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Präludium: 2016

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Es ist der 3. Mai 2016, ungefähr Viertel vor elf, und ich bin in einer Bar des Studentenzentrums Zagreb. Das Gebäude stammt aus den Dreißigerjahren und wurde ursprünglich für eine internationale Handelsmesse gebaut. Seit der Gründung des Zentrums 1957 ist der Ort ein kul­tureller Knotenpunkt der Universität. Vor achtzig Jah­ren waren das Atrium, in dem ich stehe, sowie das sich anschließende &TD Theater, Teil des italienischen Pavillons der Messe. Entworfen wurde das aus brutalistischen Betonblöcken bestehende modernistische Gebäude von dem florentinischen Architekten Dante Petroni. Heute fin­det hier eine andere Art Festival statt: der Showroom of Contemporary Sound (Izlog Suvremenogs Zvuka), ein einwöchiges Festival mit Konzerten, Kunst­installationen und Vorträgen, das moderne, zeitgenössische Komponis­ten und Improvisationsmusiker aus der ganzen Welt zusammenbringt.

In den kommenden Tagen sehe und höre ich Künstler, die kompromisslos aus jeder erdenklichen Richtung an die Grenzen der Musik gehen. Glühbirnen werden in einer flackernden Choreographie arrangiert, zwei surrende, zischende Taser verwandeln sich in ein schief tanzendes Winkeralphabet und wie in einer Collage werden die Alltagsgeräusche der Stadt Teil einer treibenden Klang­landschaft, verzaubert durch die verwandelnden Kräfte digi­taler Bearbeitung. In einer Pause zwischen zwei Konzerten spreche mit einem hiesigen Programmierer und Doktoranden namens Antonio Pošćić. Inspiriert von dem Konzert, das gerade zu Ende gegangen war, vertieften wir uns in eine Unterhaltung über das Schreiben, Musik und Codes. Er ist hier, um das Festival für einen Free-Jazz-Blog zu besprechen; ich bin hier, weil ich am Nachmittag einen einstündigen, eher ausschweifenden und nur zum Teil kohärenten Vortrag über »Die Musik der Zukunft« gehalten habe.

In meinem Vortrag an der Akademie der Musik am anderen Ende der Stadt hatte ich versucht, eine Linie von einem Artikel aus dem Jahr 1852, worin Robert Schumann, Hector Berlioz, Franz Liszt und Richard Wagner als »literarische Musiker« beschrieben werden – also Musiker, die sowohl kritische Texte über Musik geschrieben als auch Musik komponiert haben – hin zu zeitgenössischen Musikerinnen wie Holly Herndon und Jennifer Walshe zu ziehen, die sich mit dem transformativen Potenzial des Internets auseinandersetzen, nicht nur in ihrer Musik, sondern auch in ihren Aussagen über diese Musik. Ich war auf der Suche nach Wegmarken eines gleichsam spekulativ erdachten Kontinuums, in dem das Nachdenken über Musik in und durch die wichtigsten Medien der jeweiligen Zeit (angefangen vom explodierenden Zeitungswesen bis hin zum Internet) zu einem Werkzeug wurde, um die musikalische Praxis als solche zu verändern und den Weg in die Zukunft der Kunstform freizumachen.

Allerdings hatte ich die vielleicht unüberlegte Entscheidung getroffen, den Vortrag frei zu halten, ohne Vorlage oder auch nur ein paar Notizen. Außerdem war ich etwas nervös, in einem akademischen Kontext zu sprechen, fernab meiner gewohnten Umgebung von popkulturellen Webseiten und Hochglanzmagazinen. Am Ende sprang ich in meinem Vortrag chaotisch von einer Idee zur nächsten, erging mich in langen Abschweifungen und spulte dann wieder zurück zu Aspekten, die ich vorher vergessen hatte. Danach erzählten mir die Leute, es sei »interessant« gewesen, wenn auch nicht immer vollkommen verständlich.

Auf die Diskussion im Anschluss war ich noch weniger vorbereitet. Nicht so sehr, was die Fragen aus dem Publikum betraf. Das war okay. Die Fragen waren schlau, interessant, herausfordernd, engagiert und überschaubar. Was mich aus der Fassung brachte, waren die – in der Rückschau vielleicht unvermeidlichen – Fragen jener Leute, denen es weniger um den Vortrag als solchen ging, sondern um den Titel, den sie für bare Münze genommen hatten.

