Читать книгу Komfortzone - Robin Becker - Страница 6

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I

Der Nebel wurde dichter, verwandelte die Windräder in Säulen einer versunkenen Stadt. Alex drosselte das Tempo und schaltete die Scheinwerfer an. Ich lehnte meinen Kopf an die Scheibe, die angenehm vibrierte, dachte daran, wie Michael rauchend auf dem Balkon gestanden und von Abschied gesprochen hatte, sogar von Wiedergeburt im Sinne eines großen Ganzen. Er hatte gemeint, er sei vorbereitet, schon ganz andere hätten das hinter sich gebracht. Jesus, Humboldt, Einstein, Che Guevara, sogar Oma und Opa. Man würde sich wiedersehen. Ich hatte zu all dem wenig gesagt, nur, dass er die endgültige Diagnose erst mal abwarten solle. Doch das Gesicht des Arztes hatte Bände gesprochen, ebenso, dass Michael auf dem Balkon hatte rauchen dürfen. Am liebsten hätte ich ihm angeboten, diesen ganzen Quatsch hier zu vergessen und mit mir zu kommen, uns würde schon noch was einfallen. Krankenhäuser sind Vororte der Hölle. Aber solche Worte hatten Michaels Gesichtsausdruck und angeschwollener Bauch nicht zugelassen.

Heike hatte gemeint, den Tod gebe es nicht, nur die Angst davor. Sie hatte viele Ängste, aber diese nicht. Ich sollte nicht mehr an Heike, Michael oder sonst etwas Vergangenes denken, ermahnte ich mich. Einfach alles vergessen. Vielleicht sollte ich wieder mit Tagebuchschreiben anfangen? Ein Tagebuch ist wie eine Schatztruhe. Truhe auf, Vergangenheit rein, Truhe zu, fertig, Leben kann weitergehen. Leicht gesagt.

Ich sah zu Alex hinüber. Sein verträumter und dennoch wacher Blick, seine Art mit mir und dem Leben umzugehen, waren mir sehr vertraut. Er hatte mir davon abgeraten nach Bern zu ziehen. Doch nun steuerte er den Umzugswagen, und ich saß daneben und schwelgte in Erinnerungen.

***

Heike stocherte in dem Kartoffelauflauf herum und sagte, dass sie mit Felix geschlafen hat.

„Bitte was?“ Ich nahm einen Schluck Sekt. „Mit welchem Felix?“

Sie blickte mich mit traurig glänzenden Augen an. „Dem Leiter meiner Achtsamkeitsgruppe.“

Nachdem ich ermittelt hatte, wann der Betrug stattgefunden hatte, sagte ich: „Als ich also über meiner Masterarbeit Blut geschwitzt habe, hast du ‚I fuck Mister Achtsam‘ gespielt. Und warum sagst du mir das erst jetzt? … Ich rede mit dir.“

Was war nur mit ihr los? Ihre Kindheit, ihre Psychomutter. Ihre vorigen Beziehungen. Ihre Pseudospiritualität. Was nur?

„Ich kann verstehen, dass du sauer bist … Aber ich hatte diese Erfahrung gebraucht … Ich weiß jetzt, wer ich wirklich bin –“

In keinem Fall wollte ich ausrasten. Ich beherrschte mich. Ich wollte sie in den Arm nehmen – beinah. Aber nein, ich wollte sie erwürgen, sie mit ihren elenden Selbstlügen, Komplexen und Ängsten, die ja auch meine wurden. Schauen, fühlen, verstehen, missverstehen.

„Ja, was?“, setzte ich nach.

Sie reagierte nicht. Mit einer gemächlichen Armbewegung fegte ich den Tisch leer und lehnte mich auf ihn. Heike sah regungslos zu, wie da alles zu Boden krachte und meinte plötzlich, so ginge es nicht weiter, wir täten einander nicht mehr gut, vier Jahre, sie brauche Zeit und so weiter. Ich wollte nichts mehr hören, hob den Arm wie eine weiße Flagge und machte unmenschliche Laute.

„Du machst mir Angst“, sagte sie.

Du mir auch, wollte ich sagen.

Sie entfernte sich, lief in meiner Wohnung auf und ab, blieb bald mit vier Plastiktüten voll Sachen an meinem Tisch stehen. Ein kurzer Blick reichte, dann war sie weg.

Am nächsten Tag fuhr ich mit zwei Büchsen Bier und einer Flasche Doppelkorn an meiner Seite mit dem Auto meiner Mutter spazieren. Ich kam gerade an Felix’ Wohnhaus vorbei, als mich eine Polizeistreife per Lautsprecher aufforderte, anzuhalten. Kurze Fahrerflucht, zwei rote Ampeln, 1,2 Promille genügten, dass sie mir meinen Führerschein abnahmen. Nachdem ich meinen Rausch ausgeschlafen hatte, stattete ich Felix einen Besuch ab und wollte ihn zur Rede stellen oder ihm einfach eine reinhauen. Doch als ich dann vor ihm stand und er mich voller Mitgefühl anblickte und mich freundlich hereinbat, war meine Wut verraucht. Wir nahmen vor seinem Aquarium Platz, und er schenkte Bambustee ein. Ein halbes Räucherstäbchen lang redete er über das Ego, das niemals Ruhe gibt, permanent nach Anerkennung trachtet, Angst vor Kontrollverlust hat und wahre Liebe unmöglich macht.

Ich sah währenddessen stumm wie einer dieser bunten Fische ins Aquarium, dachte daran, wie Heike und ich zusammen ein Buch über tantrischen Sex gelesen hatten, das uns zu verstehen gab, wie wichtig es gerade in der Sexualität, aber auch im Alltag ist, dass jeder sehr gut bei sich und beim anderen ist.

„Du hältst dich für erleuchtet, kann das sein?“, sagte ich.

Er lachte auf sympathische Weise. „Nein. Aber mir scheint, dass ich allmählich zu mir komme und nicht mehr so sehr unter meinem Ich leide.“

„Soll ich dir sagen, was ich von dir denke?“, sagte ich mit weicher Stimme.

