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Teil I: Brickrow - Kapitel 1: Gegenwart
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Cassandra Moon war achtzehn Jahre alt, als sie den größten Fehler ihres Lebens beging.
Dieser leidvolle Tag hatte, wie die meisten Tage im Leben einer Schülerin, damit begonnen, dass Cassandra ihrem viel zu lauten Wecker mit schlaffer Hand eins auf den Deckel gegeben hatte, bevor sich sein Piepsen zu tief in die wollige Schicht ihrer Träume bohren konnte. Befreit von der Marter des kleinen Gerätes, ließ Cassandra ihren Geist noch eine Weile umhertreiben - zu den letzten Bildern ihrer Träume, an die sie sich noch erinnerte. Viel eher als sie sich wünschte wurde sie an den kalten, harten Strand des Wachseins gespült.
Einmal aus dem Bett gekrochen ertastete sie sich im Dunkeln den Weg zum oberen Bad, setzte sich auf die Toilettenschüssel, und ließ es plätschern. Dabei puhlte sie sich den Sand aus den Augen und wischte sich auch das schleimige Zeug weg, das wohl aus eingetrockneter Tränenflüssigkeit bestand. Als sie es nicht mehr vermeiden konnte, schaltete sie das Badezimmerlicht ein, das sie sofort schmerzhaft blendete. Den Blick in den Spiegel konnte sie sich sparen, bis sie sich die Zähne geputzt hatte und tropfnass aus der Dusche kam.
Cassandra gehörte zu den Menschen, die sich vor dem Frühstück die Zähne putzten, und sich danach fragten, ob es nicht schlauer wäre, es nach dem Essen zu tun. Allerdings vergaß Cassandra diesen Gedanken, sobald sie die Zahnbürste aus der Hand legte.
Im beschlagenen Badezimmerspiegel bewegte sich ein großer Wust aus dunkelbraunem Haar. Cassandra wischte das Kondenswasser fort und bleckte dem Spiegel die Zähne entgegen. Sie hatte ein starkes, kieferlastiges Gesicht – die Lippen breit und voll. Ihre Mundwinkel zeigten nach oben, auch wenn sie keine Miene verzog.
Pferdegesicht, hatten sie immer gerufen.
Darüber thronte eine Nase, die Cassandras Mutter aristokratisch nannte. Cassandra sagte lang und steil dazu, mit einem Ansatz von Höcker.
Du hässliches Pferdegesicht.
Doch die Augen machten es wieder wett. Große Augen in der Farbe von Coca-Cola. Sie schienen dickflüssig, voll geheimer Alchimie, begrenzt durch den Wall schwarzer Augenbrauen. Cassandra hatte schnell gelernt, dass Jungs an ihren Augen hängenblieben wie Insekten an dem Getränk.
Das ist dein Voodoo, Baby.
Das war es, und Cassandra verstärkte es mit schwarzem Kajalstift. Mehr brauchte sie nicht.
Unten im großen Wohnzimmer schien es still, bis Cassandra, eine Hand am Geländer, die Treppe herunterkam und das leise Ticken der Küchenuhr und das lautere Summen des Kühlschranks hörte. Beide Geräusche verstärkten in ihr das Gefühl der Ereignislosigkeit, die den Morgen vom Abend unterschied.
Hier fehlt ein Vogel oder eine Katze.
Sie trat durch den bogenförmigen Durchgang zur Küche, die Marie Moon penibel sauber hielt, und nahm sich eine Banane aus dem Obstkorb. Die Schale der Banane war mehr braun als gelb. Das Innere war genauso wie Cassandra es liebte, zuckersüß und voller sirupartiger Druckstellen. Sie aß die Banane in drei Bissen, bevor sie sich den Rucksack mit ihren Schulbüchern über die Schulter schwang und nach draußen in den nasskalten Winter trat.
