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Shutdown

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Wie war das damals, als Covid-19 uns überfiel? Wir waren im Krieg. So sahen es viele, die noch nie einen Krieg erlebt hatten, darunter Politiker, die nun mit militärischem Vokabular hantierten. Auf jeden Fall war es das Ende des normalen Lebens. Keine Verdunklung zwar am Abend, aber Zuhausebleiben. Keine Einsamkeit bei so vielen Medien zur Hand, aber doch eine Unterbrechung des Alltags, die bedrückend war.

So seltsam entrückt war die Welt noch nie. So leer die Straßen am hellerlichten Tage. Manche dachten da an Katastrophenfilme oder zumindest Edward Hooper, heitere Naturen eher an den Verhüllungskünstler Christo, während die Melancholiker Lyrik dachten, nicht Goethes Osterspaziergang, sondern T. S. Eliots Wasteland: „April is the cruellest month“. Und jeden Tag sang man für jemand anderen „Happy Birthday to you“, zweimal hintereinander beim Händewaschen. Denn so lange, hieß es, braucht die Seife, um den unsichtbaren Feind zu erledigen. Es war ein Krieg, der ohne viel Lärm an vielen Fronten geführt wurde.

Das Virus hatte die Qualität von Flugzugabstürzen und Naturkatastrophen, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu einmal „Omnibus“-News genannt hatte: weil sie jeden Menschen gleichermaßen berühren, jenseits politischer Lager und weltanschaulicher Positionen. Omnibus-News schaffen ein geeintes Publikum. Sie sind die Wunschmeldung der Nachrichtenmedien, die so ihre Reichweite und Auflage immens erhöhen können – wenn sie früher als die Konkurrenz berichten oder dramatischere Bilder bieten. Eine Pandemie ist ein Omnibus-Ereignis, das dauert und alle betrifft. Es gibt, abgesehen vom Nord- und Südpolareis, faktisch kein Außen mehr. Covid-19 ist ein „enemy of humanity“, erklärte der Chef der WHO. Eine Erfahrung, die der Menschheit – trotz der nationalen Alleingänge, die es dann gab – lang nicht mehr vergönnt war.

Dass die Menschheit diese Erfahrung dennoch schnell wieder vergessen wird, legt der Blick in die Geschichtsbücher nahe: Die Spanische Grippe steht ganz und gar im Schatten des Ersten Weltkriegs, obgleich sie mindestens dreimal so viele Todesopfer forderte. Ein Ereignis, dem ein geheimer Plan und böse Menschen fehlen, lässt sich eben schlecht erzählen, es sei denn, es geschieht verschwörungstheoretisch. Und selbst dann fehlen die Helden, die wagemutig ihr Leben fürs Vaterland opfern.4 Untergang ohne Glorie. Gerade deswegen aber sollte der Mensch sich diesmal erinnern. Denn auch im Kampf der Zukunft, im Kampf gegen den Klimawandel müssen die Menschen Opfer bringen, die nicht zum Heldenepos taugen. Es braucht eine Erinnerungskultur, die den Herausforderungen unseres Jahrhunderts entspricht. Diese Pandemie war eine Art Generalprobe. Aber das greift vor. Die Klimakrise war seit Anfang des Jahres kein Thema mehr. Zunächst galt es, Covid-19 zu überleben.

Natürlich fragten sich jetzt alle, wie lange dies noch dauert. Zugleich begann die Spekulation, was anders sein wird, wenn es vorbei ist. Die großen Gewinner dieser Krise, das war schnell klar, werden die Dienstleister sein, mit deren Hilfe sich die nun gebotene „soziale Distanz“ am besten durchsetzen ließ: soziale Netzwerke, Online-Shops, Telekommunikationsunternehmen, Lieferdienste, Anbieter von Überwachungssoftware für den Laptop der Angestellten, um auch in Zeiten des Home-Office die Arbeitsdisziplin zu sichern. Was vor Corona als „frictionless life“ per Internet vermarktet wurde, war nun pandemiegemäß als „touchless life“ der letzte Schrei: für Arbeitsbesprechungen, Seminare, Familienkonferenzen und ansteckungsfreie Corona-Partys. Und natürlich hatten die Dienstleister des Digitalen Recht: Die Trennung der Körper bedeutet nicht soziale Distanz. Im Gegenteil: In dieser Situation erlaubte gerade die Digitalisierung, soziale Kontakte aufrecht zu erhalten. Ein Salut auf das Silicon Valley!