„Nur zu.“

„Du hast das größte Ego von allen und fährst eine schäbige pseudospirituelle Masche, mit der du Frauen verführst.“

„Heike und ich sind uns auf einer rein nondualistischen Ebene begegnet.“

„Du meinst, ihr habt, während ihr miteinander geschlafen habt, euer Ich abgelegt wie einen alten Mantel?“

Er nickte.

„Na klar. Du mich auch.“ Ich erhob mich, verließ die Wohnung und knallte hinter mir die Tür zu.

***

Sieben Wochen nach der Trennung hatte ich eine Jobzusage in einer Art Behindertenheim in der Nähe von Bern und sogar übers Internet eine kleine Wohnung gefunden. Meine alte Wohnung war gekündigt, der Nachmieter stand fest, der Umzugswagen mit Hilfe von Unikollegen und den Jungs vollgeräumt, während wir nebenbei eine Kiste Bier geleert hatten.

Alex mochte die Jungs nicht sonderlich. Sie waren für ihn Zurückgebliebene. Er konnte nicht verstehen, warum ich mich gelegentlich noch mit ihnen abgab. Ich mochte sie halt, man konnte wunderbar mit ihnen Doppelkopf spielen, im Park abhängen, Schach spielen, kicken und so Sachen. Sie hatten praktisch immer Zeit. Nur ab und an nicht, wenn sie richtig gut drauf waren, dann kobolten sie mit ihren Instrumenten durch die Straßen und machten avantgardistischen Krach. Dass die Jungs immerzu kifften, gelegentlich LSD nahmen und der Arbeit wenig abgewinnen konnten, verurteilte ich im Gegensatz zu vielen anderen nicht. Schließlich konnte nicht jeder Karriere machen, so wie Alex. Sie waren Außenseiter, die immerhin zusammenhielten, eine eigene Familie darstellten und alles miteinander teilten. Sie erwarteten nur wenig vom Leben. Das ist ja auch eine Leistung.

***

„Helle“, hörte ich Alex sagen.

Ich öffnete die Augen. Der Nebel war weg, der Asphalt floss unter dem Fahrzeug dahin. Ich fasste mir an die Stirn, hinter der es unangenehm zog.

„Ich bin müde“, gähnte er. „Brauche ’nen Kaffee.“

Ich reichte ihm die Cola. Die wollte er aber nicht, weil da keine Kohlensäure mehr drin war. Er bat mich, mit seinem Smartphone nachzuschauen, wann die nächste Raststätte käme. Ich versuchte es, doch das Gerät war mir zu blöd oder ich war es, jedenfalls kam ich mit dem Touchscreen nicht zurecht.

„Dann halt mal das Lenkrad.“

Ich beugte mich zu ihm herüber, steuerte den Wagen, was ich nicht so einfach fand.

„Und, was sagt dein schlaues Gerät?“

„Dreiundvierzig Kilometer. Kacke.“

„Dann übernimm wieder.“

„Ich muss gerade noch meine E-Mails checken.“

Ich ließ das Lenkrad einfach los.

„Spinnst du?“ Er griff sich das Steuer, wobei sein Smartphone in den Fußraum fiel.

„Schau auf die Straße, Mann!“ Ich bückte mich und hob das Smartphone auf.

„Und?“

„Kannst du jetzt wegschmeißen.“

„Was? Zeig mal.“

Ich schmunzelte, wovon das Ziehen hinter der linken Stirnhälfte stärker wurde.

„Ich brauche das beruflich.“

Ich gab ihm sein Smartphone. Er war erleichtert zu sehen, dass es noch heile war und legte es ins Türfach.

„Ich lüfte mal kurz.“ Ich fuhr mein Fenster herunter, der Fahrtwind wirbelte die Papiere der Autovermietung durcheinander, die auf dem Armaturenbrett gelegen hatten, ich griff sie mir und knüllte sie ins Handschuhfach.

„Das reicht“, sagte Alex. „Mir ist kalt.“

Ich fuhr das Fenster wieder hoch. Meine Kopfschmerzen blieben unverändert stark. Ich überlegte, Alex zu bitten, an der nächsten Ortschaft abzufahren, damit ich mir Schmerztabletten kaufen und er einen Kaffee trinken konnte, als plötzlich Rauch aus der Motorhaube stieg.

„Was ist das denn jetzt?“, sagte Alex.

„Scheiße, das qualmt.“

„Das sehe ich auch, Helle.“

Er hielt auf dem Seitenstreifen und schaltete die Warnblinkanlage an.

„Wo ist denn das Warndreieck?“, sagte ich.

Er fand es hinter seinem Sitz und reichte es mir. Nachdem ich das Warndreieck aufstellen gegangen war, warteten wir, bis es aufgehört hatte zu rauchen und sahen uns den Motor an, der heiß war und knackte. Aus dem Ölstand wurden wir nicht so recht schlau. Jedenfalls war Öl im Motor, wahrscheinlich eher zu viel. Aber an Kühlflüssigkeit mangelte es. Da wir kein Wasser dabei hatten, entschied Alex, den Rest Cola in den Kühler zu schütten, immerhin bestimmt über einen halben Liter. Bis zur nächsten Raststätte sollte es wohl reichen, meinte er. Alex kannte sich zwar wenig mit Autos aus, aber immerhin besser als ich. Wir fuhren weiter, behielten die Temperaturanzeige und die Motorhaube im Auge. Und bald schon hing jeder wieder seinen Gedanken nach. Es dauerte nicht lange, da fing der Motor erneut an zu rauchen, diesmal noch heftiger als vorhin, wir sahen kaum noch die Straße. Andere Fahrzeuge fuhren hupend an uns vorbei.

„Fahr rechts ran.“

Alex hielt erneut auf dem Seitenstreifen.

„Siehste, das mit der Schweiz ist doch Mist“, sagte er.