Die Nacht im Rücken lief Cassandra dem helleren Streifen am Horizont entgegen. Sie brauchte fünf Minuten bis zur Busstation, wo sie alleine stand, bis sie ins geheizte Innere des Schulbusses steigen konnte. Zehn Minuten dauerte die Fahrt zur Schule, die Cassandra in wohliger Schwermut verbrachte. Nirgendwo ließ es sich besser dösen als im Bus, und da es zwischen Cassandras Wohnort und der Schule keine Haltestellen gab, wurde Cassandra in ihrem Schlummer nicht gestört. Sie genoss die Normalität als eine Pause zwischen dem, was gewesen war, und dem, was noch kommen sollte.
Der Bus hielt nicht weit vom gusseisernen Tor der Brickrow Grammar School. Cassandra hielt sich abseits vom Pulk der aussteigenden Schüler und folgte ihnen durch das Tor, bis vor das lange Renaissance-Gebäude der Schule. Zu dieser Jahreszeit versprühte der Schulhof den Charme einer Autobahn-Raststätte um Mitternacht. Einige Schüler standen herum und rauchten schnell noch eine Zigarette, bevor sie hineingingen. Dabei steckten sie sich gegenseitig mit Lustlosigkeit an. Cassandra folgte ihnen die steinernen Stufen hinauf und hinein ins majestätische Zwielicht der Schulflure.
Der Klassenraum, in dem jeden Freitag Cassandras Mathematikunterricht stattfand, lag im zweiten Stock, aber der Weg dorthin war anstrengend, weil das Schulgebäude sehr hohe Decken hatte, und die Treppen kein Ende nehmen wollten. Die holzverkleideten Stufen waren breit und tief, so dass man lange Schritte machen musste, um vorwärts zu kommen. Die Wände waren bis zur Decke mit dunklem Holz getäfelt, das so schwer war, dass es einen körperlich spürbaren Widerstand bildete. Es war kaum ein Schüler zu sehen, der nicht mit gesenktem Kopf nach oben stieg. Doch gehörte Cassandra nicht zu diesen Schülern. Während ihres Weges von zu Hause bis in den Klassenraum, wusste Cassandra, dass sie eine große Dummheit begehen würde, und das machte sie beschwingt. Es war nicht Idiotie, die sie dazu trieb, sondern ein stures Kalkül, das schon ein Leben lang hinter ihren Augen schimmerte.
Als dann ihr Martyrium begann, wünschte sie sich, einmal im Leben den Pfad des Gewöhnlichen gegangen zu sein, doch da würde es zur Umkehr schon viel zu spät sein. Dieser Weg liegt noch vor uns, und selbstverständlich führt er stur nach unten.
Zuvor jedoch überraschte es Cassandra nicht im Geringsten, zwei Polizisten vor der Tür zum Klassenraum stehen zu sehen. Einer von ihnen trug Uniform. Er hieß Cody Barnes und war der Chief Constable von Brickrow. Der andere war in Zivil. Cassandra kannte seinen Namen nicht, aber im Geiste nannte sie ihn den Mann aus Exeter. Er war kleiner als Cody Barnes und irgendwie seltsam.
Er sieht nicht aus wie ein Franzose, aber er sieht trotzdem französisch aus. Zerknittert. Er kam Cassandra entfernt bekannt vor, aber so sehr sie sich bemühte, sich zu erinnern, sie kam einfach nicht darauf, an wen er sie erinnerte.
Die beiden Polizisten unterhielten sich mit Mrs Whitfield, Cassandras Klassenlehrerin, und zudem Tutorin des Mathematik- und des Spanischkurses. Sie achteten nicht weiter auf Cassandra, als diese sich dicht an ihnen vorbeidrückte, um besser lauschen zu können. Und fast wäre es ihr geglückt, die eine entscheidende Information herauszuhören, doch da packte die Whitfield Cassandra an den Schultern und schob sie geistesabwesend Richtung Tür, während sie nicht davon abließ, weiterhin auf die Polizisten einzureden. Diese durch und durch arrogante Geste, ließ Cassandras Wut beinahe überkochen. Mit belämmertem Blick stand sie in der Tür zu ihrem Klassenraum und schaffte es gerade noch, sich nicht von der Whitfield loszureißen. Scham und Wut überblendeten jeden klaren Gedanken. Statt weiter zu lauschen, manövrierte sie sich zwischen ihren Mitschülern hindurch zu ihrem Sitzplatz, bevor sie vor Wut noch explodierte. An ihrem Tisch warf sie den Rucksack zu Boden und ließ sich auf den Stuhl fallen.