Kein Wunder, dass sich der Aktienwert dieser Unternehmen seit Ende 2019 vervielfachte. Ein Wunder hingegen, sollte sich das mit dem Ende der Krise ändern. So war zum Beispiel von den Lehrkräften, die zuvor immer wieder betont hatten, wie wichtig aus sozialer und pädagogischer Sicht der Direktkontakt vor Ort sei, weniger Widerstand zu erwarten, nachdem sie endlich wussten, wie Zoom oder Webex funktioniert. Zugleich war klar: Es wird nun mehr Druck geben, an den neu erprobten Kommunikationsformen festzuhalten, zumindest als Hybridform von Präsenz- und Bildschirmunterricht. Man wird es Fortschritt nennen und darin zugleich ein probates Mittel sehen, die finanziellen Verluste der Krise aufzufangen.

Es dauerte nicht lange, bis es eine Offensive Digitale Schultransformation gab, die den Ausbau der digitalen Infrastruktur an Schulen forderte: als unverzichtbare Voraussetzung nicht nur für die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs in einer Pandemie, sondern auch, um für die Herausforderungen der Digitalisierung gewappnet zu sein. Sicher, es war beklagenswert, dass viele Schulen noch immer kein stabiles Internet hatten und manche Lehrer nicht wussten, wie man große PDF-Dateien verschickt, ganz zu schweigen von ambitionierteren Formen des Unterrichts am Bildschirm. Es ist beklagenswert, wenn die Schule wegen mangelnder Ausstattung und Ausbildung in einem Notfall wie diesem ihrem Bildungsauftrag kaum nachkommen kann. Aber warum sollte man am Fernunterricht selbst in postpandemischer Zeit festhalten, wie auch der Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche bitkom forderte: „Die Corona-bedingte Digitalisierung hat einen überfälligen Epochenwechsel in den Schulen eingeleitet. Das Rad dürfen wir nicht einfach zurückdrehen.“5 Immerhin: Bald gab es auch eine Offensive zur Verteidigung der Präsenzlehre im Hochschulbetrieb, die sich dagegen richtete, dass Corona als nachgereichte Begründung benutzt wurde für Entwicklungen in der Lehre, die vor der Pandemie äußerst kritisch diskutiert worden waren?6

Man nennt es Trittbrettfahrer. Und ohne Zweifel: Corona war gut für viele davon. Das Prinzip der körperlichen Distanz wird das Corona-Virus überleben und in vielen Bereichen nun erst richtig zur Blüte kommen. Die Schulen und Universitäten, die sich lange wacker gegen die Digitalisierung gewehrt hatten, gehören mit Sicherheit zu den Verlierern. In den USA sah die Bildungsministerin, nun, da die Schulen und Colleges ihren Regelbetrieb pandemiebedingt nicht aufrechterhalten konnten, die Chance, ihr Konzept der Privatisierung des Bildungswesens durchzusetzen: Bildungsgutscheine, die der Staat, statt wie bisher ins Schulsystem zu investieren, den Eltern gibt, sollten diesen erlauben, selbst zu entscheiden, wo ihre Kinder zur Schule gehen. Hat man das nötige Zugeld, kann man dann seine Kinder sogar auf eine renommierte Privatschule schicken. Fehlt das Kleingeld, reicht es immerhin für ein paar Online-Kurse.

