Читать книгу Der Mann ohne Eigenschaften - Robert Musil - Страница 6
ОглавлениеUlrich machte einigemal den Versuch, diese geistige Thronrede zu stören; aber augenblicklich wölkte Sakristeigeruch des hohen Bürokratismus über die Unterbrechung hin, ihre Taktlosigkeit zart verhüllend. Ulrich staunte. Er erhob sich, sein erster Besuch war offenbar zu Ende.
In diesen Augenblicken des Rückzugs behandelte ihn Diotima mit jener sanften, vorsichtshalber und ostensibel ein wenig übertriebenen Zuvorkommenheit, die sie ihrem Mann abgelernt hatte; der machte von ihr im Verkehr mit jungen Adeligen Gebrauch, die seine Untergebenen waren, aber eines Tags seine Minister sein konnten. Es lag etwas von der überheblichen Unsicherheit des Geistes gegenüber roherer Lebenskraft in der Art, wie sie ihn zum Wiederkommen aufforderte. Als er ihre milde, gewichtlose Hand wieder in der seinen hielt, sahen sie einander in die Augen. Ulrich hatte den bestimmten Eindruck, daß sie auserwählt seien, einander große Unannehmlichkeiten durch Liebe zu bereiten.
»Wahrhaftig,« dachte er »eine Hydra von Schönheit!« Er hatte die Absicht, die große vaterländische Aktion vergeblich auf sich warten zu lassen, aber sie schien in Diotima Gestalt angenommen zu haben und war bereit, ihn zu verschlingen. Es war ein halb spaßiger Eindruck; trotz seiner Jähre und Erfahrung kam er sich wie ein schädlicher kleiner Wurm vor, den ein großes Huhn aufmerksam betrachtet. »Um Gotteswillen,« dachte Ulrich »nur nicht von dieser Seelenriesin sich zu kleinen Schandtaten herausfordern lassen!« Er hatte von seinem Verhältnis zu Bonadea genug und machte sich äußerste Zurückhaltung zur Pflicht.
Beim Verlassen der Wohnung tröstete ihn ein Eindruck, den er schon beim Kommen angenehm empfunden hatte. Ein kleines Stubenmädchen mit träumerischen Augen geleitete ihn. Im Dunkel des Vorzimmers waren ihre Augen wie ein schwarzer Schmetterling gewesen, als sie zum erstenmal an ihm emporflatterten; jetzt beim Fortgehn sanken sie durch das Dunkel wie schwarze Schneeflocken. Etwas Arabisch- oder Algerisch-Jüdisches, eine Vorstellung, die er nicht deutlich in sich aufgenommen hatte, war so unbeachtet lieblich um diese Kleine, daß Ulrich auch jetzt vergaß, sich das Mädchen genau anzusehn; erst als er sich auf der Straße befand, fühlte er, daß nach Diotimas Gegenwart der Anblick dieser kleinen Person etwas ungemein Lebendiges und Erfrischendes gewesen war.
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Erste Einmischung eines großen Mannes
Diotima und ihr Stubenmädchen blieben nach Ulrichs Fortgang in einer leisen Angeregtheit zurück. Aber während es der kleinen schwarzen Eidechse jedesmal, wenn sie einen vornehmen Besucher hinausbegleitete, zumute war, als ob sie blitzschnell an einer großen schimmernden Mauer hinauf huschen dürfte, behandelte Diotima die Erinnerung an Ulrich mit der Gewissenhaftigkeit einer Frau, die es nicht ungern sieht, unrecht berührt zu werden, weil sie in sich die Macht sanfter Zurechtweisung fühlt. Ulrich wußte nicht, daß am gleichen Tag ein anderer Mann in ihr Leben getreten war, der sich unter ihr wie ein riesiger Aussichtsberg emporhob.
Dr. Paul Arnheim hatte ihr kurz nach seinem Eintreffen seine Aufwartung gemacht.
Er war unermeßlich reich. Sein Vater war der mächtigste Beherrscher des »eisernen Deutschland«, und sogar Sektionschef Tuzzi hatte sich zu diesem Wortspiel herbeigelassen; Tuzzis Grundsatz war, daß man im Ausdruck sparsam sein müsse und Wortspiele, wenn man ihrer auch im geistvollen Gespräch nicht ganz entbehren könne, niemals zu gut sein dürfen, weil das bürgerlich sei. Er selbst hatte seiner Gattin empfohlen, den Besuch mit Auszeichnung zu behandeln; denn wenn diese Art Leute im Deutschen Reich auch noch nicht obenaufwaren und an Einfluß bei Hof nicht mit den Krupps verglichen werden konnten, so konnte dies seiner Ansicht nach immerhin morgen der Fall sein, und er fügte den Inhalt eines intimen Gerüchts hinzu, wonach dieser Sohn – der übrigens schon weit über Vierzig war – durchaus nicht bloß nach der Stellung seines Vaters strebe, sondern, auf den Zug der Zeit und seine internationalen Beziehungen gestützt, sich auf eine Reichministerschaft vorbereite. Nach der Meinung des Sektionschefs Tuzzi war dies freilich ganz und gar ausgeschlossen, außer es ginge ein Weltuntergang voran.
Er ahnte nicht, welchen Sturm er damit in der Phantasie seiner Gattin erregte. Es gehörte selbstverständlich zu den Überzeugungen ihres Kreises, »Händler« nicht allzu hoch zu schätzen, aber wie alle Menschen bürgerlicher Gesinnung, bewunderte sie Reichtum in einer Tiefe des Herzens, die von Überzeugungen ganz unabhängig ist, und die persönliche Begegnung mit einem so über die Maßen reichen Mann wirkte auf sie wie goldene Engelsfittiche, die sich zu ihr niedergelassen hatten. Ermelinda Tuzzi war seit dem Aufstieg ihres Gatten den Verkehr mit Ruhm und Reichtum wohl nicht ungewohnt; aber Ruhm, durch geistige Leistungen erworben, zerfließt merkwürdig rasch, sobald man mit seinen Trägern verkehrt, und feudaler Reichtum hat entweder die Form törichter Schulden junger Attachés oder er ist an einen überlieferten Lebensstil gebunden, ohne je das Überschäumende frei aufgehäufter Geldberge zu gewinnen und den sprühend ausgeschütteten Schauder des Goldes, mit dem große Banken oder Weltindustrien ihre Geschäfte besorgen. Das einzige, was Diotima vom Bankwesen wußte, war, daß selbst mittlere Angestellte auf Dienstreisen in der ersten Klasse fuhren, während sie immer zweiter reisen mußte, wenn sie sich nicht in Gesellschaft ihres Mannes befand, und sie hatte sich danach eine Vorstellung von dem Luxus gemacht, der die obersten Despoten eines solchen orientalischen Betriebs umgeben müsse.
Ihre kleine Zofe Rachel – es versteht sich von selbst, daß Diotima, wenn sie sie rief, diesen Namen französisch aussprach – hatte traumhafte Dinge gehört. Das mindeste, was sie zu erzählen wußte, war, daß der Nabob mit seinem eigenen Zuge angekommen sei, ein ganzes Hotel gemietet habe und einen kleinen Negersklaven mit sich führe. Die Wahrheit war wesentlich bescheidener; schon deshalb, weil Paul Arnheim sich niemals auffällig benahm. Nur der Mohrenknabe war Wirklichkeit. Ihn hatte Arnheim vor Jahren auf einer Reise im äußersten Süden Italiens aus einer Truppe von Tänzern herausgegriffen und zu sich genommen, in einer Mischung des Wunsches, sich selbst zu schmücken, mit der Anwandlung, eine Kreatur aus der Tiefe zu heben und, indem er ihr das Leben des Geistes erschloß, an ihr Gottes Werk zu tun. Er hatte aber später bald die Lust daran verloren und verwendete den Kleinen, der jetzt sechzehn Jahre alt war, nur noch als Bedienten, während er ihm vor dem vierzehnten Jahr Stendhal und Dumas zu lesen gegeben hatte. Aber obgleich die Gerüchte, die ihre Zofe nach Hause gebracht hatte, so kindlich in ihrer Übertreibung waren, daß Diotima lächeln mußte, ließ sie sich doch alles Wort für Wort wiederholen, denn sie fand es so unverdorben, wie das nur in dieser einzigen Großstadt vorkommen konnte, die »bis zur Unschuld kulturvoll« war. Und der Mohrenjunge ergriff merkwürdigerweise sogar ihre eigene Phantasie.
Sie war die älteste von den drei Töchtern eines Mittelschullehrers gewesen, der kein Vermögen besaß, so daß ihr Gatte für sie schon als gute Partie gegolten hatte, als er noch nichts als einen unbekannten bürgerlichen Vizekonsul darstellte. Sie hatte in ihrer Mädchenzeit nichts gehabt als ihren Stolz, und da dieser hinwieder nichts hatte, worauf er stolz sein konnte, war er eigentlich nur eine eingerollte Korrektheit mit ausgestreckten Taststacheln der Empfindsamkeit gewesen. Aber auch eine solche verbirgt manchmal Ehrgeiz und Träumerei und kann eine unberechenbare Kraft sein. Hatte Diotima anfangs die Aussicht auf ferne Verwicklungen in fernen Ländern gelockt, so kam bald die Enttäuschung; denn das bildete nach wenigen Jahren nur noch Freundinnen gegenüber, die sie um ihren Hauch von Exotik beneideten, einen diskret benützten Vorteil und vermochte nicht die Erkenntnis zurückzudämmen, daß in den Hauptdingen das Leben auf den Missionen das mit dem andren Gepäck von zu Hause mitgebrachte Leben bleibt. Diotimas Ehrgeiz war lange Zeit nahe daran gewesen, in der vornehmen Aussichtslosigkeit der fünften Rangklasse zu enden, ehe durch einen Zufall plötzlich der Aufstieg ihres Mannes damit begann, daß ein wohlwollender und »fortschrittlich« gesinnter Minister sich den Bürgerlichen in die Präsidialkanzlei der Zentralstelle holte. In dieser Stellung kamen nun viele Leute zu Tuzzi, die etwas von ihm wollten, und von diesem Augenblick an belebte sich auch in Diotima fast zu ihrem eigenen Erstaunen ein Schatz von Erinnerungen an »geistige Schönheit und Größe«, den sie sich angeblich im kulturvollen Elternhaus und in den Zentren der Welt, in Wahrheit aber wohl auf der höheren Töchterschule als vorzügliches Lernkind angeeignet hatte, und sie fing an, ihn vorsichtig zu verwerten. Der nüchterne, aber ungemein verläßliche Verstand ihres Mannes hatte die Aufmerksamkeit unwillkürlich auch auf sie gelenkt, und sie handelte nun vollkommen arglos wie ein feuchtes Schwämmchen, welches das wieder von sich gibt, was es ohne besondere Verwendung in sich aufgespeichert hat, indem sie, sobald sie wahrnahm, daß man ihre geistigen Vorzüge bemerkte, mit großer Freude kleine »hochgeistige« Ideen an passenden Plätzen in ihre Unterhaltung einflocht. Und allmählich, während ihr Mann weiter emporstieg, fanden sich immer mehr Leute ein, die seine Nähe suchten, und ihr Haus wurde zu einem »Salon«, der in dem Ruf stand, daß »Gesellschaft und Geist« dort einander begegneten. Jetzt, im Verkehr mit Menschen, die auf verschiedenen Gebieten etwas bedeuteten, begann Diotima auch ernstlich sich selbst zu entdecken. Ihre Korrektheit, die noch immer aufpaßte wie in der Schule, das Gelernte gut behielt und es zu einer freundlichen Einheit verknüpfte, wurde geradezu von selbst zu Geist, einfach durch Erweiterung, und das Haus Tuzzi gewann eine anerkannte Stellung.
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Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen
Zu einem feststehenden Begriff wurde es aber erst durch die Freundschaft Diotimas mit Sr. Erlaucht dem Grafen Leinsdorf.
Von den Körperteilen, nach denen Freundschaften benannt werden, lag der gräflich Leinsdorfsche an einem solchen Ort zwischen Kopf und Herz, daß man Diotima nicht anders als seine Busenfreundin nennen dürfte, wenn dieses Wort noch gebräuchlich wäre. Se. Erlaucht verehrte Diotimas Geist und Schönheit, ohne sich unerlaubte Absichten zu gestatten. Durch sein Wohlwollen gewann Diotimas Salon nicht nur eine unerschütterliche Stellung, sondern erfüllte, wie er sich auszudrücken pflegte, ein Amt.
Für seine Person war Se. Erlaucht der reichsunmittelbare Graf »nichts als Patriot«. Aber der Staat besteht nicht nur aus der Krone und dem Volk, dazwischen die Verwaltung, sondern es gibt in ihm außerdem noch eins: den Gedanken, die Moral, die Idee! – So religiös Se. Erlaucht war, so wenig verschloß er sich, als ein von Verantwortung durchdrungener Geist, der überdies auf seinen Gütern Fabriken betrieb, der Erkenntnis, daß sich heute der Geist in vielem der Bevormundung durch die Kirche entzogen habe. Denn er konnte sich nicht vorstellen, wie zum Beispiel eine Fabrik, eine Börsenbewegung in Getreide oder eine Zuckerkampagne nach religiösen Grundsätzen zu leiten wären, während andrerseits ohne Börse und Industrie ein moderner Großgrundbesitz rationell nicht zu denken ist; und wenn Se. Erlaucht den Vortrag seines Wirtschaftsdirektors empfing, der ihm zeigte, daß in Verbindung mit einer ausländischen Spekulantengruppe ein Geschäft besser zu machen sei als an der Seite des heimischen Grundadels, so mußte Se. Erlaucht sich in den meisten Fällen für das erste entscheiden, denn die sachlichen Zusammenhänge haben ihre eigene Vernunft, der man sich nicht einfach nach Gefühl entgegenstellen kann, wenn man als Leiter einer großen Wirtschaft die Verantwortung nicht für sich allein, sondern auch für ungezählte andere Existenzen trägt. Es gibt etwas wie ein fachliches Gewissen, das unter Umständen dem religiösen widerspricht, und Graf Leinsdorf war überzeugt, daß selbst der Kardinal Erzbischof dabei nicht anders handeln könnte als er. Freilich war Graf Leinsdorf auch jederzeit bereit, dies in öffentlicher Herrenhaussitzung zu bedauern und die Hoffnung auszusprechen, daß das Leben zu der Einfachheit, Natürlichkeit, Übernatürlichkeit, Gesundheit und Notwendigkeit der christlichen Grundsätze wieder zurückfinden werde. Das war, sobald er zu solchen Ausführungen den Mund öffnete, wie wenn man einen Kontaktstöpsel herausgezogen hätte, und er floß in einem anderen Stromkreis. Übrigens geht es den meisten Menschen so, wenn sie sich öffentlich äußern; und wenn jemand Sr. Erlaucht vorgeworfen hätte, daß er für seine Person das tue, was er in der Öffentlichkeit bekämpfe, so würde Graf Leinsdorf es mit heiliger Überzeugung als das demagogische Gerede von wieglerischen Elementen gebrandmarkt haben, die von der ausgebreiteten Verantwortlichkeit des Lebens keine Ahnung besäßen. Trotzdem erkannte er selbst, daß eine Verbindung zwischen den ewigen Wahrheiten und den Geschäften, die so viel verwickelter sind als die schöne Einfachheit der Überlieferung, eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit darstelle, und er hatte auch erkannt, daß sie nirgends anders zu suchen sei als in der vertieften bürgerlichen Bildung; mit ihren großen Gedanken und Idealen auf den Gebieten des Rechts, der Pflicht, des Sittlichen und des Schönen reichte sie bis zu den Tageskämpfen und täglichen Widersprüchen und erschien ihm wie eine Brücke aus lebendem Pflanzengewirr. Man konnte zwar nicht so fest und sicher auf ihr fußen wie auf den Dogmen der Kirche, aber es war nicht weniger notwendig und verantwortungsvoll, und aus diesem Grunde war Graf Leinsdorf nicht nur ein religiöser, sondern auch ein leidenschaftlicher ziviler Idealist.
Diesen Überzeugungen Sr. Erlaucht entsprach in seiner Zusammensetzung der Salon Diotimas. Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, daß man dort an großen Tagen auf Menschen stieß, mit denen man kein Wort wechseln konnte, weil sie in irgendeinem Fach zu bekannt waren, um mit ihnen über die letzten Neuigkeiten zu sprechen, während man den Namen des Wissensbezirks, in dem ihr Weltruhm lag, in vielen Fällen noch nie gehört hatte. Es gab da Kenzinisten und Kanisisten, es konnte vorkommen, daß ein Grammatiker des Bo auf einen Partigenforscher, ein Tokontologe auf einen Quantentheoretiker stieß, abzusehen von den Vertretern neuer Richtungen in Kunst und Dichtung, die jedes Jahr die Bezeichnung wechselten und neben ihren arrivierten Fachgenossen in beschränktem Maße dort verkehren durften. Im allgemeinen war dieser Verkehr so eingerichtet, daß alles durcheinander kam und sich harmonisch mischte; nur die jungen Geister hielt Diotima gewöhnlich durch gesonderte Einladungen abseits und seltene oder besondre Gäste verstand sie unauffällig zu bevorzugen und einzurahmen. Was das Haus Diotimas vor allen ähnlichen auszeichnete, war übrigens, wenn man so sagen darf, gerade das Laienelement; jenes Element der praktisch angewandten Ideen, das sich – um mit Diotima zu sprechen – einst um den Kern der Gotteswissenschaften als ein Volk von gläubig Schaffenden verteilte, eigentlich als eine Gemeinschaft von lauter Laienbrüdern und -schwestern, kurz gesagt, das Element der Tat; – und heute, wo die Gotteswissenschaften durch Nationalökonomie und Physik verdrängt worden sind und Diotimas Verzeichnis einzuladender Verweser des Geistes auf Erden mit der Zeit an den Catalogue of Scientific Papers der British Royal Society heranwuchs, bestanden die Laienbrüder und -schwestern dementsprechend aus Bankdirektoren, Technikern, Politikern, Ministerialräten und den Damen wie Herrn der hohen und der ihr angeschlossenen Gesellschaft. Besonders die Frauen ließ Diotima sich angelegen sein, aber sie bevorzugte dabei die »Damen« vor den »Intellektuellen«. »Das Leben ist heute viel zu sehr von Wissen belastet,« pflegte sie zu sagen »als daß wir auf die ›ungebrochene Frau‹ verzichten dürften.« Sie war überzeugt, daß nur die ungebrochene Frau noch jene Schicksalsmacht besitze, die den Intellekt mit Seinskräften zu umschlingen vermöge, was dieser ihrer Ansicht nach zu seiner Erlösung offenbar sehr nötig hatte. Diese Auffassung von der umschlingenden Frau und der Kraft des Seins wurde ihr übrigens auch von dem männlichen jungen Adel, der bei ihr verkehrte, weil es als Gepflogenheit galt und Sektionschef Tuzzi nicht unbeliebt war, hoch angerechnet; denn das unzersplitterte Sein ist nun einmal etwas für den Adel, und im besonderen war das Haus Tuzzi, wo man sich paarweise in Gespräche vertiefen durfte, ohne aufzufallen, für liebende Zusammenkünfte und lange Aussprachen, ohne daß Diotima das ahnte, noch viel beliebter als eine Kirche.
Se. Erlaucht Graf Leinsdorf umfaßte diese zwei in sich so vielfältigen Elemente, die sich bei Diotima mischten, wenn er sie nicht gerade die »wahre Vornehmheit« nannte, mit der Bezeichnung »Besitz und Bildung«; noch lieber verwandte er aber für sie jene Vorstellung »Amt«, die in seinem Denken einen bevorzugten Platz einnahm. Er vertrat die Auffassung, daß jede Leistung – nicht nur die eines Beamten, sondern ebensogut die eines Fabrikarbeiters oder eines Konzertsängers – ein Amt darstelle. »Jeder Mensch« pflegte er zu sagen »besitzt ein Amt im Staate; der Arbeiter, der Fürst, der Handwerker sind Beamte!«; es war dies ein Ausfluß seines stets und unter allen Umständen sachlichen Denkens, das keine Protektion kannte, und in seinen Augen erfüllten auch die Herrn und Damen der obersten Gesellschaft, indem sie mit den Erforschern der Boghazkoitexte oder der Plättchenfrage plauderten und sich die anwesenden Gattinnen der Hochfinanz ansahen, ein wichtiges, wenn auch nicht genau zu umschreibendes Amt. Dieser Begriff Amt ersetzte ihm das, was Diotima als die seit dem Mittelalter abhanden gekommene religiöse Einheit des menschlichen Tuns bezeichnete.
Und im Grunde entspringt auch wirklich alle solche gewaltsame Geselligkeit wie die bei ihr, wenn sie nicht ganz naiv und roh ist, dem Bedürfnis, eine menschliche Einheit vorzutäuschen, welche die so sehr verschiedenen menschlichen Betätigungen umfassen soll und niemals vorhanden ist. Diese Täuschung nannte Diotima Kultur und gewöhnlich mit einem besonderen Zusatz die alte österreichische Kultur. Seit ihr Ehrgeiz durch Erweiterung zu Geist geworden war, hatte sie dieses Wort immer häufiger gebrauchen gelernt. Sie verstand darunter: Die schönen Bilder von Velasquez und Rubens, die in den Hofmuseen hingen. Die Tatsache, daß Beethoven sozusagen ein Österreicher gewesen ist. Mozart, Haydn, den Stefansdom, das Burgtheater. Das von Traditionen schwere höfische Zeremoniell. Den ersten Bezirk, wo sich die elegantesten Kleider- und Wäschegeschäfte eines Fünfzigmillionenreichs zusammengedrängt hatten. Die diskrete Art hoher Beamter. Die Wiener Küche. Den Adel, der sich nächst dem englischen für den vornehmsten hielt, und seine alten Paläste. Den, manchmal von echter, meist von falscher Schöngeistigkeit durchsetzten Ton der Gesellschaft. Sie verstand auch die Tatsache darunter, daß ihr in diesem Lande ein so großer Herr wie Graf Leinsdorf seine Aufmerksamkeit schenkte und seine eigenen kulturellen Bestrebungen in ihr Haus verlegte. Sie wußte nicht, daß Se. Erlaucht das auch deshalb tat, weil es ihm unpassend erschien, sein eigenes Palais einer Neuerung zu öffnen, über die man leicht die Aufsicht verliert. Graf Leinsdorf war oft heimlich entsetzt über die Freiheit und Nachsicht, mit der seine schöne Freundin von menschlichen Leidenschaften und den Verwirrungen sprach, die sie anrichten, oder von revolutionären Ideen. Aber Diotima bemerkte es nicht. Sie hielt eine Trennung ein, zwischen sozusagen amtlicher Unkeuschheit und privater Keuschheit, wie eine Ärztin oder eine soziale Fürsorgerin; sie war empfindlich wie an einer verletzten Stelle, wenn ein Wort ihr persönlich zu nahe kam, aber unpersönlich sprach sie über alles und konnte dabei nur fühlen, daß Graf Leinsdorf sich von dieser Mischung sehr angezogen zeige.
Allein, das Leben baut nichts auf, wozu es nicht die Steine anderswo ausbricht. Zu Diotimas schmerzlicher Überraschung war ein sehr kleiner, träumerisch süßer Mandelkern von Phantasie, den ihr Dasein einst einschloß, als es sonst noch gar nichts enthielt, der auch noch dagewesen war, als sie sich den wie ein lederner Reisekoffer mit zwei dunklen Augen aussehenden Vizekonsul Tuzzi zu heiraten entschloß, in den Jahren des Erfolgs verschwunden. Freilich war vieles von dem, was sie unter alter österreichischer Kultur verstand, wie Haydn oder die Habsburger, einst nur eine lästige Lernaufgabe gewesen, während mitten dazwischen sich leben zu wissen ihr jetzt ein bezaubernder Reiz erschien, der ebenso heroisch ist wie das hochsommerliche Summen der Bienen; aber mit der Zeit wurde das nicht nur eintönig, sondern auch anstrengend und sogar hoffnungslos. Es ging Diotima mit ihren berühmten Gästen nicht anders wie dem Grafen Leinsdorf mit seinen Bankverbindungen; man mochte noch so sehr wünschen, sie in Einheit mit der Seele zu bringen, es gelang nicht. Von Automobilen und Röntgenstrahlen kann man ja sprechen, das löst noch Gefühle aus, aber was sollte man mit allen unzähligen anderen Erfindungen und Entdeckungen, die heute jeder Tag hervorbringt, anderes anfangen, als ganz im allgemeinen die menschliche Erfindungsgabe zu bewundern, was auf die Dauer recht schleppend wirkt! Se. Erlaucht kam gelegentlich und sprach mit einem Politiker oder ließ sich einen neuen Gast vorstellen, er hatte es leicht, von vertiefter Bildung zu schwärmen; wenn man aber so eingehend mit ihr zu tun hatte wie Diotima, zeigte es sich, daß nicht die Tiefe, sondern ihre Breite das Unüberwindliche war. Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten auf. Diotima machte die Erfahrung, daß sich auch die berühmten Gäste an ihren Abenden immerpaarweise unterhielten, weil ein Mensch schon damals höchstens noch mit einem zweiten Menschen sachlich und vernünftig sprechen konnte, und sie konnte es eigentlich mit keinem. Damit hatte Diotima aber an sich das bekannte Leiden des zeitgenössischen Menschen entdeckt, das man Zivilisation nennt. Es ist ein hinderlicher Zustand, voll von Seife, drahtlosen Wellen, der anmaßenden Zeichensprache mathematischer und chemischer Formeln, Nationalökonomie, experimenteller Forschung und der Unfähigkeit zu einem einfachen, aber gehobenen Beisammensein der Menschen. Und auch das Verhältnis des ihr selbst innewohnenden Geistesadels zum gesellschaftlichen Adel, das Diotima große Vorsicht auferlegte und trotz aller Erfolge manche Enttäuschung eintrug, erschien ihr mit der Zeit immer mehr so beschaffen zu sein, wie es kein Kultur-, sondern nur ein Zivilisationszeitalter kennzeichnet.
Zivilisation war demnach alles, was ihr Geist nicht beherrschen konnte. Und darum war es seit langem und vor allem auch ihr Mann.
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Leiden einer verheirateten Seele
Sie las in ihrem Leiden viel und entdeckte, daß ihr etwas verlorengegangen war, von dessen Besitz sie vordem nicht viel gewußt hatte: eine Seele.
Was ist das? – Es ist negativ leicht bestimmt: es ist eben das, was sich verkriecht, wenn man von algebraischen Reihen hört.
Aber positiv? Es scheint, daß es sich da allen Bemühungen, die es fassen wollen, erfolgreich entzieht. Es mag sein, daß einstmals etwas Ursprüngliches in Diotima gewesen war, eine ahnungsvolle Empfindsamkeit, damals eingerollt in das dünngebürstete Kleid ihrer Korrektheit, was sie jetzt Seele nannte und in der gebatikten Metaphysik Maeterlincks wiederfand, in Novalis, vor allem aber in der namenlosen Welle von Dünnromantik und Gottessehnsucht, die das Maschinenzeitalter als Äußerung des geistigen und künstlerischen Protestes gegen sich selbst eine Weile lang ausgespritzt hat. Es mag auch sein, daß dieses Ursprüngliche in Diotima als ein Etwas von Stille, Zärtlichkeit, Andacht und Güte genauer zu bestimmen war, das nie einen rechten Weg gefunden hatte und beim Bleigießen, welches das Schicksal mit uns veranstaltet, in die komische Form ihres Idealismus geraten war. Vielleicht war es Phantasie; vielleicht eine Ahnung von der instinktiven vegetativen Arbeit, die täglich unter der Decke des Leibes vor sich geht, über der der seelenvolle Ausdruck einer schönen Frau uns anblickt; vielleicht kamen bloß unbezeichenbare Stunden, wo sie sich weit und warm fühlte, die Empfindungen beseelter zu sein schienen als gewöhnlich, wo Ehrgeiz und Wille schwiegen, eine leise Lebensberauschung und Lebensfülle sie ergriff, die Gedanken sich weit weg von der Oberfläche nach der Tiefe richteten, selbst wenn sie nur dem Geringsten galten, und die Weltereignisse fern lagen wie Lärm vor einem Garten. Diotima meinte dann unmittelbar das Wahre in sich zu sehen, ohne sich darum zu bemühen; zarte Erlebnisse, die noch keine Namen trugen, hoben ihre Schleier; und sie fühlte sich – um nur einiges aus den vielen Beschreibungen anzuführen, die sie in der Literatur dafür vorfand – harmonisch, human, religiös, nah einer Ursprungstiefe, die alles heilig macht, was aus ihr aufsteigt, und alles sündhaft sein läßt, was nicht aus ihrer Quelle kommt: Aber wenn das auch alles recht schön zu denken war, über solche Ahnungen und Andeutungen eines besonderen Zustands kam nicht nur Diotima niemals hinaus, sondern ebensowenig taten es die zu Rate gezogenen prophetischen Bücher, die von dem Gleichen in den gleichen, geheimnisvollen und ungenauen Worten sprachen. Es blieb Diotima nichts übrig, als daß sie auch daran die Schuld einem Zivilisationszeitalter zuschrieb, worin der Zugang zur Seele eben verschüttet worden ist.
