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Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des Essayismus

Genauigkeit, als menschliche Haltung, verlangt auch ein genaues Tun und Sein. Sie verlangt Tun und Sein im Sinne eines maximalen Anspruchs. Allein hier ist eine Unterscheidung zu machen.

Denn in Wirklichkeit gibt es ja nicht nur die phantastische Genauigkeit (die es in Wirklichkeit noch gar nicht gibt), sondern auch eine pedantische, und diese beiden unterscheiden sich dadurch, daß sich die phantastische an die Tatsachen hält und die pedantische an Phantasiegebilde. Die Genauigkeit zum Beispiel, mit der der sonderbare Geist Moosbruggers in ein System von zweitausendjährigen Rechtsbegriffen gebracht wurde, glich den pedantischen Anstrengungen eines Narren, der einen freifliegenden Vogel mit einer Nadel aufspießen will, aber sie kümmerte sich ganz und gar nicht um die Tatsachen, sondern um den phantastischen Begriff des Rechtsguts. Die Genauigkeit dagegen, die die Psychiater in ihrem Verhalten zu der großen Frage, ob man Moosbrugger zum Tode verurteilen dürfe oder nicht, an den Tag legten, war ganz und gar exakt, denn sie traute sich nicht mehr zu sagen, als daß sein Krankheitsbild keinem bisher beobachteten Krankheitsbild genau entspreche, und überließ die weitere Entscheidung den Juristen. Es ist ein Bild des Lebens, das der Gerichtssaal bei dieser Gelegenheit bot, denn alle die lebhaften Menschen des Lebens, die es gänzlich unmöglich fänden, einen Kraftwagen zu benützen, der älter als fünf Jahre ist, oder eine Krankheit nach den Grundsätzen behandeln zu lassen, die vor zehn Jahren die besten waren, die überdies ihre ganze Zeit freiwillig -unfreiwillig der Förderung solcher Erfindungen widmen und davon eingenommen sind, alles zu rationalisieren, was in ihren Bereich kommt, überlassen die Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens, kurz alle Fragen der Humanität, soweit sie nicht geschäftliche Beteiligung daran haben, am liebsten ihren Frauen, und solange diese noch nicht ganz dazu genügen, einer Abart von Männern, die ihnen von Kelch und Schwert des Lebens in tausendjährigen Wendungen erzählen, denen sie leichtsinnig, verdrossen und skeptisch zuhören, ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, daß man es auch anders machen könnte. Es gibt also in Wirklichkeit zwei Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig versichern, sie seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz. Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her. Die eine gewinnt dabei an Erfolg, und die andere an Umfang und Würde. Es ist klar, daß ein Pessimist auch sagen könnte, die Ergebnisse der einen seien nichts wert und die der anderen nicht wahr. Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer dreißig wären?! Andererseits, was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!

Zwischen den beiden Polen dieses Weder-Noch pendelte die Entwicklung, als es rund länger als achtzehn und noch keine zwanzig Jahrhunderte her war, seit die Menschheit zum erstenmal erfuhr, daß es am Ende aller Tage ein solches geistiges Gericht geben werde. Es entspricht der Erfahrung, daß dabei auf eine Richtung immer die entgegengesetzte folgt. Und obgleich es denkbar und wünschbar wäre, daß eine solche Umkehr sich wie ein Schraubengang vollzöge, der bei jedem Richtungswechsel höher steigt, gewinnt aus unbekannten Gründen die Entwicklung dabei selten mehr, als sie durch Umweg und Zerstörung verliert. Dr. Paul Arnheim hatte also ganz recht, als er zu Ulrich sagte, die Weltgeschichte gestatte niemals etwas Negatives; die Weltgeschichte ist optimistisch, sie entscheidet sich immer mit Begeisterung für das eine und erst nachher für sein Gegenteil! So folgte auch auf die ersten Phantasien der Exaktheit keineswegs der Versuch, sie zu verwirklichen, sondern man überließ sie dem flügellosen Gebrauch der Ingenieure und Gelehrten und wandte sich wieder der würdigeren und umfangreicheren Geistesverfassung zu.