Die IT-Unternehmen, die den Schulen und Universitäten in der schwierigen Corona-Zeit so hilfreich zur Seite standen, hätten gewiss nichts dagegen. Aber sie warten gar nicht erst auf die Vorlage der Bildungsministerin. Google lancierte im September seine Career Certificate-Offensive, die am College vorbei viel kürzer und viel billiger den Abschluss versprach, auf den es Google und vergleichbaren IT-Unternehmen ankam: Just Programming, ohne den Core-Course-„Quatsch“ der Liberal Arts Colleges, die von Informatik-Studenten verlangen, auch Kurse in Philosophie und Literatur zu belegen. Als würde man dadurch besser im Programmieren. War es der Anfang vom Ende der Hochschulbildung in den USA? War Deutschland, dessen Bildungspolitik sich ja grundlegend von der US-amerikanischen unterscheidet, vor einer solchen Entwicklung gefeit?

Der Erfolg, mit dem man auf die Herausforderungen der Corona-Krise reagiert, könnte sich als Eigentor erweisen. Die deutschen Universitäten stellten ihre Lehre nun notgedrungen auf Digitalbetrieb um – und nutzten den Krisenmodus für Umstrukturierungen. So vollzogen die Rhein-Main-Universitäten Frankfurt am Main, Mainz und Darmstadt das, was lange schon gewollt war, bisher aber immer an internen Einsprüchen gescheitert war: Sie wuchsen digital zusammen und boten mit standortverteilten Lehrveranstaltungen das RMU-Studium an. Studentinnen, die an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingeschrieben waren, konnten nun problemlos Online-Kurse an der TU-Darmstadt besuchen. Was wollte man gegen solche Synergie-Effekte sagen!

Nichts, außer vielleicht, dass standortverteilte Lehrveranstaltungen kein Privileg von Universitäten sind, die sich räumlich nahestehen. Wenn das Studium vom heimischen Computer aus geschieht, sind alle möglichen Kooperationen und Konstellationen denkbar: überregional, international, in Echtzeit oder asymmetrisch, betrieben von technophilen Lehrerinnen oder organisiert von Bildungsmanagern, die viel Geld in die Hand nehmen, um sicherzustellen, dass die Videos ihrer Universität nicht nur die Studierenden der Konkurrenz im Nachbarort anziehen, sondern die der ganzen Welt. Ohne Frage: Die Digitalisierung der Lehre führt zu Optimierung und Standardisierung der Lehrangebote und bedeutet das Ende der Massenuniversität alten Stils mit all ihren vielmals beklagten Problemen der überfüllten Lehrveranstaltungen, mangelnden Studentenbetreuung und eines Lehrpersonals, dem möglicherweise das persönliche Interesse oder die pädagogische Eignung fehlt, um eine anspruchsvolle Lehre anzubieten. Und überhaupt: Macht es denn Sinn, dass an verschiedenen Universitäten jeweils das Gleiche unterrichtet wird? So die Argumente derer, die am Fernstudium auch in postpandemischer Zeit festhalten wollten. Ob das gut ist, und wenn ja, für wen unter all den involvierten Akteuren, das ist die Frage, die sich nun viel dringlicher stellte als zuvor, da das Silicon Valley noch nicht Covid-19 auf seiner Seite hatte.

Vorerst kann man sich noch beruhigen: Das Studentenleben in Mainz verschwindet nicht, wenn einige in ihrer Mainzer Studentenbude Online-Kurse der TU-Darmstadt belegen. Aber es ist ja auch erst der Anfang vom Ende. Je mehr Kurse online angeboten werden, umso weniger Gründe wird es geben, nach Mainz zu ziehen. Und dann werden die Zufallsbegegnungen auf dem Campus und den Partys und die Gespräche in den Cafés und Bars doch immer seltener, bis sie eines Tages verschwunden sind und man allemal noch auf einem Fun&Sex-Event im Spring-Break andere Studentinnen anders als am Bildschirm kennenlernt. Der Online-Campus, das Distant Learning und der Global Teacher – andere Stichwörter der Zukunft sind OER (Open Educational Resources) und MOOC (Massive Open Online Course) – sind die Vorboten einer Zukunft, vor der man immer Angst hatte (außer man ist ein Start-Up, das Bildungs-Apps baut).7