Wahrscheinlich war, was sie Seele nannte, nichts als ein kleines Kapital von Liebesfähigkeit, das sie zur Zeit ihrer Heirat besessen hatte; Sektionschef Tuzzi bot nicht die rechte Anlagemöglichkeit dafür. Seine Überlegenheit über Diotima war anfangs und durch lange Zeit die des älteren Mannes gewesen; später kam noch die des erfolgreichen Mannes in geheimnisvoller Stellung dazu, der seiner Frau wenig Einblick in sich gewährt und den Nichtigkeiten, die sie treibt, mit Wohlwollen zusieht. Und von der Zeit der Bräutigamszärtlichkeiten abgesehn, war Sektionschef Tuzzi immer ein Nützlichkeits- und Verstandesmensch gewesen, den sein Gleichgewicht niemals verließ. Dennoch umgaben ihn die gut sitzende Ruhe seiner Handlungen und seines Anzugs, der, man könnte sagen, höflich ernste Geruch seines Körpers und Bartes, der vorsichtig feste Bariton, in dem er sprach, mit einem Hauch, der die Seele des Mädchens Diotima ähnlich erregte wie die Nähe des Herrn die des Jagdhunds, der die Schnauze auf sein Knie legt. Und so wie dieser gefühlhaft umfriedet hinterdreintrabt, hatte auch Diotima unter ernster, sachlicher Führung die unendliche Landschaft der Liebe betreten.
Sektionschef Tuzzi bevorzugte darin die geraden Wege. Seine Lebensgewohnheiten waren die eines ehrgeizigen Arbeiters. Er stand früh am Morgen auf, um entweder auszureiten oder, noch lieber, eine Stunde spazierenzugehn, was nicht nur der Erhaltung der Elastizität diente, sondern auch eine pedantisch einfache Gewohnheit darstellte, die, unerschütterlich durchgeführt, vorzüglich zum Bild verantwortungsvoller Leistungen paßt. Und daß er abends, wenn sie nicht eingeladen waren oder Gäste hatten, sich alsbald in sein Arbeitszimmer zurückzog, versteht sich von selbst, denn er war gezwungen, sein großes sachliches Wissen auf jener Höhe zu halten, in der seine Überlegenheit über die adeligen Kollegen und Vorgesetzten bestand. Ein solches Leben setzt feste Schranken und ordnet die Liebe der übrigen Tätigkeit ein. Wie alle Männer, deren Phantasie nicht vom Erotischen versehrt wird, war Tuzzi in seiner Junggesellenzeit – wenn er sich auch hie und da des diplomatischen Rufes halber in Gesellschaft seiner Freunde mit kleinen Theaterchoristinnen gezeigt hatte – ein ruhiger Bordellbesucher gewesen und übertrug den regelmäßigen Atemzug dieser Gewohnheit auch in die Ehe. Diotima lernte deshalb die Liebe als etwas Heftiges, Anfallweises, kurz Angebundenes kennen, das von einer noch stärkeren Gewalt nur einmal in jeder Woche losgelassen wurde. Diese Veränderung des Wesens zweier Menschen, die auf die Minute begann, um wenige Minuten später in ein kurzes Gespräch über nachzutragende Tagesereignisse und dann in planen Schlaf überzugehn, etwas, wovon man in der Zwischenzeit nie oder höchstens in Andeutungen und Anspielungen sprach (etwa so, daß man über die »patrie honteuse« des Körpers einen diplomatischen Scherz macht), hatte jedoch unerwartete und widerspruchsvolle Folgen für sie.
Einesteils wurde es die Ursache ihrer übermäßig angeschwollenen Idealität; jener offiziösen, nach außen gewandten Persönlichkeit, deren Liebeskraft, deren seelisches Verlangen sich auf alles Große und Edle ausdehnte, das in ihrem Umkreis sichtbar wurde, und so innig sich daran verteilte und damit verband, daß Diotima jenen die Männerbegriffe verwirrenden Eindruck einer mächtig glühenden, aber platonischen Liebessonne hervorrief, durch dessen Schilderung Ulrich auf ihre Bekanntschaft neugierig geworden war. Andrerseits aber hatte sich der breite Rhythmus ehelicher Berührung rein physiologisch in ihr zu einer Gewohnheit entwickelt, die ihre Bahnung für sich besaß und sich ohne Verbindung mit den höheren Teilen ihres Wesens wie der Hunger eines Knechts meldete, dessen Mahlzeiten spärlich, aber kräftig sind. Mit der Zeit, als kleine Härchen aus Diotimas Oberlippe brachen und in ihr mädchenhaftes Wesen sich die männliche Selbständigkeit der gereiften weiblichen Person mischte, kam ihr das als Schrecken zu Bewußtsein. Sie liebte ihren Gatten, aber es mengte sich ein wachsendes Maß Abscheu darein, ja eine fürchterliche Beleidigung der Seele, die man schließlich nur den Empfindungen vergleichen konnte, die der in seine großen Unternehmungen vertiefte Archimedes gehabt haben würde, wenn ihn der fremde Soldat nicht erschlagen, sondern ihm ein sexuelles Ansinnen gestellt hätte. Und da ihr Gatte das weder merkte, noch ebenso darüber gedacht haben würde, ihr Körper aber sie gegen ihren Willen schließlich doch jedesmal an ihn verriet, fühlte sie sich einer Zwangsherrschaft unterworfen; es war wohl eine, die nicht für untugendhaft gilt, aber ihr Ablauf war genau so quälend, wie sie sich das Auftreten eines Tics oder die Unentrinnbarkeit des Lasters vorstellte. Nun wäre Diotima dadurch vielleicht nur ein wenig schwermütig und noch mehr ideal geworden, aber das fiel unglücklicherweise gerade in die Zeit, wo auch ihr Salon begann, ihr seelische Schwierigkeiten zu bereiten. Sektionschef Tuzzi förderte sehr natürlich die geistigen Bestrebungen seiner Frau, da er bald erkannt hatte, welcher Vorteil für seine eigene Stellung sich mit ihnen verband, aber er hatte niemals Teil an ihnen genommen, und man kann wohl auch sagen, er nahm sie nicht ernst; denn ernst nahm dieser erfahrene Mann nur die Macht, die Pflicht, hohe Abkunft und in einigem Abstand davon die Vernunft. Er warnte sogar Diotima wiederholt davor, in ihre schöngeistigen Regierungsgeschäfte zu viel Ehrgeiz zu setzen, denn wenn Kultur auch sozusagen das Salz in der Speise des Lebens sei, so liebe feine Gesellschaft doch nicht eine allzu gesalzene Küche; er sagte das ganz ohne Ironie, denn es war seine Überzeugung, aber Diotima fühlte sich gering geschätzt. Sie fühlte beständig ein Lächeln in der Schwebe, mit dem ihr Gatte ihre idealen Bestrebungen begleitete; und ob er sich zu Hause befand oder nicht, und ob dieses Lächeln falls er wirklich lächelte, was keineswegs immer sicher war – in besonderer Weise ihr galt oder nur zu dem Gesichtsausdruck eines Mannes gehörte, der von Berufswegen jederzeit überlegen aussehen muß, es wurde ihr mit der Zeit immer unerträglicher, ohne daß sie sich von dem infamen Schein von Berechtigung zu befreien vermochte, den es sich anmaßte. Diotima gab zuweilen einer materialistischen Geschichtsperiode die Schuld daran, die aus der Welt ein böses, zweckloses Spiel gemacht hat, zwischen dessen Atheismus, Sozialismus und Positivismus ein seelenvoller Mensch nicht die Freiheit findet, sich zu seinem wahren Wesen zu erheben; aber auch das nützte nicht oft.
So waren die Verhältnisse im Hause Tuzzi beschaffen, als die große patriotische Aktion die Ereignisse beschleunigte. Seit Graf Leinsdorf, um den Adel nicht zu exponieren, deren Mittelpunkt in das Haus seiner Freundin verlegt hatte, waltete dort eine unausgesprochene Verantwortung, denn Diotima war entschlossen, jetzt oder nie ihrem Gatten zu beweisen, daß ihr Salon kein Spielzeug sei. Se. Erlaucht hatte ihr anvertraut, daß die große patriotische Aktion eine krönende Idee brauche, und es war ihr brennender Ehrgeiz, sie zu finden. Die Vorstellung, mit den Mitteln eines ganzen Reichs und vor den aufmerksamen Augen der Welt etwas verwirklichen zu müssen, was einer der größten Kulturinhalte sein sollte, oder bescheidener eingeschränkt, vielleicht etwas, das die österreichische Kultur in ihrem innersten Wesen zeigen sollte, – diese Vorstellung wirkte auf Diotima, als ob die Türe ihres Salons aufgesprungen wäre und an die Schwelle schlüge wie eine Fortsetzung seines Fußbodens das unendliche Meer. – Es ließ sich nicht leugnen, daß das erste, was sie dabei empfand, eine unermeßliche, augenblicklich sich öffnende Leere war.
Erste Eindrücke haben so oft etwas Richtiges an sich! Diotima war sicher, daß etwas Unvergleichliches geschehen werde, und rief ihre vielen Ideale auf; sie mobilisierte das Pathos ihrer Geschichtsstunden als kleines Mädchen, wo sie mit Reichen und Jahrhunderten rechnen gelernt hatte; sie tat überhaupt alles, was man in einer solchen Lage tun muß, aber nachdem einige Wochen in dieser Weise vergangen waren, mußte sie beobachten, daß ihr keineswegs etwas eingefallen war. Es wäre Haß gewesen, was Diotima in diesem Augenblick gegen ihren Gatten empfand, wenn sie des Hasses – einer niederen Regung! – überhaupt fähig gewesen wäre; deshalb wurde es Schwermut, und ein bis dahin unbekannter »Groll gegen alles« stieg in ihr auf.
Das war der Zeitpunkt, wo Dr. Arnheim in Begleitung seines kleinen Negers eintraf und Diotima kurz darauf seinen bedeutungsvollen Besuch empfing.
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Die Vereinigung von Seele und Wirtschaft. Der Mann, der das kann, will den Barockzauber alter österreichischer Kultur genießen Der Parallelaktion wird dadurch eine Idee geboren
Diotima kannte keine unrechten Gedanken, aber wahrscheinlich verbarg sich an diesem Tag vielerlei hinter dem unschuldigen kleinen Mohrenknaben, mit dem sie sich beschäftigte, nachdem sie ihre Zofe »Rachelle« aus dem Zimmer geschickt hatte. Sie hatte deren Erzählung noch einmal freundlich angehört, seit Ulrich das Haus seiner Großen Kusine verlassen hatte, und die schöne, gereifte Frau fühlte sich jung und wie mit einem klingelnden Spielzeug beschäftigt. Einst hatte sich der Adel, hatte die Vornehmheit sich Mohren gehalten; es fielen ihr reizende Bilder ein, von Schlittenfahrten mit bewimpelten Pferden, federgeschmückten Lakaien und reifgepuderten Bäumen; aber diese phantasievolle Seite der Vornehmheit war längst eingegangen. »Das Gesellschaftsleben ist heute seelenlos geworden« dachte sie. Es war etwas in ihrem Herzen, das für den kühnen Außenseiter Partei nahm, der es noch wagte, sich einen Mohren zu halten, für den inkorrekt vornehmen Bürgerlichen, den Eindringling, der die erbgesessene Macht beschämte, wie der gelehrte griechische Sklave einst seine römischen Herren beschämt hat. Ihr von vielerlei Rücksichten krummgeschlossenes Selbstbewußtsein desertierte ihm als Schwestergeist entgegen, und dieses im Vergleich mit allen ihren anderen sehr natürliche Gefühl ließ sie sogar darüber hinwegsehn, daß Dr. Arnheim – wenn sich auch die Gerüchte widersprachen und verläßliche Nachrichten noch nicht vorlagen – von jüdischer Abstammung sein sollte: von seinem Vater wurde das nämlich mit Sicherheit erzählt, nur die Mutter war schon so lange tot, daß eine Weile vergehen mußte, ehe man Genaues erfuhr. Es wäre übrigens möglich gewesen, daß ein gewisser grausamer Weltschmerz in Diotimas Herz gar nicht nach einem Dementi verlangte.
Vorsichtig hatte Diotima ihren Gedanken erlaubt, den Mohren zu verlassen und sich seinem Herrn zu nähern. Dr. Paul Arnheim war nicht nur ein reicher Mann, sondern er war auch ein bedeutender Geist. Sein Ruhm ging darüber hinaus, daß er der Erbe weltumspannender Geschäfte war, und er hatte in seinen Mußestunden Bücher geschrieben, die in vorgeschrittenen Kreisen als außerordentlich galten. Die Menschen, die solche rein geistigen Kreise bilden, sind über Geld und bürgerliche Auszeichnung erhaben; aber man darf nicht vergessen, daß es gerade darum für sie etwas besonders Hinreißendes hat, wenn ein reicher Mann sich zu ihresgleichen macht, und Arnheim verkündete in seinen Programmen und Büchern noch dazu nichts Geringeres als gerade die Vereinigung von Seele und Wirtschaft oder von Idee und Macht. Die empfindsamen, mit der feinsten Witterung für das Kommende begabten Geister verbreiteten die Meldung, daß er diese beiden, in der Welt gewöhnlich getrennten Pole in sich vereine, und begünstigten das Gerücht, daß eine moderne Kraft auf dem Wege und berufen sei, einstmals noch die Geschicke des Reichs und wer weiß vielleicht der Welt zum Besseren zu lenken. Denn daß die Grundsätze und Verfahren der alten Politik und Diplomatie Europa in den Graben kutschierten, war ein seit langem allgemein verbreitetes Gefühl, und überhaupt hatte damals in allem schon die Periode der Abkehr von den Fachleuten begonnen.
Auch Diotimas Zustand ließ sich als Auf Auflehnung gegen die Denkweise der älteren Diplomatenschule ausdrücken; darum begriff sie sogleich die wundersame Ähnlichkeit, die zwischen ihrer und der Stellung dieses genialen Außenseiters bestand. Der berühmte Mann hatte ihr überdies, sobald es nur anging, seine Aufwartung gemacht, ihr Haus war bei weitem das erste, dem diese Auszeichnung widerfuhr, und das Einführungsschreiben einer gemeinsamen Freundin sprach von der alten Kultur der Habsburgerstadt und ihrer Menschen, die der Arbeitsame zwischen unvermeidlichen Geschäften zu genießen hoffte; Diotima fühlte sich ausgezeichnet wie ein Schriftsteller, der zum erstenmal in die Sprache eines fremden Landes übersetzt wird, als sie daraus entnahm, daß dieser berühmte Ausländer den Ruf ihres Geistes kannte. Sie bemerkte, daß er nicht im geringsten jüdisch aussah, sondern ein vornehm bedachter Mann von phönikisch-antikem Typus war. Aber auch Arnheim wurde entzückt, als er in Diotima eine Frau antraf, die nicht nur seine Bücher gelesen hatte, sondern als eine von leichter Korpulenz bekleidete Antike auch seinem Schönheitsideal entsprach, das hellenisch war, mit einem bißchen mehr Fleisch, damit das Klassische nicht so starr ist. Es blieb Diotima bald nicht verborgen, daß der Eindruck, den sie in einem Gespräch von zwanzig Minuten Dauer auf einen Mann mit wirklichen Weltbeziehungen zu machen imstande war, gründlich alle Zweifel zerstreute, durch die ihr eigener, doch wohl in etwas veralteten diplomatischen Methoden befangener Mann ihre Bedeutung beleidigte.
Mit sanftem Behagen wiederholte sie sich dieses Gespräch. Es hatte noch kaum begonnen, als Arnheim schon sagte, er sei in diese alte Stadt nur gekommen, um sich im Barockzauber alter österreichischer Kultur ein wenig vom Rechnen, vom Materialismus, von der öden Vernunft eines heute schaffenden Zivilisationsmenschen zu erholen.
Es sei eine so heitere Seelenhaftigkeit in dieser Stadt – hatte Diotima erwidert, und sie war es zufrieden.
»Ja,« hatte er gesagt »wir haben keine inneren Stimmen mehr; wir wissen heute zuviel, der Verstand tyrannisiert unser Leben.«
Da hatte sie geantwortet: »Ich verkehre gern mit Frauen; weil sie nichts wissen und ungebrochen sind.« Und Arnheim hatte gesagt: »Trotzdem versteht eine schöne Frau weit mehr als ein Mann, der trotz Logik und Psychologie gar nichts vom Leben weiß.« Und da hatte sie ihm nun erzählt, daß ein ähnliches Problem wie die Befreiung der Seele von der Zivilisation, nur ins Große und Staatliche projiziert, hier die maßgebenden Kreise beschäftige; »man müßte –« hatte sie gesagt, und Arnheim unterbrach sie: Das sei ganz wundervoll; »neue Ideen oder, wenn es erlaubt sei zu sagen (hier seufzte er leicht), überhaupt erst Ideen in Machtsphären zu tragen!« Und Diotima war fortgefahren: Man wolle Komitees aus allen Kreisen der Bevölkerung bilden, um diese Ideen zu ermitteln. – Aber eben da hatte Arnheim etwas ungemein Wichtiges, in einem solchen Ton freundschaftlicher Wärme und Achtung hatte er es gesagt, daß sich die Warnung Diotima tief einprägte: Nicht leicht, hatte er ausgerufen, werde auf diese Weise etwas Großes zustande kommen; nicht eine Demokratie von Ausschüssen, sondern nur einzelne starke Menschen, mit Erfahrung sowohl in der Wirklichkeit wie im Gebiet der Ideen, würden die Aktion lenken können! –
Bis hieher hatte sich Diotima das Gespräch wörtlich wiederholt, aber an diesem Punkt löste es sich in Glanz auf; sie konnte sich nicht mehr erinnern, was sie selbst erwidert habe. Ein unbestimmtes, spannendes Glücks- und Erwartungsgefühl hatte sie die ganze Zeit über immer höher gehoben; nun glich ihr Geist einem ausgekommenen, kleinen, bunten Kinderballon, der herrlich leuchtend hoch oben gegen die Sonne schwebt. Und im nächsten Augenblick zerplatzte er.
Da war der großen Parallelaktion eine Idee geboren, die ihr bis dahin gefehlt hatte.
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Wesen und Inhalt einer großen Idee
Es wäre leicht zu sagen, worin diese Idee bestand, aber in seiner Bedeutung könnte es kein Mensch beschreiben! Denn das ist es, was eine ergreifende große Idee von einer gewöhnlichen, vielleicht sogar unbegreiflich gewöhnlichen und verkehrten unterscheidet, daß sie sich in einer Art Schmelzzustand befindet, durch den das Ich in unendliche Weiten gerät und umgekehrt die Weiten der Welten in das Ich eintreten, wobei man nicht mehr erkennen kann, was zum eigenen und was zum Unendlichen gehört. Deshalb bestehen ergreifende große Ideen aus einem Leib, welcher wie der des Menschen kompakt, aber hinfällig ist, und aus einer ewigen Seele, die ihre Bedeutung ausmacht, aber nicht kompakt ist, sondern bei jedem Versuch, sie mit kalten Worten anzufassen, sich in nichts auflöst.
Dies vorausgeschickt, muß gesagt werden, daß Diotimas große Idee in nichts anderem bestand, als daß der Preuße Arnheim die geistige Leitung der großen österreichischen Aktion übernehmen müsse, obgleich diese eine Eifersuchtsspitze gegen Preußen-Deutschland besaß. Aber das ist nur der tote Wortleib der Idee, und wer ihn unbegreiflich oder lächerlich findet, mißhandelt einen Leichnam. Was dagegen die Seele dieser Idee angeht, muß gesagt werden, daß es eine keusche und erlaubte war, und für alle Fälle hing Diotima ihrem Beschluß sozusagen noch ein Kodizill für Ulrich an. Sie wußte nicht, daß auch ihr Vetter – wenngleich auf einem weit tieferen Plan als Arnheim und durch dessen Wirkung verdeckt – ihr Eindruck gemacht hatte, und sie hätte sich wahrscheinlich verachtet, wenn ihr das klar gewesen wäre; aber instinktiv hatte sie trotzdem eine Gegenmaßnahme getroffen, indem sie ihn vor ihrem Bewußtsein für »unreif« erklärte, obgleich Ulrich älter war als sie selbst. Sie hatte sich vorgenommen, ihn zu bemitleiden, und das erleichterte die Überzeugung, daß es eine Pflicht sei, Arnheim statt seiner für die Führung der verantwortungsvollen Aktion zu erwählen; aber andrerseits, nachdem sie diesen Entschluß geboren hatte, meldete sich auch die weibliche Vorstellung, daß der Zurückgesetzte nun ihrer Hilfe bedürftig und würdig sei. Fehlte ihm irgend etwas, so konnte er es auf keine Weise besser erwerben als durch eine Mitverwendung in der großen Aktion, die ihm Gelegenheit bot, viel in ihrer und Arnheims Nähe zu weilen. Also beschloß Diotima auch noch dies, aber das waren allerdings bloß ergänzende Überlegungen.
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Ein Kapitel, das jeder überschlagen kann, der von der Beschäftigung mit Gedanken keine besondere Meinung hat
Ulrich saß inzwischen zu Hause an seinem Schreibtisch und arbeitete. Er hatte die Untersuchung hervorgeholt, die er vor Wochen, als er den Entschluß zur Rückkehr faßte, mitten abgebrochen hatte; er wollte sie nicht zu Ende führen, es machte ihm bloß Vergnügen, daß er alles das noch immer zuwege brachte. Das Wetter war schön, aber er hatte in den letzten Tagen nur für kurze Wege das Haus verlassen, er ging nicht einmal in den Garten hinaus, er hatte die Vorhänge zugezogen und arbeitete im gedämpften Licht wie ein Akrobat, der in einem halbdunklen Zirkus, ehe noch die Zuschauer zugelassen sind, einem Parkett von Kennern gefährliche neue Sprünge vorführt. Die Genauigkeit, Kraft und Sicherheit dieses Denkens, die nirgends im Leben ihresgleichen hat, erfüllte ihn fast mit Schwermut.
Er schob das mit Formeln und Zeichen bedeckte Papier nun zurück und hatte zuletzt eine Zustandsgieichung des Wassers daraufgeschrieben, als physikalisches Beispiel, um einen neuen mathematischen Vorgang anzuwenden, den er beschrieb; aber seine Gedanken waren wohl schon vor einer Weile abgeschweift.
»Habe ich nicht Clarisse etwas vom Wasser erzählt?« fragte er sich, vermochte jedoch nicht, sich deutlich zu erinnern. Doch das war auch gleichgültig, und seine Gedanken breiteten sich nachlässig aus.
Es ist leider in der schönen Literatur nichts so schwer wiederzugeben wie ein denkender Mensch. Ein großer Entdecker hat, als man ihn einmal befragte, wie er es anstelle, daß ihm so viel Neues eingefallen sei, darauf geantwortet: indem ich unablässig daran dachte. Und in der Tat, man darf wohl sagen, daß sich die unerwarteten Einfälle durch nichts anderes einstellen, als daß man sie erwartet. Sie sind zu einem nicht kleinen Teil ein Erfolg des Charakters, beständiger Neigungen, ausdauernden Ehrgeizes und unablässiger Beschäftigung. Wie langweilig muß solche Beständigkeit sein! In anderer Hinsicht wieder vollzieht sich die Lösung einer geistigen Aufgabe nicht viel anders, wie wenn ein Hund, der einen Stock im Maul trägt, durch eine schmale Tür will; er dreht dann den Kopf solange links und rechts, bis der Stock hindurchrutscht, und ganz ähnlich tun wir's, bloß mit dem Unterschied, daß wir nicht ganz wahllos darauf los versuchen, sondern schon durch Erfahrung ungefähr wissen, wie man es zu machen hat. Und wenn ein kluger Kopf natürlich auch weit mehr Geschick und Erfahrung in den Drehungen hat als ein dummer, so kommt das Durchrutschen doch auch für ihn überraschend, es ist mit einemmal da, und man kann ganz deutlich ein leicht verdutztes Gefühl darüber in sich wahrnehmen, daß sich die Gedanken selbst gemacht haben, statt auf ihren Urheber zu warten. Dieses verdutzte Gefühl nennen viele Leute heutigentags Intuition, nachdem man es früher auch Inspiration genannt hat, und glauben etwas Überpersönliches darin sehen zu müssen; es ist aber nur etwas Unpersönliches, nämlich die Affinität und Zusammengehörigkeit der Sachen selbst, die in einem Kopf zusammentreffen.
Je besser der Kopf, desto weniger ist dabei von ihm wahrzunehmen. Darum ist das Denken, solange es nicht fertig ist, eigentlich ein ganz jämmerlicher Zustand, ähnlich einer Kolik sämtlicher Gehirnwindungen, und wenn es fertig ist, hat es schon nicht mehr die Form des Gedankens, in der man es erlebt, sondern bereits die des Gedachten, und das ist leider eine unpersönliche, denn der Gedanke ist dann nach außen gewandt und für die Mitteilung an die Welt hergerichtet. Man kann sozusagen, wenn ein Mensch denkt, nicht den Moment zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen erwischen, und darum ist offenbar das Denken eine solche Verlegenheit für die Schriftsteller, daß sie es gern vermeiden.
Der Mann ohne Eigenschaften dachte aber nun einmal nach. Man ziehe den Schluß daraus, daß dies wenigstens zum Teil keine persönliche Angelegenheit war. Was ist es dann? Aus- und eingehende Welt? Seiten der Welt, die sich in einem Kopf zusammenbilden. Es war ihm durchaus nichts Wichtiges eingefallen; nachdem er sich mit dem Wasser als Beispiel beschäftigt hatte, war ihm nichts eingefallen, als daß Wasser ein Wesen, dreimal so groß wie das Land ist, selbst wenn man bloß das berücksichtigt, was jeder als Wasser erkennt, Fluß, Meer, See, Quelle. Man hat lange geglaubt, es sei verwandt mit der Luft. Der große Newton hat das getan und ist in den meisten anderen seiner Gedanken trotzdem noch wie von heute. Nach der Meinung der Griechen waren die Welt und das Leben aus dem Wasser hervorgegangen. Es war ein Gott; Okeanos. Später erfand man Nixen, Elfen, Undinen, Nymphen. Man hat Tempel und Orakel an seinen Ufern gegründet. Man hat aber auch die Dome von Hildesheim, Paderborn, Bremen über Quellen gebaut, und siehe, diese Dome stehen doch noch? Und man tauft auch noch mit Wasser? Und gibt es nicht Wasserfreunde und Naturheilapostel, deren Seele so etwas eigenartig grabhaft Gesundes hat? Da war also in der Welt eine Stelle wie ein verwischter Punkt oder niedergetretenes Gras. Und natürlich hatte der Mann ohne Eigenschaften auch das neuzeitliche Wissen irgendwo im Bewußtsein, ob er daran gerade dachte oder nicht. Und da ist nun Wasser eine farblose, nur in dicken Schichten blaue, geruch- und geschmacklose Flüssigkeit, was man so oft in der Schule aufgesagt hat, daß man es nie wieder vergessen kann, obgleich physiologisch auch Bakterien, Pflanzenstoffe, Luft, Eisen, schwefelsaurer und doppeltkohlensauerer Kalk dazugehören und das Urbild aller Flüssigkeiten physikalisch im Grunde gar keine Flüssigkeit, sondern je nachdem ein fester Körper, eine Flüssigkeit oder ein Gas ist. Schließlich löst sich das Ganze in Systeme von Formeln auf, die untereinander irgendwie zusammenhängen, und es gibt in der weiten Welt nur einige Dutzend Menschen, die selbst von einem so einfachen Ding, wie es Wasser ist, das gleiche denken; alle anderen reden davon in Sprachen, die zwischen heute und einigen tausend Jahren früher irgendwo zu Hause sind. Man muß also sagen, daß ein Mensch, wenn er nur ein bißchen nachdenkt, gewissermaßen in recht unordentliche Gesellschaft gerät!
