Читать книгу Wolf übernimmt - Robert Mayer - Страница 4
Der Auftrag
ОглавлениеEs blieb ihm gar nichts anderes übrig. Er hatte ihm keine andere Wahl gelassen. Er selbst hätte gerne mitgespielt. Aber er wollte ihn nicht dabeihaben. Und jetzt mussten sie alle dafür bezahlen. Viel bezahlen.
Thomas Winter hatte ihnen ein Ultimatum gestellt. Er nahm sie sich einer nach dem anderen vor. Dem ersten gab er fünf Tage Zeit, die Summe aufzubringen. 4000 Maple Leaf Ein-Unzen-Goldmünzen, das war sein Preis. Sein Preis dafür, dass er sie weitermachen ließ und seinen Mund hielt. Dafür, dass er verschwinden würde. Er hatte nicht lange darüber nachgedacht, ob es klug war, Gold zu verlangen. Aber die Summe schien ihm gerechtfertigt zu sein. Immerhin war er seit dreizehn Jahren im Team. Seine Loyalität wurde immer als selbstverständlich angesehen und dabei wurde er so kaltblütig hintergangen. Wurde er einfach nur für dumm gehalten? Jetzt würde er den Spieß umdrehen und abrechnen. Diese Arroganz durfte nicht unbestraft bleiben. Er würde auf beiden Seiten abkassieren. Da war ja keiner besser als der andere.
Beringer hatte das Unternehmen vor fünfundzwanzig Jahren übernommen. Die Stahl Sicherheits AG war von Anton Stahl zu einem in der Region anerkannten Unternehmen aufgebaut worden, welches Gebäudesicherung durch Wachpersonal anbot. Fünfundzwanzig Jahre später bot die Steel Security Corporation ein viel weiteres Dienstleistungsspektrum an: Sicherheitsberatung, Bewachungsdienst von Personen, Gebäuden, betrieblichen Abläufen, Transporten und bei Events, Installation von Alarmsystemen, deren Überwachung und Intervention im Alarmfall bis hin zur diskreten Lagerung im Tresor und Risikomanagement.
Die Bezeichnung Risikomanagement gefiel Beringer. Im Grunde war das nichts anderes als das Spiel mit der Angst. Ohne Angst kein Sicherheitsbedürfnis. Das war nicht Sarkasmus, es war reines Geschäftskalkül, sein Geschäftsmodell. Sicherheit zu verkaufen war für Beringer so, wie einem kleinen Kind eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Er tat etwas Gutes. Er beruhigte die Menschen, die seine Kunden waren und verhalf ihnen zu einem ruhigen Schlaf.
Als Beringer bei Anton Stahl als Wachmann anfing, hätte er sich diese Entwicklung nicht im Traum vorstellen können, weder die des Unternehmens und noch viel weniger seine eigene. Er wollte einfach für ein paar Monate Geld verdienen, um dann Südamerika zu bereisen. Sein IT-Studium hatte er abgebrochen, hatte ganz einfach die Nase voll und wollte nur noch weg. Weg von den Hörsälen, weg von den Büchern und Skripten, weg von Computerprogrammen und weg von ihr.
Bei seinen nächtlichen Wachdiensten von Firmenarealen hatte er viel Zeit nachzudenken. Zu viel Zeit nachzudenken, denn er wollte sich nicht mit der Vergangenheit beschäftigen, er wollte vergessen. Also dachte er an seine Reise, brachte Bücher über Argentinien und Brasilien mit, Reiseführer und Karten. Er musste ja nicht die ganze Dienstzeit die Firmengebäude ablaufen, meistens saß er in der Sicherheitszentrale und hielt ab und zu die Bildschirme im Auge, überwachte die Alarmsysteme und je nach Unternehmen, in denen er gerade eingesetzt wurde, machte er nach einem streng einzuhaltenden Plan seine Rundgänge. Da blieb viel Zeit, um seine Reise zu planen quer über den Kontinent, der ihm in dem Moment am weitesten weg vorkam. Denn er wollte ja weg.
Jakob Beringer las die Reisetagebücher des legendären Che Guevara, welche dieser schrieb, bevor er zum marxistischen Revolutionär und Guerillaführer wurde. Er dachte darüber nach, dessen Route selbst mit dem Motorrad abzufahren. Diesen Plan hatte er aber bald wieder verworfen, da er seine eigene Route planen wollte. Er wollte seinen eigenen Weg gehen und niemandem mehr folgen. Nicht nachdem was er mit ihr erlebt hatte. Zu tief saß noch der Schmerz der Enttäuschung, des Verrats. Nur ein paar Monate wollte er den Anweisungen und Dienstvorschriften von Anton Stahl Folge leisten und dann abhauen. Doch es kam anders.
Anton Stahl fiel sofort auf, dass der junge Studienabbrecher, der hier nur ein bisschen jobben wollte, besondere Fähigkeiten besaß. Der großgewachsene, gutaussehende junge Mann hatte dieses Funkeln in den Augen, das ihn an seinen Sohn erinnerte. Es waren gemischte Gefühle, die ihn überkamen, als er das Einstellungsgespräch führte. Sein Sohn Clemens war erst zwei Jahre zuvor an Krebs gestorben. Noch immer bereute er, dass er der Chemotherapie zugestimmt hatte. Mit Flammenwerfern gegen Unkraut vorzugehen, war für ihn damals schon unverständlich. Danach war der ganze Garten kaputt, und was als erstes wieder kam, war das Unkraut. So auch bei dieser brutalen Therapie. Clemens’ Immunsystem wurde schon in der Minute niedergeprügelt, als man ihm die Diagnose mittelte. Lungenkrebs. Das hatte wie eine Bombe eingeschlagen und alle Abwehrkräfte paralysiert. So kam es ihm zumindest vor, denn Clemens war von dieser Minute an krank, todkrank, das war ja auch die Diagnose. Die Tortur der Chemotherapie und der Bestrahlungen hätte er ihm so gerne erspart. Natürlich, er war sein Vater. Welcher Vater würde nicht alles für die Gesundheit seines Sohnes tun. Aber es war nicht in seiner Macht und er hatte den Ärzten vertraut. Wie das alle machen nach so einer Diagnose.
Mit Clemens’ Tod war auch in ihm etwas gestorben. Vorher ging er in seiner Arbeit auf, er hatte die Stahl Sicherheits AG aufgebaut und hatte es zu Wohlstand gebracht. Aber jetzt hatte er keine Kraft mehr, er wollte nicht mehr und suchte nach einem Käufer, er war ja auch schon zweiundsechzig.
Einstellungsgespräche führte er grundsätzlich immer selbst, denn er verkaufte Sicherheit und der größte Risikofaktor waren nun mal seine Mitarbeiter. Seine Menschenkenntnis hatte ihn nie getäuscht und daher überließ er nie anderen die Entscheidung, wer für die Stahl Sicherheits AG arbeiten würde. So hat es ihn auch nicht allzu sehr überrascht, dass eines Morgens Jakob Beringer nach einer Nachtschicht vor seinem Büro gewartet hatte, um ihm ein neu ausgearbeitetes Sicherheitskonzept für die Alpha Packing Group vorzustellen. Beringer hatte zwei Monate dort Dienst getan und hatte seine Reisepläne längst verworfen, da er beschlossen hatte, einfach drauf los zu fahren, sobald er genug Geld beisammen hätte. Er wollte ein Abenteuer und keine vorgegebene Tour abfahren, auch nicht eine, die er selbst vorgab. Also hatte er unzählige Stunden Zeit und erkannte, dass die Arbeitsabläufe absolut ineffizient waren und kam sehr schnell auf ein für ihn naheliegendes Konzept.
Stahl begriff erst während des Vortrags des jungen Burschen, dass das Konzept nicht für die Alpha Packing Group war, sondern für das gesamte Einsatzgebiet der Stahl Sicherheits AG. Ihm wurde klar, dass er in seinem Unternehmen viel zu lange damit gewartet hatte, zu modernisieren. Gerade in seiner Branche, wahrscheinlich in jeder Branche, war es essentiell, den technologischen Fortschritt in allen Prozessen des Unternehmens miteinzubeziehen. Aber jetzt leuchtete es auch ihm ein, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er vom Mitbewerb verdrängt werden würde, wenn er nicht umgehend reagierte. Er hatte viel zu lange dieselben Abläufe durchführen lassen. Für ihn war die Sicherheit, die er verkaufte, ausschlaggebend. Die Abläufe wurden zwar angepasst, um später erkannte Sicherheitslücken zu schließen, viel zu selten jedoch, sie effizienter und dadurch für ihn lukrativer zu gestalten. Dieser Grünschnabel hatte nach nur zwei Monaten erkannt, was keiner seiner Abteilungsleiter und nicht einmal Reto Gruber, sein Cheftechniker, erkannt hatte. Er selbst hatte wohl auch zu wenig technisches Verständnis, um mit den schnellen Veränderungen der technischen Möglichkeiten Schritt halten zu können. Das Konzept war so simpel, dass es jedem peinlich war, nicht selbst darauf gekommen zu sein. Dies war wohl ein eindrückliches Beispiel für ausgeprägte Betriebsblindheit. Zudem war damals vor mittlerweile fünfundzwanzig Jahren das Anforderungsprofil seiner Mitarbeiter weniger technischer Natur.
Im Wesentlichen ging es darum, die Überwachungssysteme der verschiedenen Unternehmen von der Zentrale der Stahl Sicherheits AG aus zu überwachen. Heute kann man sich ein Kameraüberwachungssystem selbst installieren und sich jederzeit von überall mit seinem Smartphone einwählen. Solche Systeme kann man heutzutage überall um ein Taschengeld erwerben. Damals jedoch war Datenübertragung über das Internet unglaublich langsam und vor allem für jedermann einsehbar, vorausgesetzt, jedermann kannte sich ein bisschen damit aus. Anton Stahl kannte sich nicht damit aus.