Endstation. Zeit, sich von dem Lärm und der Wut zu lösen. Cassandra legte die Arme auf den Tisch und vergrub das Kinn darin. Durch das schwarzbraune Haar hindurch beobachtete sie das Chaos um sich herum, ohne daran Anteil zu nehmen. Sie war losgelöst von der Welt und dachte an Ron Hauser.
War es schon so weit, dass die Polizei die tiefergelegenen Moore von Dartmoor schrittweise nach ihm absuchte? Cassandra glaubte das nicht. Eher glaubte sie, dass Ron von zu Hause weggelaufen war, so wie die Polizei zuerst vermutet hatte. Immerhin standen in drei Monaten die A-Level- Prüfungen für die Hochschulreife an, und es wäre durchaus denkbar, dass Ron erkannt hatte, dass er die Prüfungen nicht bestehen würde. Cassandra fühlte, wie ihre Mitschüler Prüfungsangst ausschwitzten und selbst sie, die sie so selbstsicher war, damit infizierten. Eine still keimende Furcht in ihrem Herzen sagte ihr, dass selbst der beste Schüler eine Prüfung in den Sand setzen konnte, wenn er wirklich großartiges Pech hatte.
Deine ganzen guten Noten helfen dir nicht, wenn du bei der Prüfung die Nerven verlierst.
Aber wenn Cassandra schon Angst hatte, was sollte da jemand wie Ron denken? Er hatte die AS-Level- Prüfung, die Vorstufe für den letzten Abschluss, vor einem Jahr nur um Haaresbreite bestanden und mühte sich seitdem mit den Kursen für seinen A2-Level ab, ohne große Aussicht auf Erfolg. Ein schlechter Schüler, wie er es war, ahnte wohl, dass ihn dieses Mal nichts retten würde. Nein mein Freund, jetzt wurde es ernst. Die Vorbereitungen für die Abschlussprüfung liefen schon seit Wochen, und irgendwann in dieser Zeit musste Ron festgestellt haben, dass er einfach nicht genug gelernt hatte. Für ihn war der Zug abgefahren, und das bereits schon zu Anfang des Schuljahres. Den Abschluss konnte er vergessen.
Aber was tut ein Mensch wie Ron in diesem Fall? Lernte er wie ein Bekloppter?
Nein, nicht Ron.
Lief er weg?
Möglich.
Aber was wenn...
Aber was, wenn er sich umgebracht hat?, dachte Cassandra. Wie erbärmlich wäre das denn?
Dieser Gedanke ließ sie schnauben. Ein paar Schüler drehten sich zu ihr um und blickten sie mitleidig an.
Was soll´s, dachte Cassandra. Scheiß auf Ron. Sie schloss die Augen, um dem weißen Deckenlicht zu entgehen.
Solange sich die Whitfield draußen unterhielt, würde Cassandra ein wenig schlummern. Der Lärm ihrer Klassenkameraden lullte sie ein. Sie musste sich keine Sorgen machen...
...denn Cassandra war eine exzellente Schülerin. Anders als bei Ron Hauser, dessen Noten katastrophal waren, aber sein Betragen vor den Lehrern ein Spektrum bediente, das von anbiedernd bis schleimig reichte, war es bei Cassandra genau andersherum. Cassandra hatte einen A-Durchschnitt in allen Fächern.
Oder besser gesagt, sie hätte einen A-Durchschnitt gehabt, wenn nur ihr Betragen nicht so schlecht gewesen wäre. Ihr Vater hatte da so einen Spruch parat, um das zu beschreiben, was Cassandra tat: Du scheißt dir ins eigene Nest, Cassandra. Piss einem Lehrer ans Bein, und er pisst dir ins Gesicht.
Anders formulierten es Cassandras Lehrer. In ihrer konservativen Sprache hieß es, Cassandra sei UNKONSTRUKTIV, DEPRESSIV und AUTHORITÄTSABLEHNEND.