Die Krise wurde nicht nur deswegen als Chance gesehen, weil sie die Digitalisierung beschleunigt. Andere versprachen sich gerade aus der Entschleunigung, die der Shutdown mit sich brachte, einen Bewusstseinswandel. Eine allgemeine Besinnung auf das, was wirklich wichtig ist im Leben, erhofften die Seelsorgerinnen, die Therapeuten und die kulturkritischen Soziologen. Selbst der italienische Architekt Renzo Piano sprach in einer Video-Botschaft davon, dass diese Krise uns besser machen werde, weil sie die Fragilität der Welt vor Augen führe. Das Resultat werde ein nachhaltigeres, umweltgerechteres Bauen sein. Alle legten so viel Hoffnung in das, was ihnen geschah; versprachen sich eine neue Gesinnung aus der nun möglichen Besinnung, apostrophierten das Virus als Geburtshelfer eines besseren Ich. Aber so ist der Mensch: Elend ist besser zu ertragen, wenn es einen tieferen Sinn hat.8

Dass ein Kurswechsel die Unterbrechung des Gewohnten voraussetzt, ist natürlich keine neue Ansicht. Sie war nicht einmal vor hundert Jahren neu, als Siegfried Kracauer die Geburt der Massengesellschaft intellektuell sezierte und in einem Zeitungsartikel mit dem Titel Langeweile schrieb: „Die Welt sorgt dafür, dass man nicht zu sich gelange, und nimmt man auch vielleicht kein Interesse an ihr – sie selber ist viel zu interessant, als dass man die Ruhe fände, sich so ausführlich über sie zu langweilen, wie sie es am Ende verdiente.“ Die Langeweile ist für Kracauer somit die einzige Beschäftigung, „die sich ziemt, da sie eine gewisse Gewähr dafür bietet, dass man sozusagen noch über sein Dasein verfügt.“9

Der Shutdown als Königsweg zur Selbstfindung? Funktioniert das hundert Jahre später noch? Zunächst fällt auf, dass die Unterbrechung ihr moralisches Vorzeichen änderte. Es geht nun weniger um den Schutz des Menschen vor dem Einfluss der Welt als umgekehrt. Die Pandemie sorgte dafür, dass die Welt einmal zur Ruhe kam und im doppelten Sinne aufatmen konnte. Das kommt letztlich auch den Menschen zugute: In berüchtigten Smog-Metropolen gab es wieder blauen Himmel, weswegen gelegentlich sogar argumentiert wurde, Covid-19 rette mehr Menschenleben als es fordert. Die aktuelle Entsprechung zur Langeweile heißt Unverfügbarkeit: Plötzlich verfügt der Mensch nicht mehr über die Welt, er kann sie nicht mehr heimsuchen in ihren entlegensten Orten, er kann ihre Ressourcen nicht länger ungebremst nutzen, er kann sie nicht wie bisher rücksichtslos verschmutzen. Als habe die Welt das Virus geschickt, um sich den Menschen vom Leib zu halten. Kaum überraschend, dass die Prediger der Unverfügbarkeit der Pandemie viel Positives abgewannen.10

Wie unverfügbar, wie entrückt aber ist die Welt wirklich, wenn man zuhause bleibt, ein Jahrhundert nach Kracauer, im Zeitalter von Radio, Fernsehen und Internet? Ist das Haus nicht auch die perfekte Kommandozentrale! Immerhin: Wer Filme streamt, macht sich unabhängig vom Kinoprogramm; wer Menschen nur noch am Bildschirm trifft, ist sicher vor ungeplanten Begegnungen und freier auch in der Kleiderordnung – und wer zuhause bleibt, hat nicht einmal lose Dachziegel zu fürchten. Der heimische Raum ist der klassische Ort individueller Kontrolle. Erhöht sich also deren Reichweite, wenn die Welt sich verstärkt dort ereignet? Es ist ein Kontrollzuwachs im Rahmen sinkender Verfügbarkeit, der zudem keineswegs verlässlich ist. Denn wenn die Arbeitsbesprechung am Bildschirm auf dem heimischen Sofa stattfindet, wird ja selbst das Heiligste dem Verfügungsraum des Privaten entzogen. Wir werden in Kapitel drei sehen, welch katastrophale Folgen das haben kann.