Beringer hatte während seines IT-Studiums an einem Forschungsprojekt für ein Datenübertragungssystem mitgearbeitet, das so leistungsstark war, dass es auch für Kameraübertragung einsetzbar sein müsste, und was das Ausschlaggebende für die Stahl Sicherheits AG war, auch sicher, das heißt, für niemanden sonst einsehbar war.
Stahl ließ unter der Anleitung von Beringer ein Kameraüberwachungssystem, welches über Standleitung mit der Stahl Sicherheits AG verbunden wurde von seinem Kamerasystem-Lieferanten ausarbeiten. Es wurde ein gemeinsames Patent entwickelt und ein Exklusivrecht vereinbart. Heute gehört das Unternehmen zur Steel Security Corporation und beliefert weltweit Sicherheitsunternehmen.
Es dauerte über ein Jahr, bis das System marktreif war, um es mit dem Sicherheitsanspruch, den Anton Stahl seinen Kunden versprach, verkauft werden konnte und in das Dienstleistungspaket der Stahl Sicherheits AG integriert werden konnte. Die Effizienzsteigerung war immens. Es musste kein Wachpersonal mehr unzählige Stunden in den einzelnen Unternehmen sitzen und Bildschirme beobachten, dies wurde nun von einer Zentrale erledigt. Die stündlichen oder in anderen Perioden vereinbarten Kontrollgänge der Wachleute wurde von einem Springerteam, später von mehreren Teams erledigt, welche von Unternehmen zu Unternehmen fuhren. Die Routen und Zeitpläne wurden an jedem Tag unterschiedlich festgelegt.
Beringer war so in dieses Projekt involviert und von seiner neuen Aufgabe eingenommen, dass er seine Reise einfach auf später verschoben hatte. Ein Jahr später hatte ihm Stahl die Leitung des Unternehmens und eine Teilhaberschaft angeboten und sich selbst in den Ruhestand zurückgezogen. Wie sich Jahre später herausstellte, hat diese Entscheidung beide, Stahl und Beringer reich gemacht. Den Plan mit der Motorradreise quer durch Südamerika hatte Beringer allerdings auch fünfundzwanzig Jahre später noch nicht verwirklicht. Der Grund für den sich später einstellenden Reichtum war natürlich nicht nur die Effizienzsteigerung durch die Zentralisierung des Kameraüberwachungssystems. Auch die rasante Ausweitung des Leistungsangebots der Stahl Sicherheits AG, die nach der späteren Mehrheitsübernahme von Beringer in Steel Security Corporation umbenannt wurde, half dabei. Der eigentliche Auslöser für den späteren Erfolg aber war sie. Durch sie kam er zu einem unerwarteten zusätzlichen Betätigungsfeld, das Beringer über all die Jahre perfektioniert hatte und ihm zu Reichtum und viel Einfluss verhalf. Aber dazu später.
Die Steel Security Corporation war in den ersten zehn Jahren, seitdem er die Leitung übernommen hatte, rasant angewachsen. Es war leicht zu erkennen, dass immer, wenn in einer Region die Zahl der Einbrüche anstieg, etwas später auch seine Umsätze anstiegen. Beringer fand einen Weg diesen Zusammenhang zu intensivieren. Angst vor zunehmender Kriminalität tat seinem Geschäft gut. In Zusammenarbeit mit der Polizei erarbeitete er Sicherheitskonzepte für Gebäude des öffentlichen Dienstes, die für so sicherungswürdig gehalten wurden, dass sie mit Alarmanlagen ausgestattet werden sollten. Es wurden gemeinsame Schulungen organisiert, um die Kooperation zwischen Alarmsystem und Polizeieinsatz zu optimieren. Später wurde diese Zusammenarbeit auf weitere Einsatzgebiete der Steel Security Corporation ausgebaut. Bei diesen Schulungen waren immer die Sales Manager der jeweiligen Region vorort. Deren Aufgabe war es, bei diesen Schulungen Polizisten zu identifizieren, die an der Bearbeitung beziehungsweise der Aufklärung von Einbruchsdelikten tätig waren und an einer Provision interessiert waren, für die Tippgebung, an den jeweiligen Sales Manager der Steel Security Corporation, wo der letzte Einbruch stattfand. Durch die offizielle Kooperation der Polizei mit der Steel Security Corporation bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Sicherheitskonzepten empfand der jeweilige Polizist diese Weitergabe von Information als absolut in Ordnung. Er würde sein Einkommen mit einer ehrlichen Dienstleistung aufbessern. Der Aufwand für ihn war minimal und das Einbruchsopfer fühlte sich mit einer neuen Alarmanlage in seinem Heim schneller wieder sicher. Und nachdem die Polizei und somit der Staat mit der Steel Security Corporation zusammenarbeitete, warum sollte er dieses Unternehmen dann nicht auch an ein Einbruchsopfer weiterempfehlen? Es war ganz klar eine Win-Win-Situation.
Ralf Sommer stellte seinen Jaguar E-Type Baujahr 1976 in der Einfahrt ab und ging über den Rasen zur Terrasse. Natürlich hätte er ihn auch gleich in die Garage stellen können, aber er liebte es, ihn immer wieder zwischendurch aus dem Fenster von seinem Schreibtisch oder von der Küche aus zu betrachten. Es störte ihn auch nicht im Geringsten, wenn Spaziergänger ihren Schritt verlangsamten und den auf Hochglanz polierten Lack in british racing green genauer in Augenschein nahmen. Nur Kenner nannten die Mattierungen an manchen Stellen des Originallacks ehrfürchtig anerkennend Patina, Dilettanten hingegen waren der Meinung, er brauche eine neue Lackierung. Heute würde allerdings niemand Fremder vorbeispazieren, sie hatten die Quartiersstraße aus aktuellem Anlass zur Sicherheit gesperrt. Nur Anwohner durften nach deren Kontrolle passieren.
Den Weg über den Rasen zur Terrasse nahm er an schönen Sommertagen eigentlich immer, wenn er wusste, dass Isabella zu Hause war. Der 12-Zylinder machte den Überraschungseffekt natürlich zunichte aber mit einem lautlosen Tesla anzuschleichen, kam für ihn nicht in Frage. Auch wenn er das in der Öffentlichkeit nie zu äußern wagte, diese Elektromobilität war ihm so was von zuwider. Eunuchenkarre, Drehmoment und Beschleunigungswerte hin oder her, aber ein richtiger Mann wollte das Gurgeln von hochzylindrigen Motoren hören und das dazugehörige Vibrieren spüren und am liebsten auch noch selbst schalten, er auch gerne mal mit Zwischengas. Wer weiß, wie lange ihm das Vergnügen noch vergönnt bliebe, wenn der ganze Klimawahn so weiter ging. Immerhin stand er in der Öffentlichkeit.
Isabella rekelte sich auf dem Liegestuhl im Schatten unter der Pergola und las eines ihrer Yogabücher. Innerlich verdrehte er immer die Augen, wenn sie ihm neue Entspannungstechniken beschrieb und lobte dennoch brav ihren erweiterten Horizont. Wie er diesen Mist hasste. „Toll Schatz, werde ich demnächst unbedingt auch mal versuchen.“ Er blieb stehen, gab ihr einen Kuss und während sie weiterlas, betrachtete er ihren noch immer makellosen Körper. Manchmal beobachtete er sie durchs Fenster von seinem Arbeitszimmer aus, wenn sie im Pool schwamm und dann aus dem Wasser stieg und sich, ohne abzutrocknen auf der Teakbank in die Sonne legte. Die Wassertropfen reflektierten das Licht wie Kristalle. Sie war noch immer so schön, wie damals als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Damals hatte er eine kurze Ansprache in der monatlichen Sitzung ihrer Studentenverbindung gehalten und sich allgemeinen Applaus und dadurch auch Isabellas Aufmerksamkeit eingeheimst. Es war die letzte Sitzung in diesem Jahr, im Dezember 1993. In seiner Rede hatte er geschickt ein paar Details der aktuellen Schlagzeilen aus der Presse erwähnt. Im Grunde hatte er nichts gesagt. Er erwähnte, dass er es bemerkenswert fand, dass sich der PLO-Führer Jassir Arafat und der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin in Washington an einen Tisch gesetzt haben, was ihm Hoffnung gab für den baldigen Frieden im Nahen Osten, und dass es in Deutschland noch nie so viele Rücktritte von Politikern gab wie in diesem Jahr. In der U-Bahn hatte er den Jahresrückblick der FAZ überflogen, die er im Café Blühm mitgehen ließ. Er verstand es, mit ein paar Stichworten eine mitreißende Rede aus dem Stegreif zu halten, ohne tatsächlich Stellung zu nehmen. Denn in Wahrheit war ihm der Frieden im Nahen Osten egal. Ehrlicher wäre gewesen, er hätte über den Sieg von Steffi Graf in Wimbledon oder den Tod von Frank Zappa gesprochen, denn Bobby Brown konnte er auswendig und seine Worte hätten so zumindest einen Funken Authentizität gehabt. Das aber bemerkte keiner der Anwesenden. Political Correctness war damals schon angesagt, nur nannte es damals noch keiner so. Er hatte jedenfalls das Publikum im Griff, damals schon. Und dann war da plötzlich Isabella. Sie war so herrlich naiv und unglaublich enthusiastisch in ihren stundenlangen Diskussionen, und in voller Überzeugung rief sie die Parolen ihrer Studentenbewegung auf den Demonstrationen. Dafür beneidete er sie, denn er wäre so gerne überzeugt gewesen, wovon auch immer. Er hatte nur eines im Sinn, er wollte im Mittelpunkt stehen und wollte die Zustimmung der anderen. So hatte er sehr schnell Antennen entwickelt, was gerade Trend war und wie am meisten Zuspruch zu bekommen war. Das war das Fundament seiner steilen Karriere in der Politik. Mehr war nicht dahinter.
