wohltäter Edward Hyde‹ übergehen sollten. Ferner besagte es, dass im Fall von Dr. Jekylls ›Verschwinden oder unerklärbarer Abwesenheit, falls sie drei Kalendermonate überschritte‹, besagter Edward Hyde Henry Jekylls Rechtsnachfolger werden sollte, und zwar ohne weiteren Verzug und ohne dass ihm andere Verpflichtungen daraus erwachsen sollten als die Zahlung einiger kleiner Summen an Hausangestellte des Doktors.

Dieses Dokument war dem Rechtsanwalt schon lange ein Dorn im Auge. Es verletzte ihn gleicherweise als Juristen wie als Menschen, der alles Vernünftige und Herkömmliche im Leben liebte und im Phantastischen etwas Unschickliches sah. Bis dahin hatte die Tatsache, dass er nichts über Mr. Hyde wusste, seinen Unwillen erregt, nun tat das mit einem Schlage der Umstand, dass er etwas über ihn erfahren hatte. Es war schon schlimm gewesen, als der Name ihm nichts als ein bloßer Name war, der ihm nichts sagte. Schlimmer wurde es nun, da sich ihm mit dem Namen die Vorstellung von etwas Verabscheuenswürdigen verband. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und es erwuchs in ihm die Gewissheit, es mit einem Teufel zu tun zu haben.

»Ich hatte es für Wahnsinn gehalten«, sagte er, als er das ominöse Schriftstück in den Geldschrank zurücklegte, »aber jetzt fange ich an zu fürchten, dass etwas Ehrenrühriges dahintersteckt.«

Dann blies er die Kerze aus, zog einen Mantel an und machte sich auf den Weg nach Cavendish Square, der Hochburg der medizinischen Wissenschaft, wo sein Freund, der berühmte Dr. Lanyon, wohnte und seine zahlreichen Patienten empfing. Er sagte sich: »Wenn irgendjemand Bescheid weiß, so ist es Lanyon.«

Der würdige Diener, der ihn kannte, ließ ihn eintreten und führte ihn ohne weitere Förmlichkeiten ins Esszimmer, wo Dr. Lanyon allein bei seinem Glase Wein saß. Er war ein liebenswürdiger, gesunder, rotbackiger, feiner Herr, mit frühzeitig ergrautem Haar und lautem, sicherem Auftreten.

Beim Anblick von Mr. Utterson sprang er von seinem Stuhl auf und hieß ihn mit ausgestreckten Händen willkommen. Die Herzlichkeit, die dem Manne eigen war, erschien auf den ersten Blick theatralisch, doch entsprang sie echtem Gefühl. Denn die beiden waren alte Freunde und Kameraden von der Schule und der Universität her, beide hatten Achtung vor sich selbst und voreinander und, was nicht immer daraus folgt, waren sehr gern zusammen.

Nachdem sie über dies und jenes geplaudert hatten, kam der Anwalt auf den Gegenstand zu sprechen, der seinen Geist so stark beschäftigte und bedrückte.

»Wenn ich es mir überlege, Lanyon«, sagte er, »sind wir beide, du und ich, die ältesten Freunde, die Henry Jekyll hat.«

»Ich wollte, die Freunde wären jünger«, scherzte Dr. Lanyon.

»Aber es wird schon stimmen. Wie kommst du darauf? Ich sehe ihn jetzt selten.«

»So?« meinte der Anwalt. »Ich dachte, ihr hättet gemeinsame Interessen.«

»Die hatten wir«, lautete die Antwort. »Doch schon vor mehr als zehn Jahren wurde mir Henry Jekyll zu phantastisch. Er geriet auf Irrwege, auf geistige Irrwege, möchte ich sagen, und obgleich ich mich natürlich um alter Zeiten willen weiter für ihn interessiere, höre und sehe ich doch verdammt wenig von ihm. Solch unwissenschaftliches Gewäsch hätte selbst Damon und Pythias auseinandergebracht«, fügte der Doktor heftig hinzu und bekam plötzlich einen roten Kopf.