Wie auch immer es sich mit Langeweile und Unverfügbarkeit im Kontext digitaler Vernetzung verhält: Dass vieles im persönlichen Leben auch anders geht oder jedenfalls anders sein sollte, gehörte zu den großen Einsichten jener Tage. Erstaunt stellte man fest, wie sehr man sich eigentlich freute, auf bestimmte Aktivitäten verzichten zu müssen. Dabei war man doch nie gezwungen worden. War man dem Mobilitäts-Hype der anderen auf den Leim gegangen? War man FOMO erlegen, der berüchtigten fear of missing out? Das Virus erlaubte nun, zuhause zu bleiben, und man war ihm, im Frühjahr, sogar dankbar dafür wie manchmal am Sonntag dem Regen. Man begann, seine alten Briefe und Tagebücher zu lesen oder zumindest die alten Fotos auf Facebook durchzugehen. Man rief alte Freunde an, auch Ex-Freunde, um sich sogleich, egal wo in der Welt sie sich befanden, mit Wein und Snacks am Bildschirm zu treffen. Denn das war nun die Art, nun, da Treffen Bildschirm hieß. Oder man kappte radikal alle Kommunikationskanäle und las ein sehr dickes Buch. Was für ein JOMO-Fest! Denn natürlich hatte die Generation Z auch dafür schon einen Namen und eine nutzerfreundliche Abkürzung fürs Texting: joy of missing out.

Die Unverfügbarkeit und Langeweile à la Kracauer war weit politischer als ein Begriff wie JOMO vermuten lässt. Sie war auch eine Art Selbstbefragung des Anthropozäns: das Ende eines Beschleunigungsprozesses, der seit mehr als zwei Jahrhunderten immer mehr Teile der Welt bestimmt und sich trotz sichtbarer Klimaveränderungen in den letzten Jahrzehnten als weitgehend resistent gegen zunehmende Warnungen und wachsende Kritik erwies. Das Virus, darin liegt seine rettende Nebenwirkung, zerstört auch diese Immunität. Mit seiner „geradezu monströsen Unverfügbarkeit“ ist es der „Albtraum der Moderne“ und zugleich ihr Weckruf, denn es könnte ihr zu dem gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel verhelfen, den sie seit langem nötig hat.11

So jedenfalls sah es jener Teil der Soziologie, der dem Prozess der Moderne kulturkritisch gegenüberstand. Und er sah erste Anzeichen für den ersehnten Paradigmenwechsel darin, dass anders als im Falle der Finanzkrise Systemrelevanz diesmal nicht ökonomisch erfasst wurde, sondern sozial und biologisch. Denn die von der Politik ergriffenen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung geben deutlich dem Überleben der Alten und Schwachen Vorrang gegenüber der Gesundheit der Finanzmärkte und den Interessen der Kapitalakkumulation. Man erteilte wacker jeder Bereitschaft eine Absage, dieses Virus mit seiner spezifischen Altersgruppendiskriminierung als eine Korrektur demografischer Schieflagen zu sehen, die willkommene Entlastungseffekte für die Krankenkassen und Rentensysteme mit sich bringt.