Er stand am Fenster und beobachtete wie Isabella von der Teakbank aufstand und rüber zur Pergola ging. Sie war jetzt trocken. Auch ihr Bikini dürfte nun trocken sein. Sie bewegte sich so geschmeidig über den Rasen und ihre Haut hatte einen so gesund wirkenden Teint, dass er kaum glauben konnte, dass sie nur drei Jahre jünger war als er. Vielleicht sollte er es doch auch einmal mit Yoga versuchen. Er spürte eine Andeutung einer Erektion in seiner Hose. Sie hatten schon länger keinen Sex mehr gehabt. Auch heute würde es nicht dazu kommen, denn er musste sich um sein Problem kümmern. Er musste das möglichst schnell vom Tisch kriegen, denn er wollte sie nicht verlieren. Nichts wollte er verlieren, weder den Parteivorsitz noch sein privilegiertes Leben und auf gar keinen Fall Isabella und Felix.
Er hatte den Kontakt von Alfred erhalten, auf ihn hatte er sich immer verlassen können. Er verdankte ihm viel, vertraute ihm. Also nahm er das Telefon und rief die Nummer von Wolf Solutions an. Und dann musste er es irgendwie Isabella beibringen.
Ferdinand Wolf war gerade im Begriff sein Boot zu besteigen und wollte vor dem Sonnenuntergang nochmals raus auf den See als er den Anruf entgegennahm. Er liebte es, mit einem Glas Chardonnay den Sonnenuntergang auf seinem Boot mitten auf dem See zu genießen. Selten blieb es bei einem Glas. Es kam auch vor, dass die Flasche leer war, bevor er sich auf den Heimweg machte. Doch dieser Anruf würde sein Vorhaben vereiteln. Ralf Sommer bestand auf ein Treffen noch heute Abend. Also ging er den Anlegesteg zurück zum Bootshaus.
Das Bootshaus war eigentlich eine stillgelegte Werft. Diese war vor über vierzig Jahren stillgelegt worden, und bevor er das gesamte Sieber Areal übernahm, waren die drei Gebäude für viele Jahre dem Verfall ausgesetzt. Es war reiner Zufall, dass er auf das Areal aufmerksam wurde. Es war nicht einmal zum Verkauf angeboten. Seit drei Jahren aber war das gesamte Areal saniert. Es bestand aus einem kleineren und zwei großen Backstein-Fabrikgebäuden. Eines der beiden großen Gebäude hatte er als letzte Etappe der Arealsanierung zu Eigentumslofts ausbauen lassen und alle Einheiten verkauft. Das zweite große Gebäude war zu einem Businesspark mit verschiedenen Büros, einer Orthopädie- und Physiotherapiepraxis in den beiden oberen Geschossen umfunktioniert worden, unten waren Garagen, Lagerräume, ein Copy Shop sowie das Café Sieber untergebracht. Den Businesspark hatte er nicht verkauft, diesen ließ er vermieten. Für das Café hatte er einer lächerlich geringen Miete zugestimmt, aber er wollte ein Café in Gehdistanz haben. Außerdem war er davon überzeugt, dass zu einer gesunden Infrastruktur eines Businessparks auch ein Café gehörte. Wolf Solutions war im dritten Gebäude untergebracht, das deutlich kleiner war und direkt am Seeufer stand. Von außen sah es wie ein Teil des Businessparks aus. Am Eingang war in Chromlettern Wolf Solutions angebracht und es machte den Anschein, dass es sich bei diesem Gebäude um ein weiteres Gebäude des Businessparks handelte. Niemand nahm an, dass Wolf hier auch wohnte.
Das gesamte Sieber Areal wurde rund um die drei Gebäude in eine Parkanlage umgestaltet. Es wurden Rasenflächen mit verschiedenen Zierbüschen und Bäumen angepflanzt, und die Parkplätze wurden in verschiedene Sektionen eingeteilt und mit kleinen Hecken und Rosenbeeten umrandet. Die Zufahrten wurden mit Pflastersteinen ausgelegt. Das gesamte Areal machte einen sehr gepflegten, geradezu idyllischen Eindruck. Kaum zu glauben, dass hier vor vielen Jahren über Jahrzehnte Motoren für Traktoren, Lastwagen und Boote hergestellt wurden. Im heutigen Gebäude der Wolf Solutions wurden die legendären Sieber Holzboote gebaut. Es war eine Werft, mit einem Wasserzugang, bei dem man mit einem Boot vom See ins Gebäude fahren konnte. Als Wolf das Areal gekauft hatte, war ihm nicht bewusst, dass in dieser Werft noch das zuletzt gebaute Sieber Motorboot aufgebockt unter einer Plane mit einer dicken Staubschicht stand. Nach einem umfassenden Service und diversen Erneuerungen von verschiedenen Teilen, die er zum Teil nachbauen lassen musste, erstrahlte die Aurelia in neuem Glanz. Sie war über vierzig Jahre alt und dennoch nagelneu.
An der Süd-West-Seite des Gebäudes lag ein Hof mit Parkplätzen und einer Grünanlage mit Büschen, Bäumen und einer Rasenfläche direkt am Seeufer, von dem ein Bootsanlegesteg zum See hinausführte. Der gesamte Hof war von einer zwei Meter hohen Backsteinmauer eingefasst und, was Wolf besonders gefiel, nur von ihm zugänglich. Im Erdgeschoss waren drei große Zimmer, in denen Wolf Solutions firmierte. Eines davon war Wolfs Büro, ein großer Besprechungsraum mit Konferenztisch und einer digitalen Leinwand, sowie ein weiteres Büro. Er hatte ursprünglich den Bereich sehr großzügig geplant, da er es sich offenlassen wollte, ein bis zwei Mitarbeiter einzustellen, was er aber nie gemacht hatte. Er arbeitete lieber alleine und war ohnehin eher selten tatsächlich im Büro. Nebenan waren Garagenplätze für mindestens vier Personenwagen und dahinter war der Wasserzugang, den Wolf nun wieder nutzte, allerdings ausschließlich für seine Aurelia. Die ehemalige Sieber Werft war jetzt sein Bootshaus, Büro, Garage und im Obergeschoss war seine Wohnung, ein stylishes Loft.
Jetzt saß Wolf in seinem Büro und recherchierte nach Ralf Sommer. Er war gern vorbereitet, wenn er einem neuen Kunden entgegentrat. Noch hatte er allerdings nicht entschieden, ob er den Auftrag von Sommer auch annehmen würde.
Ferdinand Wolf wurde in unterschiedlichsten Angelegenheiten engagiert. Ursprünglich hatte Wolf Regierungen in Sicherheitsfragen beraten, so zumindest die offizielle Umschreibung seiner Tätigkeit. Er war quer über den Globus in verschiedenster Mission eingesetzt worden. In der Regel war es reine Beratungstätigkeit, doch es kam immer wieder auch zu Kampfeinsätzen, das ließ sich in seiner Branche leider nicht immer verhindern. Er genoss eine militärische Ausbildung für Strategie als auch für Nahkampf, wobei von Genuss wohl kaum die Rede sein konnte. Wolf war sich nicht sicher, ob er dieser Ausbildung sein Überleben verdankte oder ob diese Ausbildung sein Leben überhaupt erst so gefährlich machte. Wahrscheinlich war beides zutreffend.
Ihm war klar, dass es nie tatsächlich der Frieden war, den seine Auftraggeber als Zielsetzung hatten. Dieser Illusion hatte er sich nie hingegeben, da half auch keine Rechtfertigung mit großen Worten wie Gerechtigkeit, Sicherung der Demokratie oder Menschenrechte, wie das seine Auftraggeber gerne dargestellt hatten. Es waren Interessen des Stärkeren, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln umgesetzt wurden. So einfach war das. Natürlich war er nicht immer stolz auf das, was er getan hatte. Aber so war das in seiner Branche, und da half am besten das eine oder andere Glas, um damit zurechtzukommen.
Wolf Solutions sollte eigentlich Ferdinand Wolfs Rückzug aus der Branche werden. Er hatte sich vorgestellt, nur noch Aufträge anzunehmen, die ihn wieder besser schlafen ließen. Keine Regierungsaufträge, kein Militär. Und jetzt der Anruf von Ralf Sommer. Sommer war zwar keine Regierung aber immerhin Parteivorsitzender der zweitgrößten Partei des Landes und laut aktuellen Umfragewerten hatte er gute Chancen, bei der nächsten Wahl seine Partei zur stärksten politischen Kraft des Landes zu machen. Er war nur kurz angebunden am Telefon und wollte sich nicht dazu äußern, ob sein Anliegen beruflicher oder privater Natur war. Aber was war bei einem Politiker schon privat. Wolf dachte kurz darüber nach, dass Politik wahrscheinlich die noch schwierigere Branche war als seine. Er konnte sich wenigstens diskret im Abseits bewegen.
Er hatte nicht mehr viel Zeit bis zum vereinbarten Treffen und hatte eine leise Vorahnung, dass ihm das, was ihm Sommer erzählen würde, nicht gefallen würde.