Bald befand ich mich mitten in einem Interview mit einer kroatischen Reporterin, die mir ein Mikrofon vor das Gesicht hielt und entwaffnend höflich mit einem Lächeln fragte: »Was wird denn die Musik der Zukunft sein?«

»Ich bin kein Wahrsager«, verteidigte ich mich. »Was mich eigentlich interessiert hat, ist die Art und Weise, wie Komponisten der Vergangenheit mit der Idee der Zukunft Veränderungen in unserem Verständnis von Musik bewirkt haben, die wir bis heute spüren.« Und schon sehe ich einen gewissen ratlosen Blick bei meiner Gesprächspartnerin, ein Blick, den ich als Journalist sehr gut kenne: Wie soll ich daraus eine verdammte Überschrift machen?

Doch in dem Gespräch mit Antonio am Abend nach dem Vortrag, voller Selbstbewusstsein durch die zweite (oder dritte?) Flasche Ožujsko, fällt mir plötzlich ein, wie ich den Gedanken, den ich in meinem Vortrag vermitteln wollte, besser ausdrücken kann. Fast schon unhöflich unterbreche ich meinen neuen Freund mitten im Satz und beginne, ohne Punkt und Komma zu reden.

»Ich glaube, worum es mir vorhin ging«, setze ich an, »ist eine Idee von Musik, die ausreichend selbstbewusst ist, um zugleich Kritik zu sein – und umgekehrt, eine Art von Kritik, die zumindest darauf hoffen kann, Eigenschaften der Musik anzunehmen.«

Antonio runzelt ein wenig die Stirn. Ich spreche einfach weiter. »Das Wichtige an Komponisten wie Wagner oder Liszt ist nicht nur ihre Musik, sondern all die Geschichten drumherum. Diese Dinge sind kein Hindernis auf dem Weg zu einem richtigen Verständnis des angeblich echten oder authentischen Wagners, sondern sie führen selbst in ganz unterschiedliche, interessante Richtungen. Wir brauchen Leute – egal ob Kritiker, Komponisten oder andere Künstler –, um diese Geschichten und Märchen zu erfinden, um Fehler zu machen und Dinge falsch zu verstehen. Die Leute sollten ihre Werke gegenseitig missbrauchen, sie mit Dingen in Verbindung bringen, in deren Nähe sie niemals kommen sollten, genauso wie wir von Künstlern erwarten, dass sie die Technologie auf eine Weise nutzen, für die sie nicht vorgesehen war, gegen die Intention ihres Erfinders; denn genau dort kommen neue Ideen und neue Wege her, aus Fehlern und Missbrauch und allgemeinen Missverständnissen.«

Am nächsten Tag schickt mir Antonio ein Zitat aus Tom Arthurs Doktorarbeit The Secret Gardeners: An Ethnography of Improvised Music in Berlin (2012-13): »Abgesehen von ein paar engagierten Blogs und Spezialpublikationen«, schreibt Arthur, »gab es nur sehr wenig Musikkritik und viele Künstler beklagten sich über das ›miserable Niveau des Journalismus‹ (...), kaum ein Musiker holte sich seinen Input aus der Kritik, wenige verfolgten die Berichterstattung und die meisten nahmen die Meinung ihrer Kollegen ernster als die Artikel.«

»Na ja«, antworte ich leicht ironisch, »nicht jeder Kritiker kann auch ein großer Künstler sein … andererseits, vielleicht hatten die Musiker auch unrecht. Sie mochten die Journalisten deswegen nicht, weil sie ihre Arbeiten nicht verstanden. Aber vielleicht ist am Ende Fiktion wichtiger als Wirklichkeit.«

Es gibt eine Kurzgeschichte von Ray Bradbury mit dem Titel »Der Toynbee-Konvektor«. Erstmals veröffentlicht im Playboy im Januar 1984, handelt die Geschichte von einem eifrigen, jungen Reporter, der als einziger einen 130jährigen Mann interviewen darf, der als »der Zeitreisende« bekannt ist. Vor hundert Jahren ist dieser Mann offenbar aus der Zukunft zurückgekehrt – und zwar aus der Gegenwart, in der die Geschichte spielt. Er habe die Zukunft gesehen, behauptete er, und sie sei wunderbar. Als Beweis für das goldene Morgen, in das er mit seiner selbstgebauten Zeitmaschine gereist war, brachte er sogar ein paar Proben mit: »Tonbänder und Schallplatten, Filme und Tonkassetten«.