Und nun erinnerte sich Ulrich auch, daß er alles das wirklich Clarisse erzählt hatte, und sie war ungebildet wie ein kleines Tier, aber ungeachtet allen Aberglaubens, aus dem sie bestand, fühlte man undeutlich eine Einheit mit ihr. Es gab ihm einen Stich wie eine warme Nadel.
Er ärgerte sich.
Die bekannte, von den Ärzten entdeckte Fähigkeit der Gedanken, tief wuchernden, krankhaft verfilzten Hader, der aus dumpfen Bezirken des Ich entsteht, aufzulösen und zu zerstreuen, beruht wahrscheinlich auf nichts anderem als ihrer sozialen und außenweltlichen, das Einzelgeschöpf mit anderen Menschen und Dingen verknüpfenden Wesensart; aber leider scheint das, was ihnen ihre Heilkraft gibt, das gleiche zu sein, was ihre persönliche Erlebnishaftigkeit vermindert. Die beiläufige Erwähnung eines Haares auf einer Nase wiegt mehr als der bedeutendste Gedanke, und Taten, Gefühle und Empfindungen vermitteln bei ihrer Wiederholung den Eindruck, einem Vorgang, einem mehr oder weniger großen persönlichen Geschehnis beigewohnt zu haben, mögen sie noch so gewöhnlich und unpersönlich sein.
»Dumm,« dachte Ulrich »aber es ist so.« Er erinnerte sich an jenen dumm-tiefen, erregenden, unmittelbar das Ich berührenden Eindruck, den man hat, wenn man an seiner Haut riecht. Er stand auf und zog die Vorhänge seines Fensters beiseite.
Die Rinde der Bäume war noch vom Morgen feucht. Draußen auf der Straße lag veilchenblauer Benzindunst. Die Sonne schien hinein, und die Menschen bewegten sich lebhaft. Es war ein Asphaltfrühling, ein jahreszeitenloser Frühlingstag im Herbst, wie ihn die Städte hervorzaubern.
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Erklärung und Unterbrechungen eines normalen Bewußtseinszustandes
Ulrich hatte mit Bonadea ein Zeichen verabredet, daß er allein zu Hause sei. Er war immer allein, aber er gab das Zeichen nicht. Er mußte schon lange gewärtig sein, daß Bonadea ungerufen mit Hut und Schleier eintrete. Denn Bonadea war über die Maßen eifersüchtig. Und wenn sie einen Mann aufsuchte – und sei es auch nur, um ihm zu sagen, daß sie ihn verachte, – kam sie immer voll innerer Schwäche an, denn die Eindrücke des Wegs und die Blicke der Männer, denen sie begegnete, schaukelten in ihr wie leichte Seekrankheit. Wenn der Mann dies aber erriet und geraden Wegs auf sie zusteuerte, obgleich er sich so lange Zeit lieblos nicht um sie gekümmert hatte, so war sie verletzt, zankte mit ihm, schob mit tadelnden Bemerkungen hinaus, was sie selbst kaum noch erwarten konnte, und hatte etwas von einer durch die Flügel geschossenen Ente, die ins Meer der Liebe gefallen ist und sich durch Schwimmen retten will.
Und mit einemmal saß also Bonadea wirklich hier, weinte und fühlte sich mißbraucht.
In solchen Augenblicken, wo sie sich über ihren Liebhaber ärgerte, bat sie ihrem Gatten leidenschaftlich ihre Fehltritte ab. Nach einer guten alten Regel der untreuen Frauen, die sie anwenden, damit sie sich nicht durch ein unbedachtes Wort verraten können, hatte sie ihm von dem interessanten Gelehrten erzählt, den sie manchmal in der Familie einer Freundin treffe, aber nicht einlade, weil er gesellschaftlich zu verwöhnt sei, um aus eigenem in ihr Haus zu kommen, und sie sich nicht genug aus ihm mache, um ihn trotzdem aufzufordern. Die halbe Wahrheit, die darin lag, erleichterte ihr das Lügen, und die andere Hälfte nahm sie ihren Liebhabern übel. – Was solle ihr Mann denken, fragte sie, wenn sie nun mit einemmal den Verkehr mit der vorgeschobenen Freundin wieder einschränke?! Wie solle sie ihm solche Schwankungen der Sympathie verständlich machen?! Sie schätze die Wahrheit hoch, weil sie alle Ideale hochschätze, und Ulrich entehre sie, indem er sie zwinge, weiter davon abzuweichen als nötig!
Sie machte ihm einen leidenschaftlichen Auftritt, und als er vorbei war, stürzten Vorwürfe, Beteuerungen, Küsse in das dadurch entstandene Vakuum. Als auch die vorbei waren, war nichts geschehn; zurückquellendes Tagesgerede füllte die Leere aus, und die Zeit setzte Bläschen an wie ein Glas schalen Wassers.
»Wie viel schöner ist sie, wenn sie wild wird,« überlegte Ulrich »und wie mechanisch hat sich dann wieder alles vollzogen.« Ihr Anblick hatte ihn ergriffen und zu Zärtlichkeiten verführt; jetzt, nachdem es geschehen war, fühlte er wieder, wie wenig es ihn anging. Das unglaublich Schnelle solcher Veränderungen, die einen gesunden Menschen in einen schäumenden Narren verwandeln, wurde überaus deutlich daran. Es kam ihm aber vor, daß diese Liebesverwandlung des Bewußtseins nur ein besonderer Fall von etwas weit Allgemeinerem sei; denn auch ein Theaterabend, ein Konzert, ein Gottesdienst, alle Äußerungen des Inneren sind heute solche rasch wieder aufgelöste Inseln eines zweiten Bewußtseinszustands, der in den gewöhnlichen zeitweilig eingeschoben wird.
»Vor kurzem habe ich doch noch gearbeitet,« dachte er »und vorher war ich auf der Straße und habe Papier gekauft. Ich grüßte einen Herrn, den ich aus der Physikalischen Gesellschaft kenne. Ich habe mit ihm vor kurzer Zeit eine ernste Aussprache gehabt. Und jetzt, wenn Bonadea sich etwas beeilen wollte, könnte ich in den Büchern dort, die ich durch den Türspalt sehe, etwas nachschlagen. Zwischendurch sind wir aber durch eine Wolke des Irrsinns geflogen, und nicht weniger unheimlich ist es, wie sich jetzt die soliden Erlebnisse über dieser verschwindenden Lücke wieder schließen und sich in ihrer Zähigkeit zeigen.«
Aber Bonadea beeilte sich nicht, und Ulrich mußte an etwas anderes denken. Sein Jugendfreund Walter, dieser etwas wunderlich gewordene Gatte der kleinen Clarisse, hatte einmal von ihm behauptet: »Ulrich tut mit der größten Energie immer nur das, was er nicht für notwendig hält!« Es fiel ihm gerade in diesem Augenblick ein; »das könnte man heute von uns allen sagen« dachte er. Er erinnerte sich recht gut: Ein Holzbalkon lief um das Sommerhaus. Ulrich war Gast von Clarissens Eltern; es war wenige Tage vor der Hochzeit, und Walter war auf ihn eifersüchtig. Walter konnte wundervoll eifersüchtig sein. Ulrich stand außen im Sonnenschein, als Clarisse und Walter das hinter dem Balkon liegende Zimmer betraten. Er belauschte sie, ohne sich zu verstecken. Übrigens erinnerte er sich heute nur noch an jenen einen Satz. Und dann an das Bild; die Schattentiefe des Zimmers hing wie ein faltiger, wenig geöffneter Beutel an der grellen Besonntheit der Außenmauer. In den Falten dieses Beutels erschienen Walter und Clarisse; Walters Gesicht war schmerzlich in die Länge gezogen und sah aus, als ob es lange, gelbe Zähne hätte. Man könnte auch sagen, ein Paar langer, gelber Zähne lag in einem mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Kästchen, und diese zwei Menschen standen geisternd dabei. Die Eifersucht war natürlich Unsinn; Ulrich hatte keine Lust auf Frauen seiner Freunde. Aber Walter hatte immer eine ganz besondere Fähigkeit besessen, heftig zu erleben. Er kam nie zu dem, was er wollte, weil er so viel empfand. Er schien einen sehr melodischen Schallverstärker für das kleine Glück und Unglück in sich zu tragen. Er gab stets kleine Gefühlsmünze in Gold und Silber aus, während Ulrich mehr im großen operierte, mit Gedankenschecks sozusagen, auf denen gewaltige Ziffern standen; aber schließlich war das nur Papier. Wenn Ulrich sich Walter recht bezeichnend vorstellen wollte, lag er an einem Waldrand. Er hatte dann kurze Hosen an und merkwürdigerweise schwarze Strümpfe. Er hatte nicht die Beine eines Mannes, weder die kräftig muskulösen noch die dürr sehnigen, sondern die eines Mädchens; eines nicht sehr schönen Mädchens, mit sanften unschönen Beinen. Die Hände unter den Kopf gelegt, schaute er hinaus in die Landschaft, und der Himmel wußte, daß man ihn dann störte. Ulrich erinnerte sich nicht, Walter bei einer bestimmten Gelegenheit, die sich einprägte, so gesehen zu haben; dieses Bild prägte sich vielmehr heraus, wie ein zusammenschließendes Siegel, nach anderthalb Jahrzehnten. Und von der Erinnerung, daß Walter damals auf ihn eifersüchtig gewesen sei, ging eine sehr angenehme Erregung aus. Alles das hatte sich eben zu einer Zeit ereignet, wo man noch Freude an sich hatte. Und Ulrich dachte: »Ich war jetzt schon einigemale bei ihnen, ohne daß Walter meine Besuche erwidert hat. Aber ich könnte trotzdem heute abend wieder hinausfahren; was braucht mich das zu kümmern!«
Er nahm sich vor, wenn Bonadea endlich mit dem Ankleiden fertig sein werde, ihnen Nachricht zu schicken, in Bonadeas Gegenwart war so etwas nicht ratsam, wegen des langweiligen Kreuzverhörs, das unweigerlich folgte.
Und da Gedanken schnell sind und Bonadea noch lange nicht fertig war, fiel ihm eben noch etwas ein. Diesmal war es eine kleine Theorie; sie war einfach, einleuchtend und vertrieb ihm die Zeit. »Ein junger Mensch, wenn er geistig bewegt ist,« sagte Ulrich zu sich, und meinte damit wahrscheinlich noch seinen Jugendfreund Walter, »sendet unaufhörlich Ideen in allen Richtungen aus. Aber nur das, was auf die Resonanz der Umgebung trifft, strahlt wieder auf ihn zurück und verdichtet sich, während alle anderen Ausschickungen sich im Raum verstreuen und verlorengehen!« Ulrich nahm ohne weiteres an, daß ein Mensch, der Geist hat, jede Art davon besitzt, so daß Geist ursprünglicher wäre als Eigenschaften; er selbst war ein Mensch mit vielen Gegensätzen und stellte sich vor, daß alle Eigenschaften, die in der Menschheit je zum Ausdruck gekommen sind, ziemlich nah beieinander in dem Geist jedes Menschen ruhen, wenn er überhaupt Geist hat. Das mag nicht ganz richtig sein, aber was wir vom Entstehen des Guten wie des Bösen wissen, stimmt noch am ehesten dazu, daß jeder zwar seine innere Größennummer hat, aber in dieser Größe die verschiedensten Kleider ausfüllen kann, wenn sie ihm das Schicksal bereit hält. Und so kam Ulrich auch das, was er soeben gedacht hatte, nicht ganz bedeutungslos vor. Denn wenn sich im Lauf der Zeit die gewöhnlichen und unpersönlichen Einfälle ganz von selbst verstärken und die ungewöhnlichen verlieren, so daß fast jeder mit der Sicherheit, die ein mechanischer Zusammenhang hat, immer mittelmäßiger wird, so erklärt das ja, warum trotz der tausendfältigen Möglichkeiten, die wir vor uns hätten, der gewöhnliche Mensch nun einmal der gewöhnliche ist! Und es erklärt auch, daß es selbst unter den bevorzugten Menschen, die sich durchsetzen und zu Anerkennung kommen, eine gewisse Mischung gibt, die ungefähr 51% Tiefe und 49% Seichtheit hat und den meisten Erfolg findet, und das erschien Ulrich schon seit langem so verwickelt sinnlos und unerträglich traurig, daß er gerne weiter darüber nachgedacht haben würde.
Er wurde davon gestört, daß Bonadea noch immer kein Zeichen ihres Fertigseins gab; vorsichtig durch die Türe spähend, gewahrte er, daß sie sich im Ankleiden unterbrochen hatte. Sie fand Zerstreutheit, wenn es sich um die letzten Tropfen der Köstlichkeit des Beisammenseins handelte, unfein; gekränkt von seinem Schweigen, wartete sie ab, was er tun werde. Sie hatte ein Buch genommen, und glücklicherweise enthielt es schöne Abbildungen aus der Geschichte der Kunst.
Ulrich fühlte sich, als er wieder seine Betrachtungen aufnahm, durch dieses Warten gereizt und geriet in eine unbestimmte Ungeduld.
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Ulrich hört Stimmen
Und plötzlich zogen sich seine Gedanken zusammen, und als ob er durch einen entstandenen Riß blickte, sah er Christian Moosbrugger, den Zimmermann, und seine Richter.
Quälend lächerlich für einen Menschen, der nicht so denkt, sprach der Richter: »Warum haben Sie sich die blutigen Hände abgewischt? – Warum haben Sie das Messer weggeworfen? – Warum haben Sie nach der Tat frische Kleider und Wäsche angezogen? – Weil es Sonntag war? Nicht, weil sie blutig waren? – Weshalb sind Sie am Abend darauf zu einer Tanzunterhaltung gegangen? Die Tat hat Sie also nicht gehindert, das zu tun? Haben Sie überhaupt keine Reue empfunden?«
In Moosbrugger erwacht ein Flackern: alte Zuchthauserfahrung, man müsse Reue heucheln. Das Flackern verzieht Moosbruggers Mund, und er spricht: »Gewiß!«
»Bei der Polizei haben Sie aber gesagt: Ich empfinde keine Reue, sondern nur Haß und Wut bis zum Paroxysmus!« hakt der Richter sofort ein.
»Möglich,« sagt Moosbrugger, wieder fest werdend und vornehm. »Möglich, daß ich damals keine anderen Empfindungen hatte.«
»Sie sind ein großer, starker Mann,« fällt der Staatsanwalt ein »wie konnten Sie sich vor der Hedwig fürchten!«
»Herr Gerichtsrat,« antwortet Moosbrugger lächelnd »sie war schmeichelhaft geworden. Ich stellte sie mir noch grausamer vor, als ich derlei Weiber sonst einschätze. Ich sehe wohl kräftig aus, bin es auch –«
»Nun also,« brummt der Vorsitzende, im Akt blätternd.
»Aber in gewissen Situationen,« sagt Moosbrugger laut »bin ich ängstlich und sogar feig.«
Die Augen des Vorsitzenden schnellen aus dem Akt; wie zwei Vögel einen Ast, verlassen sie den Satz, auf dem sie soeben gesessen haben. »Damals, als Sie mit Ihren Kollegen auf dem Bau Streit bekommen haben, sind Sie aber gar nicht feig gewesen!« sagt der Vorsitzende. »Den einen haben Sie zwei Stock tief hinunter geworfen und die andern mit dem Messer –«
»Herr Präsident,« ruft Moosbrugger mit gefährlicher Stimme »ich stehe heute noch auf dem Standpunkt –«
Der Vorsitzende winkt ab.
»Unrecht,« sagt Moosbrugger »das muß als Grundlage meiner Brutalität dienen. Ich bin als naiver Mensch vor Gericht gestanden und habe gedacht, die Herren Richter werden ohnehin alles wissen. Aber man hat mich enttäuscht!«
Das Gesicht des Richters steckt längst wieder im Akt.
Der Staatsanwalt lächelt und sagt freundlich: »Aber die Hedwig war doch ein ganz harmloses Mädchen!«
» Mir erschien sie nicht so!« erwidert Moosbrugger, immer noch aufgebracht.
» Mir scheint,« schließt der Vorsitzende mit Nachdruck »daß Sie immer anderen die Schuld zu geben wissen!«
»Also warum haben Sie auf sie losgestochen?« fängt der Staatsanwalt freundlich von vorne an.
31
Wem gibst du recht?
Das war aus der Verhandlung, der Ulrich beigewohnt hatte, oder bloß aus den Berichten, die er gelesen hatte? Er erinnerte sich jetzt so lebhaft, als würde er diese Stimme hören. Er hatte noch nie in seinem Leben ›Stimmen gehört‹; bei Gott, so war er nicht. Aber wenn man sie hört, so senkt sich das etwa so herab wie die Ruhe eines Schneefalls. Mit einemmal stehen Wände da, von der Erde bis in den Himmel; wo früher Luft gewesen ist, schreitet man durch weiche dicke Mauern, und alle Stimmen, die im Käfig der Luft von einer Stelle zur anderen gehüpft sind, gehen nun frei in den bis ins innerste zusammengewachsenen weißen Wänden.
Er war wohl überreizt von der Arbeit und Langweile, da kommt so etwas manchmal vor; aber er fand es gar nicht übel, Stimmen zu hören. Und plötzlich sagte er halblaut:¯Man hat eine zweite Heimat, in der alles, was man tut, unschuldig ist.«
Bonadea nestelte an einer Schnur. Sie war inzwischen in sein Zimmer hereingekommen. Das Gespräch mißfiel ihr, sie fand es undelikat; den Namen des Mädchenmörders, von dem man so viel in den Zeitungen gelesen hatte, hatte sie längst wieder vergessen, und er näherte sich nur widerstrebend ihrer Erinnerung, als Ulrich von ihm zu sprechen anhob.
»Aber wenn Moosbrugger,« sagte er nach einer Weile »diesen beunruhigenden Eindruck von Unschuld hervorrufen kann, so kann das doch erst recht diese arme, verwahrloste, frierende Person mit den Mausaugen unter dem Kopftuch, diese Hedwig, die um Aufenthalt in seinem Zimmer gebettelt hat und deshalb von ihm getötet worden ist?«
»Laß doch!« schlug Bonadea vor und hob die weißen Schultern. Denn als Ulrich dem Gespräch diese Wendung gab, war es gerade in dem boshaft gewählten Augenblick geschehen, wo die halb hochgezogenen Kleider seiner gekränkten und nach Versöhnung durstenden Freundin, nachdem sie ins Zimmer gekommen war, von neuem am Teppich den kleinen, reizend mythologischen Schaumkrater bildeten, aus dem Aphrodite hervorsteigt. Bonadea war darum bereit, Moosbrugger zu verabscheuen und über sein Opfer mit einem flüchtigen Schauder hinwegzukommen. Aber Ulrich ließ es nicht zu und malte ihr kräftig das Schicksal aus, das Moosbrugger bevorstand. »Zwei Männer werden ihm die Schlinge um den Hals legen, ohne daß sie im geringsten böse Gefühle gegen ihn hegen, sondern bloß weil sie dafür bezahlt sind. Vielleicht hundert Menschen werden zusehen, teils weil es ihr Dienst verlangt, teils weil ein jeder gern einmal im Leben eine Hinrichtung gesehen haben will. Ein feierlicher Herr in Zylinder, Frack und schwarzen Handschuhen zieht die Schlinge an, und im gleichen Augenblick hängen sich seine zwei Gehilfen an die zwei Beine Moosbruggers, damit das Genick bricht. Dann legt der Herr mit dem schwarzen Handschuh die Hand auf Moosbruggers Herz und prüft mit der sorgenden Miene eines Arztes, ob es noch lebt; denn wenn es noch lebt, wird das Ganze etwas ungeduldiger und weniger feierlich noch einmal wiederholt. Bist du nun eigentlich für Moosbrugger oder gegen ihn?« fragte Ulrich.
Bonadea hatte langsam und schmerzlich wie ein zur Unzeit Geweckter ›die Stimmung‹ verloren, – so pflegte sie ihre Anfälle von Ehebruch zu nennen. Jetzt mußte sie sich setzen, nachdem ihre Hände eine Weile lang unentschlossen die sinkenden Kleider und das geöffnete Mieder gehalten hatten. Wie jede Frau in ähnlicher Lage hatte sie das feste Vertrauen in eine öffentliche Ordnung, die so gerecht sei, daß man, ohne an sie denken zu müssen, seinen privaten Angelegenheiten nachgehen könne; nun, wo sie an das Gegenteil gemahnt wurde, stand aber rasch die mitleidige Parteinahme für Moosbrugger, das Opfer, in ihr fest, mit Ausschaltung jedes Gedankens an Moosbrugger, den Schuldigen.
»Du bist also,« behauptete Ulrich »jedesmal für das Opfer und gegen die Tat.«
Bonadea äußerte das naheliegende Gefühl, daß ein solches Gespräch in einer solchen Lage ungehörig sei.
»Aber wenn sich dein Urteil so konsequent gegen die Tat richtet,« antwortete Ulrich, statt sich sofort zu entschuldigen, »wie willst du dann deine Ehebrüche rechtfertigen, Bonadea?!«
Besonders die Mehrzahl war undelikat! Bonadea schwieg, setzte sich mit verächtlicher Miene in einen der weichen Armstühle und sah gekränkt zu der Schnittlinie von Wand und Zimmerdecke empor.
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Die vergessene, überaus wichtige Geschichte
mit der Gattin eines Majors
Es ist nicht angezeigt, sich einem aufgelegten Narren verwandt zu fühlen, und Ulrich tat das auch nicht. Aber warum behauptete der eine Sachverständige, Moosbrugger sei ein Narr, und der andere, er sei keiner? Woher hatten die Berichterstatter die flinke Sachlichkeit genommen, mit der sie die Arbeit seines Messers beschrieben? Und durch welche Eigenschaften erregte Moosbrugger jenes Aufsehen und Gruseln, das für die Hälfte der zwei Millionen Menschen, die in dieser Stadt wohnten, ungefähr so viel war wie ein Streit in der Familie oder eine zurückgehende Verlobung; ungemein persönlich aufregend, sonst ruhende Gebiete der Seele packend, während sein Fall in den Provinzstädten schon eine gleichgültigere Neuigkeit bedeutete und in Berlin oder Breslau gar nichts mehr, wo man von Zeit zu Zeit seine eigenen, die Moosbruggers der eigenen Familie hatte? Dieses fürchterliche Spiel der Gesellschaft mit ihren Opfern beschäftigte Ulrich. Er fühlte es in sich selbst wiederholt. Kein Wille zuckte in ihm, weder um Moosbrugger zu befrein, noch um der Gerechtigkeit beizuspringen, und das Gefühl sträubte sich wie das Haar einer Katze. Moosbrugger ging ihn durch etwas Unbekanntes näher an als sein eigenes Leben, das er führte; er ergriff ihn wie ein dunkles Gedicht, worin alles ein wenig verzerrt und verschoben ist und einen zerstückt in der Tiefe des Gemüts treibenden Sinn offenbart.
»Schauerromantik!« warf er sich ein. Das Schaurige oder Unerlaubte in der zugelassenen Gestalt von Träumen und Neurosen zu bewundern, schien ihm recht zu den Menschen der Bürgerzeit zu passen. »Entweder oder!« dachte er. »Entweder du gefällst mir oder nicht! Entweder ich verteidige dich in all deiner Scheusäligkeit, oder ich sollte mich ins Gesicht schlagen, weil ich mit ihr spiele!« Und schließlich wäre sogar auch ein kühles, aber tatkräftiges Bedauern wohl am Platz; es ließe sich heute schon eine Menge tun, um solche Vorkommnisse und Gestalten zu verhüten, wenn die Gesellschaft nur die Hälfte der moralischen Anstrengung selbst aufwenden wollte, die sie von solchen Opfern verlangt. Aber dann ergab sich auch noch eine ganz andere Seite, von der sich die Angelegenheit betrachten ließ, und merkwürdige Erinnerungen stiegen in Ulrich auf.
Niemals ist unser Urteil über eine Tat ein Urteil über jene Seite der Tat, die Gott lohnt oder straft; das hat, sonderbar genug, Luther gesagt. Wahrscheinlich unter dem Einfluß eines der Mystiker, mit denen er eine Zeitlang befreundet war. Sicher hätte es auch mancher andere Gläubige sagen können. Sie waren, im bürgerlichen Sinn, alle Immoralisten. Sie unterschieden zwischen den Sünden und der Seele, die trotz der Sünden unbefleckt bleiben kann, fast ähnlich wie Machiavell zwischen dem Zweck und den Mitteln unterscheidet. Das ›menschliche Herz‹ war ihnen ›genommen‹. »Auch in Christus war ein äußerer und ein innerer Mensch, und alles, was er in Bezug auf äußere Dinge tat, tat er vom äußeren Menschen aus, und stand dabei der innere Mensch in unbeweglicher Abgeschiedenheit« sagt Eckehart. Solche Heilige und Gläubige wären am Ende imstande gewesen, sogar Moosbrugger freizusprechen!? Wohl ist die Menschheit fortgeschritten seither; aber wenn sie Moosbrugger auch töten wird, hat sie doch noch die Schwäche, jene Männer zu verehren, die ihn, wer weiß, freigesprochen haben würden.
Und nun kam Ulrich ein Satz in Erinnerung, dem eine Welle von Unbehagen voranging. Dieser Satz lautete: ›Die Seele des Sodomiten könnte mitten durch die Menge gehn, ohne etwas zu ahnen, und in ihren Augen läge das durchsichtige Lächeln eines Kindes; denn alles hängt von einem unsichtbaren Prinzip ab‹. Das war nicht viel anders als die ersten Sätze, aber es strömte in seiner kleinen Übertriebenheit den süß schwächlichen Geruch der Verdorbenheit aus. Und wie es sich zeigte, gehörte ein Raum zu diesem Satz, ein Zimmer mit gelben französischen Broschüren auf den Tischen, mit Vorhängen aus geknüpften Glasstäbchen anstelle der Türen, – und ein Gefühl entstand in der Brust, wie wenn eine Hand in eine geöffnete Hühnerleiche greift, um das Herz herauszuziehen: Denn diesen Satz hatte Diotima bei seinem Besuch von sich gegeben. Er stammte noch dazu von einem zeitgenössischen Schriftsteller, den Ulrich in jungen Jahren geliebt, aber seither für einen Salonphilosophen halten gelernt hatte, und Sätze wie dieser schmecken so schlecht wie Brot, auf das Parfüm ausgegossen wurde, so daß man jahrzehntelang mit alledem nichts mehr zu tun haben mag.
Aber so lebhaft auch die Abneigung war, die dadurch in Ulrich erregt wurde, kam es ihm in diesem Augenblick doch schmählich vor, daß er sich sein Leben lang hatte abhalten lassen, zu den anderen, den echten Sätzen jener geheimnisvollen Sprache zurückzukehren. Denn er hatte ein besonderes, ein unmittelbares Verständnis für sie, eher noch eine Vertrautheit zu nennen, die das Verstehen übersprang; doch ohne daß er sich je hätte entschließen können, sich ganz zu ihnen zu bekennen. Sie lagen – solche Sätze, die ihn mit einem Laut von Geschwisterlichkeit ansprachen; mit einer weich dunklen Innerlichkeit, die entgegengesetzt war dem befehlshaberischen Ton der mathematischen und wissenschaftlichen Sprache, ohne daß man aber sagen konnte, worin sie bestehe – wie Inseln zwischen seiner Beschäftigung, ohne Zusammenhang und selten aufgesucht; überblickte er sie aber, soweit er sie kennengelernt hatte, so kam es ihm vor, daß man ihren Zusammenhang spürte, wie wenn diese Inseln, nur wenig voneinander getrennt, einer Küste vorgelagert wären, die sich hinter ihnen verbarg, oder die Reste eines Festlands darstellten, das vor Urzeiten zugrunde gegangen ist. Er fühlte das Weiche von Meer, Nebel und niedrigen schwarzen Landrücken, die in gelbgrauem Licht schlafen. Er erinnerte sich an eine kleine Seereise, eine Flucht nach dem Muster ›Reisen Sie‹, ›Bringen Sie sich auf andere Gedanken‹, und wußte genau, welches sonderbare, lächerlich verzauberte Erlebnis sich durch seine abschreckende Kraft ein für allemal vor alle ähnlichen geschoben hatte. Einen Augenblick lang klopfte das Herz eines Zwanzigjährigen in seiner Brust, deren behaarte Haut sich mit den Jahren seither verdickt und vergröbert hatte. Das Klopfen eines zwanzigjährigen Herzens in seiner zweiunddreißig jährigen Brust kam ihm vor wie der unsittliche Kuß, den ein Jüngling einem Mann gibt. Trotzdem wich er diesmal der Erinnerung nicht aus. Es war die Erinnerung an eine sonderbar ausgegangene Leidenschaft, die er als Zwanzigjähriger für eine Frau empfunden hatte, die an Jahren und vornehmlich nach dem Grad ihrer häuslichen Abgerührtheit beträchtlich älter war als er.