„Cola in einen Motor zu schütten, das ist Mist.“

„Daran hat es bestimmt nicht gelegen.“

„Ruf die Autovermietung an.“

„Wo ist das Warndreieck überhaupt?“

„Ach shit, das haben wir vorhin stehen gelassen.“

Alex rief bei der Autovermietung an, die meinte, er solle beim ADAC anrufen, was er dann auch tat. Ich stieg aus, lehnte mich an den Wagen und atmete in die flauschigen Wolken hinein, die fratzenhaft vorüberzogen.

Alex kam aus dem Wagen.

„Die sind in ungefähr einer Stunde da. Der Typ meinte, das Ganze klingt nach einem Kolbenfresser. Also Motorschaden.“

Trotz der Sonne war es immer noch recht kühl. Ich zog meinen Parka und Alex seine Fliegerjacke an. Wir gingen in ein Nadelwäldchen, die Autobahnbrandung im Ohr, als wäre das Meer in der Nähe. Laut Alex’ Smartphone war unweit ein See. Meine Kopfschmerzen waren weg.

„Ich werde mich bei Hanni melden“, sagte er, nachdem er zum Pinkeln hinter einem Baum verschwunden war. „Ihr Sekretär hat mir vor ein paar Tagen geschrieben, dass es ihr nicht gut geht.“

Als Kind war ich oft bei Alex zu Besuch, hatte das große Haus und den Garten gemocht, der nach dem Unfalltod von Alex’ Vater immer mehr verwildert war. In meiner Erinnerung sah ich nun durch einen Türspalt Hanni am Schreibtisch sitzen und hörte die Anschläge auf der Schreibmaschine.

„Was hat sie denn?“

„Herz-Kreislauf und Thrombose.“

„Das tut mir leid für Hanni. Grüß sie auf jeden Fall von mir.“

Wir gingen weiter.

„Weit kann der See nicht mehr sein, aber wir gehen lieber zurück“, sagte Alex.

Von weitem sahen wir, nachdem wir das Nadelwäldchen wieder verlassen hatten, ein Polizeiauto und wie zwei Männer in gelben Westen damit beschäftigt waren, den Sprinter mit einem Kranwagen auf die Ladefläche zu hieven. Eine Polizistin und ein Polizist stiegen aus dem Streifenwagen. Als wir bei ihnen waren, meckerten sie mit uns, weil wir das Fahrzeug verlassen und kein Warndreieck aufgestellt hatten. Alex fragte, ob sie uns ein Stück mitnehmen könnten. Ich nahm meinen Rucksack aus dem Führerhaus und besprach mich mit dem Fahrer des Abschleppwagens. Er gab mir eine Visitenkarte des ADAC und schrieb mir die Telefonnummer vom Schrottplatz auf, wo der Wagen vorerst hingebracht würde.

„Wieso Schrottplatz?“, fragte ich.

„Die haben auch eine Werkstatt dort.“

Alex rief von unterwegs erneut die Autovermietung an und erklärte einer jungen Frau gereizt, was vorgefallen war und sagte, er brauche einen neuen Sprinter, doch die hatten im Moment kein vergleichbares Fahrzeug. Er drohte, ein Umzugsunternehmen auf ihre Kosten zu beauftragen.

„Davon würde ich Ihnen abraten“, hörte ich die Frau sagen. „Sie können sich bei einer anderen Autovermietung einen vergleichbaren Sprinter mieten. Diese Kosten übernimmt dann höchstwahrscheinlich die Autoversicherung, aber nicht von einem Umzugsunternehmen.“

„Das werden wir ja dann sehen.“

Die Polizisten setzten uns in Worms am Bahnhof ab. Alex versicherte mir, während er am Fahrscheinautomaten zwei Fahrscheine kaufte, dass er sich darum kümmern wird, dass meine Sachen spätestens in drei, vier Tagen bei mir in Bern seien.

Der Zug nach Mannheim rollte ein. Wir setzten uns nebeneinander gegen die Fahrtrichtung. Eine alte Frau, die Alex gegenübersaß, grüßte uns, nachdem wir Guten Tag gesagt hatten. Der alte Mann an ihrer Seite hob kurz seinen Hut und schaute dann weiter den Gang hoch. Die beiden sahen im Kontrast zu den jungen Leuten, die mit ihren Smartphones zugange waren wie urzeitliche Reptilien aus, die auf wundersame Weise überlebt hatten. Irgendwann werde auch ich sehr alt sein, wenn es das Schicksal zulässt, und mich bestimmt sehr fremd in der Welt fühlen, die mir ja schon jetzt mit Mitte dreißig manchmal unbegreiflich und abscheulich vorkommt.

„Willst du jetzt trotzdem noch nach Bern in deine Wohnung?“, sagte Alex.

„Ja klar.“

„Soll ich mitkommen?“

„Nein, fahr du mal lieber nach Bielefeld zurück.“

Im Mannheimer Hauptbahnhof kauften Alex und ich jeder einen Fahrschein, setzten uns in ein Café und ließen uns eine Portion Kartoffelsuppe und ein Bier bringen. Eine männliche Lautsprecherstimme verkündete lauter Verspätungen wegen einer Gleisstörung. Die Kofferzieher verharrten in der Bewegung, lauschten der Durchsage, einige zogen genervte Gesichter. Mein Zug wurde nicht genannt. Alex kam noch einmal auf den schlechten Gesundheitszustand seiner Mutter und ihren Verein Boykott zu sprechen, der in letzter Zeit stark in die Kritik geraten war.

Ich trank mein Bier aus.

„Man sollte kein Obst und Gemüse aus Spanien kaufen.“

Ich verstand nicht, wie er da jetzt drauf kam, eigentlich wollte ich bei dem Thema Mutter nachhaken.

„Die Pflücker sind oft illegale Migranten ohne Rechte, leben in Baracken am Rande der Gewächshäuser, atmen den ganzen Tag diese Pestizide ein und bekommen nur einen Hungerlohn“, sagte er.

Ich sah über ihn hinweg auf die Wanduhr.