Von seinen Beweisen inspiriert, schufen die Menschen dieser Erde eben jene Zukunft, die er versprochen hatte. Es wurden die »Städte umgebaut, die Dörfer erneuert, Seen und Flüsse gesäubert, die Luft gereinigt, die Delphine gerettet, die Wale vermehrt, die Kriege beendet, Sonnenstationen im All verteilt, um die Erde zu erhellen, den Mond kolonisiert und uns weiter auf den Mars begeben, dann nach Alpha Centauri.«

An dem Tag des Besuchs bei dem alten Mann jährt sich dessen verheißungsvolle Reise in die Zukunft zum hundertsten Mal. Während sich die Menge draußen versammelt und darauf wartet, dass am Himmel das jüngere Selbst des Zeitreisenden erscheint, sagt der alte Mann endlich die Wahrheit: »Ich habe geschwindelt.«

»Ja«, sagt Antonio, als ich die Erzählung von Bradbury erwähne, »ich verstehe, was du meinst. Es ist wichtig, den Glauben nicht zu verlieren und weiter über diese Ideen zu sprechen. Sonst geraten wir in eine negative Rückkopplungsschleife, eine Art selbsterfüllende Prophezeiung. Mit anderen Worten, eine utopische Vision der Musikkritik muss existieren, bevor sie anfangen kann, die Musik zu verändern.«

Ich habe mich oft gefragt, wie sich Bradbury die angeblich aus der Zukunft stammenden »Tonbänder und Schallplatten« seines Zeitreisenden eigentlich vorgestellt hat. Womit wären sie bespielt gewesen? Welche Materialien aus seiner Gegenwart oder Vergangenheit hätte er nutzen können, um sie irgendwie wie ein Produkt der Zukunft klingen zu lassen? Bilder oder sogar Filme zu fälschen, das konnte er sich sicherlich vorstellen. Bradbury kannte Hollywood. Als Teenager besuchte er Mitte der 1930er Jahre die Los Angeles High School; in der Hoffnung, einen Star zu treffen, fuhr er auf Rollschuhen in der Gegend um Melrose Place, Figueroa Street oder North La Brea Avenue herum, in der Nähe der Filmstudios.

Als Bradbury The Toynbee Convector schrieb, war er immerhin noch zwanzig Jahre von seinem eigenen Stern auf dem Hollywood Boulevard entfernt. Aber mehr als ein halbes Dutzend seiner Erzählungen waren schon ins Kino gekommen, noch viel mehr ins Fernsehen; für John Huston adaptierte Bradbury sogar Moby Dick. Er wusste genug über Spezialeffekte, genug darüber, dass das Kino aus nichts als Lügen bestand, 24 Bilder pro Sekunde. Doch wie schwindelt eine LP?

Als Bradbury Anfang der 1980er an seinem Schreibtisch in den Cheviot Hills saß, vielleicht mit dem Gefühl seines Zeitreisenden, dass überall »professionelle Verzweiflung, intellektuelle Langeweile« und »politischer Zynismus herrschten«, was hat er da gehört, das ihn denken ließ, jemand könne die Musik der Zukunft fälschen?

Obwohl ich mich während des Interviews in Zagreb dagegen gewehrt hatte: Die Musik hat in ihrer Geschichte mehr als einmal in die Kristallkugel geschaut. In seinem Buch Noise: The Political Economy of Music konstatiert Jacques Attali, dass die Musik seit frühesten Zeiten eng mit Formen des Rituals verbunden war, in denen sie gleichsam als Botin und Versprechen der Möglichkeit einer zukünftigen, neuen Gesellschaft fungierte. Für den Anthropologen Claude Lévi-Strauss ist die Musik selbst eine Form des Mythos, wenngleich anders verschlüsselt als die Sprache. In der westlich-christlichen Tradition konzentriert sich die vorherrschende Form der Mythologisierung vornehmlich auf die Vergangenheit. Der Mythos erzählt vom Ursprung der Dinge und legitimiert die anhaltende Macht der Priesterschaft und des Adels.