Bezeichnenderweise erinnerte er sich nur ungenau an ihr Aussehen; eine steife Photographie und das Gedächtnis der Stunden, wo er allein war und an sie dachte, nahm die Stelle der unmittelbaren Erinnerungen an Gesicht, Kleider, Bewegungen und Stimme dieser Frau ein. Ihre Welt war ihm inzwischen so fremd geworden, daß ihn die Aussage, sie sei die Frau eines Majors gewesen, ergötzlich unglaubhaft anmutete. »Nun wird sie wohl schon längst eine Frau Oberst außer Dienst sein« dachte er. Es war im Regiment erzählt worden, daß sie eine ausgebildete Künstlerin sei, eine Klaviervirtuosin, davon aber auf Wunsch ihrer Familie nie öffentlich Gebrauch gemacht habe, und später wurde dies durch ihre Heirat ohnehin unmöglich. Wirklich spielte sie bei Regimentsfesten sehr schön Klavier, mit dem Strahlenglanz einer gut vergoldeten Sonne, die über Schluchten des Gemüts schwebt, und Ulrich hatte sich von Beginn an weniger in die sinnliche Anwesenheit dieser Frau verliebt als in ihren Begriff. Der Leutnant, der damals seinen Namen trug, war nicht schüchtern; sein Blick hatte sich schon an kleinem Weibszeug geübt und sogar bei mancher ehrbaren Frau den leicht ausgetretenen Diebspfad erspäht, der zu ihr führte. Aber die ›große Liebe‹, das war für diese zwanzigjährigen Offiziere, wenn sie überhaupt Verlangen danach hatten, etwas anderes, das war ein Begriff; er lag außerhalb der Reichweite ihrer Unternehmungen und war so arm an Erfahrungsinhalt und eben darum auch so blendend leer, wie es nur ganz große Begriffe sind. Und als Ulrich zum erstenmal in seinem Leben die Möglichkeit in sich sah, diesen Begriff anzuwenden, mußte es darum auch geschehen; der Frau Major fiel hierbei keine andere Rolle zu wie die des letzten Anlasses, der einer Krankheit zum Ausbruch verhilft. Ulrich wurde liebeskrank. Und da echte Liebeskrankheit kein Verlangen nach Besitz ist, sondern ein sanftes Sichentschleiern der Welt, um deswillen man gern auf den Besitz der Geliebten verzichtet, erklärte der Leutnant der Frau Major die Welt auf eine so ungewohnte und ausdauernde Weise, wie sie es noch nicht gehört hatte. Gestirne, Bakterien, Balzac und Nietzsche wirbelten in einem Trichter von Gedanken, dessen Spitze sie mit wachsender Deutlichkeit auf gewisse, nach der damaligen Zeitmode dem Anstand verwehrte Unterschiede gerichtet fühlte, die ihren Leib von dem Leib des Leutnants trennten. Sie wurde verwirrt durch diese eindringliche Beziehung der Liebe zu Fragen, die ihres Dafürhaltens bis dahin noch nie mit Liebe zu tun gehabt hatten; auf einem Spazierritt überließ sie Ulrich, als sie neben ihren Pferden gingen, einen Augenblick ihre Hand und bemerkte mit Schrecken, daß die Hand wie ohnmächtig in der seinen liegen blieb. In der nächsten Sekunde flammte von ihren Handgelenken bis zu den Knien ein Feuer, und ein Blitz fällte die beiden Menschen, so daß sie fast auf den Wegrain gestürzt wären, in dessen Moos sie nun zu sitzen kamen, sich leidenschaftlich küßten und schließlich verlegen wurden, weil die Liebe so groß und ungewöhnlich war, daß ihnen zu ihrer Überraschung nichts anderes zu sprechen und zu tun einfiel, als man bei solchen Umarmungen gewöhnt ist. Die Pferde, die ungeduldig wurden, befreiten endlich die beiden Liebenden aus dieser Lage.
Die Liebe der Frau Major und des zu jungen Leutnants blieb auch in ihrem ganzen Ablauf kurz und unwirklich. Sie staunten beide, sie preßten sich noch einigemal aneinander, sie fühlten beide, daß etwas nicht in Ordnung sei und sie auch dann nicht bei ihren Umarmungen Leib an Leib kommen lassen würde, wenn sie sich aller Hindernisse der Kleidung und Sitte entledigten. Die Frau Major wollte sich einer Leidenschaft nicht verweigern, über die sie kein Urteil zu haben fühlte, aber heimlich pochten Vorwürfe in ihr, wegen ihres Gatten und des Altersunterschieds, und als ihr Ulrich mit dürftig erfundenen Begründungen eines Tages mitteilte, daß er einen langen Urlaub antreten müsse, atmete die Offiziersfrau unter ihren Tränen auf. Ulrich aber hatte damals schon keinen anderen Wunsch mehr, als vor lauter Liebe so rasch und weit wie möglich aus der Nähe des Ursprungs dieser Liebe zu kommen. Er reiste blindlings darauflos, bis eine Küste dem Schienenweg ein Ende machte, ließ sich noch von einem Boot auf die nächste Insel übersetzen, die er sah, und hier, an einem unbekannten Zufallsort blieb er, notdürftig behaust und verpflegt, und schrieb gleich in der ersten Nacht den ersten einer Reihe langer Briefe an die Geliebte, die er niemals absandte.
Diese nachtstillen Briefe, die sein Denken auch bei Tag erfüllten, hatte er später verloren; und das war wohl auch ihre Bestimmung. Er hatte anfangs darin noch viel von seiner Liebe und allerhand durch sie eingegebenen Gedanken geschrieben, aber bald wurde das immer mehr durch die Landschaft verdrängt. Die Sonne hob ihn morgens aus dem Schlaf, und wenn die Fischer auf dem Wasser, die Weiber und Kinder bei den Häusern waren, so schienen er und ein die Büscheund Steinrücken zwischen den beiden kleinen Ortschaften der Insel abweidender Esel die einzigen höheren Lebewesen zu sein, die es auf diesem abenteuerlich vorgeschobenen Stück Erde gab. Er tat es seinem Gefährten gleich und stieg auf einen der Steinriegel oder er legte sich am Inselrand zwischen die Gesellschaft von Meer, Fels und Himmel. Das ist nicht anmaßend gesagt, denn der Größenunterschied verlor sich, so wie sich übrigens auch der Unterschied zwischen Geist, tierischer und toter Natur in solchem Beisammensein verlor und jede Art Unterschied zwischen den Dingen geringer wurde. Um das ganz nüchtern auszudrücken, diese Unterschiede werden sich wohl weder verloren noch verringert haben, aber die Bedeutung fiel von ihnen ab, man war ›keinen Scheidungen des Menschentums mehr Untertan‹, genau so wie es die von der Mystik der Liebe ergriffenen Gottgläubigen beschrieben haben, von denen der junge Reiterleutnant damals nicht das geringste wußte. Er dachte auch nicht über diese Erscheinungen nach – wie man sonst, einem Jäger auf der Wildspur gleich, einer Beobachtung nachspürt und hinter ihr dreindenkt –, ja er nahm sie wohl nicht einmal wahr, sondern er nahm sie in sich. Er versank in der Landschaft, obgleich das ebensogut ein unaussprechliches Getragenwerden war, und wenn die Welt seine Augen überschritt, so schlug ihr Sinn von innen an ihn in lautlosen Wellen. Er war ins Herz der Welt geraten; von ihm zu der weit entfernten Geliebten war es ebenso weit wie zum nächsten Baum; Ingefühl verband die Wesen ohne Raum, ähnlich wie im Traum zwei Wesen einander durchschreiten können, ohne sich zu vermischen, und änderte alle ihre Beziehungen. Der Zustand hatte aber sonst nichts mit Traum gemeinsam. Er war klar und übervoll von klaren Gedanken; bloß bewegte sich nichts in ihm nach Ursache, Zweck und körperlichem Begehren, sondern alles breitete sich in immer erneuten Kreisen aus, wie wenn ein Strahl ohne Ende in ein Wasserbecken fällt. Und eben das war es, was er auch in seinen Briefen beschrieb, und sonst nichts. Es war eine völlig veränderte Gestalt des Lebens; nicht in den Brennpunkt der gewöhnlichen Aufmerksamkeit gestellt, von der Schärfe befreit und so gesehen, eher ein wenig zerstreut und verschwommen war alles, was zu ihr gehörte; aber offenbar wurde es von anderen Zentren aus wieder mit zarter Sicherheit und Klarheit erfüllt. Denn alle Fragen und Vorkommnisse des Lebens nahmen eine unvergleichliche Milde, Weichheit und Ruhe an und zugleich eine gänzlich veränderte Bedeutung. Lief da zum Beispiel ein Käfer an der Hand des Denkenden vorbei, so war das nicht ein Näherkommen, Vorbeigehn und Entfernen, und es war nicht Käfer und Mensch, sondern es war ein unbeschreiblich das Herz rührendes Geschehen, ja nicht einmal ein Geschehen, sondern obgleich es geschah, ein Zustand. Und mit Hilfe solcher stillen Erfahrungen erhielt alles, was sonst das gewöhnliche Leben ausmacht, eine umstürzende Bedeutung, wo immer Ulrich damit zu tun bekam. Auch seine Liebe zu der Frau Major nahm in diesem Zustand rasch die ihr vorherbestimmte Gestalt an. Er suchte sich manchmal die Frau, an die er unablässig dachte, vorzustellen und sich einzubilden, was sie im gleichen Augenblick tun möge, worin er durch seine genaue Kenntnis ihrer Lebensumstände mächtig unterstützt wurde; aber sowie es gelang und er die Geliebte vor Augen sah, wurde sein so unendlich hellsichtig gewordenes Gefühl blind, und er mußte sich bemühen, ihr Bild rasch wieder auf die selige Gewißheit des Irgendwo-für-ihn-daseins einer großen Geliebten zu ermäßigen. Es dauerte nicht lange, da war sie ganz zum unpersönlichen Kraftzentrum, zum versenkten Dynamo seiner Erleuchtungsanlage geworden, und er schrieb ihr einen letzten Brief, worin er ihr auseinandersetzte, daß das große Zu-Liebe-leben eigentlich gar nichts mit Besitz und dem Wunsche Seimein zu tun habe, die aus der Sphäre des Sparens, Aneignens und der Freßsucht stammten. Das war der einzige Brief, den er abschickte, und ungefähr der Höhepunkt seiner Liebeskrankheit gewesen, auf den bald deren Ende und plötzlicher Abbruch folgte.
33
Bruch mit Bonadea
Bonadea hatte sich inzwischen, da sie nicht dauernd gegen die Zimmerdecke schauen konnte, am Diwan auf den Rücken gestreckt, ihr zarter mütterlicher Bauch atmete im weißen Batist unbeengt von Schnürleib und Bunden; sie nannte diese Lage: Nachdenken. Es fuhr ihr durch den Sinn, daß ihr Mann nicht nur Richter, sondern auch Jäger sei und zuweilen mit funkelnden Augen vom Raubzeug spreche, welches das Wild verfolge; es schien ihr, daß daraus etwas sowohl zugunsten Moosbruggers wie auch seiner Richter folgen müsse. Andererseits wünschte sie aber nicht, ihren Mann von ihrem Geliebten ins Unrecht setzen zu lassen, außer in dem einen Punkt der Liebe; ihr Familiengefühl forderte, den Hausvorstand würdig und geachtet zu sehn. So kam sie zu keinem Entschluß. Und während dieser Gegensatz wie zwei ungestalt ineinander fließende Wolkenzüge ihren Horizont schläfrig verfinsterte, genoß Ulrich die Freiheit, seinen Gedanken nachzuhängen. Das hatte nun freilich etwas lang gedauert, und weil Bonadea nichts eingefallen war, das der Angelegenheit eine Wendung hätte geben können, kehrte ihr Gram darüber, daß Ulrich sie achtlos beleidigt habe, wieder zurück, und die Zeit, die er verstreichen ließ, ohne es gutzumachen, begann erregend auf ihr zu lasten. »Du findest also, daß ich Unrecht tue, wenn ich dich besuche?« Diese Frage richtete sie schließlich langsam und betont an ihn, traurig, aber mit gesammeltem Kampfwillen.
Ulrich schwieg und zuckte die Achseln; er wußte längst nicht mehr, wovon sie sprach, aber er fand es unmöglich, sie in diesem Augenblick zu ertragen.
»Du bist wirklich imstande, mir Vorwürfe zu machen, wegen unserer Leidenschaft??«
»An jeder solchen Frage hängen so viel Antworten, wie Bienen in einem Stock sind« antwortete Ulrich. »Die ganze seelische Unordnung der Menschheit, mit ihren niemals erledigten Fragen, hängt in einer ekelhaften Weise an jeder einzelnen.« Damit sagte er nun freilich nichts anderes, als er an diesem Tage schon einigemale gedacht hatte; aber Bonadea bezog die seelische Unordnung auf sich und fand, daß dies zuviel sei. Sie hätte gerne die Vorhänge wieder zugezogen, um auf solche Weise diesen Zwist aus der Welt zu schaffen, aber ebenso gerne hätte sie vor Schmerz geheult. Und sie glaubte mit einemmal zu verstehen, daß Ulrich ihrer überdrüssig geworden sei. Dank ihrer Natur hatte sie bis dahin ihre Geliebten nie anders verloren als in der Art, wie man etwas verlegt und aus den Augen verliert, wenn man selbst von etwas Neuem angezogen wird; oder in jener anderen, daß sie sich ebenso schnell von ihnen getrennt wie mit ihnen vereinigt sah, was bei allem persönlichen Ärger doch etwas von dem Walten einer höheren Kraft hatte. Ihr erstes Gefühl war darum, bei dem ruhigen Widerstand Ulrichs, alt geworden zu sein. Ihre hilflose und obszöne Lage, halb entblößt auf einem Diwan allen Beleidigungen preisgegeben zu sein, beschämte sie. Sie richtete sich ohne Besinnen auf und ergriff ihre Kleider. Aber das Raschelnde, Rauschende der seidenen Kelche, in die sie zurückschlüpfte, bewog Ulrich nicht zur Reue. Der stechende Schmerz der Ohnmacht saß über Bonadeas Augen. »Er ist roh, er hat mich mit Absicht verletzt!« wiederholte sie sich. »Er rührt sich nicht!« stellte sie fest. Und mit jedem Band, das sie knüpfte, und jedem Haken, den sie schloß, sank sie tiefer in den abgrundschwarzen Brunnen dieses lang vergessenen Kinderschmerzes, verlassen zu sein. Finsternis zog ringsum auf; Ulrichs Gesicht war wie in letztem Licht zu sehen, hart und roh setzte es sich gegen das Dunkel des Kummers durch. »Wie habe ich dieses Gesicht nur lieben können?!« fragte sich Bonadea; aber zugleich krampfte ihr der Satz: »Auf ewig verloren!« die ganze Brust zusammen.
Ulrich, der ihren Beschluß, nicht wiederzukehren, ahnend erriet, hinderte ihn nicht. Bonadea strich nun mit kräftiger Bewegung das Haar vor dem Spiegel zurecht, dann setzte sie den Hut auf und band den Schleier. Jetzt war, da der Schleier vor dem Gesicht saß, alles vorbei; das war feierlich wie ein Todesurteil oder wie wenn ein Reisekoffer ins Schloß schnappt. Er sollte sie nicht mehr küssen und nicht ahnen, daß er die letzte Gelegenheit, es zu dürfen, versäume!
Sie wäre ihm deshalb beinahe vor Mitleid um den Hals gefallen und hätte sich daran ausgeweint.
34
Ein heißer Strahl und erkaltete Wände
Als Ulrich Bonadea hinunterbegleitet hatte und wieder allein war, hatte er keine Lust mehr, weiterzuarbeiten. Er ging auf die Straße hinaus, mit dem Vorsatz, Walter und Clarisse einen Boten mit einigen Zeilen zu schicken und ihnen seinen Besuch für den Abend anzukündigen. Als er die kleine Halle durchschritt, bemerkte er an der Wand ein Hirschgeweih, das hatte eine ähnliche Bewegung in sich wie Bonadea, während sie vor dem Spiegel den Schleier gebunden hatte; nur lächelte es nicht verzichtend vor sich hin. Er blickte umher, seine Umgebung betrachtend. Alle diese Olinien, Kreuzlinien, Geraden, Schwünge und Geflechte, aus denen sich eine Wohnungseinrichtung zusammensetzt und die sich um ihn angehäuft hatten, waren weder Natur noch innere Notwendigkeit, sondern starrten bis ins Einzelne von barocker Überüppigkeit. Der Strom und Herzschlag, der beständig durch alle Dinge unserer Umgebung fließt, hatte einen Augenblick ausgesetzt. Ich bin nur zufällig, feixte die Notwendigkeit; ich sehe nicht wesentlich anders aus als das Gesicht eines Lupuskranken, wenn man mich ohne Vorurteil betrachtet, gestand die Schönheit. Im Grunde gehörte gar nicht viel dazu; ein Firnis war abgefallen, eine Suggestion hatte sich gelöst, ein Zug von Gewohnheit, Erwartung und Spannung war abgerissen, ein fließendes, geheimes Gleichgewicht zwischen Gefühl und Welt war eine Sekunde lang beunruhigt worden. Alles, was man fühlt und tut, geschieht irgendwie ›in der Richtung des Lebens‹, und die kleinste Bewegung aus dieser Richtung hinaus ist schwer oder erschreckend. Das ist schon genau so, wenn man einfach nur geht: man hebt den Schwerpunkt, schiebt ihn vor und läßt ihn fallen; aber eine Kleinigkeit daran verändert, ein bißchen Scheu vor diesem Sich-in-die-Zukunft-Fallenlassen oder bloß Verwunderung darüber – und man kann nicht mehr aufrecht stehn! Man darf nicht darüber nachdenken. Und Ulrich fiel ein, daß alle Augenblicke, die in seinem Leben etwas Entscheidendes bedeuteten, ein ähnliches Gefühl hinterlassen hatten wie dieser.
Er winkte einem Dienstmann und übergab ihm sein Schreiben. Es war ungefähr vier Uhr Nachmittag, und er beschloß, den Weg ganz langsam zu Fuß zurückzulegen. Der Spätfrühling-Herbsttag beseligte ihn. Die Luft gor. Die Gesichter der Menschen hatten etwas von schwimmendem Schaum. Nach der eintönigen Anspannung seiner Gedanken in den letzten Tagen, fühlte er sich aus einem Kerker in ein weiches Bad versetzt. Er bemühte sich, freundlich und nachgiebig zu gehen. In einem gymnastisch durchgebildeten Körper liegt soviel Bereitschaft zu Bewegung und Kampf, daß es ihn heute unangenehm anmutete wie das Gesicht eines alten Komödianten, das voll oft gespielter unwahrer Leidenschaften ist. In der gleichen Weise hatte das Streben nach Wahrheit sein Inneres mit Bewegungsformen des Geistes angefüllt, es in gut gegeneinander exerzierende Gruppen von Gedanken zerlegt und ihm einen, streng genommen, unwahren und komödienhaften Ausdruck gegeben, den alles, sogar die Aufrichtigkeit selbst, in dem Augenblick annimmt, wo sie zur Gewohnheit wird. So dachte Ulrich. Er floß wie eine Welle durch die Wellenbrüder, wenn man so sagen darf; und warum sollte man es nicht dürfen, wenn ein Mensch, der sich einsam abgearbeitet hat, in die Gemeinschaft zurückkehrt und das Glück empfindet, in der gleichen Richtung zu fließen wie sie!
In einem solchen Augenblick mag nichts so fern liegen wie die Vorstellung, daß das Leben, das sie führen, und das sie führt, die Menschen nicht viel, nicht innerlich angeht. Dennoch weiß das jeder Mensch, solange er jung ist. Ulrich erinnerte sich, wie ein solcher Tag in diesen Straßen vor einem oder anderthalb Jahrzehnten für ihn ausgesehen hatte. Da war alles noch einmal so herrlich, und doch war ganz deutlich in diesem siedenden Begehren eine quälende Ahnung des Gefangenwerdens; ein beunruhigendes Gefühl: alles, was ich zu erreichen meine, erreicht mich; eine nagende Vermutung, daß in dieser Welt die unwahren, achtlosen und persönlich unwichtigen Äußerungen kräftiger widerhallen werden als die eigensten und eigentlichen. Diese Schönheit? – hat man gedacht – ganz gut, aber ist es die meine? Ist denn die Wahrheit, die ich kennenlerne, meine Wahrheit? Die Ziele, die Stimmen, die Wirklichkeit, all dieses Verführerische, das lockt und leitet, dem man folgt und worein man sich stürzt: – ist es denn die wirkliche Wirklichkeit, oder zeigt sich von der noch nicht mehr als ein Hauch, der ungreifbar auf der dargebotenen Wirklichkeit ruht?! Es sind die fertigen Einteilungen und Formen des Lebens, was sich dem Mißtrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle. Ulrich war vor einer Kirche stehengeblieben. Du lieber Himmel, wenn da im Schatten eine riesige Matrone gesessen wäre, mit großem, in Treppen fallendem Bauch, den Rücken an die Häuserwände gelehnt, und oben, in tausend Falten, auf Wärzchen und Pickeln, den Sonnenuntergang im Gesicht: hätte er es nicht ebensogut schön finden können? O Himmel, wie schön war es ja! Man will sich dem doch keineswegs entziehn, daß man mit der Pflicht ins Leben gesetzt worden ist, das zu bewundern; aber wie gesagt, es wäre auch nicht unmöglich, die breiten, ruhig hängenden Formen und das Filigran des Faltenwerks an einer ehrwürdigen Matrone schön zu finden, es ist bloß einfacher, zu sagen, sie sei alt. Und dieser Übergang vom Alt- zum Schönfinden der Welt ist ungefähr der gleiche wie jener von der Gesinnung der jungen Menschen zu der höheren Moral der Erwachsenen, die so lange ein lächerliches Lehrstück bleibt, bis man sie mit einemmal selbst hat. Es waren nur Sekunden, die Ulrich vor dieser Kirche stand, aber sie wuchsen in die Tiefe und preßten sein Herz mit dem ganzen Urwiderstand, den man ursprünglich gegen diese zu Millionen Zentnern Stein verhärtete Welt, gegen diese erstarrte Mondlandschaft des Gefühls hat, in die man willenlos hineingesetzt wurde.
Es mag sein, daß es den meisten Menschen eine Annehmlichkeit und Unterstützung bedeutet, die Welt bis auf ein paar persönliche Kleinigkeiten fertig vorzufinden, und es soll in keiner Weise in Zweifel gezogen werden, daß das im Ganzen Beharrende nicht nur konservativ, sondern auch das Fundament aller Fortschritte und Revolutionen ist, obgleich von einem tiefen, schattenhaften Unbehagen gesprochen werden muß, das auf eigene Faust lebende Menschen dabei empfinden. Es drang Ulrich, während er mit vollem Verständnis für die architektonische Feinheit das heilige Bauwerk betrachtete, überraschend lebhaft ins Bewußtsein, daß man genau so leicht Menschen fressen könnte, wie solche Sehenswürdigkeiten zu bauen oder stehen zu lassen. Die Häuser daneben, die Himmelsdecke darüber, überhaupt eine unaussprechliche Übereinstimmung in allen Linien und Räumen, die den Blick aufnahmen und leiteten, das Aussehen und der Ausdruck der Leute, die unten vorbeigingen, ihre Bücher und ihre Moral, die Bäume auf der Straße ... : das alles ist ja manchmal so steif wie spanische Wände und so hart wie der geschnittene Stempel einer Presse und so – man kann gar nicht anders sagen als vollständig, so vollständig und fertig, daß man ein überflüssiger Nebel daneben ist, ein ausgestoßener kleiner Atemzug, um den sich Gott weiter nicht kümmert. In diesem Augenblick wünschte er es sich, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein. Aber so ganz unähnlich ist das wohl überhaupt bei niemandem. Im Grunde wissen in den Jahren der Lebensmitte wenig Menschen mehr, wie sie eigentlich zu sich selbst gekommen sind, zu ihren Vergnügungen, ihrer Weltanschauung, ihrer Frau, ihrem Charakter, Beruf und ihren Erfolgen, aber sie haben das Gefühl, daß sich nun nicht mehr viel ändern kann. Es ließe sich sogar behaupten, daß sie betrogen worden seien, denn man kann nirgends einen zureichenden Grund dafür entdecken, daß alles gerade so kam, wie es gekommen ist; es hätte auch anders kommen können; die Ereignisse sind ja zum wenigsten von ihnen selbst ausgegangen, meistens hingen sie von allerhand Umständen ab, von der Laune, dem Leben, dem Tod ganz anderer Menschen, und sind gleichsam bloß im gegebenen Zeitpunkt auf sie zugeeilt. So lag in der Jugend das Leben noch wie ein unerschöpflicher Morgen vor ihnen, nach allen Seiten voll von Möglichkeiten und Nichts, und schon am Mittag ist mit einemmal etwas da, das beanspruchen darf, nun ihr Leben zu sein, und das ist im ganzen doch so überraschend, wie wenn eines Tags plötzlich ein Mensch dasitzt, mit dem man zwanzig Jahre lang korrespondiert hat, ohne ihn zu kennen, und man hat ihn sich ganz anders vorgestellt. Noch viel sonderbarer aber ist es, daß die meisten Menschen das gar nicht bemerken; sie adoptieren den Mann, der zu ihnen gekommen ist, dessen Leben sich in sie eingelebt hat, seine Erlebnisse erscheinen ihnen jetzt als der Ausdruck ihrer Eigenschaften, und sein Schicksal ist ihr Verdienst oder Unglück. Es ist etwas mit ihnen umgegangen wie ein Fliegenpapier mit einer Fliege, es hat sie da an einem Härchen, dort in ihrer Bewegung festgehalten und hat sie allmählich eingewickelt, bis sie in einem dicken Überzug begraben liegen, der ihrer ursprünglichen Form nur ganz entfernt entspricht. Und sie denken dann nur noch unklar an die Jugend, wo etwas wie eine Gegenkraft in ihnen gewesen ist. Diese andere Kraft zerrt und schwirrt, sie will nirgends bleiben und löst einen Sturm von ziellosen Fluchtbewegungen aus; der Spott der Jugend, ihre Auflehnung gegen das Bestehende, die Bereitschaft der Jugend zu allem, was heroisch ist, zu Selbstaufopferung und Verbrechen, ihr feuriger Ernst und ihre Unbeständigkeit, – alles das bedeutet nichts als ihre Fluchtbewegungen. Im Grunde drücken diese bloß aus, daß nichts von allem, was der junge Mensch unternimmt, aus dem Innern heraus notwendig und eindeutig erscheint, wenn sie es auch in der Weise ausdrücken, als ob alles, worauf er sich gerade stürzt, überaus unaufschiebbar und notwendig wäre. Irgend jemand erfindet einen schönen neuen Gestus, einen äußeren oder einen inneren – Wie übersetzt man das? Eine Lebensgebärde? Eine Form, in die das Innere strömt wie das Gas in einen Glasballon? Einen Ausdruck des Indrucks? Eine Technik des Seins? Es kann ein neuer Schnurrbart sein oder ein neuer Gedanke. Es ist Schauspielerei, aber hat wie alle Schauspielerei natürlich einen Sinn – und augenblicklich stürzen, wie die Spatzen von den Dächern, wenn man Futter streut, die jungen Seelen darauf zu. Man braucht es sich ja bloß vorzustellen: wenn außen eine schwere Welt auf Zunge, Händen und Augen liegt, der erkaltete Mond aus Erde, Häusern, Sitten, Bildern und Büchern, – und innen ist nichts wie ein haltlos beweglicher Nebel: welches Glück es bedeuten muß, sobald einer einen Ausdruck vormacht, in dem man sich selbst zu erkennen vermeint. Ist irgend etwas natürlicher, als daß jeder leidenschaftliche Mensch sich noch vor den gewöhnlichen Menschen dieser neuen Form bemächtigt?! Sie schenkt ihm den Augenblick des Seins, des Spannungsgleichgewichtes zwischen innen und außen, zwischen Zerpreßtwerden und Zerfliegen. Auf nichts anderem beruht – dachte Ulrich, und natürlich berührte ihn alles das auch persönlich; er hatte die Hände in den Taschen, und sein Gesicht sah so still und schlafend glücklich aus, als stürbe er in den Sonnenstrahlen, die hineinwirbelten, einen milden Erfrierungstod – auf nichts anderem, dachte er, beruht also auch die immerwährende Erscheinung, die man neue Generation, Väter und Söhne, geistige Umwälzung, Stilwechsel, Entwicklung, Mode und Erneuerung nennt. Was diese Renoviersucht des Daseins zu einem Perpetuum mobile macht, ist nichts als das Ungemach, daß zwischen dem nebelhaften eigenen und dem schon zur fremden Schale erstarrten Ich der Vorgänger wieder nur ein Schein-Ich, eine ungefähr passende Gruppenseele eingeschoben wird. Und wenn man bloß ein bißchen achtgibt, kann man wohl immer in der soeben eingetroffenen letzten Zukunft schon die kommende Alte Zeit sehen. Die neuen Ideen sind dann bloß um dreißig Jahre älter, aber befriedigt und ein wenig fettüberpolstert oder überlebt, so ähnlich wie man neben den schimmernden Gesichtszügen eines Mädchens das erloschene Gesicht der Mutter erblickt; oder sie haben keinen Erfolg gehabt, sind abgezehrt und zu einem Reformvorschlag eingeschrumpft, den ein alter Narr verficht, der von seinen fünfzig Bewunderern der große Soundso genannt wird.