Dieser kleine Temperamentsausbruch brachte Mr. Utterson eine gewisse Erleichterung. ›Sie stimmen nur über eine wissenschaftliche Frage nicht überein‹ dachte er, und da er selbst keine wissenschaftlichen Passionen hatte (außer in juristischen Dingen), fügte er sogar hinzu: Gut, dass es nichts Schlimmeres ist.‹ Er ließ seinem Freunde Zeit, sich zu beruhigen, und stellte ihm dann die Frage, derentwegen er gekommen war. »Bist du je einem Protegé von ihm begegnet — einem gewissen Hyde?« — »Hyde?« wiederholte Lanyon. »Nein. Nie was von ihm gehört, jedenfalls nicht zu meiner Zeit.«

Das war alles, was der Anwalt an Aufklärungen mit nach Hause und in sein großes düsteres Bett nahm, in dem er sich von einer Seite auf die andere warf, bis aus der Nacht ein neuer Morgen wurde. Diese Nacht war keine Erquickung für seinen arbeitenden Geist, der in völliger Dunkelheit von quälenden Fragen bestürmt wurde.

Von der so angenehm nahe liegenden Kirche schlug es sechs, und immer noch grübelte er über das Problem nach. Hatte es bisher nur seinen Verstand beschäftigt, so fing es jetzt an, seine Phantasie zu erregen und gefangen zu nehmen, und während er sich in der Dunkelheit der Nacht hinter dichtverhangenen Fenstern in seinem Bett hin und her wälzte, rollten die Einzelheiten von Mr. Enfields Erzählung wie grellbeleuchtete Bilder vor seinem inneren Auge ab. So sah er die endlose Reihe von Laternen in der nächtlichen Stadt, sah die Gestalt eines eilig daherkommenden Mannes und das Kind, das vom Arzt gelaufen kam, sah, wie beide zusammenstießen und wie jener Teufel in Menschengestalt das Kind niedertrat und ungerührt von seinem Geschrei seinen Weg fortsetzte. Oder er sah ein Zimmer in einem vornehmen Hause, in dem sein Freund im Schlafe lag und im Traume lächelte. — Die Tür öffnet sich, die Bettvorhänge werden beiseitegeschoben, der Schläfer erwacht — und da — am Bett steht eine Gestalt, ein Mann, dem Macht über ihn gegeben ist, und selbst zu dieser nächtlichen Stunde muss er aufstehen und tun, was er von ihm verlangt. — In dieser zwiefachen Gestalt verfolgte der Unbekannte den Anwalt die ganze Nacht hindurch; und wenn er wirklich einmal einschlummerte, so sah er ihn nur noch spukhafter durch schlafende Häuser gleiten oder noch schneller und immer schneller, ja schwindelerregend schnell durch Labyrinthe von erleuchteten Straßen laufen und an jeder Ecke ein Kind niederrennen und schreiend liegenlassen. Und doch hatte die Gestalt kein Gesicht, an dem er sie hätte erkennen können; nicht einmal in seinen Träumen hatte sie ein Gesicht oder doch nur eins, das ihn verwirrte und sich vor seinen Augen in Nebel auflöste. Und da entstand im Bewusstsein des Anwalts und wuchs zusehends ein eigenartig starkes, ja fast ausschweifendes Verlangen, die Gesichtszüge des wirklichen Mr. Hyde zu schauen. Wenn er ihn — so glaubte er — erst einmal mit eigenen Augen sehen könnte, würde sich das Geheimnis lichten oder vielleicht überhaupt in Nichts zerfließen, so wie es mit geheimnisvollen Dingen geschieht, wenn man ihnen auf den Grund geht. Er würde dann vielleicht eine Erklärung für seines Freundes seltsame Zuneigung oder Knechtschaft (oder wie man es sonst nennen mochte) und selbst für die seltsamen Klauseln des Testamentes finden. Zum mindesten würde es ein Gesicht sein, das zu betrachten sich lohnen musste, das Gesicht eines Mannes, der kein Mitleid kennt — ein Gesicht, dessen bloßer Anblick genügt hatte, um in dem nicht leicht zu beeinflussenden Gemüt von Enfield das Gefühl unauslöschlichen Hasses zu erwecken.

Von jenem Zeitpunkt an begann Mr. Utterson die Tür in der kleinen Ladenstraße zu überwachen. Morgens, vor den Bürostunden, mittags, auch wenn er viel zu tun und wenig Zeit hatte, bei Nacht, angesichts des verschwommenen Großstadtmondes, bei jeder Beleuchtung und zu allen Zeiten, einerlei, ob die Straße einsam dalag oder ob sie belebt war, immer konnte man den Anwalt auf seinem selbstgewählten Posten antreffen.