Ulrich konnte sich noch gut erinnern, wie das Unsichere wieder zu Ansehen gekommen war. Immer mehr hatten sich Äußerungen gehäuft, wo Menschen, die ein etwas unsicheres Metier betrieben, Dichter, Kritiker, Frauen und die den Beruf einer neuen Generation Ausübenden, Klage erhoben, daß das pure Wissen einem unseligen Etwas gleiche, das alles hohe Menschenwerk zerreiße, ohne es je wieder zusammensetzen zu können, und sie verlangten einen neuen Menschheitsglauben, Rückkehr zu den inneren Urtümern, geistigen Aufschwung und allerlei von solcher Art. Er hatte anfangs naiver Weise angenommen, das seien Leute, die sich aufgeritten haben und hinkend vom Pferd steigen, schreiend, daß man sie mit Seele einschmiere; aber er mußte allmählich erkennen, daß der sich wiederholende Ruf, der ihm anfangs so komisch erschienen war, einen breiten Widerhall fand; das Wissen fing an, unzeitgemäß zu werden, der unscharfe Typus Mensch, der die Gegenwart beherrscht, hatte sich durchzusetzen begonnen.

Ulrich hatte sich dagegen aufgelehnt, das ernst zu nehmen, und bildete nun seine geistigen Neigungen auf eigene Art weiter.

Aus der frühesten Zeit des ersten Selbstbewußtseins der Jugend, die später wieder anzublicken oft so rührend und erschütternd ist, waren heute noch allerhand einst geliebte Vorstellungen in seiner Erinnerung vorhanden, und darunter das Wort «hypothetisch leben». Es drückte noch immer den Mut und die unfreiwillige Unkenntnis des Lebens aus, wo jeder Schritt ein Wagnis ohne Erfahrung ist, und den Wunsch nach großen Zusammenhängen und den Hauch der Widerruflichkeit, den ein junger Mensch fühlt, wenn er zögernd ins Leben tritt. Ulrich dachte, daß davon eigentlich nichts zurückzunehmen sei. Ein spannendes Gefühl, zu irgendetwas ausersehen zu sein, ist das Schöne und einzig Gewisse in dem, dessen Blick zum erstenmal die Welt mustert. Er kann, wenn er seine Empfindungen überwacht, zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen; er sucht die mögliche Geliebte, aber weiß nicht, ob es die richtige ist; er ist imstande zu töten, ohne sicher zu sein, daß er es tun muß. Der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln, verbietet ihm, an das Vollendete zu glauben; aber alles, was ihm entgegentritt, tut so, als ob es vollendet wäre. Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten hegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist. Was sollte er da Besseres tun können, als sich von der Welt freizuhalten, in jenem guten Sinn, den ein Forscher Tatsachen gegenüber bewahrt, die ihn verführen wollen, voreilig an sie zu glauben! Darum zögert er, aus sich etwas zu machen; ein Charakter, Beruf, eine feste Wesensart, das sind für ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm übrig bleiben soll. Er sucht sich anders zu verstehen; mit einer Neigung zu allem, was ihn innerlich mehrt, und sei es auch moralisch oder intellektuell verboten, fühlt er sich wie einen Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von einem Gleichgewicht zum nächsten und immer vorwärts führt. Und meint er einmal, den echten Einfall zu haben, so nimmt er wahr, daß ein Tropfen unsagbarer Glut in die Welt gefallen ist, deren Leuchten die Erde anders aussehen macht.