Er blieb nun wieder stehen, diesmal auf einem Platz, wo er einige Häuser erkannte und sich an die öffentlichen Kämpfe und geistigen Aufregungen erinnerte, die ihr Entstehen begleitet hatten. Er gedachte seiner Jugendfreunde; alle waren sie seine Jugendfreunde gewesen, ob er sie persönlich kannte oder nur dem Namen nach, ob sie so alt waren wie er oder älter, die Rebellen, die neue Dinge und Menschen auf die Welt bringen wollten, und ob das hier war oder über alle Orte verstreut, die er kennengelernt hatte. Jetzt standen diese Häuser wie brave Tanten mit altmodischen Hüten in dem Spätnachmittagslicht, das schon zu verblassen begann, ganz nett und belanglos und alles andere eher als aufregend. Es lockte, zu lächeln. Aber die Leute, die diese anspruchslos gewordenen Reste zurückgelassen hatten, waren inzwischen Professoren, Berühmtheiten und Namen, ein bekannter Teil der bekannten fortschrittlichen Entwicklung geworden, sie waren auf einem mehr oder weniger kurzen Weg aus dem Nebel ins Erstarren gelangt, und deshalb wird die Geschichte von ihnen gelegentlich der Schilderung ihres Jahrhunderts einst melden: Anwesend waren...
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Direktor Leo Fischel und das Prinzip des unzureichenden Grundes
In diesem Augenblick wurde Ulrich durch einen Bekannten unterbrochen, der ihn unversehens ansprach. Dieser Bekannte hatte am gleichen Tag in seiner Aktenmappe, als er sie morgens vor dem Verlassen der Wohnung öffnete, in einem abseitigen Fach, unangenehm überrascht, ein Rundschreiben des Grafen Leinsdorf entdeckt, das er schon des längeren zu beantworten vergessen hatte, weil sein gesunder Geschäftssinn vaterländischen Aktionen, die von hohen Kreisen ausgingen, abhold war. »Faule Sache« hatte er wohl seinerzeit zu sich gesagt; beileibe sollte es das nicht sein, was er darüber öffentlich gesagt haben wollte, aber da, wie Gedächtnisse schon einmal sind, hatte ihm das seine einen üblen Streich gespielt, indem es sich nach dem gefühlhaften ersten inoffiziellen Auftrag richtete und die Sache nachlässig fallen ließ, statt die überlegte Entscheidung abzuwarten. Und deshalb stand in der Zuschrift, als er sie wieder öffnete, etwas, das ihm äußerst peinlich war, obgleich er es früher gar nicht beachtet hatte; es war eigentlich nur ein Ausdruck, zwei kleine Worte waren es, die sich in dem Sendschreiben an den verschiedensten Stellen wiederfanden, aber dieses Wortpaar hatte den stattlichen Mann, mit seiner Mappe in der Hand, vor dem Fortgehn mehrere Minuten Unentschlossenheit gekostet, und es hieß: der wahre.
Direktor Fischel – denn so hieß er, Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank, eigentlich nur Prokurist mit dem Titel Direktor, – Ulrich durfte sich seinen jüngeren Freund aus früheren Zeiten nennen und war bei seinem letzten Aufenthalt mit seiner Tochter Gerda recht befreundet gewesen, hatte sie aber seit seiner Rückkehr nur ein einzigesmal besucht – Direktor Fischel kannte Se. Erlaucht als einen Mann, der sein Geld arbeiten ließ und mit den Methoden der Zeit Schritt hielt, ja er »erkannte ihn«, wie der Geschäftsausdruck lautet, in dem Augenblick, wo er die Eintragungen in seinem Gedächtnis prüfte, »für« einen Mann von großer Wichtigkeit, denn die Lloyd-Bank war eines jener Institute, durch die Graf Leinsdorf seine Börsenaufträge besorgen ließ. Leo Fischel konnte darum die Nachlässigkeit nicht begreifen, mit der er eine so bewegliche Einladung behandelt hatte, wie es die war, in der Se. Erlaucht einen auserlesenen Kreis von Menschen aufforderte, sich zu einem großen und gemeinsamen Werk bereit zu halten. Er selbst war eigentlich nur durch ganz besondere, später zu erwähnende Umstände in diesen Kreis einbezogen worden und alles das war der Grund, warum er, Ulrichs kaum ansichtig geworden, sich auf ihn gestürzt hatte; er hatte erfahren, daß Ulrich mit der Sache, und noch dazu in »prominenter Weise«, zu tun habe, – was eine jener unbegreiflichen, aber nicht seltenen Gerüchtsbildungen war, die das Richtige treffen, ehe es noch richtig ist, – und setzte ihm nun wie ein Terzerol die drei Fragen vor die Brust, was er sich eigentlich unter »wahrer Vaterlandsliebe«, »wahrem Fortschritt« und »wahrem Österreich« vorstelle?
Dieser, aus seiner Stimmung aufgeschreckt und doch diese fortsetzend, antwortete in der Art, wie er mit Fischel immer verkehrt hatte: »Das PDUG.«
»Das –?« Direktor Fischel buchstabierte es harmlos nach und dachte diesmal an keinen Scherz, denn solche Abkürzungen, obgleich sie damals noch nicht so zahlreich waren wie heute, kannte man von Kartellen und Spitzenverbänden, und sie strömten Vertrauen aus. Aber dann sagte er doch: »Machen Sie, bitte, keine Witze; ich bin in Eile und muß zu einer Sitzung.«
»Das Prinzip des unzureichenden Grundes!« wiederholte Ulrich. »Sie sind doch Philosoph und werden wissen, was man unter dem Prinzip des zureichenden Grundes versteht. Nur bei sich selbst macht der Mensch davon eine Ausnahme; in unserem wirklichen, ich meine damit unserem persönlichen Leben und in unserem öffentlich-geschichtlichen geschieht immer das, was eigentlich keinen rechten Grund hat.«
Leo Fischel schwankte, ob er widersprechen solle oder nicht; Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank philosophierte gern, es gibt noch solche Menschen in den praktischen Berufen, aber er war wirklich in Eile; darum erwiderte er: »Sie wollen mich nicht verstehn. Ich weiß, was Fortschritt ist, ich weiß was Österreich ist, und ich weiß wahrscheinlich auch, was Vaterlandsliebe ist. Aber vielleicht vermag ich mir, was wahre Vaterlandsliebe, wahres Österreich und wahrer Fortschritt ist, nicht ganz richtig vorzustellen. Und um das frage ich Sie!«
»Gut; wissen Sie, was ein Enzym oder was ein Katalysator ist?«
Leo Fischel hob nur abwehrend die Hand.
»Das trägt materiell nichts bei, aber es setzt die Geschehnisse in Gang. Sie müssen aus der Geschichte wissen, daß es den wahren Glauben, die wahre Sittlichkeit und die wahre Philosophie niemals gegeben hat; dennoch haben die Kriege, Gemeinheiten und Gehässigkeiten, die ihretwegen entfesselt worden sind, die Welt fruchtbar umgestaltet.«
»Ein andermal!« beteuerte Fischel und versuchte, den Aufrichtigen zu spielen. »Hören Sie einfach, ich habe damit an der Börse zu tun und möchte wirklich gerne die eigentlichen Absichten des Grafen Leinsdorf kennen; worauf hat er es mit diesem Zusatz ›wahr‹ abgesehen?«
»Ich schwöre Ihnen,« erwiderte Ulrich ernst »daß weder ich noch irgend jemand weiß, was der, die, das Wahre ist; aber ich kann Ihnen versichern, daß es im Begriff steht, verwirklicht zu werden!«
»Sie sind ein Zyniker!« erklärte Direktor Fischel und eilte davon, war aber nach dem ersten Schritt noch einmal umgekehrt und hatte sich verbessert: »Ich habe erst unlängst zu Gerda gesagt, daß Sie einen großartigen Diplomaten hätten abgeben können. Ich hoffe, Sie besuchen uns bald wieder.«
36
Dank des genannten Prinzips besteht die Parallelaktion greifbar, ehe man weiß, was sie ist
Direktor Leo Fischel von der Lloyd-Bank glaubte, wie es alle Bankdirektoren vor dem Kriege taten, an den Fortschritt. Als ein Mann, der in seinem Fach tüchtig war, wußte er natürlich, daß man nur dort, wo man sich wirklich sehr genau auskennt, eine Überzeugung haben kann, auf die man selbst setzen möchte; die ungeheure Ausbreitung der Tätigkeiten läßt ihre Bildung anderswo nicht zu. Darum haben die tüchtigen und arbeitsamen Menschen, außer auf ihrem engsten Fachgebiet, keine Überzeugung, die sie nicht sofort preisgeben würden, wenn sie einen äußeren Druck dagegen spüren; man könnte geradezu sagen, sie sehen sich aus Gewissenhaftigkeit gezwungen, anders zu handeln, als sie denken. Direktor Fischel zum Beispiel stellte sich unter wahrer Vaterlandsliebe und wahrem Österreich überhaupt nichts vor, vom wahren Fortschritt dagegen hatte er eine persönliche Meinung, und diese war gewiß anders als die des Grafen Leinsdorf; aufgebraucht von Lombarden und Effekten oder was immer er unter sich hatte, einmal jede Woche einen Sitz in der Oper als einzige Erholung, glaubte er an einen Fortschritt des Ganzen, der irgendwie dem Bild der fortschreitenden Rentabilität seiner Bank ähneln mußte. Aber als Graf Leinsdorf auch das besser zu wissen vorgab und auf das Gewissen Leo Fischels zu wirken begann, fühlte dieser, »daß man doch nie wissen könne« (außer eben in Lombarden und Effekten), und da man zwar nicht weiß, es aber andererseits auch nicht verfehlen möchte, nahm er sich vor, bei seinem Generaldirektor ganz nebenbei anzufragen, was dieser von der Angelegenheit halte.
Als er das aber tat, hatte der Generaldirektor aus ganz ähnlichen Gründen darüber schon mit dem Gouverneur der Staatsbank gesprochen und war voll im Bilde. Denn nicht nur der Generaldirektor der Lloyd-, sondern selbstverständlich auch der Gouverneur der Staatsbank hatte vom Grafen Leinsdorf eine Einladung erhalten, und Leo Fischel, der nur ein Abteilungsleiter war, verdankte die seine überhaupt bloß den Familienbeziehungen seiner Frau, die aus der hohen Bürokratie stammte und diesen Zusammenhang niemals vergaß, weder in ihren gesellschaftlichen Beziehungen noch in ihren häuslichen Streitigkeiten mit Leo.Deshalb begnügte er sich, als er mit seinem Vorgesetzten von der Parallelaktion sprach, vielsagend den Kopf zu wiegen, was »große Sache« hieß, dereinst aber auch »faule Sache« geheißen haben konnte; das mochte unter keinen Umständen schaden, aber wegen seiner Frau hätte es Fischel wohl mehr gefreut, wenn sich die Sache als faul herausgestellt hätte.
Vorläufig hatte v. Meier-Ballot, der Gouverneur, der vom Generaldirektor zu Rate gezogen worden, jedoch selbst den besten Eindruck. Als er die »Anregung« des Grafen Leinsdorf empfing, trat er vor den Spiegel – natürlich, wenn auch nicht deshalb – und es blickte ihm daraus über Frack und Ordenskettchen das wohlgeordnete Gesicht eines bürgerlichen Ministers entgegen, in dem sich von der Härte des Gelds höchstens ganz hinten in den Augen noch etwas hielt, und seine Finger hingen wie Fahnen in der Windstille von seinen Händen herab, als hätten sie nie im Leben die hastigen Rechenbewegungen eines Banklehrlings ausführen müssen. Dieser bürokratisch überzüchtete Hochfinanzier, der mit den hungrigen, frei streifenden wilden Hunden des Börsenspiels kaum noch etwas gemeinsam hatte, sah unbestimmte, aber angenehm temperierte Möglichkeiten vor sich und hatte noch am gleichen Abend Gelegenheit, sich in dieser Auffassung zu bestärken, da er im Industriellenklub mit den früheren Ministern von Holtzkopf und Baron Wisnieczky sprach.
Diese beiden Herren waren unterrichtete, vornehme und zurückhaltende Männer in irgendwelchen hohen Stellungen, auf die man sie zur Seite gesetzt hatte, als die kurze Übergangsregierung zwischen zwei politischen Krisen, der sie angehört hatten, wieder überflüssig geworden war; es waren Männer, die ihr Leben im Dienst des Staats und der Krone hingebracht hatten, ohne hervortreten zu wollen, außer wenn ihr Allerhöchster Herr es ihnen befahl. Sie wußten von dem Gerücht, daß die große Aktion eine feine Spitze gegen Deutschland erhalten werde. Es bildete ihre Überzeugung nach wie vor dem Scheitern ihrer Mission, daß die beklagenswerten Erscheinungen, die das politische Leben der Doppelmonarchie damals schon zu einem Ansteckungsherd für Europa machten, außerordentlich verwickelt seien. Aber ebenso, wie sie sich verpflichtet gefühlt hatten, diese Schwierigkeiten für lösbar zu halten, als der Befehl dazu an sie erging, wollten sie auch jetzt es nicht für ausgeschlossen erklären, daß mit Mitteln, wie sie Graf Leinsdorf anregte, etwas zu erreichen sei; namentlich fühlten sie, daß ein »Markstein«, eine »glanzvolle Lebenskundgebung«, ein »machtvolles Auftreten nach außen, das auch auf die Verhältnisse im Innern aufrichtend wirkt« so zutreffend von Graf Leinsdorf formulierte Wünsche seien, daß man sich ihnen ebensowenig entziehen konnte, wie wenn verlangt worden wäre, jeder solle sich melden, der das Gute will.
Möglich wäre es immerhin, daß Holtzkopf und Wisnieczky als Männer, die in öffentlichen Geschäften Kenntnis und Erfahrung besaßen, mancherlei Bedenken empfunden hatten, zumal sie annehmen durften, daß sie selbst zu irgendeiner Rolle in der weiteren Entwicklung dieser Aktion ausersehen seien. Aber Menschen ebener Erde haben es leicht, kritisch zu sein und etwas abzulehnen, das ihnen nicht paßt; wenn man sich jedoch in seiner Lebensgondel dreitausend Meter hoch befindet, so steigt man nicht einfach aus, auch wenn man nicht mit allem einverstanden sein sollte. Und da man in diesen Kreisen wirklich loyal ist und, in Gegensatz zum vorhin erwähnten bürgerlichen Lebensgedränge, nicht gerne anders handeln will, als man denkt, so muß man sich in vielen Fällen damit begnügen, nicht allzu eingehend über eine Sache nachzudenken. Der Gouverneur v. Meier-Ballot wurde darum in seinem günstigen Eindruck von der Sache durch die Ausführungen der beiden Herrn noch bestärkt; und wenn er auch für seine Person und durch seinen Beruf zu einer gewissen Vorsicht neigte, so reichte das Gehörte doch zu der Entscheidung hin, daß man es mit einer Angelegenheit zu tun habe, deren weiterer Entwicklung man – sowohl jedenfalls wie abwartend – beiwohnen werde.
Indes bestand die Parallelaktion eigentlich damals noch gar nicht, und worin sie bestehen werde, wußte selbst Graf Leinsdorf noch nicht. Wie sich mit Sicherheit sagen läßt, war das einzige Bestimmte, was ihm bis zu jenem Zeitpunkt eingefallen war, eine Reihe von Namen.
Aber auch das ist ungemein viel. Denn so bestand in diesem Zeitpunkt, ohne daß irgend jemand eine sachliche Vorstellung zu haben brauchte, schon ein Netz von Bereitschaft, das einen großen Zusammenhang umspannte; und man darf wohl behaupten, daß dies die richtige Reihenfolge ist. Denn erst mußten Messer und Gabel erfunden werden, und dann lernte die Menschheit anständig essen; so erklärte es Graf Leinsdorf.
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Ein Publizist bereitet Graf Leinsdorf durch die Erfindung »Österreichisches Jahr« große Unannehmlichkeiten; Se. Erlaucht verlangt heftig nach Ulrich
Graf Leinsdorf hatte zwar nach vielen Seiten Aufforderungen verschickt, die »den Gedanken erwecken« sollten, aber er wäre vielleicht doch nicht so schnell vorwärtsgekommen, wenn nicht ein einflußreicher Publizist, der in Erfahrung gebracht hatte, es liege etwas in der Luft, rasch in seinem Blatt zwei große Aufsätze veröffentlicht hätte, in denen er als seine Anregung alles das aussprach, was seiner Vermutung nach im Werden war. Er wußte nicht viel – denn wo hätte er es erfahren sollen? – aber man merkte es nicht, ja gerade das gab seinen beiden Aufsätzen erst die Möglichkeit hinreißender Wirkung. Er war eigentlich der Erfinder der Vorstellung »Österreichisches Jahr«, über die er seine Spalten schrieb, ohne selbst sagen zu können, was damit gemeint war, aber in immer neuen Sätzen, so daß dieses Wort wie in einem Traum sich mit anderen Worten verband und wandelte und eine ungeheure Begeisterung auslöste. Graf Leinsdorf war anfangs entsetzt, aber mit Unrecht. Man kann an dem Wort Österreichisches Jahr ermessen, was ein publizistisches Genie bedeutet, denn dieses Wort hatte der rechte Instinkt erfunden. Es ließ Regungen ertönen, die bei der Vorstellung eines österreichischen Jahrhunderts stumm geblieben wären, während die Aufforderung, ein solches herbeizuführen, bei vernünftigen Menschen sogar für einen Einfall gegolten haben würde, den niemand ernst nimmt. Warum das so ist, es wäre schwer zu sagen. Vielleicht beflügelte eine gewisse Ungenauigkeit und Gleichnishaftigkeit, bei der man weniger an die Wirklichkeit denkt als sonst, nicht nur das Gefühl des Grafen Leinsdorf. Denn Ungenauigkeit hat eine erhebende und vergrößernde Kraft.
Es scheint, daß der brave, praktische Wirklichkeitsmensch die Wirklichkeit nirgends restlos liebt und ernst nimmt. Als Kind kriecht er unter den Tisch, um das Zimmer der Eltern, wenn sie nicht zu Hause sind, durch diesen genial einfachen Trick abenteuerlich zu machen; er sehnt sich als Knabe nach der Uhr; als Jüngling mit der goldenen Uhr nach der zu ihr passenden Frau; als Mann mit Uhr und Frau nach der gehobenen Stellung; und wenn er glücklich diesen kleinen Kreis von Wünschen zustande gebracht hat und ruhig darin hin und her schwingt wie ein Pendel, scheint sich dennoch sein Vorrat unbefriedigter Träume um nichts verringert zu haben. Denn wenn er sich erheben will, so gebraucht er dann ein Gleichnis. Offenbar weil ihmSchnee zuweilen unangenehm ist, vergleicht er ihn mit schimmernden Frauenbrüsten, und sobald ihn die Brüste seiner Frau zu langweilen beginnen, vergleicht er sie mit schimmerndem Schnee; er wäre entsetzt, wenn ihre Schnäbel sich eines Tags als hornige Taubenschnäbel herausstellen würden oder als eingesetzte Korallen, aber poetisch erregt es ihn. Er ist imstande, alles zu allem zu machen – Schnee zu Haut, Haut zu Blüten, Blüten zu Zucker, Zucker zu Puder, und Puder wieder zu Schneegeriesel –, denn es kommt ihm anscheinend nur darauf an, etwas zu dem zu machen, was es nicht ist, was wohl ein Beweis dafür ist, daß er es nirgends lange aushält, wo immer er sich befinde. Vollends aber kein richtiger Kakanier hielt es innerlich in Kakanien aus. Wenn man von ihm nun ein österreichisches Jahrhundert gefordert hätte, so wäre ihm das wie eine Höllenstrafe vorgekommen, die er sich und der Welt mit lächerlich freiwilliger Anstrengung auferlegen solle. Ganz etwas anderes dagegen war ein Österreichisches Jahr. Das hieß, wir wollen einmal zeigen, was wir eigentlich sein könnten; aber sozusagen auf Widerruf und höchstens ein Jahr lang. Man konnte sich darunter denken, was man wollte, es war ja nicht für die Ewigkeit, und das griff ans Herz, man wußte nicht wie. Es machte die tiefste Liebe zum Vaterland lebendig.
So kam es, daß Graf Leinsdorf einen ungeahnten Erfolg hatte. Auch er hatte ja seine Idee ursprünglich als ein solches Gleichnis empfangen, aber außerdem war ihm eine Reihe von Namen eingefallen, und seine moralische Natur strebte über den Zustand der Unfestheit hinaus; er besaß eine ausgeprägte Vorstellung davon, daß man die Phantasie des Volks, oder wie er nun zu einem ihm ergebenen Journalisten sagte, die Phantasie des Publikums auf ein Ziel lenken müsse, das klar, gesund, vernünftig und in Übereinstimmung mit den wahren Zielen der Menschheit und des Vaterlands sei. Dieser Journalist schrieb, angeeifert von dem Erfolg seines Berufsgenossen, das sogleich nieder, und da er vor seinem Vorgänger voraus hatte, es aus »authentischer Quelle« zu wissen, so lag es in der Technik seines Berufs, daß er sich in großen Lettern auf diese »Informationen aus einflußreichen Kreisen« berief; und gerade das war es auch, was Graf Leinsdorf von ihm erwartet hatte, denn Se. Erlaucht legte großen Wert darauf, kein Ideologe, sondern ein erfahrener Realpolitiker zu sein, und wollte einen feinen Strich zwischen dem Österreichischen Jahr eines genialen publizistischen Kopfes und der Bedachtsamkeit verantwortlicher Kreise gezogen wissen. Er bediente sich zu diesem Zweck der Technik des sonst von ihm nicht gerne als Vorbild angesehenen Bismarcks, die wahren Absichten Zeitungsschreibern in den Mund zu legen, um sie je nach dem Gebot der Stunde bekennen oder verleugnen zu können.
Aber während Graf Leinsdorf mit solcher Klugheit handelte, hatte er eines nicht bedacht. Denn nicht nur ein Mann wie er sah das Wahre, das uns not tut, sondern auch unzählige andere Menschen wähnen sich in seinem Besitz. Man kann das geradezu als eine Verhärtungsform des vorerwähnten Zustandes bezeichnen, in welchem man noch Gleichnisse macht. Irgendwann schwindet die Lust auch an ihnen dahin, und viele von den Menschen, in denen dann ein Vorrat von endgültig unbefriedigten Träumen zurückbleibt, schaffen sich da einen Punkt an, auf den sie heimlich starren, als ob dort eine Welt beginnen müßte, die man ihnen schuldig geblieben sei. Binnen kürzester Zeit, nachdem er seine Zeitungsnachricht ausgesandt hatte, glaubte Se. Erlaucht schon zu bemerken, daß alle Menschen, die kein Geld haben, dafür einen unangenehmen Sektierer in sich tragen. Dieser eigensinnige Mensch im Menschen geht morgens mit ins Büro und vermag überhaupt in keiner wirksamen Weise gegen den Weltlauf zu protestieren, aber er wendet statt dessen zeit seines Lebens die Augen nicht mehr von einem heimlichen Punkt ab, den kein andrer bemerken will, obgleich dort doch offenbar das ganze Unglück der Welt anhebt, die ihren Erlöser nicht erkennt. Solche fixierte Punkte, in denen das Gleichgewichtszentrum einer Person mit dem Gleichgewichtszentrum der Welt übereinfällt, sind zum Beispiel ein Spucknapf, der sich durch einen einfachen Griff schließen läßt, oder die Abschaffung der Salzfässer in den Gasthäusern, in die man mit den Messern fährt, wodurch mit einem Schlag die Verbreitung der die Menschheit geißelnden Tuberkulose verhindert würde, oder die Einführung des Kurzschriftsystems Öhl, das durch seine unvergleichliche Zeitersparnis gleich auch die soziale Frage löst, oder die Bekehrung zu einer naturgemäßen, der herrschenden Verwüstung Einhalt gebietenden Lebensweise, aber auch eine metapsychische Theorie der Himmelsbewegungen, die Vereinfachung des Verwaltungsapparats und eine Reform des Sexuallebens. Wollen die Umstände dem Menschen wohl, so hilft er sich, indem er eines Tags über seinen Punkt ein Buch verfaßt oder eine Broschüre oder wenigstens einen Zeitungsaufsatz und seinen Protest dadurch gewissermaßen bei den Akten der Menschheit zu Protokoll gibt, was ungeheuer beruhigt, selbst wenn es von niemand gelesen wird; gewöhnlich aber lockt es einige Leute an, die dem Verfasser versichern, daß er ein neuer Kopernikus sei, wonach sie sich ihm als unverstandene Newtons vorstellen. Diese Gepflogenheit, sich gegenseitig die Punkte aus dem Fell zu suchen, ist sehr wohltuend und weitverbreitet, aber ihre Wirkung ist nicht dauerhaft, weil die Beteiligten sich nach einer Weile verzanken und wieder ganz allein bleiben; doch kommt es auch vor, daß einer oder der andere einen kleinen Kreis von Bewunderern um sich sammelt, die mit vereinter Kraft den Himmel anklagen, der seinen gesalbten Sohn nicht genügend unterstütze. Und fällt dann plötzlich ein Hoffnungsstrahl aus großer Höhe auf solche Punktehäufchen – wie es geschah, als Graf Leinsdorf öffentlich äußern ließ, daß ein Österreichisches Jahr, wenn es ein solches wirklich geben werde, was damit noch nicht gesagt sein solle, jedenfalls in Übereinstimmung mit den wahren Zielen des Daseins stehen müßte – so nehmen sie das auf wie die Heiligen, denen Gott eine Erscheinung schickt.