›Wenn Mr. Hyde sich verbergen will‹, so sagte er sich, ›so werde ich ihn eben suchen.‹

Und schließlich wurde seine Geduld belohnt. Es war eine schöne, windstille Frostnacht, die Straßen waren glatt und sauber wie ein Tanzboden, auf den die Laternen ein regelmäßiges Muster von Licht und Schatten zauberten. Um zehn Uhr, nach Ladenschluss, lag die Seitenstraße einsam da, und obgleich London ringsumher leise brodelte, war es sehr still. Kleinste Laute wurden wahrgenommen, alltägliche Geräusche in den Häusern waren auf beiden Seiten der Straße zu vernehmen, und der Lärm, der von einem nahenden Fußgänger verursacht wurde, eilte ihm längere Zeit voraus. Mr. Utterson stand erst einige Minuten auf seinem Posten, als er bemerkte, dass ein seltsam leichter Schritt näher kam. — Im Lauf seiner nächtlichen Streifzüge hatte er sich längst an die eigenartige Wirkung gewöhnt, die hervorgerufen wird, wenn sich der Klang der Schritte eines einzelnen Menschen plötzlich, obgleich er noch ein gutes Stück entfernt ist, aus dem allgemeinen Gesumm und Geräusch der Großstadt herauslöst. Und doch war seine Aufmerksamkeit nie zuvor so entschieden und zwingend wachgerufen worden, und mit einer starken, fast abergläubischen Zuversicht auf Erfolg zog er sich in den Eingang zum Hof zurück.

Die Schritte kamen schnell näher und erklangen plötzlich lauter, als sie um die Ecke bogen. Der Anwalt konnte von seinem Versteck aus bald sehen, mit welcher Sorte Mensch er es zu tun hatte. Er war klein, sehr einfach gekleidet, und sein Aussehen ging dem Beobachter, selbst aus dieser Entfernung, irgendwie stark gegen den Strich. Er ging geradenwegs auf die Tür zu, und zwar schräg über den Fahrdamm, um Zeit zu sparen, und zog im Gehen einen Schlüssel aus der Tasche, wie einer, der sich seinem Hause nähert.

Mr. Utterson trat vor und berührte seine Schulter, als er vorbeigehen wollte.

»Mr. Hyde, nicht wahr?«

Mr. Hyde fuhr zurück und zog hörbar den Atem ein. Doch sein Schreck ging bald vorüber, und, obgleich er dem Anwalt nicht ins Auge sah, versetzte er ziemlich gelassen: »So heiße ich. Was wünschen Sie?«

»Sie wollen dort hineingehen, wie ich sehe«, erwiderte der Anwalt. »Ich bin ein alter Freund von Dr. Jekyll — Mr. Utterson aus Gaunt Street —, Sie werden meinen Namen sicher gehört haben; und da es sich so günstig trifft, dachte ich, Sie könnten mich hineinlassen.«

»Sie würden Dr. Jekyll nicht antreffen, er ist nicht zu Hause«, entgegnete Mr. Hyde, indem er den Schlüssel ins Schloss steckte. Und plötzlich, jedoch ohne aufzublicken: »Woher kennen Sie mich?«

»Würden Sie mir«, sagte Mr. Utterson, »Ihrerseits einen Gefallen erweisen?«

»Mit Vergnügen«, versetzte der andere. »Was soll ich tun?«

»Würden Sie mich Ihr Gesicht sehen lassen?« fragte der Anwalt.

Mr. Hyde schien zu zögern, um ihm dann, wie auf Grund einer plötzlichen Überlegung, mit trotziger Gebärde sein Gesicht darzubieten, und die beiden sahen sich einige Sekunden lang starr in die Augen. »Jetzt werde ich Sie wiedererkennen«, sagte Mr. Utterson. »Das könnte von Nutzen sein.« »Ja«, gab Mr. Hyde zu, »es ist ganz gut, dass wir uns getroffen haben. Übrigens wäre es vielleicht nützlich, wenn Sie meine Adresse hätten.«

Und er gab ihm die Nummer einer Straße in Soho an.