Winter war nun sehr zufrieden damit, dass er seine Abfindung in Gold verlangte. So verstand er die bevorstehende Transaktion, es war natürlich keine Erpressung. Das Geforderte stand im zu. Er hatte es sich verdient. Im Gegenteil, er hatte sich alles viel zu lange gefallen lassen und jetzt war endlich Schluss damit, denn bald war Zahltag. Er würde die vier Koffer mit jeweils 1000 Goldmünzen auf vier verschiedene Lagerstellen verteilen. Er hatte bei zwei verschiedenen Sicherheitsunternehmen Tresorfächer gemietet, die groß genug waren, um einen gesamten Koffer unterzubringen. Bei seiner Bank hatte er ebenfalls ein Tresorfach gemietet. Der Bankmitarbeiter hatte ihm versichert, dass nur er Zugang zum Tresorfach habe und die Bank auch gar kein Interesse daran habe, zu erfahren, was ihre Kunden in deren Tresorfächern aufbewahrten. Er bemerkte zudem, dass der Bank Diskretion sehr wichtig wäre und verwies darauf, dass sie dem Bankgeheimnis verpflichtet seien. Winter hatte das Gefühl, dass der Bankmitarbeiter tatsächlich davon überzeugt war. Was wusste der schon. Für den dürfte die Welt offensichtlich noch in Ordnung sein. Für den vierten Koffer musste er noch eine Lösung finden, aber er hatte ja noch zwei Tage Zeit.
Beringer war es nicht entgangen, dass sie tatsächlich nur drei Jahre später diesen lächerlichen Schönschwätzer Sommer geheiratet hatte. Sie hatte ihr Studium gerade erst abgeschlossen und Familienplanung war in ihrer Prioritätenliste ganz und gar nicht an oberster. Aber Sommer, bereits am Beginn seiner politischen Karriere, wollte auf keinen Fall seine Vita mit einem unehelichen Kind belasten. Für ihn war eine Heirat mit Isabella ideal. Sie konnte er überall vorzeigen, sie war nicht nur unglaublich schön, sie war intelligent, eloquent und belesen. Sie hatte eine eigene Meinung, eine Meinung, die auch für ihn politisch vertretbar war, das war wichtig. Sie war die perfekte Begleitung für seinen Weg. Denn seinen Weg wollte er gehen. Isabella war perfekt für ihn. Und nun würde sie nicht nur seine Frau werden, sondern auch die Mutter seines Kindes.
Als Beringer fünfzehn Jahre später von seinem Director of Sales darüber informiert wurde, dass die Steel Security Corporation den Auftrag erhielt, im Haus der Familie Sommer eine Alarmanlage zu installieren, kam ihm eine Idee. Eine Idee, die allein seine persönliche Neugierde befriedigen sollte. Eine Idee, so stellte sich viel später heraus, ihm zu Reichtum und Einfluss verhalf. Anfangs schämte er sich zwar dafür, aber dann, als ihm klar wurde, welche Möglichkeiten sich ihm dadurch auftaten, war Scham völlig fehl am Platz.
Seinen gekränkten Stolz hatte Beringer schon lange überwunden, das wollte er sich selbst zumindest glauben machen, aber diese Gelegenheit, wieder mehr über sie zu erfahren, in ihre Nähe zu kommen, und das völlig unbemerkt, wollte er sich nicht entgehen lassen. Es interessierte ihn, warum sie tatsächlich bei ihm geblieben ist.
Eine neue Schallwandlertechnologie aus China brachte ihn auf die Idee. Es handelte sich hierbei um Schallwandler, die den Luftschall als Schallwechseldruckschwingungen nicht mehr wie bei herkömmlichen Mikrofonen in entsprechende elektrische Spannungsänderungen in ein Mikrofonsignal umwandelten. Die neue Technologie hatte eine wesentliche Erneuerung gegenüber der seit den 50iger Jahren gängigen Konstruktion. Das Prinzip hatte sich im Grunde in den letzten 70 Jahren nicht verändert. In jedem Mikrofon folgt eine dünne, elastisch gelagerte Membran den Druckschwankungen des Schalls. Sie bildet durch ihre Bewegung die zeitliche Verteilung des Wechseldrucks nach. Ein Wandler, der mechanisch oder elektrisch mit der Membran gekoppelt ist, generiert daraus eine der Membranbewegung entsprechende Tonfrequenz-Wechselspannung oder eine entsprechende pulsierende Gleichspannung. Diese Spannung kann von Detektoren geortet werden. Solche Detektoren wiederum wurden von Sicherheitsfirmen wie der Steel Security Corporation, aber auch von staatlichen Geheimdiensten und Sicherheitskräften verwendet, wenn es darum ging, Konferenzräume abhörsicher zu machen. Vor Meetings in Konzernzentralen oder vor Staatsbesuchen, bei denen besonderen Wert auf Diskretion gelegt wurde, war ein Check der entsprechenden Räumlichkeiten mit Detektoren Standardprogramm.
Beim neuen ShuBro-Mikrofon, Model 55QFS, wurden die Schallwechseldruckschwingungen in digitale elektromagnetische Wellen umgewandelt und erzeugten keine elektrische Spannungsänderungen mehr, wie herkömmliche Mikrofonsignale. Die digitalen elektromagnetischen Wellen konnten verschlüsselt per Funk über Kilometer übertragen werden, ohne dass sie von Detektoren geortet werden konnten.
Die Idee von Beringer war, die neuen ShuBro-Mikrofone, welche die Größe von Mikrochips hatten, in alle Öffnungssensoren der Alarmanlage einzubauen, bevor sie an jedem Fenster und jeder Tür im Haus der Sommers installiert wurden. So könnte Beringer jeden einzelnen Raum jederzeit unbemerkt abhören.
Durch die rasante politische Karriere Sommers wurde Beringer über die Medien permanent auch über Isabella am Laufenden gehalten. Ob er wollte oder nicht. Der Shootingstar der Politbühne und seine reizende Frau wurden nicht nur von der Boulevardpresse als das Traumpaar der Nation gepriesen. Dass er in der Politik ankam, konnte er noch verstehen. Politik war ein oberflächliches Geschäft, viel reden, nichts sagen, kein Rückgrat, das passte ja wunderbar zusammen. Aber was sie bei ihm wollte, war ihm immer ein Rätsel geblieben. Die Idee mit den ShuBro-Mikrofonen war ihm anfangs eher als Jux eingefallen, mehr in der Art eines Schulbubenstreichs. Er wollte einfach dahinter kommen, was es war, warum sie bei ihm blieb. War es tatsächlich nur das Kind? War es seine Beliebtheit, seine Ausstrahlung? Glaubte sie ihm? Liebte sie ihn? Er wollte es wissen.
Wolf kam von seinem Treffen mit Sommer nach Hause und konnte schon im Flur lautstarkes Werken in seiner Küche vernehmen. Offenbar hatte sie alles vorbereitet, gewartet, bis sie das Garagentor hörte und gerade eben begonnen die Zutaten in die Pfanne zu geben, denn es zischte regelrecht und als er eintrat, war Julia voll konzentriert zugange. Sie hatte grünen Spargel und Frühlingszwiebel blanchiert und briet das Gemüse nun in der Pfanne scharf an. Nach wenigen Minuten kippte sie den Inhalt in eine Schüssel und gab die vorbereiteten Jakobsmuscheln in die Pfanne und würzte kräftig mit verschiedenen Kräutern. „Ist gleich fertig“, rief sie, ohne ihn anzusehen. Er trat neben sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er wollte sie nicht stören. Sie trug ein enges T-Shirt, einen sehr kurzen Rock, schwarze Strümpfe und Doc Martens. An ihr sah das Outfit scharf und keineswegs billig aus. Sie war groß, schlank und hatte eine sehr sportliche Figur. Er schüttelte nur den Kopf und fragte sich, in welcher Kleidung sie wohl nicht attraktiv aussehen würde. Ihm fiel keine ein.
Der Tisch war liebevoll gedeckt. Silberbesteck, Stoffservietten, Wein- und Wassergläser und eine einzelne rote Rose in einer schmalen, sehr dezenten Vase. Er nahm eine Flasche Sancerre aus dem Weinkühlschrank und während er ihnen einschenkte, servierte sie die beiden Teller. Sie setzten sich gemeinsam und als sie ihr Glas hob, sah sie ihn strahlend mit ihren großen dunklen Augen an. „Na mein böser Wolf, hast du denen da draußen gezeigt, wer der Stärkste ist?“ Er fletschte die Zähne und knurrte. Sie prusteten beide los und hätten dabei fast ihren Wein verschüttet. Sie hatte die Gabe, ihn zum Lachen zu bringen, egal, wie mies sein Tag war, oder wie mies die Leute waren, mit denen er Geschäfte machte. Sie lachte aus tiefstem Herzen, und dennoch wussten sie beide, dass es nur eine Ablenkung war, von dem, was später noch kommen würde. Trotzdem liebte er ihr Lachen. Sie war nicht nur hübsch, sondern auch sehr intelligent und für ihre neunzehn Jahre unglaublich weise. Während des Essens unterhielten sie sich über den neuen Joker im Kino mit Joaquin Phoenix und er musste ihr versprechen, ihn noch diesen Monat mit ihr anzusehen. Sie studierte Kunstgeschichte und berichtete über das gerade beendete Semester an der Uni, über ihre Freundin Hanna, nur nicht über ihn. Das Essen war vorzüglich, wovon er immer wieder zwischendurch schwärmte, während sie wie aufgedreht erzählte.
Als sie alles in der Küche versorgt hatten, ging er zum Kamin, schob die Glasscheibe hoch und legte zwei Scheit Buchenholz nach. Es war zwar mitten im Sommer, aber abends wurde es in dem geräumigen Loft an kühleren Tagen doch manchmal etwas frischer. Er setzte sich auf die Couch, sie schenkte ihnen nochmals Wein nach, stellte die Gläser auf dem Tisch ab und setzte sich im Schneidersitz direkt neben ihn. Wolf wusste, sie würden heute nicht viel Schlaf bekommen. Dann schmiegte sie ihren Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Tränen rannen an ihren Wangen herab. Sie weinte lautlos. Jetzt war sie so weit.
Konnte es sein, dass Wolf in diesem Augenblick einen Anflug von Glück verspürte?