Graf Leinsdorf hatte gedacht, daß sein Werk eine machtvolle, aus der Mitte des Volkes selbst aufsteigende Kundgebung werden solle. Er hatte dabei an die Universität, an die Geistlichkeit, an einige Namen, die niemals in den Berichten über charitative Veranstaltungen fehlen, ja sogar an die Zeitungen selbst gedacht; er rechnete mit den patriotischen Parteien, mit dem »gesunden Sinn« des Bürgertums, das an Kaisers Geburtstag die Fahnen herausstreckt, und mit der Beihilfe der Hochfinanz, ja er rechnete auch mit der Politik, denn er hoffte insgeheim, durch sein großes Werk gerade sie überflüssig zu machen, indem er sie auf den gemeinsamen Nenner Vaterland brachte, den er später durch Land zu dividieren beabsichtigte, um den väterlichen Herrscher als einzigen Rest übrig zu behalten; aber an eines hatte Se. Erlaucht eben nicht gedacht, und er wurde überrascht von dem weit verbreiteten Weltverbesserungsbedürfnis, das von der Wärme einer großen Gelegenheit ausgebrütet wird wie Insekteneier bei einem Brand. Damit hatte Se. Erlaucht nicht gerechnet; er hatte sehr viel Patriotismus erwartet, aber er war nicht vorbereitet auf Erfindungen, Theorien, Weltsysteme und Menschen, die von ihm die Erlösung aus geistigen Kerkern verlangten. Sie belagerten sein Palais, priesen die Parallelaktion als eine Möglichkeit, der Wahrheit endlich zum Durchbruch zu verhelfen, und Graf Leinsdorf wußte nicht, was er mit ihnen beginnen solle. Im Bewußtsein seiner gesellschaftlichen Stellung konnte er sich doch nicht mit allen diesen Leuten an einen Tisch setzen, als ein von gespannter Moralität erfüllter Geist wollte er sich ihnen aber auch nicht entziehen, und da seine Bildung politisch und philosophisch, aber durchaus nicht naturwissenschaftlich und technologisch war, wurde er in keiner Weise klug daraus, ob an diesen Vorschlägen etwas daran sei oder nicht.
In dieser Lage sehnte er sich immer heftiger nach Ulrich, der ihm gerade als der Mann empfohlen worden war, den er gebraucht hätte, denn sein Sekretär oder überhaupt jeder gewöhnliche Sekretär war solchen Anforderungen natürlich nicht gewachsen. Er betete sogar einmal, als er sich sehr über seinen Angestellten geärgert hatte, zu Gott – obgleich er sich am nächsten Tag dessen schämte –, daß Ulrich doch endlich zu ihm kommen möge. Und als dies nicht geschah, machte sich Se. Erlaucht systematisch selbst auf die Suche. Er ließ im Adreßbuch nachschlagen, aber Ulrich war darin noch nicht enthalten. Er begab sich sodann zu seiner Freundin Diotima, die gewöhnlich Rat wußte, und tatsächlich hatte die Bewundernswerte Ulrich auch schon gesprochen, aber sie hatte vergessen, sich seine Wohnung angeben zu lassen, oder schützte das vor, denn sie wollte die Gelegenheit benützen, um Sr. Erlaucht einen neuen und viel besseren Vorschlag für die Sekretärstelle der großen Aktion zu unterbreiten. Aber Graf Leinsdorf war sehr aufgeregt und erklärte auf das bestimmteste, daß er sich an Ulrich bereits gewöhnt habe, einen Preußen nicht brauchen könne, auch einen Reformpreußen nicht, und überhaupt von noch mehr Komplikationen nichts wissen wolle. Er war bestürzt, als seine Freundin sich danach gekränkt zeigte, und bekam dadurch einen selbständigen Einfall; er erklärte ihr, daß er nun geradeswegs zu seinem Freund, dem Polizeipräsidenten, fahren werde, der schließlich doch die Adresse eines jeden Staatsbürgers herausbringen müsse.
38
Clarisse und ihre Dämonen
Als Ulrichs Brief eintraf, spielten Walter und Clarisse wieder so heftig Klavier, daß die dünnbeinigen Kunstfabrikmöbel tanzten und die Dante Gabriel Rosetti-Stiche an den Wänden zitterten. Dem alten Dienstmann, der Haus und Wohnung offen gefunden hatte, ohne angehalten zu werden, schlug Blitz und Donner ins Gesicht, als er bis in den Wohnraum vordrang, und der heilige Lärm, in den er hineingeraten war, preßte ihn ehrfürchtig an die Wand. Clarisse war es, welche die weiterdrängende musikalische Erregung schließlich in zwei gewaltigen Schlägen entlud und ihn befreite. Während sie den Brief las, wand sich der unterbrochene Erguß noch aus Walters Händen; eine Melodie lief zuckend wie ein Storch und breitete dann die Flügel. Clarisse beobachtete das mißtrauisch, während sie Ulrichs Schreiben entzifferte.
Als sie ihm das Kommen des Freundes ankündigte, sagte Walter: »Schade!«
Sie setzte sich wieder neben ihn auf den kleinen drehbaren Klavierstuhl, und ein Lächeln, das Walter aus irgendeinem Grund als grausam empfand, spaltete ihre Lippen, die sinnlich aussahen. Es war der Augenblick, wo die Spieler ihr Blut anhalten, um es in gleichem Rhythmus loslassen zu können, und die Augenachsen ihnen wie vier gleichgerichtete lange Stiele aus dem Kopf stehn, während sie mit der Sitzfläche gespannt das Stühlchen festhalten, das auf dem langen Hals seiner Holzschraube immer wackeln will.
Im nächsten Augenblick waren Clarisse und Walter wie zwei nebeneinander dahinschießende Lokomotiven losgelassen. Das Stück, das sie spielten, flog wie blitzende Schienenstränge auf ihre Augen zu, verschwand in der donnernden Maschine und lag als klingende, gehörte, in wunderbarer Weise gegenwärtig bleibende Landschaft hinter ihnen. Während dieser rasenden Fahrt wurde das Gefühl dieser beiden Menschen zu einem einzigen zusammengepreßt; Gehör, Blut, Muskeln wurden willenlos von dem gleichen Erlebnis hingerissen; schimmernde, sich neigende, sich biegende Tonwände zwangen ihre Körper in das gleiche Geleis, bogen sie gemeinsam, weiteten und verengten die Brust im gleichen Atemzug. Auf den Bruchteil einer Sekunde genau, flogen Heiterkeit, Trauer, Zorn und Angst, Lieben und Hassen, Begehren und Überdruß durch Walter und Clarisse hindurch. Es war ein Einswerden, ähnlich dem in einem großen Schreck, wo hunderte Menschen, die eben noch in allem verschieden gewesen sind, die gleichen rudernden Fluchtbewegungen ausführen, die gleichen sinnlosen Schreie ausstoßen, in der gleichen Weise Mund und Augen aufreißen, von einer zwecklosen Gewalt gemeinsam vor- und zurückgerissen werden, links und rechts gerissen werden, brüllen, zucken, wirren und zittern. Aber es hatte nicht die gleiche, stumpfe, übermächtige Gewalt, wie sie das Leben hat, wo solches Geschehen sich nicht so leicht ereignet, dafür aber alles Persönliche widerstandslos auslöscht. Der Zorn, die Liebe, das Glück, die Heiterkeit und Trauer, die Clarisse und Walter im Flug durchlebten, waren keine vollen Gefühle, sondern nicht viel mehr als das zum Rasen erregte körperliche Gehäuse davon. Sie saßen steif und entrückt auf ihren Sesselchen, waren auf nichts und in nichts und über nichts oder jeder auf, in und über etwas anderes zornig, verliebt und traurig, dachten Verschiedenes und meinten jeder das Seine; der Befehl der Musik vereinigte sie in höchster Leidenschaft und ließ ihnen zugleich etwas Abwesendes wie im Zwangsschlaf der Hypnose.
Jeder dieser beiden Menschen spürte es in seiner Weise. Walter war glücklich und erregt. Er hielt, wie das die meisten musikalischen Menschen tun, diese wogenden Wallungen und gefühlsartigen Bewegungen des Inneren, das heißt den wolkig aufgerührten körperlichen Untergrund der Seele für die einfache, alle Menschen verbindende Sprache des Ewigen. Es entzückte ihn, Clarisse mit dem starken Arm des Urgefühls an sich zu pressen. Er war an diesem Tag früher aus seinem Büro nach Hause gekommen als sonst. Er hatte mit der Katalogisierung von Kunstwerken zu tun gehabt, die noch die Form großer, ungebrochener Zeiten trugen und eine geheimnisvolle Willenskraft ausströmten. Clarisse war ihm freundlich begegnet, sie war nun in der ungeheuren Welt der Musik fest an ihn gebunden. Es trug alles an diesem Tag ein geheimes Gelingen in sich, einen lautlosen Marsch, wie wenn Götter auf dem Wege sind. »Vielleicht ist heute der Tag?« dachte Walter. Er wollte Clarisse ja nicht durch Zwang zu sich zurückbringen, sondern zu innerst aus ihr selbst sollte die Erkenntnis aufsteigen und sie sanft zu ihm herüberneigen.
Das Klavier hämmerte schimmernde Notenköpfe in eine Wand aus Luft. Obgleich dieser Vorgang in seinem Ursprung ganz und gar wirklich war, verschwanden die Mauern des Zimmers, und es erhob sich an ihrer Stelle das goldene Gewände der Musik, dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das Unbestimmteste ineinanderstürzen, während er selbst ganz und gar aus Empfindung, Bestimmtheit, Genauigkeit, ja aus einer Hierarchie des Glanzes geordneter Einzelheiten besteht. An diesen sinnlichen Einzelheiten waren die Fäden des Gefühls befestigt, die sich aus dem wogenden Dunst der Seelen spannen; und dieser Dunst spiegelte sich in der Präzision der Wände und kam sich selbst deutlich vor. Wie puppige Kokons hingen die Seelen der beiden Menschen in den Fäden und Strahlen. Je dicker eingewickelt und breiter ausgestrahlt sie wurden, desto wohliger fühlte sich Walter, und seine Träume nahmen so sehr die Gestalt eines kleinen Kindes an, daß er hie und da begann, die Töne falsch und zu gefühlig zu betonen.
Aber ehe das kam und bewirkte, daß ein durch den goldenen Nebel schlagender Funke gewöhnlichen Gefühls die beiden wieder in irdische Beziehung zu einander brachte, waren Clarissens Gedanken von den seinen schon der Art nach so verschieden, wie es zwei Menschen nur zuwege bringen können, die mit zwillingshaften Gebärden der Verzweiflung und Seligkeit nebeneinander hinstürmen. In flatternden Nebeln sprangen Bilder auf, verschmolzen, überzogen einander, verschwanden, das war Clarissens Denken; sie hatte darin eine eigene Art; oft waren mehrere Gedanken gleichzeitig ineinander da, oft gar keiner, aber dann konnte man die Gedanken wie Dämonen hinter der Bühne stehen fühlen, und das zeitliche Nacheinander der Erlebnisse, das anderen Menschen eine richtige Stütze abgibt, wurde in Clarisse zu einem Schleier, der seine Falten bald dicht übereinander warf, bald in einen kaum noch sichtbaren Hauch auflöste.
Drei Personen waren diesmal um Clarisse; Walter, Ulrich und der Frauenmörder Moosbrugger.
Von Moosbrugger hatte ihr Ulrich erzählt.
Anziehung und Abstoßung mischten sich darin zu einem sonderbaren Bann.
Clarisse nagte an der Wurzel der Liebe. Zwiespältig ist sie, mit Kuß und Biß, mit Aneinanderhängen der Blicke und gequältem Wegdrehen des Auges im letzten Augenblick. »Drängt das gute Miteinanderauskommen zum Haß?« fragte sie sich. »Will das anständige Leben die Roheit? Bedarf das Friedliche der Grausamkeit? Verlangt die Ordnung nach Zerrissenwerden?« Das war es, und war es nicht, was Moosbrugger erregte. Unter dem Donner der Musik schwebte ein Weltbrand um sie, ein noch nicht ausgebrochener Weltbrand; innerlich am Gebälk fressend. Aber so wie in einem Gleichnis, wo die Dinge die gleichen sind, dawider aber auch ganz verschieden sind, und aus der Ungleichnis des Gleichen wie aus der Gleichnis des Ungleichen zwei Rauchsäulen aufsteigen, mit dem märchenhaften Geruch von Bratäpfeln und ins Feuer gestreuten Fichtenzweigen, war es auch.
»Man dürfte nie zu spielen aufhören« sagte sich Clarisse und begann mit raschem Herumwerfen der Notenblätter das Stück von vorne, als es zu Ende war. Walter lächelte befangen und folgte ihr.
»Was macht Ulrich eigentlich mit der Mathematik?« fragte sie ihn.
Walter zuckte im Spiel die Schultern, als steuerte er einen Rennwagen.
»Man müßte weiter und weiter spielen, bis zum Ende« dachte Clarisse. »Wenn man bis ans Lebensende ununterbrochen spielen könnte, was wäre dann Moosbrugger? Schauerlich? Ein Narr? Ein schwarzer Vogel des Himmels?« Sie wußte es nicht.
Sie wußte überhaupt nichts. Eines Tags – sie hätte auf den Tag ausrechnen können, wann das geschah, – war sie aus dem Schlaf der Kindheit erwacht, und da war auch schon die Überzeugung fertig gewesen, daß sie berufen sei, etwas auszurichten, eine besondere Rolle zu spielen, vielleicht sogar zu etwas Großem ausersehen sei. Sie wußte damals noch gar nichts von der Welt. Sie glaubte auch nichts von dem, was man ihr darüber erzählte, die Eltern, der ältere Bruder: das waren klappernde Worte, ganz gut und ganz schön, aber man konnte sich nicht aneignen, was sie sagten; man konnte einfach nicht, so wenig wie ein chemischer Körper einen anderen aufnimmt, der ihm nicht »eignet«. Dann kam Walter, das war der Tag; von diesem Tag an war alles »eigen«. Walter trug einen kleinen Schnurrbart, ein Bürstchen; er sagte: Fräulein; mit einemmal war die Welt keine wüste, regellose, zerbrochene Fläche mehr, sondern ein schimmernder Kreis, Walter ein Mittelpunkt, sie ein Mittelpunkt, zwei in einen zusammenfallende Mittelpunkte waren sie. Erde, Häuser, abgefallene und nicht weggefegte Blätter, schmerzende Luftlinien (sie erinnerte sich an den Augenblick, als einen der quälendsten der Kindheit, wo sie mit ihrem Vater auf einer »Aussicht« stand und er, der Maler, sich eine Endlosigkeit lang daran entzückte, während sie der Blick in die Welt längs dieser langen Luftlinien bloß schmerzte, als ob sie mit dem Finger über eine Linealkante fahren müßte): aus solchen Dingen hatte früher das Dasein bestanden und war nun mit einemmal ihr zu eigen geworden, wie Fleisch von ihrem Fleische.
Sie wußte nun, daß sie etwas Titanenhaftes tun werde; was es sein würde, vermochte sie noch nicht zu sagen, aber einstweilen empfand sie es am heftigsten bei Musik und hoffte dann, daß Walter ein noch größeres Genie sein werde als Nietzsche; von Ulrich zu schweigen, der später auftauchte und ihr bloß Nietzsches Werke geschenkt hatte.
Von da an war es vorwärts gegangen. Wie rasch, war nun gar nicht mehr zu sagen. Wie schlecht hatte sie früher Klavier gespielt, wie wenig von Musik verstanden; jetzt spielte sie besser als Walter. Und wieviel Bücher hatte sie gelesen! Woher waren sie alle gekommen? Sie sah das vor sich wie schwarze Vögel, die in Scharen um ein kleines Mädchen flattern, das im Schnee steht. Aber etwas später sah sie eine schwarze Wand und weiße Flecken darin; schwarz war alles, was sie nicht kannte, und obgleich das Weiße zu kleinen und größeren Inseln zusammenlief, blieb das Schwarze unverändert unendlich. Von diesem Schwarz ging Angst und Aufregung aus. »Es ist der Teufel?« dachte sie. »Ist der Teufel Moosbrugger geworden??« dachte sie. Zwischen den weißen Flecken bemerkte sie jetzt dünne graue Wege: so war sie in ihrem Leben von einem zum anderen gekommen; das waren Geschehnisse; Abreisen, Ankünfte, erregte Aussprachen, Kampf mit den Eltern, die Heirat, das Haus, unerhörtes Ringen mit Walter. Die dünnen grauen Wege schlängelten sich. »Schlangen!« dachte Clarisse »Schlingen!« Diese Geschehnisse umschlangen sie, hielten sie fest, ließen sie nicht dorthin kommen, wohin sie wollte, waren schlüpfrig und machten sie unversehens an einen Punkt schießen, den sie nicht wünschte.
Schlangen, Schlingen, schlüpfrig: so lief das Leben. Ihre Gedanken fingen an zu laufen wie das Leben. Die Spitzen ihrer Finger tauchten in den Sturzbach der Musik. Im Bachbett der Musik kamen Schlangen und Schlingen herunter. Da tat sich rettend wie eine stille Bucht das Gefängnis auf, in dem Moosbrugger verborgengehalten wurde. Clarissens Gedanken traten schaudernd in seine Zelle ein. »Man muß bis zum Ende Musik machen!« wiederholte sie sich aufmunternd, aber ihr Herz zitterte heftig. Als es sich beruhigt hatte, war die ganze Zelle mit ihrem Ich angefüllt. Das war ein so mildes Gefühl wie eine Wundsalbe, aber als sie es für immer festhalten wollte, fing es sich zu öffnen an und auseinanderzuschieben wie ein Märchen oder ein Traum. Moosbrugger saß mit aufgestütztem Haupt, und sie löste seine Fesseln. Während sich ihre Finger bewegten, kam Kraft, Mut, Tugend, Güte, Schönheit, Reichtum in die Zelle, wie ein Wind, durch ihre Finger gerufen, der von verschiedenen Wiesen kommt. »Es ist ganz gleichgültig, warum ich das tun mag,« fühlte Clarisse »wichtig ist nur, daß ich es jetzt tue!« Sie legte ihm ihre Hände, einen Teil ihres eigenen Körpers, auf die Augen, und als sie die Finger wegzog, war Moosbrugger ein schöner Jüngling geworden, und sie selbst stand als eine wunderbar schöne Frau neben ihm, deren Körper so süß und weich war wie Südwein und gar nicht widerspenstig, wie es der Körper der kleinen Clarisse sonst war. »Es ist unsre Unschuldsgestalt!« stellte sie in einer tief unten denkenden Schicht ihres Bewußtseins fest.
Aber warum war Walter nicht so?! Aufsteigend aus der Tiefe des Musiktraums, erinnerte sie sich, wie kindisch sie noch war, als sie Walter schon liebte, mit ihren fünfzehn Jahren damals, und ihn durch Mut, Stärke und Güte aus allen Gefahren retten wollte, die sein Genie bedrohten. Und wie schön es war, wenn Walter überall diese tiefen seelischen Gefahren erblickte! Und sie fragte sich, ob alles das nur kindisch gewesen sei? Die Heirat hatte es mit einem störenden Licht überstrahlt. Es war plötzlich eine große Verlegenheit für die Liebe aus dieser Heirat entstanden. Obgleich diese letzte Zeit natürlich auch wunderbar war, vielleicht inhaltsreicher und dingvoller als die vorangegangenen, war doch der Riesenbrand, das über den Himmel Hinflackernde zu den Schwierigkeiten eines Herdfeuers geworden, das nicht recht brennen will. Clarisse war nicht ganz sicher, ob ihre Kämpfe mit Walter wirklich noch groß waren. Und das Leben lief wie diese Musik, die unter den Händen verschwand. Im Nu würde es vorüber sein! Heillose Angst kam allmählich über Clarisse. Und in diesem Augenblick bemerkte sie, wie Walters Spiel unsicher wurde. Wie große Regentropfen klatschte sein Gefühl in die Tasten. Sie erriet sofort, woran er dachte: das Kind. Sie wußte, daß er sie mit einem Kind an sich anbinden wollte. Das war ihr Streit alle Tage. Und die Musik hielt keinen Augenblick still, die Musik kannte kein Nein. Wie ein Netz, dessen Umgarnung sie nicht bemerkt hatte, zog sich das rasend schnell zusammen.
Da sprang Clarisse mitten im Spiel auf und schlug das Klavier zu, so daß Walter kaum die Finger retten konnte.
Oh, tat es weh! Noch ganz erschrocken, begriff er alles. Das war Ulrichs Kommen, das Clarisse bloß schon durch die Ankündigung in exzessive Gemütsstimmung brachte! Er schädigte sie, indem er brutal das aufregte, was Walter selbst sich kaum anzurühren getraute, das unselig Genialische in Clarisse, die geheime Kaverne, wo etwas Unheilvolles an Ketten riß, die eines Tages nachlassen konnten.
Er rührte sich nicht und sah Clarisse bloß fassungslos an.
Und Clarisse gab keine Erklärungen, stand da und atmete heftig.
Ganz und gar liebe sie Ulrich nicht, versicherte sie, nachdem Walter gesprochen. Wenn sie ihn lieben würde, würde sie es sofort sagen. Aber sie fühle sich angesteckt durch ihn wie ein Licht. Sie fühle sich wieder etwas mehr leuchten und gelten, wenn er in der Nähe sei. Wogegen Walter nur jederzeit die Fensterladen schließen möchte. Und was sie fühle, ginge keinen an, Ulrich nicht und Walter nicht!
Aber Walter glaubte doch, zwischen Zorn und Entrüstung, die aus ihren Worten atmeten, ein betäubendes tödliches Körnchen von etwas duften zu fühlen, das nicht Zorn war.
Es war Abend geworden. Das Zimmer war schwarz. Das Klavier war schwarz. Die Schatten zweier sich liebenden Menschen waren schwarz. Clarissens Auge leuchtete im Dunkel, angesteckt wie ein Licht, und in dem vor Schmerz unruhigen Munde Walters schimmerte der Schmelz auf einem Zahn wie Elfenbein. Es schien, mochten draußen in der Welt auch die größten Staatsaktionen vor sich gehn, und trotz seiner Unannehmlichkeiten, einer der Augenblicke zu sein, um deretwillen Gott die Erde geschaffen hat.
39
Ein Mann ohne Eigenschaften besteht aus Eigenschaften ohne Mann
Allein Ulrich kam an diesem Abend nicht. Nachdem ihn Direktor Fischel eilig verlassen hatte, beschäftigte ihn wieder die Frage seiner Jugend, warum alle uneigentlichen und im höheren Sinn unwahren Äußerungen von der Welt so unheimlich begünstigt werden. »Man kommt gerade dann immer einen Schritt vorwärts, wenn man lügt« dachte er; »das hätte ich ihm auch noch sagen sollen.«
Ulrich war ein leidenschaftlicher Mensch, aber man darf dabei unter Leidenschaft nicht das verstehen, was man im einzelnen die Leidenschaften nennt. Es mußte wohl etwas gegeben haben, das ihn immer wieder in diese hineingetrieben hatte, und das war vielleicht Leidenschaft, aber im Zustand der Erregung und der erregten Handlungen selbst war sein Verhalten zugleich leidenschaftlich und teilnahmslos. Er hatte so ziemlich alles mitgemacht, was es gibt, und fühlte, daß er sich noch jetzt jederzeit in etwas hineinstürzen könnte, das ihm gar nichts zu bedeuten brauchte, wenn es bloß seinen Aktionstrieb reizte. Mit wenig Übertreibung durfte er darum von seinem Leben sagen, daß sich alles darin so vollzogen habe, wie wenn es mehr zueinander gehörte als zu ihm. Auf A war immer B gefolgt, ob das nun im Kampf oder in der Liebe geschah. Und so mußte er wohl auch glauben, daß die persönlichen Eigenschaften, die er dabei erwarb, mehr zueinander als zu ihm gehörten, ja jede einzelne von ihnen hatte, wenn er sich genau prüfte, mit ihm nicht inniger zu tun als mit anderen Menschen, die sie auch besitzen mochten.
Aber ohne Zweifel wird man trotzdem durch sie bestimmt und besteht aus ihnen, auch wenn man mit ihnen nicht einerlei ist, und so kommt man sich manchmal im ruhenden Verhalten genau so fremd vor wie im bewegten. Wenn Ulrich hätte sagen sollen, wie er eigentlich sei, er wäre in Verlegenheit geraten, denn er hatte sich so wie viele Menschen noch nie anders geprüft als an einer Aufgabe und im Verhältnis zu ihr. Sein Selbstbewußtsein war weder beschädigt worden, noch war es verzärtelt und eitel, und es kannte nicht das Bedürfnis nach jener Wiederinstandsetzung und Ölung, die man Gewissenserforschung nennt. War er ein starker Mensch? Das wußte er nicht; darüber befand er sich vielleicht in einem verhängnisvollen Irrtum. Aber sicher war er immer ein Mensch gewesen, der seiner Kraft vertraute. Auch jetzt zweifelte er nicht daran, daß dieser Unterschied zwischen dem Haben der eigenen Erlebnisse und Eigenschaften und ihrem Fremdbleiben nur ein Haltungsunterschied sei, in gewissem Sinn ein Willensbeschluß oder ein gewählter Grad zwischen Allgemeinheit und Personhaftigkeit, auf dem man lebt. Ganz einfach gesprochen, man kann sich zu den Dingen, die einem widerfahren oder die man tut, mehr allgemein oder mehr persönlich verhalten. Man kann einen Schlag außer als Schmerz auch als Kränkung empfinden, wodurch er unerträglich wächst; aber man kann ihn auch sportlich aufnehmen, als ein Hindernis, von dem man sich weder einschüchtern noch in blinden Zorn bringen lassen darf, und dann kommt es nicht selten vor, daß man ihn überhaupt nicht bemerkt. In diesem zweiten Fall ist aber nichts anderes geschehen, als daß man ihn in einen allgemeinen Zusammenhang, nämlich den der Kampfhandlung, eingeordnet hat, wobei sich sein Wesen abhängig von der Aufgabe erwies, die er zu erfüllen hat. Und gerade diese Erscheinung, daß ein Erlebnis seine Bedeutung, ja seinen Inhalt erst durch seine Stellung in einer Kette folgerichtiger Handlungen erhält, zeigt jeder Mensch, der es nicht als ein nur persönliches Geschehnis, sondern als eine Herausforderung seiner geistigen Kraft ansieht. Auch er wird, was er tut, dann schwächer empfinden; aber wunderlicherweise nennt man das, was man beim Boxen als überlegene Geisteskraft empfindet, nur kalt und gefühllos, sobald es bei Menschen, die nicht boxen können, aus Neigung zu einer geistigen Lebenshaltung entsteht. Es sind da eben noch allerhand Unterscheidungen gebräuchlich, um je nach der Lage ein allgemeines oder ein persönliches Verhalten anzuwenden und zu fordern. Einem Mörder wird es, wenn er sachlich vorgeht, als besondere Roheit ausgelegt; einem Professor, der in den Armen seiner Gattin an einer Aufgabe weiterrechnet, als knöcherne Trockenheit; einem Politiker, der über vernichtete Menschen in die Höhe steigt, je nach dem Erfolg als Gemeinheit oder Größe; von Soldaten, Henkern und Chirurgen dagegen fordert man geradezu diese Unerschütterlichkeit, die man an anderen verurteilt. Ohne daß man sich weiter auf die Moral dieser Beispiele einzulassen brauchte, fällt die Unsicherheit auf, mit der jedesmal ein Kompromiß zwischen sachlich richtigem und persönlich richtigem Verhalten geschlossen wird.