In Ulrich war später, bei gemehrtem geistigen Vermögen, daraus eine Vorstellung geworden, die er nun nicht mehr mit dem unsicheren Wort Hypothese, sondern aus bestimmten Gründen mit dem eigentümlichen Begriff eines Essays verband. Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, – denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein – glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können. Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur erschienen ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten. Das ist übrigens nur die einfache Beschreibung der Tatsache, daß uns ein Mord als ein Verbrechen oder als eine heroische Tat erscheinen kann und die Stunde der Liebe als die Feder, die aus dem Flügel eines Engels oder einer Gans gefallen ist. Aber Ulrich verallgemeinerte sie. Dann fanden alle moralischen Ereignisse in einem Kraftfeld statt, dessen Konstellation sie mit Sinn belud, und sie enthielten das Gute und das Böse wie ein Atom chemische Verbindungsmöglichkeiten enthält. Sie waren gewissermaßen das, was sie wurden, und so wie das eine Wort Hart, je nachdem, ob die Härte mit Liebe, Roheit, Eifer oder Strenge zusammenhängt, vier ganz verschiedene Wesenheiten bezeichnet, erschienen ihm alle moralischen Geschehnisse in ihrer Bedeutung als die abhängige Funktion anderer. Es entstand auf diese Weise ein unendliches System von Zusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab; das scheinbare Feste wurde darin zum durchlässigen Vorwand für viele andere Bedeutungen, das Geschehende zum Symbol von etwas, das vielleicht nicht geschah, aber hindurch gefühlt wurde, und der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeiten, der potentielle Mensch, das ungeschriebene Gedicht seines Daseins trat dem Menschen als Niederschrift, als Wirklichkeit und Charakter entgegen. Im Grunde fühlte sich Ulrich nach dieser Anschauung jeder Tugend und jeder Schlechtigkeit fähig, und daß Tugenden wie Laster in einer ausgeglichenen Gesellschaftsordnung allgemein, wenn auch uneingestanden, als gleich lästig empfunden werden, bewies ihm gerade das, was in der Natur allenthalben geschieht, daß jedes Kräftespiel mit der Zeit einem Mittelwert und Mittelzustand, einem Ausgleich und einer Erstarrung zustrebt. Die Moral im gewöhnlichen Sinn war für Ulrich nicht mehr als die Altersform eines Kräftesystems, das nicht ohne Verlust an ethischer Kraft mit ihr verwechselt werden darf.

Es mag sein, daß sich auch in diesen Anschauungen eine gewisse Lebensunsicherheit ausdrückte; allein Unsicherheit ist mitunter nichts als das Ungenügen an den gewöhnlichen Sicherungen, und im übrigen darf wohl daran erinnert werden, daß selbst eine so erfahrene Person, wie es die Menschheit ist, scheinbar nach ganz ähnlichen Grundsätzen handelt. Sie widerruft auf die Dauer alles, was sie getan hat, und setzt anderes an seine Stelle, auch ihr verwandeln sich im Lauf der Zeit Verbrechen in Tugenden und umgekehrt, sie baut große geistige Zusammenhänge aller Geschehnisse auf und läßt sie nach einigen Menschenaltern wieder einstürzen; nur geschieht das nacheinander, statt in einem einheitlichen Lebensgefühl, und die Kette ihrer Versuche läßt keine Steigerung erkennen, während ein bewußter menschlicher Essayismus ungefähr die Aufgabe vorfände, diesen fahrlässigen Bewußtseinszustand der Welt in einen Willen zu verwandeln. Und viele einzelne Entwicklungslinien weisen dahin, daß dies bald geschehen könnte. Die Gehilf in in einem Krankenhaus, die, blütenweiß gekleidet, den Kot eines Patienten in einem weißen Porzellanschüsselchen mit helfenden Säuren zu einem purpurfarbenen Aufstrich verreibt, dessen richtige Farbe ihre Aufmerksamkeit belohnt, befindet sich schon jetzt, auch wenn sie es nicht weiß, in einer wandelbareren Welt als die junge Dame, die vor dem gleichen Gegenstand auf der Straße erschauert. Der Verbrecher, der in das moralische Kraftfeld seiner Tat geraten ist, bewegt sich nur noch wie ein Schwimmer, der mit einem reißenden Strom mitmuß, und jede Mutter, deren Kind einmal hineingerissen worden ist, weiß das; man hat es ihr bisher bloß nicht geglaubt, weil man keinen Platz für diesen Glauben hatte. Die Psychiatrie nennt die große Heiterkeit eine heitere Verstimmung, als ob sie heitere Unlust wäre, und hat erkennen lassen, daß alle großen Steigerungen, die der Keuschheit wie der Sinnlichkeit, der Gewissenhaftigkeit wie des Leichtsinns, der Grausamkeit wie des Mitleidens ins Krankhafte münden; wie wenig würde da noch das gesunde Leben bedeuten, wenn es nur einen mittleren Zustand zwischen zwei Übertreibungen zum Ziel hätte! Wie dürftig wäre es schon, wenn sein Ideal wirklich nichts anderes als die Leugnung der Übertreibung seiner Ideale wäre?! Solche Erkenntnisse führen also dazu, in der moralischen Norm nicht länger die Ruhe starrer Satzungen zu sehen, sondern ein bewegliches Gleichgewicht, das in jedem Augenblick Leistungen zu seiner Erneuerung fordert. Man beginnt, es immer mehr als beschränkt zu empfinden, unwillkürlich erworbene Wiederholungsdispositionen einem Menschen als Charakter zuzuschreiben und dann seinen Charakter für die Wiederholungen verantwortlich zu machen. Man lernt das Wechselspiel zwischen Innen und Außen erkennen, und gerade durch das Verständnis für das Unpersönliche am Menschen ist man dem Persönlichen auf neue Spuren gekommen, auf gewisse einfache Grundverhaltensweisen, einen Ichbautrieb, der wie der Nestbautrieb der Vögel aus vieler Art Stoff nach ein paar Verfahren sein Ich aufrichtet. Man ist bereits so nahe daran, durch bestimmte Einflüsse allerhand entartete Zustände verbauen zu können wie einen Wildbach, daß es beinahe nur noch auf eine soziale Fahrlässigkeit hinausläuft oder auf einen Rest von Ungeschicklichkeit, wenn man aus Verbrechern nicht rechtzeitig Erzengel macht. Und so ließe sich sehr vieles anführen, Zerstreutes, einander noch nicht nahe Gekommenes, was zusammenwirkt, daß man der groben Annäherungen müde wird, die unter einfacheren Bedingungen für ihre Anwendung entstanden sind, und allmählich die Nötigung erlebt, eine Moral, die seit zweitausend Jahren immer nur im kleinen dem wechselnden Geschmack angepaßt worden ist, in den Grundlagen der Form zu verändern und gegen eine andere einzutauschen, die sich der Beweglichkeit der Tatsachen genauer anschmiegt.