„Hast du gewusst, dass der fehlende Zugang zu sauberem Wasser weltweit die Todesursache Nummer eins ist? Jährlich sterben deswegen mehr Menschen als durch Aids, Malaria, Kriege und Verkehrsunfälle zusammen.“

„Können wir das Thema jetzt mal lassen, mein Zug geht gleich.“ Ich sah mich nach einem Kellner um.

„Ich übernehme das“, sagte Alex.

Wir drückten uns zum Abschied.

„Mach’s gut, mein Lieber. Pass’ auf dich auf.“ Er war den Tränen nah.

„Ja, du auch.“

„Don’t give up!“, rief er mir noch hinterher.

Ich hob die rechte Hand, ohne mich umzudrehen. Der ICE hatte erstaunlich wenige Fahrgäste. Ich fand sogar ein leeres Sechserabteil, legte Rucksack und Parka ab und ließ mich auf den Sitz am Fenster fallen. Jetzt gehört mein Leben wieder mir alleine, sagte ich mir, kurz nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte. In Gesellschaft bin ich mir meistens fremder als ohne. Als würden die anderen einem die Identität zerkratzen. Alex bot da früher eine Ausnahme. Aber auch er hat sich verändert, seit er immerzu mit seinem Architektengeschäft zugange ist. Warum hat Heike der Trennung so schnell zugewilligt? Wahrscheinlich weil sie wusste, dass ich ihr den Seitensprung niemals verzeihen würde. In meiner Fantasie habe ich doch auch manchmal mit anderen Frauen schlafen wollen. Warum machte ich da also jetzt so ein großes Ding draus? Ich atmete durch. Nun kann ich noch mal ganz neu anfangen. Das ist gut. Das Draußen, das Abteil und mein Spiegelbild verschmolzen in der Scheibe zu einer neuen Wirklichkeit.

***

Der Berner Bahnhof glich einer unterirdischen Einkaufsstraße, in der eine spontane Party ausgebrochen war. Ich kaufte mir in einem Kiosk vier Bierflaschen, die vielversprechend Alpenperle hießen, wollte weg von den Partymenschen und mich irgendwo in Ruhe betrinken. Doch überall waren Besoffene, die rauchend vor irgendwelchen Clubs und Bars standen oder mir in den für Bern typischen Laubengängen entgegenkamen. Vor einer von Scheinwerfern angestrahlten Kirche, die grotesk aus der Dunkelheit hervorstach, hielt ich schließlich ein Taxi an. Ich fragte den Fahrer, nachdem uns drei grölende Soldaten kurz an der Weiterfahrt gehindert hatten, ob es hier immer so traurigfröhlich zuginge.

Er schaute mich über den Rückspiegel an. „Wochenend haben frei, nix schaffe, müssen machen Feier. Viel Stress.“

Ich hatte mir Bern viel kleiner und weniger belebt vorgestellt. Die Taxifahrt dauerte keine zehn Minuten und kostete mich dreißig Franken, umgerechnet fünfundzwanzig Euro, was ich irrsinnig teuer fand. Ich fragte ihn, ob er in der Nähe ein Hostel oder Hotel kannte, das halbwegs bezahlbar war. Er sah mit seinem Smartphone nach und meinte nach wenigen Sekunden, für siebzig Franken bekäme ich im Hostel ein Bett in einem Viererzimmer. Die Fahrt dorthin würde fünf Minuten dauern. Ich dachte, so ein Köter wie ich, der kann auch ruhig mal ein, zwei Nächte auf dem Boden schlafen und lehnte dankend ab.

Im Dunkeln vor den Briefkästen suchte ich meinen Namen. Helmut Lenk. Wie verabredet lagen meine Schlüssel darin. Ich schloss die Haustür auf, begab mich in die zweite Etage, öffnete die Wohnungstür, ertastete und drückte den Lichtschalter, woraufhin eine Neonröhre hörbar ansprang und eine braun furnierte Einbauküche grell aufflackerte. Das Zimmer mit dem angrenzenden Balkon war etwas größer, als ich gehofft hatte. Ich drehte die Heizung an, die sich gluckernd bemerkbar machte, setzte mich auf meinen Parka wie auf eine Decke, trank mein Bier und wurde immer müder.

Irgendwann erwachte ich krächzend aus einem Traum, in dem ich bewegungsunfähig auf einem harten Boden lag. Ich wusste zunächst überhaupt nicht, wo ich mich befand. Mein Rücken schmerzte, dann fiel mir alles wieder ein. Draußen war es hell geworden. Ich lehnte mich an die Heizung und blickte mich in meinem Zimmer um, das mich an die Ausstellung der leeren Rahmen erinnerte, durch die Heike und ich vor Jahren geturtelt waren. Ich hatte den Sinn dieser Schau nicht verstanden. Heike hatte gemeint, es ginge darum, dass der natürliche Zustand aller Dinge Leerheit sei und der Mensch in einer Illusion gefangen sei.

Aus der angrenzenden Wohnung war Marla Glen zu hören. Ich beschloss nach kurzem Zaudern, meine Nachbarin, die Valerie Lonescou hieß, wie mir das Klingelschild verriet, nach Schmerztabletten zu fragen. Die Musik verstummte, Schritte näherten sich, und die Tür wurde geöffnet. Ich blickte in ein hochwangiges Gesicht, das zerzauste schwarze Haare rahmten.

„Hallo. Ich bin der neue Nachbar … Helle mein Name.“ Das Treppenhaus hallte unangenehm.

„Freut mich. Valerie.“

„Was ich fragen wollte, hast du eine Schmerztablette für mich?“

„Was hast du denn?“

„Mir tut praktisch alles weh – Kopf, Rücken, Beine, das Herz“, sagte ich und zeigte auf die einzelnen Körperteile.

Sie schmunzelte ein Mikrolächeln, verschwand in ihrer Wohnung und reichte mir kurz darauf eine Packung Aspirin.