Welchen Paradigmenwechsel, welche Formen einer alternativen Politik das „Gelegenheitsfenster“12 der Krise mit sich brachte und mit sich bringen konnte, lässt sich erst in der Distanz beurteilen. Zur weit verbreiteten Einsicht schon der ersten Tage jedenfalls gehörte die Mahnung, dass im gesellschaftlichen System vieles anders werden muss: menschlicher, sozialer. Naheliegender Ausgangspunkt war das Gesundheitssystem, dessen Durchökonomisierung und Kommodifizierung erst dazu geführt habe, dass nun ein bedrohlicher Mangel an Krankenhausbetten und Pflegepersonal besteht. Die Einsicht, dass das Gesundheitssystem ein Ort der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge ist und kein Wirtschaftsunternehmen, brachte nicht nur links außen eine Reihe an Forderungen mit sich: das System der Fallpauschalen beenden, das applaudierte Pflegepersonals aufstocken und besser bezahlen, die großen Krankenhaus- und Pflegekonzerne vergesellschaften. Weitere Forderungen, auch diese keineswegs nur von der Linken, zielten auf die solidarische Verteilung der Wohlstandsverluste durch einen „Lastenausgleich“ wie nach dem Zweiten Weltkrieg und auf die Beteiligung der Wohnungswirtschaft an den Kosten der Krise durch einen Mietenerlass, statt ihre Renditeerwartungen durch Krediterleichterungen und zusätzliche Sozialleistungen für die Mieter staatlich zu sichern.13

Die Reichensteuer kam so wenig wie der Mietenerlass. Aber immerhin forderte jetzt kein „Gesundheitsökonom“ mehr, wie noch wenige Monate zuvor, in Deutschland die Hälfte der Krankenhäuser wegen mangelnder Effizienz zu schließen – eine „Zerstörung von sozialer Infrastruktur in einem geradezu abenteuerlichen Ausmaß“, wie der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft kommentierte.14 Die renditeorientierte Organisation des Gesundheitssystems und der schlanke Staat des Neoliberalismus hatten in Corona-Zeiten einen schweren Stand. Oder beförderte im Gegenteil die Pandemie den Neoliberalismus? Denn man konnte ja durchaus das epidemiologische Isolationsgebot als eine Stärkung des neoliberalen Prinzips der Selbstsorge interpretieren, als eine Art „neosoziale“ Privatisierung der Solidarität, mit der mal wieder alle Verantwortlichkeit nicht beim Staat, sondern beim Individuum liegt.15 Dies würde jedoch die Symbolkraft der epidemiologischen Notwendigkeit unzulässig überhöhen und ignorieren, dass zumindest in Deutschland das Gebot der Eigenverantwortung von der finanziellen Unterstützung des Staates flankiert und somit überhaupt erst ermöglicht wird. Der individuellen Sorge steht von Anfang an – man denke an die Rückholaktion der im Ausland gestrandeten Bürger – die Schutzpflicht des Staates zur Seite. Das heißt nicht, dass der Bürger aus eigener Verantwortung für die Gemeinschaft entlassen sei. Aber diese Verantwortung bestätigt nicht das Modell des Neoliberalismus, sondern revitalisiert den Gedanken des Gemeinwohls.

War Covid-19 also der Anfang vom Ende des Neoliberalismus? War es die Zeit für einen neuen New Deal? Rückte Corona die Welt nach links? Die öffentliche Diskussion prekärer Arbeitsbedingungen (wie der Saisonkräfte in den Schlachthöfen) und der „Zukunft der Arbeit nach Corona“16 ließ das durchaus vermuten. Slavoj Žižek, das enfant terrible der zeitgenössischen Philosophie, sah bereits am 27. Februar in Covid-19 die lang ersehnte Katastrophe, die auf der Bühne der Gesellschaftsentwürfe alle Karten neu mischt, und brachte seine Hoffnung, ungeduldig selbst hier, gleich im Titel seines Textes unter: „Coronavirus is ‚Kill Bill‘-esque blow to capitalism and could lead to reinvention of communism“. Für einen Moment schien es, als gäbe es doch noch eine Alternative zur Alternativlosigkeit des Kapitalismus; und für manche hieß sie gar Kommunismus. Corona hatte den „kapitalistischen Autopiloten“ abgeschaltet und stellte ganz unverhofft eine „Verschiebung von Kräfteverhältnissen“ in Aussicht.17

So jedenfalls war die Hoffnung, verbunden mit der Hoffnung, die Kraft möge sich auch in die richtige Richtung verschieben. Erste empirische Studien dämpften die Erwartung und identifizierten die bald aufkommenden Proteste der Querdenker gegen die Corona-Maßnahmen als eine Bewegung, „die eher von links kommt, aber stärker nach rechts geht“.18 Könnte es sein, dass dieses Sammelsurium an ganz verschiedenen Positionen das Protestpotenzial der Gesellschaft kidnappte und sich dieses so nicht, wie Žižek und andere hoffen, gegen die sozialen und ökologischen Verirrungen des Kapitalismus richtet, sondern gegen „die da oben“? Es wäre eine der schlimmsten unter den noch unerkannten Nebenwirkungen der Pandemie.