Nach Ulrichs Überzeugung fehlte dazu eigentlich nur noch die Formel; jener Ausdruck, den das Ziel einer Bewegung, noch ehe es erreicht ist, in irgendeinem glücklichen Augenblick finden muß, damit das letzte Stück des Wegs zurückgelegt werden kann, und es ist das immer ein gewagter, nach dem Stande der Dinge noch nicht zu rechtfertigender Ausdruck, eine Verbindung von exakt und nichtexakt, von Genauigkeit und Leidenschaft. Aber es war gerade in den Jahren, die ihn hätten aneifern sollen, mit ihm etwas Merkwürdiges vor sich gegangen. Er war kein Philosoph. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren. Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, daß es in den Zeiten der Tyrannis große philosophische Naturen gegeben hat, während es in den Zeiten der fortgeschrittenen Zivilisation und Demokratie nicht gelingt, eine überzeugende Philosophie hervorzubringen, wenigstens soweit sich das nach dem Bedauern beurteilen läßt, das man allgemein darüber äußern hört. Darum wird heute in kurzen Stücken erschrekkend viel philosophiert, so daß es gerade nur noch die Kaufläden gibt, wo man ohne Weltanschauung etwas bekommt, während gegen große Stücke Philosophie ein ausgesprochenes Mißtrauen herrscht. Man hält sie einfach für unmöglich, und auch Ulrich war keineswegs frei davon, ja er dachte nach seinen wissenschaftlichen Erfahrungen etwas spöttisch über sie. Das gab die Richtung für sein Verhalten, so daß er immer wieder von dem, was er sah, zum Nachdenken aufgefordert wurde und doch mit einer gewissen Scheu vor zuviel Denken behaftet war. Aber was sein Verhalten schließlich entschied, war noch etwas anderes. Es gab etwas in Ulrichs Wesen, das in einer zerstreuten, lähmenden, entwaffnenden Weise gegen das logische Ordnen, gegen den eindeutigen Willen, gegen die bestimmt gerichteten Antriebe des Ehrgeizes wirkte, und auch das hing mit dem seinerzeit von ihm gewählten Namen Essayismus zusammen, wenn es auch gerade die Bestandteile enthielt, die er mit der Zeit und mit unbewußter Sorgfalt aus diesem Begriff ausgeschaltet hätte. Die Übersetzung des Wortes Essay als Versuch, wie sie gegeben worden ist, enthält nur ungenau die wesentlichste Anspielung auf das literarische Vorbild; denn ein Essay ist nicht der vor- oder nebenläufige Ausdruck einer Überzeugung, die bei besserer Gelegenheit zur Wahrheit erhoben, ebensogut aber auch als Irrtum erkannt werden könnte (von solcher Art sind bloß die Aufsätze und Abhandlungen, die gelehrte Personen als «Abfälle ihrer Werkstätte» zum besten geben); sondern ein Essay ist die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt. Nichts ist dem fremder als die Unverantwortlichkeit und Halbfertigkeit der Einfälle, die man Subjektivität nennt, aber auch wahr und falsch, klug und unklug sind keine Begriffe, die sich auf solche Gedanken anwenden lassen, die dennoch Gesetzen unterstehn, die nicht weniger streng sind, als sie zart und unaussprechlich erscheinen. Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben, aber es würde keinen Zweck haben, sie zu nennen; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie auch einfach Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben.