In den italienischen Opern des 17. und 18. Jahrhunderts geschieht diese Form der mythischen Legitimierung mit und durch Musik: Im Auftrag des Souveräns komponierte Werke kleiden den Monarchen zwangsläufig in traditionelle Gewänder und stellen ihn auf der Bühne als eine Art halbgöttliches Wesen oder klassischen Held dar. Während des Karnevals jedoch konnte die gesellschaftliche Ordnung umgekehrt werden. Und die Musik inszeniert diese Aufhebung der üblichen Hierarchien. Daher dramatisieren Werke wie Joseph Haydn Il mondo della luna oder Mozarts Le nozze di Figaro, deren Stoff aus der karnevalesken Tradition der Commedia dell’Arte stammt, direkt die Auflösung gesellschaftlicher Normen. Diener triumphieren über ihre Herren, die Jugend über das Alter.

Die Mitglieder der Florentiner Camerata, die Ende des 16. Jahrhunderts die ersten Opern komponierten, gehörten auch zu den ersten Autoren musikalischer Manifeste, die sich explizit auf ihre Modernität beriefen. Dennoch gelang es Giulio Caccinis Le nuove musiche und Vincenzo Galileis Dialogo della musica antica et della moderne irgendwie, ihre Innovationen als Rekonstruktion antiker Praktiken darzustellen. Beispiele, auf die sich ihre »Rekonstruktionen« hätten berufen können, gab es nicht. Keines hatte die Jahrhunderte überlebt. In Abwesenheit eines antiken Vorbilds erfand die Camerata ihre eigene Geschichte und schuf unter der Hand die ersten modernen Kunstwerke, unbelastet von historischen Vorläufern. Sie erfanden die Mythen zu ihrer eigenen Musik.

In den sogenannten Intermezzi, die die Camerata für die Heirat von Ferdinando I. de’ Medici und Christine von Lothringen schrieben und aufführten, besteht der Mythos aus einer Reihe dramatischer Szenen, die von der »Harmonie der Sphären«, »Apollos Kampf gegen Python«, dem »Reich der Geister«, der »Rettung des Arion« und so weiter handelten. Mit den sechs kurzen, pantomimischen Stücken mit Orchesterbegleitung, elaborierten Bühneneffekten und Bühnenmaschinerie, Tanzeinlagen, einem Chor und Soloarien, ebneten Caccini, Galilei und ihre Kollegen den Weg für die ersten Opern ein Jahrzehnt später; sie inszenierten den Mythos als Musik und die Musik als Mythos. Möglicherweise hat Vicenzos Sohn, Galileo Galilei – der vielleicht mehr als jeder andere für unser Verständnis des Kosmos verantwortlich ist – gelernt, das Universum als organische Totalität zu begreifen, während er bei diesen Intermezzi als junger Mann die Laute spielte. Das erste Mal in die Galaxie schaute er aus dem Orchestergraben.

Zur Zeit der Französischen Revolution vollzog sich eine merkwürdige Verkehrung. Obwohl die Architekten der Guillotine keine Gelegenheit ausließen, sich rhetorisch in die Gewänder des alten Griechenlands oder Roms zu kleiden, bezog sich der Kern ihres Appells an das französische Volk nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft. So erklärte Robespierre am Vorabend des terreur 1793: »Die Zeit ist gekommen, jeden zu seiner wahren Bestimmung aufzurufen. Der Fortschritt der menschlichen Vernunft hat diese große Revolution vorbereitet, und gerade Ihr seid es, denen die besondere Pflicht auferlegt ist, sie zu beschleunigen.« In den Worten des Historikers Reinhart Koselleck: »Für Robespierre ist die Beschleunigung der Zeit eine Aufgabe der Menschen, das Zeitalter der Freiheit und des Glücks, die goldene Zukunft herbeizuführen.«

Kaum ein Zeitgenosse von Robespierres Frankreich hat das Bild der goldenen Zukunft in so lebendigen Farben gemalt wie Charles Fourier. Seine Schriften, die abrupt vom erhellend Kritischen zum vollkommen Surrealen wechseln, bieten einen direkten Zugang zum mythischen Unbewussten Europas an der Schwelle zur Moderne.