Julia war die Tochter von Wolfs Exfrau. Ihre Ehe hielt nur vier Jahre. Er war damals mehr im Flugzeug als zu Hause. Seine Einsätze waren über den ganzen Globus verstreut, und er durfte ihr natürlich nie von seinen Aufträgen berichten. Das war ihr zwar schon vor der Ehe klar, und sie glaubte damit zu Recht zu kommen. Aber es war eben nicht so. Auch er kam nicht damit zurecht und er wünschte, er hätte sich von seinem Beruf getrennt und nicht von ihr. Die Trennung von der damals erst zwölf Jahre alten Julia fiel ihm fast schwerer als die Trennung von ihrer Mutter. Obwohl sie nicht seine eigene Tochter war, und er nur vier Jahre bei den beiden gewohnt hatte, war sie ihm so ans Herz gewachsen wie kein anderer Mensch. Er konnte sich nicht erklären, warum sie eine solch enge Bindung aufgebaut hatten. Zumal er in diesen vier Jahren ohnehin dauernd unterwegs war.
Nach der Scheidung hielten sie den Kontakt zwar aufrecht, aber er war eben sehr selten hier. Er wusste, Julia kam oft nur dann zu ihm, wenn es ihr schlecht ging und Kummer hatte, oder einfach nur Streit mit ihrer Mutter hatte. Als pubertierende Sechzehnjährige vertraute sie ihm einfach alles an, und er konnte sich absolut nicht erklären warum. Vor allem aber war er mit dieser Art von Problemen vollkommen überfordert, auch wenn es sein Beruf war, Probleme zu lösen. Probleme der nationalen Sicherheit, Verhandlungen mit Rebellen oder mit Erpressern von Konzernen, das war sein Geschäft. Damit kannte er sich aus. Er wusste, wie man Aufstände gegen Regime organisierte, die seinen Auftraggebern nicht genehm waren. Er hatte von Piraten besetzte Öltanker ausgelöst. Er wurde gerufen, wenn es heikel und gefährlich war. Und nicht selten musste er unzählige Gesetze übertreten, um zu erreichen, wofür er gesandt wurde. Meist waren seine Missionen diplomatischer Natur und er schreckte auch nicht davor zurück, das Kommando für Sondereinheiten zu übernehmen, um seine Aufgaben brutal zu erledigen, aber die Launen eines pubertierenden Teenagers waren definitiv nicht sein Metier. Trotzdem kam sie zu ihm. Und noch Jahre später tat sie das. Auch heute war sie wieder bei ihm. Die Tatsache, dass Julia litt, zerriss ihm das Herz. Jede Träne war schlimmer als jeder Faustschlag, den er in seinem Leben einstecken musste. Jedes Aufschluchzen war wie eine Schusswunde. Dennoch war er glücklich, dass sie damit zu ihm kam.
Endlich fing sie an zu erzählen. Sie hatte mit Moritz Schluss gemacht. Die beiden hatten sich vor gut zwei Jahren auf der Uni kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich. Wolf mochte Moritz, hatte aber geahnt, dass das früher oder später passieren würde. Er wurde ein paar Mal von ihnen in Julias Studentenbude, die sie mit ihrer Freundin Hanna teilte, bekocht. Es waren immer lange, sehr amüsante Abende. Moritz war sehr intelligent und hatte einen guten Humor. Er tat ihm leid. Und das war auch Julias Problem. Sie erzählte, wie sie versucht hatte es ihm beizubringen und wie schlecht sie sich jetzt fühlte. Wie Wolf erwartet hatte, redeten sie die halbe Nacht. Vielmehr, sie redete die halbe Nacht. Er wunderte sich, warum sie mit diesen Dingen zu ihm kam und das nicht mit ihrer Freundin Hanna besprach. Genoss aber dieses Vertrauen und diese Nähe von Julia. Es war, als ob an solchen intensiven Abenden wie heute, die vielen Tage, Wochen und manchmal Monate, die sie sich nicht sahen, die Zeit in komprimierter Form nachgeholt wurde. Eine Tilgung der schuldig gebliebenen Zeit des fortgegangenen Vaters. Julia konnte das offenbar emotional von ihm abrufen, wenn sie es brauchte. Vorausgesetzt, er war nicht wieder irgendwo im Einsatz.
Sein Beruf war nicht nur für ihn gefährlich. Er brachte jeden, der ihm nahestand, in Gefahr. Damit versuchte er sich die Trennung von Julias Mutter vor sieben Jahren vor sich selbst zu rechtfertigen. Solange er ungebunden war, war er weniger angreifbar, weniger verletzlich. Die Tatsache, dass sie die Vater-Tochter-Beziehung bis heute so intensiv pflegten, brachte Julia weiterhin in Gefahr. Daher nahm Wolf keine Regierungs- oder Militäraufträge mehr an. In dem Geschäft, das er betrieb, legte man sich zu oft mit den falschen Leuten an, und man musste verdammt auf der Hut sein, dass man nicht unter die Räder der Mächtigen kam.
Trotz der langen Nacht ging Ferdinand Wolf am nächsten Morgen um sieben Uhr joggen. Er lief vom Bootshaus am Sieber Areal vorbei, die Seepromenade entlang und dann die zirka zwei Kilometer bis zum Seepark. Dort drehte er ein paar Runden, machte Liegestütze und rannte wieder zurück. Er dachte über sein gestriges Treffen mit Sommer nach.
Ralf Sommer hatte Wolf ein Treffen in einer Penthouse Suite im Park Hyatt vorgeschlagen. Beide konnten mit dem Wagen in die Tiefgarage fahren und mit dem Lift direkt in die Suite gelangen, ohne dass sie gemeinsam gesehen wurden. In der Tiefgarage bemerkte Wolf zwei Bodyguards in einem dunklen Audi A8, der rückwärts eingeparkt schräg gegenüber der Ausgangstür zu den beiden Aufzügen stand. Selbst von außen sah man den beiden ihre sportliche, muskulöse Statur an.
Auch am Ende des Flurs saß einer im dunklen Anzug in einer Sitzecke und nickt dezent als er Wolf aus dem Aufzug kommen sah. Vor der Türe zur Suite 1008 wurde er von einem weiteren Man in Black durch Nicken begrüßt. „Herr Wolf, ich denke, Sie wissen, was jetzt kommt und ich danke für Ihr Verständnis.“ Er hatte ihn tatsächlich nach Waffen durchsucht. Sommer musste bedroht werden, er hatte offenbar Angst.
Ralf Sommer begrüßte Wolf und kam gleich zur Sache. „Herr Wolf, Sie wurden mir von Alfred Wagner empfohlen. Er meinte, ich könne offen mit Ihnen reden und auf Ihre Verschwiegenheit über dieses Treffen vertrauen.“ Darauf Wolf: „Diskretion ist mein Werkzeug, sie ist für mich noch wichtiger als für Sie. Abgesehen davon, falls ich eine Möglichkeit sehe, dazu beitragen zu können, für Ihre Situation eine Lösung zu finden, werden wir einen Vertrag unterzeichnen, der eine Geheimhaltungspflicht für beide Seiten beinhaltet. Herr Wagner wurde zum Teil von dieser Pflicht befreit sonst hätte er mich Ihnen nicht empfehlen können. Nun, wo drückt der Schuh, Herr Sommer?“
„Wie aus den Medien allgemein bekannt, werde ich meine Partei in den Wahlkampf führen und als Spitzenkandidat antreten. Mit der Aussicht auf großzügige finanzielle Unterstützung der Partei in diesem Wahlkampf, wurde mir nahegelegt, mich für eine Gesetzesänderung einzusetzen. Nachdem ich mein Engagement diesbezüglich ausgeschlossen habe, wurde die Gangart verschärft und meine Familie bedroht“, erklärte Sommer. „Um welches Gesetz handelt es sich?“, wollte Wolf wissen.
„Das Organtransplantationsgesetz. Es regelt die Spende, Entnahme, Vermittlung und Übertragung von Organen, die nach dem Tode oder zu Lebzeiten gespendet werden. Die Voraussetzungen für die Entnahme von Organen bei Verstorbenen und Lebenden sind gesetzlich genau festgelegt. Demnach ist der zu Lebzeiten erklärte Wille für oder gegen eine Organspende maßgebend und strikt zu beachten. Mit der so genannten Entscheidungslösung, d.h. der Möglichkeit eines jeden Bürgers zu Lebzeiten freiwillig eine Entscheidung für oder gegen eine Organspende zu treffen, räumt das Organtransplantationsgesetz dem Selbstbestimmungsrecht jedem Menschen seinem über den Tod hinaus fortwirkenden Persönlichkeitsrecht höchste Priorität ein. Der Arzt muss den festgelegten Willen des Verstorbenen beachten. Hat der Verstorbene auf seinem Organspendeausweis entschieden, dass er nicht spenden möchte, muss der Arzt diesen Willen so akzeptieren. Hat sich der Verstorbene hingegen für eine Spende entschieden, wird geprüft, ob seine Organe für eine Spende in Frage kommen. Ist das der Fall und wurde der endgültige, nicht behebbare Ausfall des Gehirns diagnostiziert, werden Organe entnommen. “ Sommer seufzte, griff nach dem Wasserglas und nahm einen Schluck. „Es ist kein Geheimnis, dass ein sehr dringliches Interesse besteht, die Zahl der Organspenden zu erhöhen.“
Und Wolf: „Was ist dagegen einzuwenden?“
Sommer fuhr fort: „Es gibt schon seit längerem Bestrebungen, die Organspende wie in manch anderen Ländern zu regeln – nämlich so, dass Organe entnommen werden, wenn man nicht explizit widersprochen hat. Die erwähnte, angestrebte Gesetzesänderung strebt hingegen einen weit extremeren Einschnitt in das existierende Persönlichkeitsrecht an. Sie soll es komplett aushebeln. Unterm Strich würde es bedeuten, dass jeder Mensch nach dem Tod Organspender wäre, ohne jeglichem Selbstbestimmungsrecht.“ Wolf hakte nach: „Herr Sommer, Sie sprachen von einer Drohung gegen Ihre Familie. Wie sieht die Drohung aus?“ Darauf Sommer: „Unser Sohn Felix“, Sommer griff in die Innentasche seines Jacketts und reichte Wolf ein Foto. Es zeigte einen blonden Jungen im Teenageralter auf einem Siegerpodest. Er trug einen Trainingsanzug und hielt stolz eine goldene Medaille hoch. Wolf schätzte ihn auf ungefähr zehn Jahre. In das Foto war offensichtlich per Photoshop eine überdimensionale Spritze eingesetzt worden, die direkt über ihm schräg auf ihn zeigte. Wolf fragte: „Ist es denn realistisch, vorausgesetzt Ihre Partei gewinnt die Wahl, dass Sie so eine Gesetzesänderung überhaupt umsetzen könnten.“ Sommer: „Nun das wäre sicherlich ein sehr langer Weg bis dorthin. Jedoch die erwähnte Änderung, dass Organe entnommen werden könnten, wenn man nicht explizit widersprochen hat, wäre dann als Zwischenetappe zu sehen. Das ist Politik, es werden permanent Kompromisse verhandelt. Man verlangt die ganze Hand, und nimmt den kleinen Finger. Wohlbemerkt, als Zwischenetappe.“ Sommer nahm das Foto wieder entgegen, hielt es mit beiden Händen vor sich, betrachtete es konzentriert und meinte: „Ich kann natürlich nicht beweisen, dass es hier einen Zusammenhang gibt, aber es liegt auf der Hand.“ Sommer wollte noch nicht erklären, was es mit der Spritze auf sich hatte. Auch ohne diese Information war die Drohung eindeutig. Noch war nicht entschieden, ob Wolf in der Sache tätig würde, und ob er überhaupt eine Hilfe wäre. Alfred meinte, er wäre der richtige Mann.