Nichts ist übrigens bezeichnender als die unfreiwillige Erfahrung, die man mit gelehrten und vernünftigen Versuchen macht, solche große Essayisten auszulegen, die Lebenslehre, so wie sie ist, in ein Lebenswissen umzuwandeln und der Bewegung der Bewegten einen «Inhalt» abzugewinnen; es bleibt von allem ungefähr so viel übrig wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt hat. Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn, und doch darf man sie nicht eigentlich zart und lebensunbeständig nennen, da man sonst auch einen Elefanten zu zart nennen müßte, um in einem luftleeren, seinen Lebensbedürfnissen nicht entsprechenden Raum auszudauern. Es wäre sehr zu beklagen, wenn diese Beschreibungen den Eindruck eines Geheimnisses hervorriefen oder auch nur den einer Musik, in der die Harfenklänge und seufzerhaften Glissandi überwiegen. Das Gegenteil ist wahr, und die ihnen zugrunde liegende Frage stellte sich Ulrich durchaus nicht nur als Ahnung dar, sondern auch ganz nüchtern in der folgenden Form: Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt? Solche Beispiele, die «dazwischen» liegen, liefert aber jeder moralische Satz, etwa gleich der bekannte und einfache: Du sollst nicht töten. Man sieht auf den ersten Blick, daß er weder eine Wahrheit ist noch eine Subjektivität. Man weiß, daß wir uns in mancher Hinsicht streng an ihn halten, in anderer Hinsicht sind gewisse und sehr zahlreiche, jedoch genau begrenzte Ausnahmen zugelassen, aber in einer sehr großen Zahl von Fällen dritter Art, so in der Phantasie, in den Wünschen, in den Theaterstücken oder beim Genuß der Zeitungsnachrichten, schweifen wir ganz ungeregelt zwischen Abscheu und Verlockung. Man nennt etwas, das weder eine Wahrheit noch eine Subjektivität ist, zuweilen eine Forderung. Man hat diese Forderung an den Dogmen der Religion und an denen des Gesetzes befestigt und ihr dadurch den Charakter einer abgeleiteten Wahrheit gegeben, aber die Romanschriftsteller erzählen uns von den Ausnahmen, angefangen beim Opfer Abrahams bis zur jüngsten schönen Frau, die ihren Geliebten niedergeschossen hat, und lösen es wieder in Subjektivität auf. Man kann sich also entweder an den Pflöcken festhalten oder zwischen ihnen von der breiten Welle hin und her tragen lassen; aber mit welchem Gefühl!? Das Gefühl des Menschen für diesen Satz ist ein Gemisch von vernageltem Gehorchen (einschließlich der «gesunden Natur», die sich sträubt, an so etwas auch nur zu denken, aber, durch Alkohol oder Leidenschaft nur ein wenig von ihrem Platz verrückt, es sofort tut) und gedankenlosem Plätschern in einer Woge voll Möglichkeiten. Soll dieser Satz wirklich nur so verstanden werden? Ulrich fühlte, daß ein Mann, der etwas mit ganzer Seele tun möchte, auf diese Weise weder weiß, ob er es tun, noch ob er es unterlassen soll. Und ihm ahnte doch, daß man es aus dem ganzen Wesen heraus tun oder lassen könnte. Ein Einfall oder ein Verbot sagten ihm gar nichts. Die Anknüpfung an ein Gesetz nach oben oder innen erregte die Kritik seines Verstandes, ja mehr als das, es lag auch eine Entwertung in diesem Bedürfnis, den seiner selbst gewissen Augenblick durch eine Abstammung zu nobilitieren. Bei alledem blieb seine Brust stumm, und nur sein Kopf sprach; aber er fühlte, daß in einer anderen Weise seine Entscheidung übereinfallen könnte mit seinem Glück. Er könnte glücklich sein, weil er nicht tötet, oder glücklich sein, weil er tötet, aber er könnte niemals der gleichgültige Eintreiber einer an ihn gestellten Forderung sein. Das, was er in diesem Augenblick empfand, war kein Gebot, es war ein Gebiet, das er betreten hatte. Er begriff, daß alles darin schon entschieden sei und den Sinn besänftigt wie Muttermilch. Aber es war kein Denken mehr, was ihm das sagte, und auch kein Fühlen in der gewöhnlichen, wie in Stücke gebrochenen Weise; es war ein «ganz Begreifen» und doch auch wieder nur so, wie wenn der Wind eine Botschaft fern herüberträgt, und sie kam ihm weder wahr noch falsch, weder vernünftig noch widervernünftig vor, sondern ergriff ihn, als wäre ihm eine leise selige Übertreibung in die Brust gefallen.