Fourier griff Robespierres Versprechen der Selbstbestimmung begeistert auf. Während der 1790er Jahre schrieb er Hunderte Briefe an verschiedene Abteilungen der neuen Regierung und formulierte Vorschläge zur Verbesserung dieser oder jener Einrichtung. Da seine Bemühungen jedoch regelmäßig ins Leere liefen, gab er schließlich auf, die Welt nach seinem Bilde zu formen und beschloss, selbst eine Welt zu erfinden. Das Phalanstère, das Fourier in einer Reihe von utopischen Texten und Traktaten zwischen 1808 und seinem Tod 1837 entworfen hatte, war ein Eden der Zukunft, ein Paradies auf Erden: Einerseits war es weit entfernt, handelte es sich doch für Fourier um die achte von ganzen 32 Phasen einer 8000 Jahre dauernden Zukunftsgeschichte; andererseits war es längst überfällig, weil verwirrenderweise immer zum Greifen nah. Fouriers Texte lesen sich wie eine Philosophie aus einer anderen Zeit, so als wäre man über das politische Traktat einer erfundenen Figur aus einer Fantasiewelt gestolpert. Nachdem man dem scheinbar strengen wissenschaftlichen Diskurs eine Weile gefolgt ist, wird man plötzlich – wie in einem guten Science-Fiction-Roman – einen Abhang hinabgestoßen und befindet sich auf einem unbekannten Planeten, in Gegenwart von Anti-Krokodilen und einem Limonadenmeer, tief in einer Diskussion über das erotische Leben des Sonnensystems. Erst allmählich wird allerdings klar, dass dasjenige, was das ganze Projekt strukturiert, die Musik ist.

Für Fourier war das Entscheidende, sich niemals auf die »edle Natur« des Menschen zu verlassen, sondern die menschlichen Leidenschaften in all ihrer singulären Unordnung zu akzeptieren. In Fouriers Phalanstère gab es Platz für jede Perversion, eine passende Aufgabe für jeden Geschmack, sodass jeder Bürger Freude an der Arbeit haben konnte, was wiederum dem Wohl der Gemeinschaft zu Gute kommen sollte. Das erforderte einen phänomenalen Organisationsaufwand. Doch Fourier wusste, dass eine solche Koordination möglich war, denn er hatte sie Nacht für Nacht im Orchestergraben der Oper gesehen. Die Leidenschaften, so seine Überzeugung, konnten harmonisiert werden, ganz wie die Töne einer Tonleiter.

Fourier liebte die Oper und besuchte sie, so oft er konn­te. Angesichts der häufigen Lobreden auf die »fahrenden Ritter« und amouröse Intrigen könnte man meinen, seine Utopie stamme direkt aus einem Libretto, voll von Trios, Chören und Solisten, in feinen Gewändern bei der Arbeit, perfekt choreographiert wie ein niemals endendes Corps de ballet. Anhand des disziplinierten Gleichklangs von Tänzern und Orchestermusikern könne ein Kind lernen, so Fourier, »seine Bewegungen einer maßvollen Einheit zu unterwerfen«. Daher handelte es sich bei der Oper in Fouriers neuer Welt um mehr als Unterhaltung, es ging um eine »materielle Schule«, eine Institution, in der alle Anlagen gleichermaßen durch aktive Teilnahme an der »materialen Kultur« der Gemeinschaft entwickelt würden. Für den Alltag des Phalanstère, behauptete Fourier, sei die Oper so wichtig wie »ihre Pflüge und ihre Vieh­herden.«

Doch Fouriers Beharren auf der musikalischen Dimension der Utopie blieb unbeachtet. In den 1830er Jahren zeigten kleine Kinder auf der Straße mit dem Finger auf ihn und riefen »Voila! Le fou!« Nachdem er verkündet hatte, dass das Schmelzen der Polkappen eine reinigende Flüssigkeit in die Ozeane fließen lassen und das Wasser in »eine Art Limonade« verwandeln würde, stand es schlecht um seinen Ruf. Zwar hatte er sowohl in Frankreich als auch im Ausland einige Anhänger. In den Jahren nach seinem Tod versuchte man in Amerika mehrere Fourier’sche Phalanstères zu gründen – in Utopia, Ohio; La Reunion, Texas; Red Bank, New Jersey; und Brook Farm in Massachusetts. Aber keine existierte länger als ein paar Jahre. Und jede von ihnen vernachlässigte, was Fourier gerade hervorgehoben hatte: das musikalische Fundament der neuen Welt.