„Die ganze Packung?“

„Sind nicht mehr viele drin“, sagte sie achselzuckend. „Ich kriege das Zeug umsonst.“

„Ach so, danke schön.“ Ich nahm die Packung entgegen. „Bist du Ärztin?“

„Krankenschwester.“ Sie griff sich mit beiden Händen ins Haar, nicht kokettierend, sondern einfach ihr Gesicht freiräumend. „Also, dann gute Besserung.“

„Wo gibt es denn hier den nächsten Supermarkt?“

Sie erklärte es mir umständlich und verwechselte links mit rechts, worauf ich sie hinwies, was ihr unangenehm war.

***

Ich legte mir ein Käse-Baguette, Banane, Eiskaffee und einen Berner Reiseführer in den Korb und ging bezahlen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Supermarktes lehnte ich mich an einen Stromkasten, frühstückte, las in dem Reiseführer etwas über die Gurtenbahn und fragte einen Passanten in Anzug und Krawatte nach dem Weg dorthin. Der Mann beschrieb mir den Weg drei Mal, und ich wiederholte drei Mal, dass ich hier nur die Straße nach oben bis zum Ende gehen brauche, dann links und die nächste rechts.

Ich bestieg mit zwei vor Dreck strotzenden Cross-Fahrradfahrern die Seilbahn, die mir auf meine Nachfrage hin durch ihre Helmvisiere erzählten, dass es vom Gurten mehrere coole Abfahrten gäbe.

Als Kinder waren Alex und ich oft mit klapprigen Fahrrädern die Hügel im Teutoburger Wald runter gerast, da gab es noch keine Fahrradhelme und Crossräder, erinnerte ich mich. Heute würde ich mich das wahrscheinlich nicht einmal in der Profiausrüstung dieser Jungs trauen.

Wir wurden ruckartig nach oben gezogen und Bern rückte in immer weitere Ferne. Ein Fuchs kreuzte unseren Weg, den die anderen Passagiere nicht bemerkten. Ich sah ihm nach, wie er elegant in den Wald verschwand, wobei es mir so vorkam, als würde er sich einmal kurz umschauen und mich anblicken. Ich beneidete ihn um seine Schönheit und Freiheit. Wir kamen an einer Kuhweide vorbei, auf der schmutzige weiße Kühe grasten, die übertrieben riesige spitze Hörner hatten, mit denen sie mit Sicherheit in keinen Stall kamen. Die armen Tiere mussten ja hier draußen schon bei jeder Kopfbewegung aufpassen, dass sie einander nicht verletzten oder sich aus Versehen im Zaun verhedderten.

Die Seilbahn kam zum Stehen, und die Türen öffneten sich zischend wie bei einem Raumschiff. Und tatsächlich hatte ich das Gefühl, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Unfassbar viel Weite und Himmel umgaben mich. Es war spürbar kühler als unten in der Stadt. Eine Minieisenbahn für Kinder fuhr einsam ihre Runde. Der Blick auf den unter mir liegenden Wald wurde durch gusseiserne Plastiken, die an einen löchrigen Käse erinnerten, versperrt. Ich ging ein Stück den Hang hoch dem Himmel entgegen zu Parkbänken, von wo sich mir plötzlich ein Ausblick auf eine Gebirgskette eröffnete, deren schneebedeckten Gipfel Wolken wie Nasenringe trugen. Voller Andacht setzte ich mich auf eine Parkbank und bestaunte das Naturschauspiel und spürte in mir eine wohlige Stille. Ich hätte noch stundenlang dasitzen können, wenn mir nicht irgendwann kalt geworden und eingefallen wäre, dass Samstag war und ich noch wichtige Besorgungen zu erledigen hatte. Auf dem Weg zurück zur Gurtenbahn hielt ich einen Mountainbiker an und fragte ihn, ob er wisse, wie lange die Geschäfte heute geöffnet seien und wo ich eine Matratze herbekäme. Er schaute unter seinem windschnittigen Helm hervor auf seine Armbanduhr und sagte: „Muss ich Schriftdeutsch mit Ihnen reden?“

„Schriftdeutsch? Sie können es mir auch einfach sagen“

„Jetzt haben nur noch der Coop und der Migros im Bahnhof offen, und die verkaufen nur Lebensmittel und Haushaltswaren.“

Ich ging durchs Haus und klingelte bei meinen Nachbarn, um mich vorzustellen und zu fragen, wer mir eine Luftmatratze oder Ähnliches leihen könnte. Aber niemand schien zuhause zu sein. Ich stellte mich schon auf eine weitere harte Nacht auf dem Boden ein, als hinter mir in der Wohnung im Erdgeschoss die Wohnungstür aufging und mich eine Frau mit kurzen Haaren grüßte. Aus ihrer Wohnung kam ein intensiver Marihuanageruch. Wir stellten einander vor. Ein kleiner stämmiger südländischer Typ erschien hinter ihr in der Tür, reichte mir die Hand und bat mich in ihre Wohnung, die völlig mit Möbeln zugestellt war. Ganz offensichtlich waren sie Eishockeyfans, denn die Wände waren mit SC Bern-Flaggen, sich kreuzenden Eishockeyschlägern, Trikots und Wimpeln behangen. Ich tat, als würde mir der Grasgeruch nicht auffallen und schilderte ihnen kurz meine Lage. Leider besaßen sie weder eine Isomatte noch eine Luftmatratze, sondern nur ein Schlauchboot. Sie lachten und schauten sich verliebt an. Das könnte ich natürlich haben. Er ging mit mir in den Keller, gab mir das Schlauchboot und trug die Pumpe, sagte, spätestens im Sommer bräuchten sie beides wieder zurück, weil er und seine Freundin es liebten, sich in dem Boot auf der Aare treiben zu lassen. Er half mir, es aufzupumpen. Das Ding war zwar groß, doch mit ausgestreckten Beinen konnte ich nicht darin liegen, also drehten wir es um. Seine Freundin brachte mir sogar eine Wolldecke und ein Sofakissen.