Und so wenig man aus den echten Teilen eines Essays eine Wahrheit machen kann, vermag man aus einem solchen Zustand eine Überzeugung zu gewinnen; wenigstens nicht, ohne ihn aufzugeben, so wie ein Liebender die Liebe verlassen muß, um sie zu beschreiben. Die grenzenlose Rührung, die ihn zuweilen untätig bewegte, widersprach dem Tätigkeitstrieb Ulrichs, der auf Grenzen und Formen drang. Nun ist es ja wahrscheinlich richtig und natürlich, erst wissen zu wollen, ehe man das Gefühl sprechen läßt, und unwillkürlich stellte er sich vor, was er dereinst finden wollte, werde, wenn es auch nicht Wahrheit sei, dieser doch an Festigkeit nichts nachgeben; aber in seinem besonderen Fall ähnelte er dadurch einem Mann, der sich ein Rüstzeug zusammenstellt, indes ihm darüber die Absicht erstirbt. Wann immer man ihn bei der Abfassung mathematischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt hätte, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens. Aber wenn man eine Forderung lange Zeit erhebt, ohne daß mit ihr etwas geschieht, schläft das Gehirn genau so ein, wie der Arm einschläft, wenn er lange Zeit etwas hochhält, und unsere Gedanken können ebensowenig dauernd stehen bleiben wie Soldaten im Sommer auf einer Parade; wenn sie zu lange warten müssen, fallen sie einfach ohnmächtig um. Da Ulrich ungefähr in seinem sechsundzwanzigsten Jahr den Entwurf seiner Lebensauffassung abgeschlossen hatte, kam sie ihm in seinem zweiunddreißigsten Jahr nicht mehr ganz aufrichtig vor. Er hatte seine Gedanken nicht weitergebildet, und abgesehen von einem ungewissen und spannenden Gefühl, wie man es bei geschlossenen Augen hat, wenn man etwas erwartet, zeigte sich in ihm auch nicht viel von persönlicher Bewegung, seit die Tage der zitternden ersten Erkenntnisse vorbei waren. Wahrscheinlich war es trotzdem eine unterirdische Bewegung von solcher Art, was ihn mit der Zeit in der wissenschaftlichen Arbeit verlangsamte und daran hinderte, in sie seinen ganzen Willen zu setzen. Er geriet durch sie in einen eigentümlichen Zwiespalt. Man darf nicht vergessen, daß die exakte Geistesverfassung im Grunde gottgläubiger ist als die schöngeistige; denn sie unterwürfe sich «Ihm», sobald er geruht, sich ihr unter den Bedingungen zu zeigen, die sie für die Anerkennung seiner Tatsächlichkeit vorschreibt, wogegen unsere schönen Geister, wenn Er sich äußerte, nur fänden, daß sein Talent nicht ursprünglich und sein Weltbild nicht verständlich genug seien, um ihn auf eine Stufe mit wirklich gottbegnadeten Begabungen zu stellen. So leicht wie irgendwer von dieser Gattung konnte sich Ulrich also nicht unbestimmten Ahnungen hingeben, aber andererseits konnte er sich ebensowenig verhehlen, daß er in lauter Exaktheit jahrelang bloß gegen sich selbst gelebt habe, und er wünschte, daß etwas Unvorhergesehenes mit ihm geschehen möge, denn als er das tat, was er etwas spöttisch seinen «Urlaub vom Leben» nannte, besaß er in der einen wie in der anderen Richtung nichts, was ihm Frieden gab.