Diese Unsicherheit gab der persönlichen Frage Ulrichs einen weiten Hintergrund. Man ist früher mit besserem Gewissen Person gewesen als heute. Die Menschen glichen den Halmen im Getreide; sie wurden von Gott, Hagel, Feuersbrunst, Pestilenz und Krieg wahrscheinlich heftiger hin und her bewegt als jetzt, aber im ganzen, stadtweise, landstrichweise, als Feld, und was für den einzelnen Halm außerdem noch an persönlicher Bewegung übrig blieb, das ließ sich verantworten und war eine klar abgegrenzte Sache. Heute dagegen hat die Verantwortung ihren Schwerpunkt nicht im Menschen, sondern in den Sachzusammenhängen. Hat man nicht bemerkt, daß sich die Erlebnisse vom Menschen unabhängig gemacht haben? Sie sind aufs Theater gegangen; in die Bücher, in die Berichte der Forschungsstätten und Forschungsreisen, in die Gesinnungs- und Religionsgemeinschaften, die bestimmte Arten des Erlebens auf Kosten der anderen ausbilden wie in einem sozialen Experimentalversuch, und sofern die Erlebnisse sich nicht gerade in der Arbeit befinden, liegen sie einfach in der Luft; wer kann da heute noch sagen, daß sein Zorn wirklich sein Zorn sei, wo ihm so viele Leute dreinreden und es besser verstehen als er?! Es ist eine Welt von Eigenschaften ohne Mann entstanden, von Erlebnissen ohne den, der sie erlebt, und es sieht beinahe aus, als ob im Idealfall der Mensch überhaupt nichts mehr privat erleben werde und die freundliche Schwere der persönlichen Verantwortung sich in ein Formelsystem von möglichen Bedeutungen auflösen solle. Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt; denn der Glaube, am Erleben sei das wichtigste, daß man es erlebe, und am Tun, daß man es tue, fängt an, den meisten Menschen als eine Naivität zu erscheinen. Es gibt wohl noch Leute, die ganz persönlich leben; sie sagen »Wir waren gestern bei dem und dem« oder »Wir machen heute das und das«, und ohne daß es sonst noch Inhalt und Bedeutung zu haben brauchte, freuen sie sich darüber. Sie lieben alles, was mit ihren Fingern in Berührung tritt, und sind so rein Privatperson, wie das nur möglich ist; die Welt wird Privatwelt, sobald sie mit ihnen zu tun bekommt, und leuchtet wie ein Regenbogen. Vielleicht sind sie sehr glücklich; aber diese Art Leute erscheint den anderen gewöhnlich schon absurd, obgleich es noch keineswegs sicher ist, warum. – Und mit einemmal mußte sich Ulrich angesichts dieser Bedenken lächelnd eingestehn, daß er mit alledem ja doch ein Charakter sei, auch ohne einen zu haben.
40
Ein Mann mit allen Eigenschaften, aber sie sind ihm gleichgültig Ein Fürst des Geistes wird verhaftet, und die Parallelaktion erhält ihren Ehrensekretär
Es ist nicht schwer, diesen zweiunddreißigjährigen Mann Ulrich in seinen Grundzügen zu beschreiben, auch wenn er von sich selbst nur weiß, daß er es gleich nah und weit zu allen Eigenschaften hätte und daß sie ihm alle, ob sie nun die seinen geworden sind oder nicht, in einer sonderbaren Weise gleichgültig sind. Mit der seelischen Beweglichkeit, die einfach eine sehr mannigfaltige Anlage zur Voraussetzung hat, verbindet sich bei ihm noch eine gewisse Angriffslust. Er ist ein männlicher Kopf. Er ist nicht empfindsam für andere Menschen und hat sich selten in sie hinein versetzt, außer um sie für seine Zwecke kennen zu lernen. Er achtet Rechte nicht, wenn er nicht den achtet, der sie besitzt, und das geschieht selten. Denn es hat sich mit der Zeit eine gewisse Bereitschaft zur Verneinung in ihm entwickelt; eine biegsame Dialektik des Gefühls, die ihn leicht dazu verleitet, in etwas, das allgemein gut geheißen wird, einen Schaden zu entdecken, dagegen etwas Verbotenes zu verteidigen und Pflichten mit dem Unwillen abzulehnen, der aus dem Willen zur Schaffung eigener Pflichten hervorgeht. Trotz dieses Willens überläßt er aber seine moralische Führung, mit gewissen Ausnahmen, die er sich gestattet, einfach jenem ritterlichen Anstand, der in der bürgerlichen Gesellschaft so ziemlich alle Männer leitet, solange sie in geordneten Verhältnissen leben, und führt auf diese Weise mit dem Hochmut, der Rücksichtslosigkeit und Nachlässigkeit eines Menschen, der zu seiner Tat berufen ist, das Leben eines anderen Menschen, der von seinen Neigungen und Fähigkeiten einen mehr oder weniger gewöhnlichen, nützlichen und sozialen Gebrauch macht. Er war es gewohnt, sich aus natürlichem Trieb und ohne Eitelkeit für das Werkzeug zu einem nicht unbedeutenden Zweck zu halten, den er schon noch rechtzeitig zu erfahren gedachte, und selbst jetzt, in diesem begonnenen Jahr der suchenden Unruhe, nachdem er das steuerlose Treiben seines Lebens eingesehen hatte, stellte sich bald wieder das Gefühl ein, auf dem Wege zu sein, und er gab sich mit seinem Plan gar keine besondere Mühe. Es ist nicht ganz leicht, in einer solchen Natur die sie treibende Leidenschaft zu erkennen; Anlage und Umstände haben sie vieldeutig geformt, ihr Schicksal ist noch durch keinen wirklich harten Gegendruck entblößt worden, die Hauptsache ist aber, daß ihr zur Entscheidung noch etwas fehlt, das ihr unbekannt ist. Ulrich ist ein Mensch, der von irgend etwas gezwungen wird, gegen sich selbst zu leben, obgleich er sich scheinbar ohne Zwang gehen läßt.
Der Vergleich der Welt mit einem Laboratorium hatte in ihm nun eine alte Vorstellung wiedererweckt. So wie eine große Versuchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, durchgeprobt und neue entdeckt werden müßten, hatte er sich früher oft das Leben gedacht, wenn es ihm gefallen sollte. Daß das Gesamtlaboratorium etwas planlos arbeitete und daß die Leiter und die Theoretiker des Ganzen fehlten, gehörte auf ein anderes Blatt. Man konnte ja wohl sagen, daß er selbst so etwas wie ein Fürst und Herr des Geistes hätte werden wollen: Wer allerdings nicht?! Es ist so natürlich, daß der Geist als das Höchste und über allem Herrschende gilt. Es wird gelehrt. Was kann, schmückt sich mit Geist, verbrämt sich. Geist ist, in Verbindung mit irgendetwas, das Verbreitetste, das es gibt. Der Geist der Treue, der Geist der Liebe, ein männlicher Geist, ein gebildeter Geist, der größte Geist der Gegenwart, wir wollen den Geist dieser und jener Sache hochhalten, und wir wollen im Geiste unserer Bewegung handeln: wie fest und unanstößig klingt das bis in die untersten Stufen. Alles übrige, das alltägliche Verbrechen oder die emsige Erwerbsgier, erscheint daneben als das Uneingestandene, der Schmutz, den Gott aus seinen Zehennägeln entfernt.
Aber wenn Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, – wie ist es dann? Man kann die Dichter lesen, die Philosophen studieren, Bilder kaufen und nächteweise Gespräche führen: aber ist es Geist, was man dabei gewinnt? Angenommen, man gewönne ihn: aber besitzt man ihn dann? Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens! Er geht durch den Menschen, der ihn aufnehmen möchte, hindurch und läßt nur ein wenig Erschütterung zurück. Was fangen wir mit all dem Geist an? Er wird auf Massen von Papier, Stein, Leinwand in geradezu astronomischen Ausmaßen immer von neuem erzeugt, wird ebenso unablässig unter riesenhaftem Verbrauch von nervöser Energie aufgenommen und genossen: Aber was geschieht dann mit ihm? Verschwindet er wie ein Trugbild? Löst er sich in Partikel auf? Entzieht er sich dem irdischen Gesetz der Erhaltung? Die Staubteilchen, die in uns hinabsinken und langsam zur Ruhe kommen, stehen in keinem Verhältnis zu dem Aufwand. Wohin, wo, was ist er? Vielleicht würde es, wenn man mehr davon wüßte, beklommen still werden um dieses Hauptwort Geist?!
Es war Abend geworden; Häuser, wie aus dem Raum gebrochen, Asphalt, Stahlschienen bildeten die erkaltende Muschel Stadt. Die Muttermuschel, voll kindlicher, freudiger, zorniger Menschenbewegung. Wo jeder Tropf als Tröpfchen anfängt, das sprüht und spritzt; mit einem Explosiönchen beginnt, von den Wänden aufgefangen und abgekühlt wird, milder, unbeweglicher wird, zärtlich an der Schale der Muttermuschel hängen bleibt und schließlich zu einem Körnchen an ihrer Wand erstarrt. »Warum« dachte Ulrich plötzlich »bin ich nicht Pilger geworden?« Reine, unbedingte Lebensweise, zehrend frisch wie ganz klare Luft, lag vor seinen Sinnen; wer das Leben nicht bejahen will, sollte wenigstens das Nein des Heiligen sagen: und doch war es einfach unmöglich, ernsthaft daran zu denken. Ebensowenig konnte er Abenteurer werden, obgleich da das Leben etwas von einer immerwährenden Brautzeit haben mochte und seine Glieder wie sein Mut diese Lust spürten. Er hatte weder Dichter werden können noch einer von den Enttäuschten, die nur an Geld und Gewalt glauben, obgleich er zu allem eine Anlage hatte. Er vergaß sein Alter, er stellte sich vor, er wäre zwanzig: trotzdem war es innerlich ebenso entschieden, daß er davon nichts werden konnte; zu allem, was es gab, zog ihn etwas hin, und etwas Stärkeres ließ ihn nicht dazu kommen. Warum lebte er also unklar und unentschieden? Ohne Zweifel, – sagte er sich – was ihn in eine abgeschiedene und unbenannte Daseinsform bannte, war nichts als der Zwang zu jenem Lösen und Binden der Welt, das man mit einem Wort, dem man nicht gerne allein begegnet, Geist nennt. Und Ulrich wußte selbst nicht warum, aber er wurde mit einemmal traurig und dachte: »Ich liebe mich einfach selbst nicht.« In dem erfrorenen, versteinten Körper der Stadt fühlte er ganz zu innerst sein Herz schlagen. Da war etwas in ihm, das hatte nirgends bleiben wollen, hatte sich die Wände der Welt entlang gefühlt und gedacht, es gibt ja noch Millionen anderer Wände; dieser langsam erkaltende, lächerliche Tropfen Ich, der sein Feuer, den winzigen Glutkern nicht abgeben wollte.
Der Geist hat erfahren, daß Schönheit gut, schlecht, dumm oder bezaubernd macht. Er zerlegt ein Schaf und einen Büßer und findet in beiden Demut und Geduld. Er untersucht einen Stoff und erkennt, daß er in großen Mengen ein Gift, in kleineren ein Genußmittel sei. Er weiß, daß die Schleimhaut der Lippen mit der Schleimhaut des Darms verwandt ist, weiß aber auch, daß die Demut dieser Lippen mit der Demut alles Heiligen verwandt ist. Er bringt durcheinander, löst auf und hängt neu zusammen. Gut und bös, oben und unten sind für ihn nicht skeptisch-relative Vorstellungen, wohl aber Glieder einer Funktion, Werte, die von dem Zusammenhang abhängen, in dem sie sich befinden. Er hat es den Jahrhunderten abgelernt, daß Laster zu Tugenden und Tugenden zu Lastern werden können, und hält es im Grunde bloß für eine Ungeschicklichkeit, wenn man es noch nicht fertigbringt, in der Zeit eines Lebens aus einem Verbrecher einen nützlichen Menschen zu machen. Er anerkennt nichts Unerlaubtes und nichts Erlaubtes, denn alles kann eine Eigenschaft haben, durch die es eines Tages teil hat an einem großen, neuen Zusammenhang. Er haßt heimlich wie den Tod alles, was so tut, als stünde es ein für allemal fest, die großen Ideale und Gesetze und ihren kleinen versteinten Abdruck, den gefriedeten Charakter. Er hält kein Ding für fest, kein Ich, keine Ordnung; weil unsre Kenntnisse sich mit jedem Tag ändern können, glaubt er an keine Bindung, und alles besitzt den Wert, den es hat, nur bis zum nächsten Akt der Schöpfung, wie ein Gesicht, zu dem man spricht, während es sich mit den Worten verändert.
So ist der Geist der große Jenachdem-Macher, aber er selbst ist nirgends zu fassen, und fast könnte man glauben, daß von seiner Wirkung nichts als Zerfall übrigbleibe. Jeder Fortschritt ist ein Gewinn im Einzelnen und eine Trennung im Ganzen; es ist das ein Zuwachs an Macht, der in einen fortschreitenden Zuwachs an Ohnmacht mündet, und man kann nicht davon lassen. Ulrich fühlte sich an diesen fast stündlich wachsenden Leib von Tatsachen und Entdeckungen erinnert, aus dem der Geist heute herausblicken muß, wenn er irgendeine Frage genau betrachten will. Dieser Körper wächst dem Inneren davon. Unzählige Auffassungen, Meinungen, ordnende Gedanken aller Zonen und Zeiten, aller Formen gesunder und kranker, wacher und träumender Hirne durchziehen ihn zwar wie Tausende kleiner empfindlicher Nervenstränge, aber der Strahlpunkt, wo sie sich vereinen, fehlt. Der Mensch fühlt die Gefahr nahe, wo er das Schicksal jener Riesentierrassen der Vorzeit wiederholen wird, die an ihrer Größe zugrundegegangen sind; aber er kann nicht ablassen. – Dadurch wurde nun Ulrich wieder an jene recht fragwürdige Vorstellung erinnert, die er lange Zeit geglaubt und selbst heute noch nicht ganz in sich ausgemerzt hatte, daß die Welt am besten von einem Senat der Wissenden und Vorgeschrittenen gelenkt würde. Es ist ja sehr natürlich, zu denken, daß der Mensch, der sich von fachlich gebildeten Ärzten behandeln läßt, wenn er krank ist, und nicht von Schafhirten, keinen Grund hat, wenn er gesund ist, sich von hirtenähnlichen Schwätzern behandeln zu lassen, wie er es in seinen öffentlichen Angelegenheiten tut, und junge Menschen, denen an den wesenhaften Inhalten des Lebens gelegen ist, halten darum anfangs alles auf der Welt, was weder wahr, noch gut, noch schön ist, also zum Beispiel auch eine Finanzbehörde oder eben eine Parlamentsdebatte, für nebensächlich; wenigstens waren sie damals so, denn heute sollen sie ja dank der politischen und wirtschaftlichen Erziehung anders sein. Aber auch damals lernte man, wenn man älter wurde und bei längerer Bekanntschaft mit der Räucherkammer des Geistes, in der die Welt ihren geschäftlichen Speck selcht, sich der Wirklichkeit anzupassen, und der endgültige Zustand eines geistig angebildeten Menschen war ungefähr der, daß er sichauf sein »Fach« beschränkte und für den Rest seines Lebens die Überzeugung mitnahm, das Ganze sollte ja vielleicht anders sein, aber es habe gar keinen Zweck, darüber nachzudenken. So ungefähr sieht das innere Gleichgewicht der Menschen aus, die geistig etwas leisten. Und mit einemmal stellte sich Ulrich das Ganze komischer Weise in der Frage dar, ob es nicht am Ende, da es doch sicher genug Geist gebe, bloß daran fehle, daß der Geist selbst keinen Geist habe?
Er wollte darüber lachen. Er war ja selbst einer von diesen Verzichtenden. Aber enttäuschter, noch lebendiger Ehrgeiz fuhr durch ihn wie ein Schwert. Zwei Ulriche gingen in diesem Augenblick. Der eine sah sich lächelnd um und dachte: »Da habe ich also einmal eine Rolle spielen wollen, zwischen solchen Kulissen wie diesen. Ich bin eines Tages erwacht, nicht weich wie in Mutters Körbchen, sondern mit der harten Überzeugung, etwas ausrichten zu müssen. Man hat mir Stichworte gegeben, und ich habe gefühlt, sie gehen mich nichts an. Wie von flimmerndem Lampenfieber war damals alles mit meinen eigenen Vorsätzen und Erwartungen ausgefüllt gewesen. Unmerklich hat sich aber inzwischen der Boden gedreht, ich bin ein Stück meines Weges voran gekommen und stehe vielleicht schon beim Ausgang. Über kurz wird es mich hinausgedreht haben, und ich werde von meiner großen Rolle gerade gesagt haben: ›Die Pferde sind gesattelt.‹ Möge euch alle der Teufel holen!« Aber während der eine mit diesen Gedanken lächelnd durch den schwebenden Abend ging, hielt der andre die Fäuste geballt, in Schmerz und Zorn; er war der weniger sichtbare, und woran er dachte, war, eine Beschwörungsformel zu finden, einen Griff, den man vielleicht packen könnte, den eigentlichen Geist des Geistes, das fehlende, vielleicht nur kleine Stück, das den zerbrochenen Kreis schließt. Dieser zweite Ulrich fand keine Worte zu seiner Verfügung. Worte springen wie die Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich, wo man wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung. Der Boden strömte unter seinen Füßen. Er konnte die Augen kaum öffnen. Kann ein Gefühl blasen wie ein Sturm und doch ganz und gar kein stürmisches Gefühl sein? Wenn man von einem Sturm des Gefühls spricht, meint man einen, wo die Rinde des Menschen ächzt und die Äste des Menschen fliegen, als sollten sie abbrechen. Das aber war ein Sturm bei ganz ruhig bleibender Oberfläche. Nur beinahe ein Zustand der Bekehrung, der Umkehrung; keine Miene verschob sich von ihrem Platz, aber innen schien kein Atom an seiner Stelle zu bleiben. Ulrichs Sinne waren klar, doch wurde jeder begegnende Mensch vom Auge anders als sonst aufgenommen, und jeder Ton vom Ohr. Man konnte nicht sagen schärfer; eigentlich auch nicht tiefer, noch weicher, nicht natürlicher oder unnatürlicher. Ulrich konnte gar nichts sagen, aber er dachte in diesem Augenblick an das sonderbare Erlebnis »Geist« wie an eine Geliebte, von der man zeitlebens betrogen wird, ohne sie weniger zu lieben, und es verband ihn mit allem, was ihm begegnete. Denn wenn man liebt, ist alles Liebe, auch wenn es Schmerz und Abscheu ist. Der kleine Zweig am Baum und die blasse Fensterscheibe im Abendlicht wurden zu einem tief ins eigene Wesen versenkten Erlebnis, das sich kaum mit Worten aussprechen ließ. Die Dinge schienen nicht aus Holz und Stein, sondern aus einer grandiosen und unendlich zarten Immoralität zu bestehen, die in dem Augenblick, wo sie sich mit ihm berührte, zu tiefer moralischer Erschütterung wurde.
Das hatte die Dauer eines Lächelns, und eben dachte Ulrich: »Nun will ich einmal da bleiben, wohin es mich getragen hat«, als es das Unglück wollte, daß diese Spannung an einem Hindernis zerschellte.
Was nun geschah, stammt in der Tat aus einer völlig anderen Welt, als es die war, in der Ulrich soeben noch Baum und Stein wie eine empfindsame Fortsetzung seines eigenen Leibes erlebt hatte.
Denn ein Arbeiterblatt hatte, wie Graf Leinsdorf das nennen würde, destruktiven Speichel über die Große Idee ergossen, indem es behauptete, daß diese sich bloß als eine neue Sensation der Herrschenden an den letzten Lustmord reihe, und ein braver Arbeiter, der ein wenig viel getrunken hatte, fühlte sich dadurch gereizt. Er war an zwei Bürger gestreift, die sich mit den Geschäften des Tages zufrieden fühlten und im Bewußtsein, daß gute Gesinnung sich jederzeit zeigen dürfe, ziemlich laut ihr Einverständnis mit der vaterländischen Aktion austauschten, von der sie in ihrer Zeitung gelesen hatten. Es entstand ein Wortwechsel, und weil die Nähe eines Schutzmanns die Gutgesinnten ebenso ermutigte, wie sie den Angreifer reizte, nahm dieser Auftritt immer heftigere Formen an. Der Schutzmann betrachtete ihn erst über die Schulter, später von vorn und dann aus der Nähe; er wohnte ihm beobachtend bei wie ein hervorstehender Ausläufer des eisernen Hebelwerks Staat, der in Knöpfen und andren Metallteilen endet. Nun hat der ständige Lebensaufenthalt in einem wohlgeordneten Staat aber durchaus etwas Gespenstisches; man kann weder auf die Straße treten, noch ein Glas Wasser trinken oder die Elektrische besteigen, ohne die ausgewogenen Hebel eines riesigen Apparats von Gesetzen und Beziehungen zu berühren, sie in Bewegung zu setzen oder sich von ihnen in der Ruhe seines Daseins erhalten zu lassen; man kennt die wenigsten von ihnen, die tief ins Innere greifen, während sie auf der anderen Seite sich in ein Netzwerk verlieren, dessen ganze Zusammensetzung überhaupt noch kein Mensch entwirrt hat; man leugnet sie deshalb, so wie der Staatsbürger die Luft leugnet und von ihr behauptet, daß sie die Leere sei, aber scheinbar liegt gerade darin, daß alles Geleugnete, alles Farb-, Geruch-, Geschmack-, Gewicht- und Sittenlose wie Wasser, Luft, Raum, Geld und Dahingehn der Zeit in Wahrheit das Wichtigste ist, eine gewisse Geisterhaftigkeit des Lebens; es kann den Menschen zuweilen eine Panik erfassen wie im willenlosen Traum, ein Bewegungssturm tollen Umsichschlagens wie ein Tier, das in den unverständlichen Mechanismus eines Netzes geraten ist. Eine solche Wirkung übten die Knöpfe des Schutzmanns auf den Arbeiter aus, und in diesem Augenblick schritt das Staatsorgan, das sich nicht in der gebührenden Weise geachtet fühlte, zur Verhaftung.
Sie verlief nicht ohne Widerstand und wiederholte Kundgebungen aufrührerischer Gesinnung. Das erregte Aufsehen schmeichelte dem Betrunkenen, und eine bis dahin verheimlichte völlige Abneigung gegen das Mitgeschöpf zeigte sich entfesselt. Ein leidenschaftlicher Kampf um Geltung begann. Ein höheres Gefühl von seinem Ich setzte sich mit einem unheimlichen Gefühl auseinander, als wäre er nicht fest in seiner Haut. Auch die Welt war nicht fest; sie war ein unsicherer Hauch, der sich immerzu deformierte und die Gestalt wechselte. Häuser standen schief aus dem Raum gebrochen; lächerliche, wimmelnde, doch geschwisterliche Tröpfe waren dazwischen die Menschen. Ich bin berufen, bei ihnen Ordnung zu machen, fühlte der ungewöhnlich Betrunkene. Der ganze Schauplatz war von etwas Flimmerndem ausgefüllt, irgendein Stück Weg des Geschehens kam klar auf ihn zu, aber dann drehten sich wieder die Wände. Die Augenachsen standen wie Stiele aus dem Kopf, während die Fußsohlen die Erde festhielten. Ein wundersames Strömen aus dem Mund hatte begonnen; Worte kamen aus dem Inneren herauf, von denen nicht zu begreifen war, wie sie vorher hineingekommen waren, möglicherweise waren es Schimpfworte. Das ließ sich nicht so genau unterscheiden. Außen und Innen stürzten ineinander. Der Zorn war kein innerer Zorn, sondern bloß das bis zum Rasen erregte leibliche Gehäuse des Zorns, und das Gesicht eines Schutzmanns näherte sich ganz langsam einer geballten Faust, bis es blutete.
Aber auch der Schutzmann hatte sich inzwischen verdreifacht; mit den hinzueilenden Sicherheitsbeamten waren Menschen zusammengelaufen, der Betrunkene hatte sich zur Erde geworfen und wollte sich nicht festnehmen lassen. Da beging Ulrich eine Unvorsichtigkeit. Er hatte aus dem Auflauf das Wort »Majestätsbeleidigung« vernommen und bemerkte nun, daß dieser Mensch in seinem Zustand nicht imstande sei, eine Beleidigung zu begehen, und daß man ihn schlafen schicken solle. Er dachte sich nicht viel dabei, aber er kam an die Unrechten. Der Mann schrie nun, daß ihn sowohl Ulrich wie die Majestät ...! und ein Schutzmann, der die Schuld an diesem Rückfall offenbar der Einmischung zuschrieb, forderte Ulrich barsch auf, sich weiterzuscheren. Nun war es dieser aber ungewohnt, den Staat anders zu betrachten als ein Hotel, in dem man Anspruch auf höfliche Bedienung hat, und verbat sich den Ton, in dem man zu ihm sprach, was unerwarteterweise die Schutzmannschaft zu der Einsicht brachte, daß ein Betrunkener für die Anwesenheit von drei Schutzleuten nicht genüge, so daß sie Ulrich gleich auch mitnahmen.
Die Hand eines Uniformierten umspannte seinen Arm. Sein Arm war beiweitem stärker als diese beleidigende Umklammerung, aber er durfte sie nicht sprengen, wenn er sich nicht in einen aussichtslosen Boxkampf mit der bewaffneten Staatsgewalt einlassen wollte, so daß ihm schließlich nichts übrigblieb, als höflich darum zu ersuchen, daß man ihn freiwillig mitgehen lasse. Die Wachstube befand sich im Gebäude eines Polizeikommissariats, und als er sie betrat, fühlte sich Ulrich durch Boden und Wände an eine Kaserne erinnert; der gleiche düstere Kampf zwischen hartnäckig hineingetragenem Schmutz und groben Reinigungsmitteln erfüllte sie. Als nächstes bemerkte er darin das eingesetzte Symbol ziviler Herrschaft, zwei Schreibtische mit einer Balustrade, an der einige Säulchen fehlten; Schreibkisten eigentlich, mit zerrissenem und verbranntem Tuchbelag, auf ganz niedrigen, kugeligen Füßen ruhend und zur Zeit Kaiser Ferdinands mit gelbbraunem Lack poliert, von dem nur noch die letzten Blätter am Holz hingen. Als drittes erfüllte das dicke Gefühl den Raum, daß man hier zu warten habe, ohne fragen zu dürfen. Sein Schutzmann stand, nachdem er den Grund der Verhaftung gemeldet hatte, wie eine Säule neben Ulrich, Ulrich versuchte, sofort irgendeine Aufklärung zu geben, der Wachtmeister und Befehlshaber dieser Festung hob ein Auge von einem Aktenbogen, auf dem er schon geschrieben hatte, als das Geleite eingetreten war, musterte Ulrich, dann senkte sich das Auge wieder, und der Beamte fuhr wortlos fort, auf seinem Aktenbogen zu schreiben. Ulrich hatte den Eindruck der Unendlichkeit. Dann schob der Wachtmeister den Bogen zur Seite, griff ein Buch vom Bord, trug etwas ein, streute Sand darauf, legte das Buch zurück, nahm ein anderes, trug ein, streute, zog ein Aktenbündel aus einem Stoß ähnlicher hervor und setzte seine Tätigkeit an diesem fort. Ulrich hatte den Eindruck, daß eine zweite Unendlichkeit abrollte, während deren die Gestirne regelmäßig kreisten, ohne daß er auf der Welt sei.
Aus der Kanzlei führte eine geöffnete Türe in einen Gang, an dem die Kotter lagen. Dorthin hatte man sogleich Ulrichs Schützling geführt, und da man weiter nichts von ihm hörte, mochte ihm sein Rausch wohl die Segnung des Schlafs geschenkt haben; aber unheimliche andere Vorgänge waren zu spüren. Der Flur mit den Zellen mußte noch einen zweiten Eingang besitzen; Ulrich hörte wiederholt schweres Kommen und Gehn, Türenschlagen, unterdrückte Stimmen, und mit einemmal, als wieder ein Mensch eingeliefert wurde, hob sich eine solche Stimme, und Ulrich hörte sie verzweifelt flehen: »Wenn Sie auch nur einen Funken menschlichen Gefühls haben, verhaften Sie mich nicht!« Die Worte kippten über, und er klang merkwürdig unangebracht, fast zum Lachen, dieser Weckruf an einen Funktionär, er solle Gefühl haben, da doch Funktionen nur sachlich vollzogen werden. Der Wachtmeister hob für einen Augenblick den Kopf, ohne ganz von seinen Akten zu lassen. Ulrich hörte das heftige Scharren vieler Füße, deren Körper offenbar stumm einen widerstrebenden Körper drängten. Dann taumelte allein der Laut zweier Füße wie nach einem Stoß. Dann schlug eine Tür heftig ins Schloß, ein Riegel klirrte, der Mann in Uniform am Schreibtisch hatte schon wieder den Kopf gebeugt, und in der Luft lag das Schweigen eines Punktes, der an der richtigen Stelle hinter einen Satz gesetzt worden ist.
Aber Ulrich schien sich in der Annahme, daß er selbst für den Kosmos der Polizei noch nicht erschaffen sei, geirrt zu haben, denn mit dem nächsten Heben des Kopfes blickte der Wachtmeister nun ihn an, die zuletzt geschriebenen Zeilen blieben feucht glänzen, ohne daß sie gelöscht wurden, und der Fall Ulrich zeigte sich mit einemmal als schon seit längerer Zeit ins hieramtliche Dasein getreten. Name? Alter? Beruf? Wohnung? ...: Ulrich wurde befragt.