Und doch beschrieben diese Attribute Cassandras Charakter in einem nur sehr trüben Maße. Viel treffender hatte es Mister Welling, ihr Geschichtslehrer, einmal während eines Wutanfalles formuliert (in Cassandras Nähe neigte er häufiger zu humordurchbrochenen Wutanfällen):
Du bist regelrecht korrosiv, hatte er gesagt. Wohin du gehst, wächst Unkraut aus dem Boden! Und ich meine keine Pflanzen! Du bist wie ein Brutkasten für schlechte Ideen und subversives Verhalten. Jemanden wie dich hätte man im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Damals hatte Cassandra lauthals gelacht, bis Mister Welling sie des Klassenraumes verwiesen hatte. Aber heute... (Cassandra dämmerte weg)... ja heute... wusste sie, dass Mister Welling recht hatte... (Cassandra schlief)... sie war korrosiv... und toxisch... und virulent...
...und etwas Kleines und Festes traf sie durch das Haar hindurch in den Nacken. Aus dem Schlaf gerissen griff sie sich ins Haar und holte eine kleine Papierkugel hervor.
Hinter ihr kicherte David Shirney. Cassandra schaute über die Schulter und sah in seiner Hand den durchsichtigen Schaft eines Kugelschreibers, den er zum Blasrohr umfunktioniert hatte. Davids Augen hatten die Eigenschaft, trüb und unfokussiert zu werden, wenn er mit zurückgezogenem Kinn lachte. Allein dieser Anblick zündete in Cassandras Brust das Feuerwerk ihrer Wut. Ganz auf Rache aus, schnickte sie die Papierkugel nach links an die Schläfe von Doug Pudden, wo sie abprallte und zu Boden fiel. Dougs Reaktionszeit war beeindruckend. Er wirbelte auf seinem Stuhl herum und sah David mit dem Blasrohr in der Hand lachen.
“Suchst du Ärger, du Schlumpf?”, fragte Doug und faltete sich aus dem Stuhl.
Bei diesem Anblick klappte Davids breites Grinsen einfach nach unten, und sein Blick wurde fokussierter. Er öffnete den Mund, um zweifellos etwas Dämliches zu quäken, aber genau in dem Moment platzte die Whitfield in den Raum wie eine Windhose, die eine Tür aufsprengt. Cassandra blieb beinahe das Herz stehen.
"Hinsetzen!”, bellte sie. “Ich möchte Ruhe haben!"
Im Klassenraum setzte Tumult ein, der den Lärm noch vervielfachte, bevor endlich auf allen Plätzen Ruhe einkehrte. Aber Doug Pudden ließ es sich nicht nehmen, noch ein schnelles, “Nach der Schule bist du dran”, zu zischen.
Mrs Whitfield klopfte ein paar ihrer Unterlagen in Form und legte sie auf ihr Pult, bevor sie begann: "Ich möchte es kurz machen. Ron wurde noch nicht ausfindig gemacht. Die Polizei tut, was sie kann, um seinen Verbleib zu klären. Wir haben viel Unterstützung aus Exeter und Plymouth, und die Leute aus Princetown halten die Augen offen. Darum sind wir zuversichtlich, Ron bald zu finden.”
Das Geseiere der alten Krähe brachte Cassandra zum Schnaufen. Die Frau sprach in einem Ton! Als würde sie die Ermittlungen selbst leiten.
Doug Pudden meldete sich und sprach direkt, ohne aufgerufen worden zu sein: “Und was, wenn er nicht gefunden werden will?”
Das brachte ihm einige Lacher ein, aber die Whitfield ignorierte Doug und seine Frage. “Ich möchte darauf hinweisen”, fuhr sie fort, ”dass jeder Schüler, der morbide Gerüchte über Rons angebliches Dahinscheiden verbreitet, mit Konsequenzen zu rechnen hat. Die Direktorin ist nicht erfreut über die Dinge, die ihr zu Ohren gekommen sind, und sie schließt vereinzelte Disziplinarstrafen nicht aus."
Einige Schüler kicherten.