Vielleicht könnte man zu seiner Entschuldigung anführen, daß das Leben in gewissen Jahren unglaublich schnell entflieht. Aber der Tag, wo man beginnen muß, seinen letzten Willen zu leben, ehe man dessen Rest hinterläßt, hegt weit voran und läßt sich nicht verschieben. Das war ihm drohend klar geworden, seit fast ein halbes Jahr vergangen war, ohne daß sich etwas änderte. Während er sich in der kleinen und närrischen Tätigkeit, die er übernommen hatte, hin und her bewegen ließ, sprach, gerne zuviel sprach, mit der verzweifelten Beharrlichkeit eines Fischers lebte, der seine Netze in einen leeren Fluß senkt, indes er nichts tat, was der Person entsprach, die er immerhin bedeutete, und es mit Absicht nicht tat, wartete er. Er wartete hinter seiner Person, sofern dieses Wort den von Welt und Lebenslauf geformten Teil eines Menschen bezeichnet, und seine ruhige, dahinter abgedämmte Verzweiflung stieg mit jedem Tag höher. Er befand sich in dem schlimmsten Notstand seines Lebens und verachtete sich für seine Unterlassungen. Sind große Prüfungen das Vorrecht großer Naturen? Er hätte gerne daran geglaubt, aber es ist nicht richtig, denn auch die simpelsten nervösen Naturen haben ihre Krisen. So blieb ihm eigentlich nur in der großen Erschütterung jener Rest von Unerschütterlichkeit übrig, den alle Helden und Verbrecher besitzen, es ist nicht Mut, es ist nicht Wille, es ist keine Zuversicht, sondern einfach ein zähes Festhalten an sich, das sich so schwer austreiben läßt wie das Leben aus einer Katze, selbst wenn sie von den Hunden schon ganz zerfleischt ist.

Will man sich vorstellen, wie solch ein Mensch lebt, wenn er allein ist, so kann höchstens erzählt werden, daß in der Nacht die erhellten Fensterscheiben ins Zimmer schauen, und die Gedanken, nachdem sie gebraucht sind, herumsitzen wie die Klienten im Vorzimmer eines Anwalts, mit dem sie nicht zufrieden sind. Oder vielleicht, daß Ulrich einmal in solcher Nacht die Fenster öffnete und in die schlangenkahlen Baumstämme blickte, deren Windungen zwischen den Schneedecken der Wipfel und des Bodens seltsam schwarz und glatt dastanden, und plötzlich Lust bekam, im Schlafanzug, wie er war, in den Garten hinunterzugehn; er wollte die Kälte in den Haaren fühlen. Als er unten war, schaltete er das Licht aus, um nicht vor der erleuchteten Türe zu stehn, und nur aus seinem Arbeitszimmer ragte ein Lichtdach in den Schatten hinein. Ein Weg führte zum Gittertor, das auf die Straße mündete, ein zweiter kreuzte ihn dunkel deutlich. Ulrich ging langsam auf diesen zu. Und dann erinnerte ihn die zwischen den Baumkronen emporragende Dunkelheit plötzlich phantastisch an die riesige Gestalt Moosbruggers, und die nackten Bäume kamen ihm merkwürdig körperlich vor; häßlich und naß wie Würmer und trotzdem so, daß man sie umarmen und mit Tränen im Gesicht an ihnen niedersinken mochte. Aber er tat es nicht. Die Sentimentalität der Regung stieß ihn im gleichen Augenblick zurück, wo sie ihn berührte. Durch den Milchschaum des Nebels kamen vor dem Gitter des Gartens in diesem Augenblick verspätete Fußgänger vorbei, und er hätte ihnen wohl wie ein Narr erscheinen können, wie sich sein Bild, in rotem Schlafanzug zwischen schwarzen Stämmen, nun von diesen loslöste; aber er trat fest auf den Weg und ging verhältnismäßig zufrieden in sein Haus zurück, denn wenn etwas für ihn auf bewahrt war, so müßte es etwas ganz anderes sein.

Der Mann ohne Eigenschaften

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