Er glaubte, in eine Maschine geraten zu sein, die ihn in unpersönliche, allgemeine Bestandteile zergliederte, ehe von seiner Schuld oder Unschuld auch nur die Rede war. Sein Name, diese zwei vorstellungsärmsten, aber gefühlsreichsten Worte der Sprache, sagte hier gar nichts. Seine Arbeiten, die ihm in der wissenschaftlichen Welt, die doch sonst für solid gilt, Ehre eingetragen hätten, waren in dieser Welt hier nicht vorhanden; er wurde nicht ein einziges Mal nach ihnen gefragt. Sein Gesicht galt nur als Signalement; er hatte den Eindruck, nie früher bedacht zu haben, daß seine Augen graue Augen waren, eines von den vorhandenen vier, amtlich zugelassenen Augenpaaren, das es in Millionen Stücken gab; seine Haare waren blond, seine Gestalt groß, sein Gesicht oval, und besondere Kennzeichen hatte er keine, obgleich er selbst eine andere Meinung davon besaß. Nach seinem Gefühl war er groß, seine Schultern waren breit, sein Brustkorb saß wie ein gewölbtes Segel am Mast, und die Gelenke seines Körpers schlossen wie schmale Stahlglieder die Muskeln ab, sobald er sich ärgerte, stritt oder Bonadea sich an ihn schmiegte; er war dagegen schmal, zart, dunkel und weich wie eine im Wasser schwebende Meduse, sobald er ein Buch las, das ihn ergriff, oder von einem Atem der heimatlosen großen Liebe gestreift wurde, deren In-der-Welt-Sein er niemals hatte begreifen können. Er besaß darum selbst in diesem Augenblick noch Sinn für die statistische Entzauberung seiner Person, und das von dem Polizeiorgan auf ihn angewandte Maß- und Beschreibungsverfahren begeisterte ihn wie ein vom Satan erfundenes Liebesgedicht. Das Wunderbarste daran war, daß die Polizei einen Menschen nicht nur so zergliedern kann, daß von ihm nichts übrigbleibt, sondern daß sie ihn aus diesen nichtigen Bestandteilen auch wieder unverwechselbar zusammensetzt und an ihnen erkennt. Es ist für diese Leistung nur nötig, daß etwas Unwägbares hinzutritt, daß sie Verdacht nennt.
Ulrich begriff mit einemmal, daß er sich nur durch kälteste Klugheit aus der Lage ziehen könne, in die er durch seine Torheit geraten war. Man befragte ihn weiter. Er stellte sich vor, welche Wirkung es haben würde, wenn er, nach seiner Wohnung gefragt, antworten wollte, meine Wohnung ist die einer mir fremden Person? Oder auf die Frage, warum er getan habe, was er getan hatte, erwiderte, er tue immer etwas anderes als das, worauf es ihm wirklich ankomme? Aber nach außen gab er brav Straße und Hausnummer an und versuchte eine entschuldigende Darstellung seines Verhaltens zu erfinden. Die innere Autorität des Geistes war dabei in einer äußerst peinlichen Weise ohnmächtig gegenüber der äußeren Autorität des Wachtmeisters. Endlich erspähte er trotzdem eine rettende Wendung. Noch als er, nach seinem Beruf gefragt, »privat« angab – Privatgelehrter hätte er nicht über die Lippen gebracht – hatte er einen Blick auf sich ruhen gefühlt, der genau so dreinsah, als ob er »obdachlos« gesagt hätte; aber als nun bei der Abgabe des Nationales sein Vater darankam und es in Erscheinung trat, daß er Mitglied des Herrenhauses sei, da wurde das ein anderer Blick. Er war noch immer mißtrauisch, aber irgendetwas gab Ulrich sofort ein Gefühl, wie wenn ein von Meereswogen hin und her gewalzter Mann mit der großen Zehe festen Grund streift. Mit rasch erwachender Geistesgegenwart nützte er es aus. Er schwächte augenblicklich alles ab, was er schon zugegeben hatte, setzte der Autorität von Ohren, die sich im Eideszustand des Dienstes befunden hatten, das nachdrückliche Verlangen entgegen, vom Kommissär selbst vernommen zu werden, und als dies bloß Lächeln hervorrief, log er – in glücklich gefundener Natürlichkeit, sehr nebenbei und bereit, die Behauptung sogleich wieder zu verreden, falls man ihm aus ihr die Schlinge eines genaue Angaben heischenden Fragezeichens drehen sollte – daß er der Freund des Grafen Leinsdorf und Sekretär der großen patriotischen Aktion sei, von der man in den Zeitungen wohl gelesen haben werde. Er konnte sogleich bemerken, daß er damit jene ernstere Nachdenklichkeit über sein Wesen erregte, die ihm bisher versagt geblieben war, und hielt seinen Vorteil fest. Die Folge war, daß der Wachtmeister ihn erzürnt musterte, weil er weder die Verantwortung übernehmen wollte, diesen Fang länger zurückzubehalten, noch ihn laufen zu lassen; und weil um diese Stunde kein höherer Beamter im Hause war, verfiel er auf einen Ausweg, der dem einfachen Wachtmeister ein schönes Zeugnis darüber ausstellte, daß er von der Art, wie seine vorgesetzten Konzeptsbeamten unangenehme Akten behandelten, etwas gelernt hatte. Er setzte eine wichtige Miene auf und äußerte ernste Vermutungen, daß sich Ulrich nicht nur der Wachbeleidigung und Störung einer Amtshandlung schuldig gemacht habe, sondern gerade wenn man die Stellung bedenke, die er einzunehmen behaupte, auch unaufgeklärter, vielleicht politischer Umtriebe verdächtig sei, weshalb er sich damit vertraut zu machen habe, der politischen Abteilung des Polizeipräsidiums übergeben zu werden.
So fuhr Ulrich wenige Minuten später in einem Wagen, den man ihm verstattet hatte, durch die Nacht dahin, einen wenig zu Gespräch geneigten Zivilschutzmann an seiner Seite. Als sie sich dem Polizeipräsidium näherten, sah der Verhaftete die Fenster des ersten Stockwerks festlich erleuchtet, denn es fand eine wichtige Sitzung beim obersten Chef noch zu später Stunde statt, das Haus war kein finsterer Stall, sondern glich einem Ministerium, und er atmete bereits eine vertrautere Luft. Er bemerkte auch bald, daß der Beamte vom Nachtdienst, dem er vorgeführt wurde, rasch den Unsinn erkannte, den das gereizte periphere Organ mit seiner Anzeige angerichtet hatte; dennoch schien es ihm ungemein unangezeigt zu sein, einen Menschen aus den Fängen der Gerechtigkeit zu entlassen, der die Unbekümmertheit besessen hatte, selbst in sie hineinzurennen. Auch der Beamte des Präsidiums trug in seinem Gesicht eine eiserne Maschine und versicherte dem Gefangenen, daß seine Unüberlegtheit es äußerst schwer erscheinen lasse, eine Enthaftung zu verantworten. Dieser hatte schon zweimal alles vorgebracht, was so günstig auf den Wachtmeister gewirkt hatte, aber dem höher stehenden Beamten gegenüber blieb das vergeblich, und Ulrich wollte seine Sache schon verlorengeben, als mit einemmal in das Gesicht seines Richters eine merkwürdige, fast glückliche Veränderung kam. Er betrachtete die Anzeige noch einmal genau, ließ sich Ulrichs Namen noch einmal vorsprechen, versicherte sich seiner Adresse und ersuchte ihn höflich, einen Augenblick zu warten, während er das Zimmer verließ. Es dauerte zehn Minuten, bis er wie ein Mensch wiederkam, der sich an etwas Angenehmes erinnert hat, und den Arrestanten nun schon auffallend höflich einlud, ihm zu folgen. An der Türe eines der erleuchteten Zimmer im oberen Stockwerk sagte er nichts weiter als »Der Herr Polizeipräsident wünscht Sie selbst zu sprechen«, und im nächsten Augenblick stand Ulrich vor einem aus dem benachbarten Sitzungssaal gekommenen Herrn mit dem geteilten Backenbart, den er nun schon kannte. Er war entschlossen, seine Anwesenheit als einen Mißgriff des Reviers mit sanftem Vorwurf zu erklären, aber der Präsident kam ihm zuvor und begrüßte ihn mit den Worten: »Ein Mißverständnis, lieber Doktor, der Herr Kommissär hat mir schon alles erzählt. Trotzdem müssen wir Sie in eine kleine Strafe nehmen, denn –« Er sah ihn bei diesen Worten schelmisch an (soweit schelmisch von einem höchsten Polizeibeamten überhaupt gesagt werden darf), als wolle er ihn selbst das Rätsel erraten lassen.
Ulrich erriet es jedoch durchaus nicht.
»Seine Erlaucht!« half der Präsident.
»Seine Erlaucht Graf Leinsdorf« fügte er hinzu »hat sich erst vor wenigen Stunden bei mir auf das lebhafteste nach Ihnen erkundigt.«
Ulrich begriff erst zur Hälfte. »Sie stehn nicht im Adreßbuch, Herr Doktor!« erläuterte der Präsident mit scherzhaftem Vorwurf, als wäre nur das Ulrichs Verbrechen.
Ulrich verbeugte sich, gemessen lächelnd.
»Ich nehme an, daß Sie morgen Seiner Erlaucht in einer Angelegenheit von großer öffentlicher Wichtigkeit Ihren Besuch machen müssen, und bringe es nicht über mich, Sie durch Einkerkerung daran zu hindern.« So schloß der Herr der eisernen Maschine seinen kleinen Scherz.
Man darf annehmen, daß der Präsident die Verhaftung in jedem anderen Falle auch als unrecht empfunden hätte und daß der Kommissär, der sich zufällig des Zusammenhangs entsann, in dem Ulrichs Name wenige Stunden früher zum erstenmal in diesem Hause aufgetaucht war, dem Präsident den Vorfall genau so dargestellt hatte, wie ihn der Präsident zu diesem Zweck sehen mußte, so daß niemand willkürlich in den Lauf der Dinge eingegriffen hatte. Se. Erlaucht erfuhr übrigens niemals diesen Zusammenhang. Ulrich fühlte sich verpflichtet, ihm an dem Tag, der auf diesen Majestätsbeleidigungsabend folgte, seine Aufwartung zu machen, und wurde bei dieser Gelegenheit sofort ehrenamtlicher Sekretär der großen patriotischen Aktion. Graf Leinsdorf, wenn er den Zusammenhang gewußt hätte, würde nichts anderes gesagt haben können, als es sei wie durch ein Wunder geschehn.
41
Rachel und Diotima
Kurz darauf fand bei Diotima die erste große Sitzung der vaterländischen Aktion statt.
Das Speisezimmer neben dem Salon war in ein Beratungszimmer umgewandelt worden. Der Eßtisch stand, auseinandergezogen und mit grünem Tuch beschlagen, in der Mitte des Raums. Bogen beinweißen Ministerpapiers und Bleistifte verschiedener Härte lagen vor jedem Platz. Die Anrichte war entfernt. Die Ecken des Raumes standen leer und streng. Die Wände waren ehrfürchtig kahl, bis auf ein Bild Seiner Majestät, das Diotima hingehängt hatte, und jenes einer Dame mit Schnürleib, das Herr Tuzzi als Konsul einst von irgendwo heimgebracht hatte, obgleich es ebensogut als das Bild einer Ahnin gelten durfte. Am liebsten hätte Diotima noch ein Kruzifix an das Kopfende des Tisches gestellt, aber Sektionschef Tuzzi hatte sie ausgelacht, ehe er aus Taktrücksichten an diesem Tag sein Haus verließ.
Denn die Parallelaktion sollte ganz privat beginnen. Keine Minister oder Amtsgrößen erschienen; auch jeder Politiker fehlte; das war Absicht; es sollten anfangs im engsten Kreis nur selbstlose Diener des Gedankens versammelt werden. Der Gouverneur der Staatsbank, die Herren von Holtzkopf und Baron Wisnieczky, einzelne Damen des hohen Adels, bekannte Personen des bürgerlichen Wohlfahrtswesens und getreu dem gräflich Leinsdorfschen Grundsatz »Besitz und Bildung« Vertreter der Hochschulen, der Kunstvereinigungen, der Industrie, des bodenständigen Hausbesitzes und der Kirche wurden erwartet. Die Regierungsstellen hatten unauffällige junge Beamte mit ihrer Vertretung beauftragt, die gesellschaftlich in diesen Kreis paßten und das Vertrauen ihrer Chefs genossen. Diese Zusammensetzung entsprach den Wünschen des Grafen Leinsdorf, der ja an eine ohne Zwang aus der Mitte des Volks aufsteigende Kundgebung dachte, aber nach dem Erlebnis mit den Punkten es doch auch als große Beruhigung empfand, zu wissen, mit wem man es dabei zu tun habe.
Die kleine Kammerzofe Rachel (ihr Name wurde von ihrer Herrin etwas frei als Rachelle ins Französische übersetzt) war schon seit sechs Uhr morgens auf den Beinen. Sie hatte den großen Eßtisch aufgeschlagen, zwei Kartentische daran geschoben, grünes Tuch aufgespannt, staubte nun besonders gut ab und vollzog jede dieser lästigen Tätigkeiten in heller Begeisterung. Am Abend vorher hatte Diotima zu ihr gesagt »Morgen wird bei uns vielleicht Weltgeschichte gemacht!« und Rachel brannte am ganzen Körper vor Glück, Hausgenossin eines solchen Ereignisses zu sein, was sehr für dieses Ereignis sprach, denn Rachels Körper unter dem schwarzen Kleidchen war entzückend wie Meißner Porzellan.
Rachel war neunzehn Jahre alt und glaubte an Wunder. Sie war in einer häßlichen Hütte in Galizien geboren worden, wo an dem Türpfosten der Thorastreifen hing und der Fußboden Spalten hatte, durch die Erde heraufquoll. Sie war verflucht und zur Türe hinausgestoßen worden. Die Mutter hatte eine hilflose Miene dazu gemacht, und die Geschwister hatten mit ängstlichen Gesichtern gegrinst. Sie war bettelnd auf den Knien gelegen, und die Scham hatte ihr das Herz gewürgt, aber nichts hatte ihr geholfen. Ein gewissenloser Bursche hatte sie verführt; sie wußte nicht mehr, wie; sie hatte bei fremden Leuten gebären müssen und dann das Land verlassen. Und Rachel war gereist; unter dem schmutzigen Holzkasten, in dem sie fuhr, rollte die Verzweiflung mit; leergeweint, sah sie die Hauptstadt, zu der sie, von irgendeinem Instinkt getrieben, flüchtete, nur wie eine große Feuerwand vor sich, in die sie sich stürzen wollte, um zu sterben. Aber, o echtes Wunder, diese Wand teilte sich und nahm sie auf; seither war Rachel nie anders zumute gewesen, als lebte sie im Innern einer goldenen Flamme. Der Zufall hatte sie in das Haus Diotimas geführt, und diese hatte es sehr natürlich gefunden, daß man aus einem galizischen Elternhaus entlief, wenn man dadurch zu ihr gekommen war. Sie erzählte der Kleinen, nachdem sie vertraut geworden waren, zuweilen von den berühmten und hochgestellten Menschen, die in dem Hause verkehrten, wo »Rachelle« die Ehre genoß, dienen zu dürfen; und selbst von der Parallelaktion hatte sie ihr schon einiges anvertraut, weil es eine Freude war, sich an Rachels Augensternen zu weiden, die bei jeder Mitteilung flammten und goldenen Spiegeln glichen, die das Bild der Herrin strahlend zurückwarfen.
Denn die kleine Rachel war zwar wegen eines gewissenlosen Burschen von ihrem Vater verflucht worden, aber sie war trotzdem ein ehrbares Mädchen und liebte einfach alles an Diotima: das weiche, dunkle Haar, das sie morgens und abends bürsten durfte, die Kleider, in die sie hineinhalf, die chinesischen Lackarbeiten und geschnitzten indischen Tischchen, die umherliegenden fremdsprachigen Bücher, von denen sie kein Wort verstand, sie liebte auch Herrn Tuzzi und neuestens den Nabob, der schon am zweiten Tag nach seiner Ankunft – sie machte den ersten daraus – ihre gnädige Frau besucht hatte; Rachel hatte ihn im Vorzimmer in so heller Begeisterung angestarrt wie den Heiland der Christen, der aus seinem goldenen Schrank gestiegen ist, und das einzige, was sie verdroß, war, daß er seinen Soliman nicht mitgebracht hatte, um ihrer Herrin aufzuwarten.
Aber heute, in der Nachbarschaft eines solchen Weltereignisses, war sie überzeugt, daß sich auch für sie etwas ereignen müsse, und sie nahm an, daß diesmal wahrscheinlich Soliman in Gesellschaft seines Herrn kommen werde, wie es die Feierlichkeit des Geschehens erforderte. Diese Erwartung war jedoch keineswegs die Hauptsache, sondern nur die gehörige Verwicklung, der Knoten oder die Intrige, die in keinem der Romane fehlten, mit denen Rachel sich erzog. Denn Rachel durfte die Romane lesen, welche Diotima weglegte, so wie sie auch die Wäsche für sich zurechtschneidern durfte, welche Diotima nicht mehr trug. Rachel schneiderte und las geläufig, das war ihr jüdisches Erbgut, aber wenn sie einen Roman in der Hand hatte, den ihr Diotima als großes Kunstwerk bezeichnete, – und solche las sie am liebsten –, dann verstand sie die Geschehnisse natürlich nur so, wie man einem lebhaften Vorgang aus großer Entfernung oder in einem fremden Land zusieht; sie wurde von der ihr unverständlichen Bewegung beschäftigt, ja ergriffen, ohne etwas dareinreden zu können, und das liebte sie überaus. Wenn man sie über die Straße schickte oder vornehmer Besuch ins Haus kam, genoß sie in der gleichen Weise die große und aufregende Gebärde einer Kaiserstadt, eine weit über allen Begriff gehende Fülle von glänzenden Einzelheiten, an denen sie einfach dadurch teil hatte, daß sie sich auf einem bevorzugten Platz in ihrer Mitte befand. Sie wollte das gar nicht besser verstehen; ihre elementare jüdische Vorbildung, die klugen Sprüche ihres Elternhauses hatte sie aus Zorn vergessen und bedurfte ihrer so wenig, wie eine Blume Löffel und Gabel braucht, um sich mit den Säften des Bodens und der Luft zu nähren.
So nahm sie jetzt noch einmal alle Bleistifte zusammen und steckte ihre gleißenden Spitzen vorsichtig in die kleine Maschine, die an der Tischecke stand und so vollkommen das Holz schälte, wenn man an ihrer Kurbel drehte, daß bei der Wiederholung des Vorgangs nicht ein Fäserchen mehr abfiel; dann legte sie die Bleistifte wieder zu den samtweichen Papierbogen zurück, drei von verschiedener Art neben jeden, und dachte daran, daß diese vollkommene Maschine, die sie bedienen durfte, aus dem Ministerium des Äußern und des kaiserlichen Hauses stammte, denn ein Diener hatte sie gestern am Abend von dort gebracht und auch die Bleistifte und das Papier. Es war inzwischen sieben Uhr geworden; Rachel warf schnell einen Generalsblick über alle Einzelheiten der Ordnung und eilte aus dem Zimmer, um Diotima zu wecken, denn eine Viertelstunde nach zehn Uhr war schon die Sitzung angesetzt, und Diotima war nach dem Weggang des Herrn noch ein wenig im Bett geblieben.
Diese Morgen mit Diotima waren eine besondere Freude Rachels. Das Wort Liebe bezeichnet das nicht; eher das Wort Verehrung, wenn man es sich in seinem ganzen Sinn vergegenwärtigt, wo die übertragene Ehre einen Menschen dermaßen durchdringt, daß er bis ins Innerste von ihr erfüllt und geradezu von seinem eigenen Platz in sich weggedrängt wird. Rachel besaß seit ihrem heimatlichen Abenteuer ein kleines Mädchen, das jetzt anderthalb Jahre alt war, und führte einer Pflegemutter pünktlich an jedem ersten Sonntag im Monat einen großen Teil ihres Lohnes ab, wobei sie dann auch ihre Tochter sah; aber obwohl sie ihre Pflicht als Mutter nicht versäumte, erblickte sie darin nur eine in der Vergangenheit verwirkte Strafe, und ihre Empfindungen waren wieder die eines Mädchens geworden, dessen keuscher Körper noch nicht von der Liebe geöffnet ist. Sie trat an Diotimas Bett, und ihr Auge glitt, anbetend wie ein Bergsteiger den Schneegipfel erblickt, der aus dem Morgendunkel ins erste Blau steigt, über deren Schulter, ehe sie die perlmutterzarte Wärme der Haut mit den Fingern berührte. Dann kostete sie von dem fein verwickelten Geruch der Hand, die schläfrig unter der Decke hervorkam, um sich küssen zu lassen, und nach Schmuckwässern des Vortags roch, aber auch nach den Dünsten der Nachtruhe; hielt den Morgenpantoffel dem suchenden nackten Fuß entgegen und empfing den erwachenden Blick. Es wäre aber die sinnliche Berührung mit dem großartigen Frauenkörper beiweitem nicht so schön für sie gewesen, würde sie nicht völlig durchstrahlt worden sein von der moralischen Bedeutung Diotimas.
»Hast du für Seine Erlaucht den Stuhl mit den Armlehnen hingestellt? An meinen Platz die kleine silberne Glocke? Auf den Platz des Schriftführers zwölf Bogen Papier gelegt? Und sechs Bleistifte, Rachelle, sechs, nicht bloß drei, am Platz des Schriftführers?« sagte Diotima diesmal. Rachel zählte bei jeder dieser Fragen innerlich noch einmal an den Fingern alles ab, was sie getan hatte, und erschrak heftig vor Ehrgeiz, als stünde ein Leben auf dem Spiel. Ihre Herrin hatte einen Morgenrock umgeworfen und begab sich ins Beratungszimmer. Ihre Art, »Rachelle« zu erziehen, bestand darin, daß sie diese bei allem, was sie tat oder unterließ, daran erinnerte, man dürfe es nie bloß als seine persönliche Angelegenheit betrachten, sondern müsse an die allgemeine Bedeutung denken. Zerschlug Rachel ein Glas, so erfuhr »Rachelle«, daß der Schaden an sich ganz bedeutungslos sei, daß aber das durchsichtige Glas ein Symbol der alltäglichen kleinen Pflichten bedeute, die das Auge kaum noch wahrnehme, weil es sich gerne auf Höheres richte, denen man indes gerade darum besondere Aufmerksamkeit widmen müsse –; und Rachel konnten bei solcher ministeriell höflichen Behandlung die Tränen in die Augen treten, vor Reue und Glück, während sie die Scherben zusammenfegte. Die Köchinnen, von denen Diotima korrektes Denken und Erkenntnis begangener Fehler verlangte, hatten schon oft gewechselt, seit Rachel im Dienst war, aber Rachel liebte diese wundervollen Phrasen von ganzem Herzen, so wie sie den Kaiser, die Begräbnisse und die strahlenden Kerzen im Dunkel der katholischen Kirchen liebte. Hie und da log sie, um sich aus einer Patsche zu ziehen, aber sie kam sich danach sehr schlecht vor; ja sie liebte vielleicht sogar kleine Lügen, weil sie dabei im Vergleich mit Diotima ihre ganze Schlechtigkeit fühlte, gestattete sich das aber gewöhnlich nur dann, wenn sie etwas Falsches heimlich schnell noch in Wahrheit umwandeln zu können hoffte.
Wenn ein Mensch zu einem anderen derart in allem und jedem aufblickt, kommt es vor, daß ihm sein Körper geradezu entzogen wird und wie ein kleiner Meteorit in die Sonne des anderen Körpers stürzt. Diotima hatte nichts auszusetzen gefunden und ihre kleine Dienerin freundlich auf die Schulter geklopft; dann begaben sie sich in die Badestube und begannen die Toilette für den großen Tag. Wenn Rachel das warme Wasser mischte, Seife schäumen ließ oder mit dem Frottiertuch Diotimas Körper so dreist abtrocknen durfte, als wäre es ihr eigener Körper, so machte ihr das viel mehr Vergnügen, als wenn es wirklich bloß ihr eigener Körper gewesen wäre. Der kam ihr nichtig und vertrauensunwürdig vor, es lag ihr ferne, auch nur vergleichsweise an ihn zu denken, ihr war, wenn sie die statuenhafte Fülle Diotimas berührte, zumute wie einem Bauernlümmel von Rekrut, der einem strahlend schönen Regiment angehört.
So wurde Diotima für den großen Tag gewappnet.
42
Die große Sitzung
Als die letzte Minute zur bestimmten Stunde hinüberschwang, erschien Graf Leinsdorf in Begleitung Ulrichs. Rachel, die schon glühte, weil bis dahin ununterbrochen Gäste gekommen waren, denen sie öffnen und aus den Kleidern helfen mußte, erkannte diesen sofort wieder und nahm befriedigt zur Kenntnis, daß auch er kein beliebiger Besucher gewesen sei, sondern ein Mann, den bedeutungsvolle Zusammenhänge in das Haus ihrer Herrin geführt hatten, wie sich jetzt zeigte, da er in Gesellschaft Sr. Erlaucht wiederkam. Sie flatterte an die Zimmertüre, die sie feierlich öffnete, und hockte sich danach vor dem Schlüsselloch hin, um zu erfahren, was nun vor sich gehen werde. Es war ein breites Schlüsselloch, und sie sah das rasierte Kinn des Gouverneurs, die violette Halsbinde des Prälaten Niedomansky sowie die goldene Säbelquaste des Generals Stumm von Bordwehr, den das Kriegsministerium entsandt hatte, obgleich es eigentlich nicht eingeladen worden war; es hatte trotzdem in einer Zuschrift an den. Grafen Leinsdorf erklärt, daß es bei einer so »hochpatriotischen Angelegenheit« nicht fehlen wolle, wenn es auch mit ihrem Ursprung und zu gewärtigenden Verlauf nicht unmittelbar zu tun habe. Das hatte Diotima aber vergessen, Rachel mitzuteilen, und so war diese durch die Anwesenheit eines Offiziers bei der Besprechung sehr erregt, konnte aber vorläufig von den Dingen, die im Zimmer vor sich gingen, nichts weiter herausbringen.
Diotima hatte unterdessen Se. Erlaucht empfangen und für Ulrich nicht viel Aufmerksamkeit gezeigt, denn sie stellte die Anwesenden vor und präsentierte Sr. Erlaucht als ersten Dr. Paul Arnheim, wobei sie erklärte, daß ein glücklicher Zufall diesen berühmten Freund ihres Hauses hergeführt habe, und wenn er auch als Ausländer nicht beanspruchen dürfe, in aller Form an den Sitzungen teilzunehmen, so bäte sie doch, ihn ihr persönlich als Ratgeber zu lassen; denn – und hier fügte sie sofort eine sanfte Drohung an – seine großen Erfahrungen und Beziehungen auf international kulturellem Gebiet und in den Zusammenhängen dieser Fragen mit denen der Wirtschaft seien für sie eine unschätzbare Stütze, und sie habe bisher allein darüber berichten müssen und würde wohl auch in Zukunft nicht so bald ersetzt werden können und sei sich trotzdem ihrer ungenügenden Kraft nur zu sehr bewußt.
Graf Leinsdorf sah sich überfallen und mußte sich zum erstenmal seit dem Beginn ihrer Beziehungen über eine Taktlosigkeit seiner bürgerlichen Freundin wundern. Auch Arnheim fühlte sich betreten, wie ein Souverän, dessen Einzug nicht gebührend geordnet worden ist, denn er war fest überzeugt gewesen, daß Graf Leinsdorf von seiner Einladung wisse und sie gebilligt habe. Aber Diotima, deren Gesicht in diesem Augenblick rot und eigensinnig aussah, ließ nicht locker, und wie alle Frauen, die in Fragen der Ehemoral ein zu reines Gewissen haben, vermochte sie eine unausstehliche weibliche Zudringlichkeit zu entwickeln, wenn es sich um eine ehrbare Angelegenheit handelte.