Den Sonntag nutzte ich dazu, dem Flussverlauf der grün leuchtenden Aare zu folgen und mir die Altstadt – samt Bundeshaus, kilometerlanger Laubengänge, Kirchen und Brücken – anzuschauen, die wie aus einem Guss aus olivgrünem Sandstein gebaut war und irgendwie düster und militärisch wie am Reißbrett entworfen wirkte.

***

Nach zwei durchwachsenen Nächten auf dem Schlauchboot war ich froh, als endlich Montag war. Ich kaufte mir für wenig Geld in einem Gebrauchtladen eine Matratze, Stuhl, Tisch, etwas Geschirr, Espressomaschine. Ich fand sogar ein paar Klamotten, die mir gut gefielen. Der Verkäufer sicherte mir zu, diese Sachen am frühen Abend für dreißig Euro von einem Kollegen zu mir nach Hause liefern zu lassen.

Gegenüber von einem Puppengeschäft rief ich von einer Telefonsäule aus bei der Autowerkstatt an. Ich erklärte einem Herrn Schröder, während ich mir beiläufig die Puppen besah, mein Problem, nannte das Autokennzeichen und wollte wissen, wann ich denn meine Sachen abholen lassen könne, als mir plötzlich ein längst vergessenes Puppengesicht ins Auge fiel. Es war Nelly, die Puppe, die auf jede meiner kindlichen Fragen eine Antwort gewusst hatte; die, die die Augen geschlossen, sobald ich sie neben mich hingelegt hatte. Und die, der eines Tages der Kopf abgefallen war, worüber ich bitterlich geweint hatte.

Er meinte kurz angebunden, er sei da gerade nicht im Bilde, sie haben zurzeit viel zu tun, ich solle doch bitte morgen noch einmal anrufen.

„Bitte was? Kann ich bitte mal mit dem Chef sprechen?“

„Das tun Sie bereits.“

„Hören Sie, so läuft das nicht.“

„Moment, ich nehme Sie mal mit nach draußen … Ich sehe gerade, der Sprinter mit dem genannten Kennzeichen steht hier auf unserem Gelände. Soweit ich informiert bin, hat der Wagen einen Motorschaden beziehungsweise Totalschaden und soll demnächst verschrottet werden. Sie können Ihre Sachen im Prinzip jeder Zeit abholen lassen.“

„Danke, ich werde dann noch mal genauer Bescheid geben. Tschüss.“

Ich steckte weitere Münzen in den Apparat und wählte Alex’ Telefonnummer.

„Hallo.“

„Helle hier.“

„Helle? … Ach, ich erinnere mich.“

„Ha, ha, du Komiker“, sagte ich.

Er lachte beherzt. „Wie geht’s dir?“

„Soweit so gut.“

„Wann fängt die Arbeit an?“

„Zum Glück erst nächste Woche … Hast du ein Umzugsunternehmen gefunden?“

„Ja, klar. Donnerstag um zehn Uhr holen die deine Sachen bei der Werkstatt ab. Am frühen Abend sind sie dann bei dir. Ich schätze zwischen fünf und sechs Uhr.“

Ich atmete erleichtert durch.

„Ist das deine neue Nummer?“

„Nein. Warte mal, ich muss Geld nachwerfen.“

Die Verbindung war weg, ich hatte kein Kleingeld mehr. Auch egal. Ich kam auf der Suche nach einer Bank am Bundesplatz vorbei, wo junge Leute, die Anzüge und Krawatten trugen, auf mich zukamen. Einer bat mich, von ihnen mit dem Bundeshaus im Hintergrund ein Foto zu machen und reichte mir eine kleine Digitalkamera. Ich knipste sie, gab dem Mann seine Kamera zurück und fragte ihn, ob er wisse, wo die nächste Bank sei. Er lachte, öffnete prophetisch die Arme, sah sich um, meinte, wo man hinschaue, ich könne mir eine aussuchen. Jetzt sah ich es auch, der Bundesplatz war abgesehen vom Bundeshaus geradezu von Banken umstellt.

Ich betrat das Gebäude der Post Finance und richtete bei einer Frau, die wie Nelly mit den Augen klimperte, ein Konto ein. Zudem bestellte ich einen Telefon- und Internetanschluss und kaufte das billigste Festnetztelefon. Zur Belohnung bot die eloquente Verkäuferin mir 20 Prozent Ermäßigung auf einen Mini-Laptop an, den ich ebenfalls nahm.

„Wollen Sie auch ein paar Rubbellose? Wenn Sie neun kaufen, bekommen Sie eines gratis“, sagte sie.

Ich nickte und machte mich gleich ans Rubbeln.

Die letzten drei ließ ich von ihr aufrubbeln – es brachte nichts. Sie empfahl mir ein besonders handliches Handy, erklärte einen Haufen Vorzüge.

„Das klingt verlockend. Ich nehme es, wenn Sie mit mir essen gehen“, sagte ich, obwohl die Frau mir unlebendig und steif vorkam. Aber manchmal muss man halt probieren, was beim anderen Geschlecht geht, sonst rostet man ein.

Sie klimperte weiter mit den Augen. „Ich bin nur die Post.“

„Ach so, das habe ich mir schon gedacht. Wegen dem Horn auf der Brust und so.“

Sie versuchte mir noch dies und das aufzuschwatzen.

„Ist gekauft“, unterbrach ich sie. „Sie haben vollkommen recht. Ich habe mir das redlich verdient. Neue Stadt, neuer Mensch, neues Handy. Ich hab’s ja. Oder werde es noch verdienen.“

Im Kaufhaus nebenan kaufte ich dann noch eine Bettdecke, Bettzeug, Handtücher und Unterwäsche.

***

Ich rief meine Mutter an und erzählte ihr von dem Motorschaden und den ersten Eindrücken von Bern.

„He-ll-le“, hörte ich im Hintergrund meinen Vater undeutlich sagen. Ich schloss kurz die Augen, sah meinen blinden Vater, wie er im Rollstuhl saß und der Sprechanlage lauschte, erinnerte mich daran, wie wir vor einer Ewigkeit zusammen mit dem Auto nach Amsterdam gefahren waren.