Wolf kam vom Joggen zurück ins Bootshaus. Er hörte die Dusche. Wolf hatte bei der Renovierung des Bootshauses und seiner Wohnung im ersten Obergeschoss zwei Gästezimmer mit Gästebad errichten lassen. Außer Julia hatte er allerdings nie Gäste.
Mit Sommer hatte er vereinbart, dass er Nachforschungen vornehmen würde, und sie sich in zwei Tagen nochmals treffen würden, um dann zu entscheiden, ob eine Zusammenarbeit zustande käme. In Gedanken sah er den stolz in die Kamera lachenden Felix und überlegte, ob er mit diesem Auftrag Julia wieder in Gefahr bringen würde.
Nachdem auch er geduscht hatte, machte er für Julia und sich Rühreier. Seine Spezialität war, zerlassene Butter in das mit einer Gabel aufgequirrlte rohe Ei unterzurühren, bevor er das Ei nur kurz in die heiße Pfanne gab. Ein wenig frischen Schnittlauch, Fleur du Sel, frisch gemahlenen Pfeffer, sonst nichts. Die Butter gab dem Gericht den sämigen intensiven Geschmack. Sie hatten nicht viel Zeit, Julia war spät dran, sie musste zur Vorlesung.
Jakob Beringer hatte vor zehn Jahren einige Stunden damit verbracht, die Aufnahmen abzuhören, die bei den Sommers durch die mit den ShuBro-Mikrofonen ausgestatten Öffnungssensoren deren neuer Alarmanlage aufgenommen wurden. Das Ergebnis war sehr ernüchternd. Er suchte sich Abendsequenzen aus Wohnzimmer, Küche und sogar Schlafzimmer und kam sich vor wie bei Big Brother. Diskussionen über den Babysitter von Felix, offenbar ihr Sohn, oder über den Nagelpilz unter Sommers großem linken Zehennagel waren wirklich nicht das, was sich Beringer erwartet hatte. Im Grunde wusste er selbst nicht einmal, was er sich erwartet hatte und musste sich bald eingestehen, dass das schlicht weg ein absoluter Reinfall war. Er wünschte sich, er hätte die ShuBro-Mikrofone bei interessanteren Leuten eingebaut und öffnete unwillkürlich die Kundenliste der Steel Security Corporation. Als er Name für Name durchging, kam er auf die Idee, die ihn schlussendlich reich machte.
Er überlegte sich, wie er es anstellen könnte, die ShuBro-Mikrofone in allen Alarmanlagen zu implementieren oder zumindest dort, wo es wahrscheinlich war, interessante Informationen zu erhalten. Er würde eine unheimliche Menge an Informationen sammeln, die er aber auch entsprechend lagern und abrufbar machen musste. Der Plan war nicht nur technisch und logistisch eine Herausforderung, er war höchst illegal. Keiner durfte die Abhörfunktion seiner Alarmanlagen entdecken.
In den nächsten Tagen ging er wieder und wieder alle Prozesse von der ersten Kontaktaufnahme seiner Kunden mit der Steel Security Corporation, des Beratungs- und Verkaufsgesprächs mit dem jeweiligen Sales Manager, der Konzepterstellung für das jeweilige Gebäude je nach Kundenbedürfnis, der Bestellung der notwendigen Komponenten bis hin zur Montage, Inbetriebsetzung und Wartung durch. Bei den Komponenten, welche bei den Sommers eingebaut wurden, hatte er in der Nacht vor dem vereinbarten Montagetermin die Shu-Bro Mikrofone selbst in die Öffnungssensoren und Bewegungssensoren eingesetzt. Sie waren nicht als Mikrofone zu erkennen und wurden von Beringer zwischen zwei Bauteile gesetzt. Nur nach einer kompletten Zerlegung in alle Einzelteile würden sie einem Techniker auffallen, wenngleich nicht als Mikrofone. Beringer musste also eine Möglichkeit finden, die Mikrofone in großer Menge zu bekommen und diese von seinen Mitarbeitern unbemerkt in die Komponenten einzusetzen. Und er wollte sie natürlich nicht Nacht für Nacht selbst einbauen.
Schließlich löste er das Problem so, dass er neue Abdeckungen für die Gehäuse aller Komponenten einer Alarmanlage von Steel Security Corporation produzieren ließ. Es waren kleine Gehäuse und kleine weiße Abdeckungen mit einem eingeprägten kleinen Firmenlogo der Steel Security Corporation. Direkt neben dem Logo konnte man ein Element einsetzen, an dem man von außen erkennen konnte, um welche Serie es sich bei den Komponenten handelte. Die Steel Security Corporation hatte zwei Serien von Alarmanlagen im Angebot: Alarmsystems Special 200 (firmenintern S200) und Alarmsystems Exclusive 500 (firmenintern E500). Bei der zukünftigen Montage würde der Montagemitarbeiter das Element bei den neuen Abdeckungen der Komponenten einsetzen, weiß beim S200 und hellgrau beim E500. So konnte man an der Außenseite der kleinen Kunststoffgehäuse der Öffnungssensoren, welche an Türen und Fenstern angebracht wurden, und an den Gehäusen der Bewegungssensoren und allen anderen Komponenten erkennen, ob es sich um die S200 oder die E500 Komponenten handelte. Das Einsetzen dieser Elemente war bei der Montage ein schneller Handgriff. Mit einem Klipp war das Element im Gehäuse.
Niemand wusste, dass das hellgraue Element das Vielfache des weißen Elements kostete und was der eigentliche Unterschied war außer der Farbe. Nur im hellgrauen Element wurde das ShuBro-Mikrofon Model 55QFS eingebaut. Von außen nicht erkennbar, nur ein kleines hellgraues Kunststoffteilchen. Über Induktion holte es sich die Energie der Batterie der jeweiligen Komponente der Alarmanlage. Beringer bezog die Elemente vom ShuBro-Mikrofon Hersteller in China über zwei Offshore Firmen in Panama und Zypern. Der chinesische Hersteller wusste nicht, wo die Elemente mit den ShuBro-Mikrofonen eingebaut wurden. Es war ihm wohl auch völlig egal. Beringer wurde zunehmend ein guter Abnehmer.
Alarmanlagen mit der Serie Alarmsystems Special 200 wurden in der Regel in Wohnungen und normalen Einfamilienhäusern eingebaut, sie waren die preiswerte Standardausführung. Die wesentlich aufwendigeren und teureren Alarmanalgen der Serie Alarmsystems Exclusive 500 wurden in sehr exklusive Villen von Unternehmern und Top Managern, Top Politikern oder anderen einflussreichen und finanziell bessergestellten Personen eingebaut. Sie wurden auch in Konzernzentralen und Regierungsgebäuden und anderen sicherungswürdigen öffentlichen Gebäuden eingesetzt und Beringer konnte überall mithören. Die ShuBro-Mikrofone sendeten ihr Signal an die jeweilige Alarmanlagenzentrale des Kunden, diese war mit der Zentrale der Steel Security Corporation verbunden, um einen ausgelösten Alarm zu erfassen und entsprechend der vereinbarten Anweisung des Kunden im Alarmfall zu reagieren: Anruf beim Kunden, um Fehlalarme auszuschließen, ein Einsatzteam der Steel Security Corporation zu schicken oder die Polizei zu alarmieren, je nachdem, welches Leistungspackage vom Kunden gewählt wurde. Die neue Alarmanlagenzentrale des Kunden, der eine Alarmanlage der Serie Alarmsystems Exclusive 500 gekauft hatte, sendete nun auch das empfangene Signal der ShuBro-Mikrofone an den neuen zusätzlich angeschafften, sehr leistungsstarken Server der Steel Security Corporation.