"Ruhe, bitte! Wir machen mit dem Unterricht weiter. Cassandra, komm nach vorne und zeig uns deine Hausaufgaben."
Natürlich, wer denn sonst...
Cassandra seufzte, und schleppte sich und ihr Heft nach vorne zur Tafel. Dabei dachte sie ein einziges Wort.
Ventura.
Der Mann aus Exeter sah aus wie Lino Ventura.
2
Rons Spind war aufgebrochen worden. Die Polizei hatte auf Wunsch seiner Eltern, das Vorhängeschloss mit Hilfe eine Bolzenschneiders geknackt. Sie hatten seine Schulbücher herausgenommen und durchgeblättert, ohne etwas zu finden. Dann hatten sie seine Sportkleidung durchwühlt, hatten in die Taschen seiner Sporthose gegriffen und sie nach außen gedreht. Unterm Strich fanden sie eine Menge Fussel und einen auffälligen Mangel an persönlichen Gegenständen.
Als Cassandra nach Schulschluss an den Spinden vorbeiging, vorbei an Schülern in Blau und Schwarz, sah sie Nick Shelton an Rons leerem Spind stehen und schnüffeln. Nick war groß und drahtig und hatte eine schmale Nase, die geradezu prädestiniert war, sie in fremde Angelegenheiten zu stecken. Seine braunen Augen blitzen auf der Suche nach Rückständen in Rons Spind.
"Was zum Teufel machst du da?", zischte Cassandra. Es machte sie wütend, Nick dabei zu sehen, wie er so auffällig unauffällig tat.
Der Flur pumpte einen Strom aus Schülern hin und her, und Nick musste sich seitlich zu Cassandra beugen, damit sie ihn verstand. "Ich will sehen, ob es hier ist", sagte er und musste ihr nicht erklären, was er meinte.
"Wenn es hier war, dann hat die Polizei es mitgenommen. Hör auf zu schnüffeln wie ein Idiot." Da Cassandra im lauten Flur nicht flüstern konnte, senkte sie stattdessen instinktiv den Blick, als könnte sie damit ein Geheimnis bewahren. Große Augen unter dunklen Brauen punktierten Nick.
"Du hast recht", sagte Nick. "Wenn ich´s mir überlege, wäre es schon sehr dämlich, es hier im Spind zu verstecken."
“Blitzmerker.”
"Aber irgendwo muss er ein Versteck haben."
Ein Seufzen trieb Cassandra an. Geduld war ein Brennstoff, der schnell verbrannte. Sie packte Nick am Schulterstück der Jacke und zog ihn mit sich. Dabei machte sie eine “Wir-heben-ab”-Geste, indem sie den Zeigefinger rotieren ließ. Strauchelnd folgte ihr Nick durch die Schülertrauben.
"Schon gut”, rief er, als Cassandra ihn nicht loslassen wollte, “schon gut!”
Draußen auf dem Schulhof blendete sie die helle, aber kalte Wintersonne. Die Luft roch sauber und fest - erinnerte Cassandra an Tofu. Sie hatte nicht gemerkt, dass es zwischenzeitlich geregnet hatte. Der Schneematsch war fortgespült worden, und viele der jüngeren Kinder hüpften in Regenpfützen umher. Wasser spritzte hoch, und grauer Matsch klebte an ihren blauen Stiefeln. Während die kleineren Kinder tobten, drückten sich die älteren in den Ecken und unter nassen Bäumen herum. Einige rauchten heimlich.
"Wo ist Toby?", fragte Cassandra.
"Der macht heute länger. Extrakurse für seine Technikprüfung. Ich hoffe, dass sie ihn bis fünf rauslassen."
"Dann warten wir", entschied Cassandra. Sie setzte sich auf das niedrige, aber breite steinerne Geländer, das hinab zum Schulhof führte. Die Bäume hatten den meisten Regen abgefangen, und ihre Hose blieb halbwegs trocken.
Nick lümmelte sich neben sie und holte eine Packung Tabak und Papierblättchen aus seiner Jackentasche. Seelenruhig begann er, eine Zigarette zu drehen.