Bei frühlingshaftem Sonnenschein hatte ich ihn an Kanälen entlanggeschoben, hatte die Boote, die da schipperten und ruhten, zunächst als romantisch, touristisch, praktisch – später als stolz, geduckt, häuslich, stur, traurig, lustig, verliebt beschrieben. Die Brücken hingegen sahen meistens wie farblose Regenbögen aus, so weit war ich irgendwann vor Erschöpfung. Es war schön, ihm konnte ich praktisch jeden spontanen Einfall ungefiltert unterbreiten. Er verurteilte mich nie für mein Geschwätz, fand mich gar witzig, egal was ich für einen Unsinn von mir gab.

Am frühen Abend schob ich meinen Vater durch eine düstere Kirche. Wir schmatzten englische Weingummis, und ich flüsterte, dass Gott ein Arschloch sei, weil er seinen Sohn geopfert hat. So etwas würdest du nie machen, habe ich recht?

Ein Priester schwebte heran und bat uns, hier drinnen nicht zu essen und leiser zu sein. Ich wurde dann tatsächlich immer stiller, als wir nicht weit von der Kirche an Schaufenstern vorbeikamen, hinter denen sich halbnackte Damen räkelten. Mein Vater musste dringend auf Toilette. Ich wusste, länger als vier Minuten würde er den Stuhlgang nicht zurückhalten können. Also schob ich ihn in die erstbeste Bar, einen Coffeeshop, total verraucht. Die Leute darin waren nicht gerade erfreut uns zu sehen. Als ich meinen Pa endlich vom Rollstuhl auf die winzige Toilette verfrachtet hatte, war bereits alles zu spät. Ich zwängte mich zwischen seine Beine, zog ihm die Hose und die vollgeschissene Windel aus, während er sich den Bart kraulte. Jemand klopfte an die Tür. Ich putzte meinem Vater gerade den Hintern ab, brauchte Unmengen Papier, versuchte Ruhe zu bewahren, wühlte aus meinem Rucksack eine neue Windel hervor, zog sie ihm an. Wieder dieses Klopfen, diesmal lauter.

„Just a moment, please!“, rief ich.

Je mehr ich mich beeilte und an ihm herumzerrte, desto brummeliger lachte mein Vater.

„Hilf mal mit“, sagte ich.

Er legte mir seine Arme auf die Schulter und zog sich einen hochroten Kopf bekommend in die Senkrechte.

„Ja, so ist gut.“

Jemand hämmerte jetzt regelrecht gegen die Tür, sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich brauchte nur noch diese verdammte Hose zuzuknöpfen, dann war es geschafft.

„Bauch einziehen oder meinen Fußball ausspucken“, sagte ich.

Er lachte wieder, hatte seinen Spaß, na immerhin. Ich betätigte die Spülung. Die Toilettenschüssel lief voll Wasser, Papier und Scheiße wirbelten durcheinander, ohne abzufließen. Bauch an Bauch stand ich mit meinem Vater, stocherte mit der Klobürste in der widerlichen Kloschüssel herum und fluchte, während mein Vater mir versuchte zu erklären, dass die Toilette bestimmt verstopft sei. Ich betätigte noch einmal die Spülung, das war allerdings eine dumme Idee, denn die Kloschüssel lief über.

„O Scheiße, Mann!“, rief ich, öffnete die Toilettentür, schob meinen Vater aus der Pfütze vor die Tür, wo ein tätowierter Skinhead-Typ entsetzt an uns vorbei in seine geflutete Toilette schaute. Ich entschuldigte mich für die Sauerei, die wir verursacht hatten, bat um einen Aufnehmer, doch der Typ sagte aggressiv, wir sollten verschwinden, aber ganz schnell.

Vom vielen Rollstuhlschieben und Erzählen was in der Welt der Amsterdamer vor sich ging, wurde ich hungrig und begab mich mit meinem Vater in die nächste Bar. Wie sich herausstellte, war es wieder ein Coffeeshop. Eigentlich wollten wir nur etwas essen, aber außer Erdnüssen gab es nichts. Also bestellte ich Super Skunk, Erdnüsse und Kaffee. Mein Vater wollte auch mal ziehen. Da er wegen seiner Krankheit nach zwei, drei Minuten immer vergaß, was wir gerade erlebt hatten, erzählte ich ihm mehrmals von unserem Drama auf der Toilette, worüber wir uns jedes mal vor Lachen bepissten, mein Vater im wahrsten Sinne.

Draußen lag inzwischen alles in einem gelblichen Schummerlicht, dazu die lebendigen Schaufensterpuppen. Ich wusste nicht mehr, wo ich den Wagen geparkt hatte, alles sah gleich aus, es war zum Verzweifeln, selbst mein Vater blickte den Ernst der Lage. Dabei hatte ich mir extra den Namen der Straße gemerkt, irgendetwas mit Uver.

Es dauerte nicht lange, da hatte mich eine von den Damen in den Schaufenstern davon überzeugt, dass ich mit ihr eine Nummer schieben sollte. Meinem Vater sagte ich nichts. Ich ließ ihn hinter einem Vorhang zurück, damit ich ihn nicht sehen konnte und zog mich für die hübsche Brasilianerin aus. Nach nicht mal zehn Minuten war ich gekommen und der Spaß vorbei. Das Geld war zum Fenster raus, und ich hatte ein schlechtes Gewissen.

„Hallo mein Lieber!“, rief ich ins Handy. „Wie geht’s dir?“

Stille. Dann ein leises: „Gu-ut.“

„Bei uns ist alles beim Alten, mein lieber Sohn“, sagte meine Mutter. „Unser letztes Gespräch über Michael ist mir sehr nahe gegangen. “

„Ich weiß, tut mir leid“, sagte ich zärtlich.

„Ich vermisse ihn sehr.“

„Ich ja auch.“

Es läutete.