Beringer hatte eine Software installiert, die das Übertragene von unzähligen ShuBro-Mikrofonen nur dann speicherte, wenn bestimmte Signalworte fielen, oder wenn die Speicherung von Beringer selbst gezielt aktiviert wurde. Die Software konnte das Übertragene den einzelnen Kunden und den jeweiligen Zimmern der Kunden zuordnen. Bei Konzernzentralen oder in den Villen derer CEOs hatte er Signalworte wie Gewinnwarnung, Übernahme, neuer Blockbuster und so weiter festgelegt. Er konnte diese Signalworte abfragen und dann gezielt die Sequenz des Gesprochenen abhören. So kam er zu Insiderwissen, welches er an der Börse sehr gewinnbringend einzusetzen verstand.
Anfangs war sein Banker sehr skeptisch als Beringer per Telefon größere Beträge auf einzelne Aktien setzte und wollte vor der Platzierung der Order Beratungstermine vereinbaren. Aber Beringer gab präzise Aufträge, die ungewöhnlich oft, nach kurzer Zeit mit Gewinnen gesegnet waren. Später kaufte Beringer meist Optionen, so musste er viel weniger Kapital investieren und die Gewinne waren ein Vielfaches. Hebelprodukte zu kaufen, bei denen man wusste, wo sich der Kurs hin entwickelte, waren etwas Wunderbares - fand Beringer.
Hatte er das Signalwort Gewinnwarnung vernommen und hatte er nach dem Abhören des Gesprächs aus der entsprechenden Sequenz aus der Konzernzentrale die Gewissheit, dass das jeweilige Unternehmen tatsächlich in Kürze eine Gewinnwarnung verlautbaren ließ, kaufte Beringer Put-Optionen. Er verdiente dann am in kurzer Zeit fallenden Kurs der Aktie des Unternehmens, dessen Konzernzentrale eine Alarmanlage der Steel Security Corporation installiert hatte.
Beringer hatte bald ein System entwickelt, wie er zu für ihn sehr gewinnbringenden Informationen kam. Zum Beispiel hörte er sich gerne von Zeit zu Zeit Meetings der Baukommission der Stadt an. Dann kam es vor, dass die Steel Security Corporation Grundstücke kaufte, die sehr bald eine neue Widmung erhielten und deren Wert sich somit vervielfachte.
Er kam zu sehr delikaten Informationen über seine Klientel, die er aber selbst nie direkt damit konfrontierte. Es sollte nie ein direkter Zusammenhang zwischen der Alarmanlage der Serie Alarmsystems Exclusive 500 der Steel Security Corporation und einer delikaten oder geheimen Information erkennbar werden. Eine schlichte Erpressung kam für ihn keinesfalls in Frage. Es war jedoch äußerst beruhigend, Informationen der Reichen und Mächtigen im Köcher zu haben, obwohl er wusste, dass manche dieser Informationen auch Gefahr brachten.
Ferdinand Wolf hatte das Sieber Areal vor Jahren gekauft und erst später in drei Etappen wieder zum Leben erweckt. Zuerst nahm er das kleinste Gebäude in Angriff und ließ das Bootshaus renovieren, in das er selbst einzog. Später das größere Nachbargebäude, welches zum Businesspark ausgebaut wurde. Seine internationalen Aufträge machten ihn zu einem sehr vermögenden Mann. Wer in seiner Branche überlebte, hatte ein sehr gutes Auskommen. Nur wenige überlebten lange.
Das gesamte Sieber Areal zu kaufen, war eigentlich nie geplant. Wolf fand die Lage direkt am See und relativ nahe am Stadtzentrum ideal. Ursprünglich war er nur am Bootshaus interessiert, aber die Besitzer, eine untereinander verstrittene Erbengemeinschaft, wollte nur das gesamte Areal verkaufen und er musste einen Preis bieten, der einiges über dem üblichen Marktpreis lag, um die Liegenschaft zu bekommen. Die aktuelle Niedrigzinsphase machte eine Finanzierung leicht. Allerdings nur, wenn man der Bank ein plausibles Sanierungskonzept vorlegte, wurde ein Kredit gewährt. So entstand das Konzept mit Businesspark und Eigentumswohnungen.
Als Wolf sich dann von seinen internationalen Aufträgen diverser Regierungen und Militärs zurückzog, wollte er seine Schulden zur Gänze tilgen und verkaufte das dritte Gebäude indem er die dritte Etappe realisierte und einzelne Eigentumswohnungen entwickeln ließ, die dann einzeln verkauft wurden. Mit den Einnahmen aus dem Businesspark und seinem Ersparten konnte er sehr luxuriös leben. Aufträge müsste er keine mehr annehmen. Aber was sollte er sonst tun? Nur in den Tag hineinleben, das war nicht sein Ding.
Das Bootshaus war ein hochgesichertes Gebäude, der süd-westlich gelegene Hof war von einer Backsteinmauer umgeben und konnte nur von Wolf betreten werden. Er war auch nur vom Bootshaus einsehbar, da die westlichen Nachbarn weiter entfernt waren und dazwischen Bäume standen, im Süden war der See und im Osten die Zufahrt zum Sieber Areal und Parkplätze. Das Bootshaus und den Hof ließ er mit einem Videoüberwachungssystem und einer Alarmanlage höchster Sicherheitsansprüche ausstatten, mit einer Alarmanlage der Serie Alarmsystems Exclusive 500 der Steel Security Corporation.
Thomas Winter hatte einen Treffpunkt zur Übernahme der zwei Koffer mit je 1000 Maple Leaf Goldmünzen vereinbart. Der Übergabeort war wie das Sieber Areal auch direkt am See gelegen, jedoch auf der anderen Seite der Stadt. Es handelte sich um ein stillgelegtes Zollfreilager. Das Areal hatte mehrere Zufahrten, was ihm strategisch sinnvoll erschien, so waren mehrere Rückzugsmöglichkeiten gegeben, falls etwas Unvorhergesehenes geschehen würde. Dort würde sie niemand beobachten und die Übergabe konnte diskret erfolgen. Immerhin ging es heute um die ersten zwei Koffer, von denen jeder mehr als dreißig Kilo wog. So eine Transaktion konnte man nicht unbemerkt an einer Parkbank oder in einem Café durchführen. Er würde die Koffer dann in der nächsten Woche auf zwei der drei gemieteten Tresore verteilen und nach der nächsten Übergabe einen im dritten Tresor einstellen und einen einstweilen zu Hause aufbewahren. Möglicherweise würde er sich einen hochwertigen Heimtresor anschaffen. Er hatte sich bereits erkundigt und Prospekte von den drei führenden Anbietern lagen vor ihm auf dem Küchentisch. Er hatte sich Kaffee gekocht und ging seinen Plan der Übergabe in Gedanken nun schon zum x-ten Mal durch. Er musste Ruhe bewahren, bis jetzt hatte er keinen Fehler begangen und das sollte ihm auch zukünftig nicht passieren. Und morgen war es so weit, dann würde er zum ersten Mal zuschlagen.
Thomas Winter war seit 13 Jahren bei der Steel Security Corporation beschäftigt. Er war immer loyal gegenüber der Firma und Beringer. Dieser konnte sich immer auf ihn verlassen. Immerhin leitete er die Montageteams. Er hatte immer Hochachtung vor seinem Arbeitgeber und war stolz darauf, dass die Steel Security Corporation so eng mit der Polizei zusammenarbeitete. Er hatte immer angenommen, dass diese Kooperation und das dadurch erworbene Image der Firma zu der so rasanten Expansion verholfen hatte. Aber dann bekam er den Stick in die Hände. Beringer hatte ihn möglicherweise verwechselt, denn er lag im Sekretariat und Winter hatte ihn für ungenutzt gehalten. Er wollte darauf verschiedene Montagepläne speichern. Als er bemerkte, dass Audioaufnahmen darauf gespeichert waren, nahm er einen anderen, den er ebenfalls im Sekretariat holte. Er wollte ihn wieder zurückbringen, aber hatte dann darauf vergessen und ihn in seiner Schreibtischschublade liegen lassen. Erst Monate später, als er wieder einmal spät abends Überstunden machte, kam ihm der Stick wieder in die Finger. Er hörte sich ein paar Sequenzen an, und konnte nichts damit anfangen. Warf den Stick wieder aus und nahm sich vor, ihn am nächsten Tag ins Sekretariat zurückzubringen. Er hielt das Gehörte für Ausschnitte aus einem Seminar. Dann war die nächsten Tage wieder so viel los, und später dachte er sich, möglicherweise hatte Beringers Sekretärin den Stick bereits gesucht, da wollte er nicht erklären, dass er die ganze Zeit über bei ihm war. So landete der Stick wieder für längere Zeit in Winters Schublade. Letzten Januar hatte die Grippewelle auch die Mannschaft der Steel Security Corporation erwischt und Winter meldete sich freiwillig eine Nachtschicht in der Alarmzentrale zu übernehmen. Er dachte, er könnte nebenbei ein paar Montagepläne für die nächsten Tage erstellen und nahm einen Stick aus seinem Schreibtisch mit in das Büro der Alarmzentrale. Es war ein paar Stunden recht wenig los und so setzte er den Stick an diesem Rechner ein und erkannte wieder den „Seminar Stick“ von Frau Krämer, Beringers Sekretärin. Nachdem er nicht aufstehen und nochmals in sein Büro gehen wollte, um einen leeren Stick zu holen, hörte er verschiedene Sequenzen ab und erkannte, dass es sich hierbei um höchst brisantes Material handelte. Einige Sequenzen waren von Meetings des Pharmaunternehmens Qandiga Pharmaceutical. Hier war die Rede von der Einführung der Impfpflicht an allen Schulen des Landes. Die Person, die darüber berichtete, war sich sicher, dass dies demnächst umgesetzt werden würde. Er hätte es aus verlässlicher Quelle, bat aber alle Anwesenden um Stillschweigen außerhalb dieser vier Wände. Dann präsentierte er offenbar seine prognostizierten Umsatzsteigerungen. Auf anderen Audiosequenzen des Sticks fanden sich Gespräche des selben männlichen Redners mit einer weiblichen Person, die über eine Wahlkampagne dieses, Winter absolut unsympathischen, Politikers Ralf Sommer berichtete. Winter fragte sich allen Ernstes, ob deren gegensätzliche Namen mit seiner Antipathie dem andern gegenüber etwas zu tun hätte. Winter und Sommer. Dann musste er lachen. Was aber sollten diese Gespräche auf dem USB-Stick von Frau Krämer? Offenbar hatte sich Ralf Sommer von diesem Pharmamann kaufen lassen. Was hatte Frau Krämer damit zu tun, oder Beringer? Winter brauchte recht lange, um zu erkennen, dass Beringer die Gespräche offenbar illegal mitgeschnitten hatte. Konnte es sein, dass sein Arbeitgeber Jakob Beringer, geschäftsführender Gesellschafter der Steel Security Corporation seine Kunden bespitzelte und dann erpresste? Das war ja ein Ding. Das war eine regelrechte Bombe! Vor allem aber hatte Winter mit einem Schlag jeden Respekt vor seinem Arbeitgeber verloren. Sein Unternehmen, für das er sich gerade eben in dieser Nacht wieder den Arsch aufriss, war in illegale Machenschaften verstrickt. Er konnte es nicht glauben. Für Winter war in diesem Moment eine Welt in sich zusammengebrochen.