›Großer Gott!‹ dachte Mr. Utterson, ›ist es möglich, dass auch er an das Testament gedacht hat?‹ Doch behielt er seine Gedanken für sich und murmelte nur einen Dank für die Adresse.

»Und nun«, sagte der andere, »woher kannten Sie mich?«

»Nach einer Beschreibung«, war die Antwort. »Wessen Beschreibung?«

»Wir haben gemeinsame Freunde«, sagte Mr. Utterson.

»Gemeinsame Freunde?« wiederholte Mr. Hyde ein wenig heiser. »Welche?«

»Zum Beispiel Jekyll«, sagte der Anwalt.

»Der hat Ihnen nichts erzählt«, rief Mr. Hyde mit einem Anflug von Ärger. »Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie mich anlügen würden.«

»Nun, nun«, sagte Mr. Utterson, »solche Sprache schickt sich nicht.«

Der andere brach in wildes Gelächter aus, hatte im nächsten Augenblick mit unglaublicher Geschwindigkeit die Tür geöffnet und war im Innern des Hauses verschwunden.

Nachdem Mr. Hyde ihn verlassen hatte, blieb der Anwalt noch eine Weile stehen — ein Bild der Unruhe. Dann ging er langsam die Straße hinauf, hielt aber alle paar Augenblicke den Schritt an und griff sich mit der Hand an die Stirn, wie ein Mensch, der sich in völliger Ratlosigkeit befindet. Das Problem, mit dem er sich beim Gehen auseinandersetzte, gehörte zu denen, die selten gelöst werden. — Mr. Hyde war blass und von kleinem Wuchs, er machte den Eindruck von Missgestaltung, obgleich er nicht eigentlich verwachsen war, sein Lächeln war unangenehm, sein Benehmen dem Anwalt gegenüber eine ekelhafte Mischung von Schüchternheit und Dreistigkeit, und seine Stimme war heiser, zischelnd und brüchig. All das sprach gegen ihn, und doch konnte alles zusammengenommen nicht den unbegreiflichen Abscheu, ja den Widerwillen und die Furcht erklären, die Mr. Utterson ihm gegenüber empfand. ›Dahinter muss noch etwas anderes stecken‹, sagte sich der bestürzte Anwalt. ›Und da ist noch etwas, wenn ich es nur beim Namen nennen könnte. Bei Gott, der Mann scheint nichts Menschliches an sich zu haben! Etwas von einem Höhlenbewohner, möchte ich sagen. Oder ist es der bloße Widerschein eines ruchlosen Charakters, der auf diese Weise seine wahre Wesensart offenbart und Gestalt gewinnt? Dies letztere wird es sein; denn ach, mein armer alter Henry Jekyll, wenn je ein Antlitz vom Satan gezeichnet war, so ist es das deines neuen Freundes!‹

Wenn man von der Nebenstraße aus um die Ecke bog, kam man an einen Platz mit alten schönen Häusern, die jetzt größtenteils ihre einstige vornehme Bestimmung verleugneten und etagen- und zimmerweise an Menschen jeden Standes und jeder Art vermietet wurden; an Landkartenzeichner, Architekten, Winkeladvokaten und Leute, die zweifelhafte Geschäfte betrieben. Ein Haus jedoch, das zweite von der Ecke, war noch im ganzen bewohnt und wies, obgleich es in Dunkelheit getaucht und nur von der Straße aus schwach beleuchtet war, unverkennbare Spuren von Wohlhabenheit und Behäbigkeit auf. Mr. Utterson blieb an der Tür stehen und klopfte. Ein älterer livrierter Diener öffnete.

»Ist Dr. Jekyll zu Hause, Poole?« fragte der Anwalt. »Ich werde nachsehen, Mr. Utterson«, sagte Poole; dabei führte er den Gast in eine große, gemütliche, niedrige Halle, die mit Fliesen ausgelegt war. Sie wurde von einem hellflackernden, offenen Kaminfeuer erwärmt, wie man es in Landhäusern antrifft, und war mit kostbaren Eichenmöbeln eingerichtet. »Wollen Sie hier am Kamin Platz nehmen, gnädiger Herr, oder soll ich im Esszimmer Licht machen?«

»Danke, ich warte hier«, sagte der Anwalt, näherte sich dem Feuer und lehnte sich an das hohe Kamingitter.