„Ich muss Schluss machen. Mir werden jetzt ein paar Möbel und so geliefert.“

***

Ich ging an die Aare runter. Etwas oberhalb einer jungen Frau, die auf einem Steinblock hockte, blieb ich stehen und beobachtete sie. Sie piddelte an ihren Zehen herum, blickte gedankenverloren von der Mappe zu ihren Füßen auf das vorbeistrudelnde Wasser, während ihre Lippen stumme Sätze formten.

„Dürfte ich kurz mal stören?“, sagte ich.

Sie sah mich geistesabwesend an. „Mich?“

Ich blickte mich um, als suche ich die vielen anderen, die ich gemeint haben könnte. „Kennst du dich hier aus, ich suche den Tierpark?“, fragte ich sie, obwohl ich wusste, wo der war.

„Nö, weiß ich nicht. Entschuldige bitte, ich habe gleich ein Vorsprechen bei der Schauspielschule.“ Sie schaute in Richtung eines alten Fabrikgebäudes, das hinter einer Reihe kahler Pappeln zu sehen war.

„Oooh lala.“

„Da hinter der Dampfzentrale ist jedenfalls das Marzilifreibad. Das ist umsonst.“ Sie zeigte flussabwärts auf ein geöffnetes Tor im Zaun. „Wobei im Moment kein Wasser in den Becken ist – zu kalt.“

„Für Anfang April geht es.“

Sie schaute wieder auf ihren Text, als wäre ihr etwas Wichtiges eingefallen. Ich stieg über die Felsbrocken an die Wasserkante und hielt meine Hand in die Strömung.

„Zehn Grad“, sagte sie ohne aufzublicken.

„Eher weniger, würde ich sagen.“

„Steht im Freibad auf ’nem Thermometer.“

Ich blickte dem Verlauf des Flusses nach, sah hinter dem Freibad auf einer Anhöhe das Bundeshaus, das dickbäuchig übers Land schaute. An der Stirn trug es ein Band mit lauter Wappen von Kantonen drauf.

„Der Bärengraben ist jedenfalls unterhalb von der Altstadt“, sagte sie. „Doch da willst du bestimmt nicht hin.“

„Wieso nicht?“

„Viele Touristen dort. Und ein Bär in einem Loch, der mit Möhrenstücken beworfen wird.“

„Ach du Scheiße, da treiben ja Menschen im Wasser.“

Sie blickte auch hin. „Schweizer halt.“

„Sehr alte Schweizer sogar … Zehn Grad, sagst du?“ Ich winkte den beiden, die fröhlich zurück winkten, während sie vorbeitrieben. „Krass, das ist Schmelzwasser, wenn mich nicht alles täuscht.“

Sie war schon wieder in ihrem Text vertieft. Nur der Fluss war zu hören.

„Na dann viel Glück.“ Ich wandte mich ab, ging flussaufwärts und dachte an die Jungs, die gerade bestimmt bei Thomas abhingen, der mal auf einer Schauspielschule studiert und nach vier Semestern abgebrochen hatte, weil er sechs Tage die Woche an Seminaren, Proben und Theateraufführungen teilnehmen musste und sich ohne genehmigten Urlaub nicht weiter als dreißig Kilometer von der Hochschule entfernen durfte.

Auf der Fußgängerbrücke, die über die Aare führte, rief ich bei der Kfz-Werkstatt an und bat, Herrn Schröder sprechen zu können, ich wollte ihm Bescheid geben, dass meine Sachen am Donnerstag abgeholt werden.

„Herr Schröder hat seit gestern Urlaub“, sagte er mürrisch. Im Hintergrund schien einer Metallstücke umzurühren.

Ich erklärte ihm, dass es um die Klamotten in einem weißen Sprinter ginge, der letzte Woche abgeschleppt worden sei, nannte meinen Namen und das Nummernschild des Fahrzeugs.

„Warten Sie.“

Nach einer Ewigkeit des Wartens wurde es mir zu blöd und ich schrie immerzu Hallo gegen diesen verdammten Lärm an, wollte gerade auflegen, als der Typ laut in den Hörer schnaufte, das Fahrzeug habe man heute Morgen verschrottet.

„Was, wieso das denn?“

„Die Reparatur wäre teurer gekommen, als der Wagen wert ist.

„Ja, und meine Sachen?“

„Hat man leider übersehen.“

„Übersehen?“

„Ja, Riesensauerei. Die neuen EU-Verordnungen verlangen noch striktere Trennung. Wir mussten den Wagen aufschneiden.“

„Moment mal. Sie meinen, Sie haben meine Sachen alle verschrottet?“

„Ich nicht.“

„Meine Stereoanlage, meinen Computer, mein Fahrrad, meine Bücher –“

„Hören Sie!“

„Meine Tagebücher, meine Fotoalben, meine braune Lederjacke.“

„Ich kann da nichts für.“

„Der Herr Schröder, der hat mir zugesichert –“

„Tut mir leid.“

„Mein Sekretär!“, brüllte ich. „19. Jahrhundert, ein Erbstück von meinem Großvater.“

„Ich schlage vor –“

„Ja was?“

„Das ist Angelegenheit der Versicherung.“

„Welcher Versicherung?“

„Keine Ahnung. Ihrer Autoversicherung.“

„Was ist das überhaupt für ein Scheißlärm?“

„Was?“

„Sehr laut da bei Ihnen.“

„Die gute Trennmaschine, Wilma, auf dem neusten Stand.“

„Können Sie mir bitte schriftlich mitteilen, dass Sie versehentlich den Inhalt des Sprinters mit verschrottet haben.“

„So etwas machen wir nicht. Das hier ist ein Schrottplatz und eine Kfz-Werkstatt, keine Anwaltskanzlei. Ich muss jetzt arbeiten.“

„Jetzt warten Sie doch mal.“

Er legte einfach auf.

Ich rief Alex an, sprach auf seinen Anrufbeantworter, dass diese Schrottplatzidioten meine Sachen verschrottet haben, und gab meine neue Telefonnummer durch.

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