Ferdinand Wolf saß in seinem Büro am Computer und wollte möglichst viele Informationen über die Organtransplantationsthematik aus dem Internet erfahren. Befürworter und Kritiker wurden nicht müde, Mythen, Irrtümer und Tatsachen aufzuzeigen. Die Ablehnungsrate war in den meisten Ländern in Europa weit über 50%. Er fand eine Europakarte, in der in jedem Staat die Anzahl der Spender pro Million Einwohner eingetragen wurde. In Rumänien gab es demnach 6,6, in Deutschland 10,9, in der Schweiz 14,4, in Österreich 24,6 und so weiter, Spitzenreiter war Spanien mit 35,1 Spender pro Million Einwohner. Woran lag diese extreme Diskrepanz? Waren die Spanier tatsächlich so viel menschenfreundlicher? Stimmten diese Zahlen? Offensichtlich gab es einen Zusammenhang zu den gesetzlichen Bestimmungen. In Spanien wird dies aber heftig bestritten. Angeblich gäbe es keinen einzigen Fall auf der Welt, wo die Zahl der Spender allein durch eine Gesetzesänderung zugenommen habe. In Spanien ist zwar laut Gesetz theoretisch jeder Bürger Spender, sofern er zu Lebzeiten nicht explizit das Gegenteil ausgedrückt hat. In der Praxis werde jedoch immer die Familie des Verstorbenen gefragt und auch in Spanien lehnen zwischen 15 bis 20% der Angehörigen Explantationen ab. Somit würde eine Spende nicht automatisch vorgenommen. Man erklärte dort den Erfolg durch die gute Organisation der spanischen Spitäler. Interessant. Die Menschen zu sensibilisieren wäre sehr wichtig, reiche allein jedoch nicht. In den Spitälern brauche es auch gut ausgebildetes Fachpersonal, das Organtransplantationen koordinieren könne.
Das spanische Modell wurde 1989 eingeführt. Nach nur drei Jahren stand Spanien an der Weltspitze, wo es sich noch immer befindet. Das waren spektakuläre Zahlen, deshalb empfahl die WHO das spanische Modell zur Erhöhung der Organspenden.
Wolf fragte sich, wie es zu erklären sei, dass demzufolge die Koordination der Organtransplantationen in der Schweiz und in Deutschland nur ein Drittel des Erfolges zuwege brachten wie die Spanier. Offenbar war auch der Führungskader des Pharmaunternehmens Qandiga Pharmaceutical diesbezüglich eher skeptisch und zog es vor, seine Lobbyisten einzusetzen, um Einfluss auf die von Sommer erwähnten Gesetzesänderungen des Transplantationsgesetzes auszuüben. Aber würden sie dafür ein zehnjähriges Kind bedrohen? Die überdimensionale Spritze auf den jubelnden Felix gerichtet, nicht gerade subtil für eine Drohung eines Pharmakonzerns. Seltsame Vorgehensweise. Irgendetwas hatte Sommer verschwiegen. Wolf würde ihn damit konfrontieren und ihm auf den Zahn fühlen.
Es war klar, dass Organtransplantationen für die Pharmabranche ein unglaubliches Geschäft waren. Wolf überflog die weltweit steigende Zahl der Transplantationen trotz der Engpässe. Warum gab es so viele Kritiker und warum waren nicht mehr Menschen bereit Spender zu werden?
„Schnell und einfach den Organspendeausweis online ausfüllen und Leben retten. Organe spenden betrifft jeden Menschen. Informieren Sie sich jetzt.“ So oder so ähnlich waren die Slogans der Organisationen, die mit der europäischen Vermittlungsstelle Eurotransplant kooperierten. Diese führte Wartelisten, worauf zig Tausende Patientinnen und Patienten mit lebensbedrohlichen Krankheiten standen. Sie waren darauf angewiesen, dass jemand gefunden wurde, dessen Organ ihnen übertragen werden konnte. Derzeit konnten Niere, Herz, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm nach dem Tod gespendet werden. Nach dem Tod, was war dagegen einzuwenden?
Wolf hatte keinen Organspendeausweis und hatte sich darüber noch wenig Gedanken gemacht. Er war in seinem Beruf schon so vielen gefährlichen Situationen ausgesetzt, dass er mit der Gefahr zu leben gelernt hatte. Er hatte alles unternommen, um am Leben zu bleiben, alles was in seinem Einflussbereich lag. Wenn einmal seine Organe versagten, dann war es eben so weit. So seine Einstellung. Wie würde er denken, wenn es um Julia ging? Er nahm sich vor, sie bei ihrem nächsten Treffen nach ihrer Meinung zu fragen.
Wie hatte Sommer das Gesetz zitiert? Erst wenn der endgültige, nicht behebbare Ausfall des Gehirns diagnostiziert wurde, werden Organe entnommen. Für einen Laien bedeutet der Ausfall des Gehirns den Tod, war das denn so?
Wolf sah im Gesetz nach, das auf der Webseite der Gesundheitsbehörde ausschnittweise veröffentlicht wurde: „Der endgültige, nicht behebbare Ausfall des gesamten Gehirns, also des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms, umgangssprachlich "Hirntod", ist ein sicheres inneres Todeszeichen. In dieser Situation kann die Herz- und Kreislauffunktion des beziehungsweise der Verstorbenen nur noch durch Beatmung und Medikamente künstlich aufrechterhalten werden.“ Wolf suchte weiter und fand eine Publikation „Organwahn, Heilung durch Fremdorgane? Ein fataler Irrtum“. Der Autor wollte damit Fakten und Hintergründe, die der Öffentlichkeit verschwiegen werden, offenlegen. So zumindest sein Statement zu seinem Werk. Er beschrieb darin, dass der Begriff „Hirntod“ erst 1952 mit der Erfindung der Herz-Lungen-Maschine entstand. Bis dahin war ein Mensch tot, wenn sein Herz stillstand. Er nannte die unterschiedlichen Hirntodkriterien, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder neu festgelegt wurden. Offenbar aber nicht wie anzunehmen wäre, im Sinne des Spenders, um sicher zu gehen, dass nicht etwa zu früh dessen Organe am lebendigen Leibe entnommen würden, sondern vielmehr nach dem Motto: So tot wie gesetzlich nötig und so lebendig wie möglich. Zum Zeitpunkt, an dem der Hirntod diagnostiziert werden dürfe, lebten noch mindestens 95% des Menschen. Der Autor führte aus, mit welchen Methoden Voruntersuchungen durchgeführt wurden, um mögliche Reaktionen des Spenders, die auf Leben schlossen, hervorzurufen. Von Kratz- und Kneiftechniken über die Einführung von Sonden, Nadeln, Spaten usw. in alle Körperöffnungen, Eingießen von Eiswasser in die Gehörgänge, Verursachen von starken Schmerzen zum Erzeugen von Reflexen. Wolf erinnerte diese Beschreibung an Foltermethoden, über die er bei seinen militärischen Einsätzen erfahren hatte, zum Glück nie an seinem eigenen Körper. Hier aber ging es um die Beschreibung, wie offenbar die Schulmedizin die ethisch respektvolle Bewahrung der Würde in der Praxis handhabte. Laut aktueller Gesetzeslage galten angeblich insgesamt siebzehn mögliche Bewegungen beim Mann und vierzehn bei der Frau als mit dem Status einer Leiche vereinbar. Bewegungen wie Kontraktion der Beckenmuskulatur, Spreizen der Finger, Beugebewegungen der unteren Extremitäten, Wälzbewegungen des Oberkörpers, Beugung im Ellenbogengelenk, Hochziehen der Schultern und so weiter. Außerdem wird demnach zur Kenntnis genommen, dass Hirntote selbständig ihre Körpertemperatur regulierten, Infektionen und Verletzungen bekämpften, wie zum Beispiel durch Fieber. Was Wolf aber wirklich überraschte, dass offenbar Hirntote mit Blutdruckanstieg auf Schmerzreize reagierten. Das bedeutete, dass sie bei der Entnahme Schmerz empfinden konnten, denn Hirntote wurden nicht anästhesiert. Sie konnten diesem Schmerz jedoch nichts entgegnen, weder physisch noch rechtlich.
Es war an der Zeit sich einer anderen Informationsquelle zu bedienen, die Wolf seit einigen Jahren zur Verfügung stand. Er brauchte mehr Informationen über Qandiga Pharmaceutical aber auch über Ralf Sommer.