Die Hoffnung, so wird es später heißen, dass die Regierung die Gesellschaft sicher durch die Krise manövriert, veränderte die Perspektive auf das Verhältnis von Individuum und Staat. Und zwar nicht nur hinsichtlich der politischen Ökonomie. Man war zu Verzichtsleistungen im Interesse der Allgemeinheit bereit, selbst wenn es um Bewegungs- und Versammlungsfreiheit oder informationelle Selbstbestimmung ging. Man war bereit, aus staatsbürgerlicher Verantwortung bürgerliche Rechte aufzugeben, jedenfalls wenn man in einer stabilen Demokratie lebte, wo solche Einschränkungen mit vielem Wenn und Aber beschlossen wurden. Der Kult des Individuums, der Modus der kompetitiven Singularitäten, der die Moderne und zumal das 21. Jahrhundert bestimmt, schien weitgehend suspendiert zugunsten der Belange des gesellschaftlichen Ganzen.

In gewisser Weise war die Pandemie ein Geschenk zu Hegels 250. Geburtstag, der ins Jahr 2020 fiel. Denn wer im Krieg ein „sittliches Moment“ sieht, weil er das Gemeinwesen zusammenschweißt, muss Gefallen finden an einer Pandemie, die das Individuum ebenfalls zwingt, sich als Teil eines größeren Ganzen zu sehen.19 Die Pandemie zerbricht genauso wie der Krieg das „Fürsichsein des einzelnen“ und führt diesen in die Gemeinschaft zurück – ohne den schlechten Nachgeschmack, für die falsche Sache gekämpft zu haben.

Auch diesseits gewagter Vergleiche passte die Pandemie gut zum Hegel-Jahr. Denn Hegel ist berühmt als Denker der Freiheit und ihrer Grenzen, als Philosoph der französischen Revolution und des preußischen Staates. Bei ihm ist das Individuum dem „sittlichen Staat“ als „substantieller Einheit“ und „höchster Pflicht“ unterstellt. Das hat ihm den Vorwurf eingebracht, Vordenker des Totalitarismus zu sein; ein Vorwurf, den das berühmteste Hegel-Zitat in der DDR (aus der Feder Friedrich Engels) zu bestätigen scheint: „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“. Die neuere Hegelforschung betont dagegen, dass Hegel sowohl die Rechte des Individuums als auch die Kräfte des Marktes dem Interesse des gesellschaftlichen Gesamtwohls unterstellt. Genau diese doppelte Zügelung der Freiheit im Interesse des Gemeinwohls schien nun die Losung zu sein, wenn zum einen das neoliberalistische Wirtschaftsprinzip kritisiert und zum anderen die Einschränkung der individuellen Freiheit gefordert wurde.

Die Frage, die über das Hegel-Jahr und die Corona-Pandemie hinausweist, ist freilich die: Lässt sich die Entschlossenheit, mit der wir jetzt gemeinsam dafür kämpfen, die Infektionskurve niedrigzuhalten, auch für die Begrenzung der Erderwärmung abrufen? Wird man auch noch zusammenhalten, wenn man keinen Abstand mehr halten muss und der Tod von einer konkreten Bedrohung wieder zu einer unbestimmten Gefahr für künftige Generationen verschwommen ist? Ließe sich die umweltfreundliche Stubenhockerei und die Einschränkung individueller Freiheiten zum Schutz unser aller Gesundheit adaptieren, um unser aller Umwelt zu schützen?