Heute war Freitag, und die Aussicht auf das Wochenende erzeugte eine frohe Spannung unter den Schülern. Manche von ihnen liefen die Straße hinab nach Brickrow, andere warteten an der Busstation auf den Schulbus, und einige Wenige wurden von den Eltern mit dem Auto abgeholt.
Die Lehrer gingen, nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, zur Rückseite des Schulgebäudes, wo ihre Autos parkten. Alle paar Sekunden brummte ein Motor auf, und Kies knirschte zum Abschied.
Cassandra mochte dieses Gefühl nicht. Dieses kleine Endzeitgefühl, das man hatte, wenn das Wochenende kam, die Ferien begannen, oder wenn nach einem heiteren Abend der Besuch ging. Das war ein Abschiedsgefühl, ein Gefühl des Verlustes, das sich für Cassandra nach feinem Schleifpapier anfühlte. Und dieses Gefühl musste ihr ins Gesicht gestanden haben, als eine Gruppe der älteren Mädchen vorbeikam. Es waren frohe Sonnenscheinmädchen, so ganz anders als Cassandra, und sie warfen ihr diese Blicke zu. Diese "Schaut euch den Freak an"- Blicke, die Cassandra nur zu gut kannte, und die (da war sie sich sicher) niemals aufhören würden, selbst wenn sie die Schule verließ und zur Universität ging. Denn, und da fühlte sich Cassandra sehr bestätigt, solange der Mond am Nachthimmel stünde, würde es Leute geben, die nach oben sahen und schauderten.
Eines der Sonnenscheinmädchen zischte Grufti, und die anderen kicherten, aber das rührte Cassandra nicht sonderlich. Sie blieb entspannt auf den Ellenbogen gestützt liegen und hob die Mittelfinger. Nick grinste, und die tuschelnden Mädchen verzogen sich, nachdem sie eine letzte Salve giftiger Blicke verschossen hatten.
"Was gibt es denn da zu Grinsen?", fragte Cassandra nicht ohne unfreiwillige Belustigung. Nick schüttelte nur den Kopf und drehte weiter an seiner Zigarette. Sein Grinsen blieb.
Cassandra streckte sich auf dem Steingeländer. Ihre Gelenke knackten, und sie sagte ganz nebenbei, "Sie haben ihn noch nicht gefunden."
“Und ist das jetzt gut oder schlecht?”
Cassandra schnaufte. Eigentlich hatte sie keine Lust auf dieses Triez-mich-Spielchen, aber ihr war langweilig. Toby ließ sich endlos Zeit. Darum sagte sie, einer plötzlichen Erinnerung folgend, "Als ich klein war, vielleicht neun, hat er mich mal mit zwei anderen Jungs verprügelt.”
“Aha”, sagte Nick. Er wartete, dass noch etwas kam, aber Cassandra schien bereits die Lust an ihrer Erzählung zu verlieren, darum fragte er: "Und? Hast du´s verdient?"
"Was denkst du?"
“Hat die Story keine Pointe?”
Cassandra warf ihm einen Blick von der Seite zu, während er die Augen nicht von seiner Selbstgedrehten ließ. “Die Pointe ist, dass er es verdient hat, mich zu verprügeln.”
Nick stimmte zu. “Manchmal bist du ätzend.”
Darüber dachte Cassandra nach, sagte aber nichts. Die nächsten Minuten vergingen wortlos.
Nach einiger Zeit leerte sich der Schulhof. Die letzten Nachzügler schlenderten davon, und einige Minuten später kam der letzte Lehrer, der keinen Nachmittagsunterricht gab, aus dem Schulgebäude. Es war ein magerer Mann mit runder Brille. Er warf einen Blick auf Nick und sagte: "Dass du mir die nicht auf dem Schulhof rauchst." Dann war auch er verschwunden. Cassandra und Nick blieben allein auf dem nassen Schulhof zurück.
Nick drehte weiter an seiner Zigarette und merkte nicht, dass er den meisten Tabak bereits herausgedreht hatte. Die Zigarette wurde immer dünner.
"Sag mal, willst du das Teil rauchen, oder es zu einem Zahnstocher drehen?"