Diese Halle, in der er nun allein zurückblieb, war eine besondere Liebhaberei seines Freundes, und Utterson selbst pflegte sie als den angenehmsten Aufenthaltsraum in London zu bezeichnen. Doch heute Nacht war sein Blut erregt; das Gesicht von Hyde lastete schwer auf seiner Erinnerung, und er verspürte was ihm selten widerfuhr — etwas wie Übelkeit und Lebensüberdruss. Aus seiner düsteren Stimmung heraus glaubte er in dem flackernden Feuerschein, der über die blanken Möbel huschte, und in dem ruhelosen Spiel der Schatten an der Decke eine Drohung zu erkennen und atmete zu seiner eigenen Beschämung erleichtert auf, als Poole zurückkehrte und ihm meldete, dass Dr. Jekyll ausgegangen sei.

»Ich sah Mr. Hyde durch die Tür des alten Sezierraums hineingehen, Poole«, sagte er. »Hat das seine Richtigkeit, wenn Dr. Jekyll nicht da ist?«

»Vollkommen, Mr. Utterson«, erwiderte der Diener. »Mr. Hyde hat den Schlüssel.«

»Ihr Herr scheint diesem jungen Mann sehr viel Vertrauen zu schenken«, meinte der andere nachdenklich.

»Ja, gnädiger Herr, das tut er«, sagte Poole. »Wir alle haben Order, ihm zu gehorchen.«

»Meines Wissens habe ich Mr. Hyde niemals hier getroffen?« fragte Utterson.

»O nein, gnädiger Herr. Er speist nie hier«, entgegnete der Diener. »Auch wir sehen ihn sehr selten in diesem Teil des Hauses; er kommt und geht meistenteils durch das Laboratorium.«

»Na, dann gute Nacht, Poole.«

»Gute Nacht, Mr. Utterson.«

Und der Anwalt machte sich schweren Herzens auf den Heimweg. Armer Henry Jekyll, dachte er, mein Gefühl sagt mir, dass er sich in Not befindet. In seiner Jugend war er ausschweifend; zwar ist das schon lange her, aber vor Gott gilt keine Verjährung. Ja, das wird es sein, das Gespenst irgendeiner alten Sünde, das schleichende Gift eines geheim gehaltenen Vergehens! Nachdem die Schuld dem Gedächtnis seit Jahren entschwunden und von der Eigenliebe längst verziehen ist, kommt auf dem Fuße die Strafe. Durch diesen Gedanken aufgerüttelt, grübelte der Anwalt eine Zeitlang über seine eigene Vergangenheit nach und kramte in allen Fächern seiner Erinnerung herum, ob nicht am Ende irgendwo der Spukteufel einer alten Missetat ans Licht käme. Seine Vergangenheit war nahezu untadelig, nur wenige Menschen konnten, wie er, ohne Besorgnis in den Seiten ihres Lebensbuches blättern, und doch erfüllte ihn das wenige Schlechte, das er getan hatte, mit Demut und Reue, so wie es ihm andererseits eine ängstliche scheue Genugtuung gewährte, dass er manches Böse vermieden hatte, obgleich er nahe daran gewesen war, es zu tun. Und als er sich wieder dem Ausgangspunkt seiner Betrachtungen zuwandte, glaubte er klarer zu sehen. Dieser junge Hyde, dachte er, muss, falls er ein gelehrter Mann ist, persönliche Geheimnisse haben; schwarze Geheimnisse, nach seinem Aussehen zu schließen — Geheimnisse, mit denen verglichen die schlimmsten von dem armen Jekyll so hell wie die Sonne wären. Jedenfalls darf es so nicht weitergehen. Es überläuft mich eiskalt bei dem Gedanken, dass sich diese Kreatur wie ein Dieb an Henrys Bett schleicht. Armer Henry, welch ein Erwachen! Und welche Gefahr! Denn, wenn dieser Hyde die Existenz des Testamentes ahnt, so könnte er es mit dem Erben eilig haben. — Ja, ich muss dem Rad in die Speichen greifen — wenn Jekyll es mir nur erlaubt, wenn Jekyll es mir nur erlaubt. Denn wieder sah er vor seinem geistigen Auge klar und deutlich die seltsamen Bestimmungen des Testamentes.

Robert Louis Stevenson: Jekyll & Hyde. Kriminalroman

Подняться наверх