Der Bundespräsident wollte es am Ende des Jahres durchaus so sehen: „Wie viel wir doch miteinander bewegen können, das erleben wir gerade jetzt in der Krise. Aus dieser Erfahrung können wir Mut und Kraft schöpfen, auch um uns gegen andere Bedrohungen wie den Klimawandel oder gegen Hunger und Armut zu engagieren.“20 Ob die Entbehrungsbereitschaft der Bevölkerung während der Corona-Krise tatsächlich Mut und Kraft gibt auch für den Kampf gegen den Klimawandel, wird sich jenseits der Textsorte Weihnachtsansprache und jenseits auch von Ostern 2021, bis wohin der zweite Lockdown gelten könnte, erst noch zeigen müssen. Wie eine Pandemie die Gesellschaft verändert, hängt auch davon ab, wie lange sie dauert. Insofern scheint jede Äußerung vor dem Ende zu früh zu kommen, erst recht jene Bücher, die schon im Herbst, also noch vor dem zweiten Lockdown, entweder eine Zeit voller Debatten und politischer Gestaltungslust prophezeiten oder Zweifel hegten, dass aus dieser Krise irgendetwas werden könnte.21 Aber Zukunft wird auch im Mutmaßen über sie gemacht. Jede öffentliche Äußerung ist ein performativer Akt, der zugleich ein bisschen das befördert, was er beschwört. Denn am Ende kommt es darauf an, welche Angebote parat liegen, wenn der Autopilot deaktiviert ist und die Frage nach alternativen Ideen entsteht. So kommt jeder schon vor ihrem Ende erschienene Text über die Pandemie, der nicht nur analysieren, sondern auch inspirieren will, zugleich zu früh und gerade zur rechten Zeit.

Die Frage, was von Corona bleibt, reicht für viele Texte, Podcasts und Talk-Shows. Setzt man niedriger an als beim Kommunismus oder gar Anthropozän, wird das Vermuten einfach. Bleiben wird sicher die Maske, die in asiatischen Kulturen längst zu den Anstandsregeln gehört, wenn man erkältet ist. Vielleicht auch die Zurückhaltung beim Umarmen. Auf jeden Fall die Auslagerung ins Digitale: Online-Shopping, Film-Streaming, E-Learning, Bildschirmmeetings und Home-Office, das freilich bald Remote-Work heißen wird, denn was am Computer geht, geht von überall, wo es Internet hat. Auch Urlaub wird nach Corona anders aussehen. Natürlich wird es eine Menge an Nachholreisen Richtung Süden geben, so wie es den Nachholkonsum geben wird. Aber wer im Sommer 2020 in einen Camper Van investiert hat (und die Preise waren da schon immens gestiegen), stellt nicht einfach wieder auf Fernreisen um – ganz zu schweigen von denen, die sich nach den zu erwartenden Insolvenzen 2021 ohnehin keine Fernreise mehr werden leisten können. Zudem: Wer sah, wie leicht man mit weniger auskommt, wird sich das gewiss noch eine Weile gefallen lassen.

Und sonst? Ändert sich auch die Gesellschaft? Grundsätzlich? Ja, aber wohl weniger in der Form wie der Bundespräsident sowie kapitalismus- und kulturkritische Philosophen und Soziologen es sich wünschen. Die Konturen der postpandemischen Zeit zeichnen sich durchaus schon ab. Wie die folgenden Kapitel zeigen werden, steht wesentlich mehr zur Disposition, als man vermuten mag. Vorerst lässt sich schon einmal die These aufstellen, dass sich unsere Erinnerungskultur zumindest in Ansätzen ändern wird und künftig auch das enthält, was nach klassischen Maßstäben nicht als heldenhaft gilt. Corona wird es nicht ergehen wie der Spanischen Grippe. Anders als da wird dieser große vaterländische – wenn nicht internationale, europäische – Krieg gegen das Virus durchaus in das kollektive und kulturelle Gedächtnis eingehen und erinnert werden, sei es wenn man den Börsenwert der „Corona-Bonds“ abfragt oder wenn man vor den leuchtenden Kerzen einer Geburtstagstorte „Happy Birthday“ singt.

Das Virus und das Digitale

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