Nick leckte am Papier und präzisierte die Faltung. Schonend erklärte er ihr: "Es geht darum, den gesamten Geschmack in wenige kurze Züge zu konzentrieren. So bleibt das Aroma erhalten, und der Krebs hat keine Chance."
“Oh Mann, das glaubst du doch nicht wirklich?”
Als Antwort lächelte Nick nur.
Unwillig, ihm eine Standpauke über das Krebsrisiko zu halten, schüttelte Cassandra den Kopf. Wenn er Krebs bekam, sollte er es nur nicht wagen, sich bei ihr auszuheulen.
Sie schaute die Steintreppe hinauf zum Haupteingang, und hoffte, dass Toby vielleicht genau in diesem Augenblick herauskam, aber natürlich kam er nicht. Statt Toby, sah sie nur das alte Messingschild neben der Tür.
Das Messingschild war ein hübsches, altes Ding, das besagte, dass diese Schule im 1902ten Jahre des Herrn errichtet worden war, in einem Stil der Neorenaissance. Das fand Cassandra unheimlich interessant, aber den meisten Schülern bedeutete diese Information nicht mehr, als dass sie viele moosbewachsene Steinflächen zur Verfügung hatten, auf denen sie rumhängen und rauchen konnten – was für eine Verschwendung von historisch-emotionalem Gehalt das doch war. Anders als die meisten Schüler sah Cassandra auf ihre melancholisch romantische Weise mehr in diesem Gebäude als nur seinen praktischen Nutzen. Sie sah die Erhabenheit des Alters, die nebligen Mysterien vergangener Zeiten und die geheimnisvolle Idylle verwunschener Orte, die solchen Bauten manchmal eigen war. Sie würde das niemals jemandem anvertrauen, aber Cassandra verglich ihr Inneres oft mit diesem rankenbewachsenen Gebäude mit seinen versteckten Winkeln und grünlich schimmernden Geheimnissen. Dieses Gebäude war ein Kunstwerk, genau wie manche Menschen in ihrem Charakter einem Kunstwerk glichen. Für beide Kunstwerke fanden sich nur sehr wenige Bewunderer, und das war etwas, das Cassandra sehr ärgerte und der Grund, aus dem sie sich sehr einsam fühlte. Auch sie hatte in ihrem Innersten versteckte Winkel und dunkle Ecken. So dachte sie zumindest von sich, und würde sie Nick erzählen, wie sehr sie dieses Gebäude mochte, würde ihm das einen zu deutlichen Blick in ihre Seele erlauben, so als würde man einer Mücke eine rohe Wunde vorführen.
Aber so stimmt das nicht ganz, Cass. Oder?
Nein, es stimmte nicht ganz.
Letztes Jahr hast du einen Aufsatz über dieses Gebäude geschrieben. In Geschichte. Bei Mister Welling.
Ja, sie hatte einen Aufsatz über den historischen Hintergrund der Schule geschrieben. Die Grundsteinlegung, den Bau, die Einweihung und die damit zusammenhängenden geschichtlichen Ereignisse. Sie hatte gründlich recherchiert, im Grundbuch, im Stadtarchiv von Brickrow und bei der lokalen Zeitung. Und dabei hatte sie mehr kribbelnde Mysterien gefunden, als sie jemals zu hoffen gewagt hätte.
Sie fand natürlich keine Leichen, keine Skandale und auch keine vertuschten Geheimnisse, aber das war auch nicht nötig. Für ein damals siebzehnjähriges Mädchen, das nichts lieber mochte als die seltenen Gelegenheiten, aus der Gegenwart und aus ihrem trostlosen Leben zu fliehen, und in den magisch wabernden Tunnel der Zeit zu blicken... für so ein Mädchen reichte schon ein kleiner Funke des Okkulten, um seinen Entdeckergeist zu wecken.
Doch auf ihrer Suche nach Hintergrundmaterial für ihren Aufsatz, stieß Cassandra Moon auf mehr als nur einen Funken. Sie stieß auf ein ganzes Inferno aus Geheimnissen. Sie stieg hinauf und stieß auf ein Rätsel.