Um sich von den eher exzentrischen Seiten ihres Meis­ters zu distanzieren, betonten die amerikanischen Fourieristen seine Kapitalismuskritik und seine Idee sozialer Gleichheit statt das Limonadenmeer, die Musikspiele und die komplexe Unterteilung seiner Oktave der Leidenschaft. Erst viel später erkannten die Surrealisten, André Breton und Georges Bataille, dass diese beiden Seiten von Fourier untrennbar waren. »Wenn es möglich ist, zu bereuen, dass ihr keine positiveren Ergebnisse beschert waren«, schrieb Bataille über die utopische Hoffnung, die von Fourier ausgeht, »wie kann man dann nicht erkennen, dass einzig die Poesie sie initiieren könnte?«

Fouriers Poesie mag auf taube Ohren gestoßen sein, und doch finden sich hier und da Spuren, die wie ein Rinn­sal durch die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus führen. In Berlioz’ futuristisch-fantastischer Musikstadt Euphonia wird jede Minute des Tages mit der Vorbereitung des jährlichen Opernfestivals verbracht. Und die sehr realen Festspiele, die Wagner in Bayreuth ins Leben rief, verwandeln die kleine fränkische Stadt jedes Jahr in einen säkularen, der Musik gewidmeten Tempel. Etwas von Fouriers Zukunftsbegeisterung ist auch spürbar, wenn sich eine größere Zahl an Menschen an einem Ort trifft – nicht ganz Stadt, nicht ganz Land –, um die üblichen Regeln, die den gesellschaftlichen Umgang strukturieren, außer Kraft zu setzen und sich stattdessen der Musik zu widmen. Egal, ob bewusst oder nicht, all diese Momente atmen ein Stück vom Geist des Phalanstère – selbst wenn es statt einem Limonadenmeer einen Fluss aus Schlamm und Bier gibt. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf war ich ein bisschen besser vorbereitet, als ich in Zagreb wieder interviewt und nach der Musik der Zukunft gefragt wurde.

»Festivals wie dieses«, sagte ich nun, »könnten der Beginn einer Musik der Zukunft sein. Festivals, die weder von den kommerziellen Interessen von Plattenfirmen und Talentagenturen regiert werden, noch von den Gebietsstreitigkeiten der Akademie, eröffnen einen Raum für Musiker, in einer Art freier Assoziation zusammenzukommen, ihre Arbeit und Ideen zu präsentieren und quer durch die Disziplinen überraschende Verbindungen einzugehen. In gewisser Weise geht es weniger um die einzelnen Aufführungen, sondern um die Gespräche unter den Künstlern zwischen den Konzerten, um die Fiktionen und Risse, die sich aus der Differenz der Genres und Zugänge ergeben. Ereignisse wie dieses sind vielleicht das Vorbild für eine Art von Gemeinschaft, ein Versprechen, dass Gesellschaft möglich ist.«

Anders als Ray Bradburys Zeitreisender liefere ich auf den folgenden Seiten keine Anleitung, wie sich die Musik im nächsten Jahrhundert entwickeln und verändern soll. Was ich tun möchte, ist vielmehr, eine Geschichte des Scheiterns vorzustellen – ein Scheitern bei dem unmöglichen Versuch einer Musik der Zukunft, dem Versuch, die ganze Welt in einen Vers oder ein Lied zu packen. Und dennoch hat die Abfolge dieser Niederlagen ihre Spuren in der Art und Weise hinterlassen, wie wir über Musik nachdenken und sie erfahren. Sie hat Möglichkeitsräume eröffnet, durch Reflexion, Dialog, neue Werke und neue Ideen. Und vielleicht liegt darin eine Herausforderung verborgen; in den Worten Samuel Becketts: »Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.«

Die Musik der Zukunft

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