Читать книгу Das Kino bin ich - Robin Becker - Страница 7

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Stadt der Bildhauer

Im Gang gehen die hellen Lichter aus, ich schließe die Augen, bin sehr müde, weiß aber, dass ich hier im Flugzeug mit Sicherheit nicht einschlafen werde. Im Gegensatz zu den beiden Kindern und ihrer Mutter, deren Kopf an meine Schulter sackt. Ich lasse es geschehen, kann der Nähe sogar etwas abgewinnen, ihr sprödes braunes Haar, das nach Mango oder Papaya duftet, kitzelt an meinem Hals. Mir fällt auf, dass ich schon länger nicht mehr an Melek gedacht habe, mag auch jetzt nicht an sie denken, was mir aber völlig misslingt. Bei einem unserer letzten Streits hat Melek mir gesagt, sie habe noch nie einen richtigen Orgasmus gehabt. Das tat weh, wo wir so häufig miteinander gekuschelt und geschlafen haben, und sie danach immer ganz selig war.

Ich möchte mich ein wenig strecken, doch bei dem Versuch die schlafende Mutter von meiner Schulter wegzuschieben, wacht sie auf. Zunächst ist sie irritiert. Wir kommen ins Gespräch. So erfahre ich, dass sie für zwei Wochen in Chennai in einen Ashram zu ihrem Guru möchte, bei dem sie schon öfter war. Ihre hellbraunen Augen werden feucht, als sie das sagt. Ich nehme mir aus Verlegenheit die Werbezeitschrift zur Hand, ärgere mich, dass ich den Roman nicht ins Handgepäck gepackt habe.

„Warst du schon einmal in Indien?“, sagt sie.

„Nein.“

„Und was zieht dich dahin?“

Ich sage ihr nicht, dass ich auf der Suche nach meiner ehemaligen Freundin bin, die ich in Mamallapuram vermute. Stattdessen sage ich: „Gute Frage.“

Sie kramt aus ihrer Tasche eine Packung Bio-Kekse und bietet mir einen an, den ich dankend ablehne. Ich entschuldige mich, muss zur Toilette, frage sie, ob ich ihr etwas zu trinken mitbringen solle, vielleicht einen Tee?

„Ja, gerne … einen Kamillentee und Wasser.“

Als ich mich mit meiner Cola, ihrem Tee und Wasser wieder zu ihr setze, schaut sie gerade nach ihren Kindern, die immer noch schlafen. Wir schweigen einige Minuten. Draußen wird es allmählich hell, vereinzelte Sonnenstrahlen funkeln durch den Flieger.

„Hast du von den Vorfällen in Indien gehört?“, sagt sie.

„Was für Vorfälle?“

„Die indischen Frauen sind im Moment sehr erbost, weil eine Studentin in einem Bus von mehreren Typen vergewaltigt wurde … Über eine halbe Stunde ging das. Und niemand hat der Frau geholfen. Der Freund der Studentin lag mit einer Eisenstange halb erschlagen in der Ecke und musste zuschauen.“

„Puh. Harte Nummer.“

„Die Frauen fordern jetzt mehr Rechte und Schutz. Das Problem ist unter anderem die Aussteuer, Mädchen kosten zu viel, die Familien bekommen sie nur schwer verheiratet … Ich hätte beinah den Flug storniert. Aber eine Freundin meinte, da könne ich im Prinzip nirgends mehr hin.“

„Da hat sie recht.“

„Angeblich ignorierte die Polizei diesen Vorfall vorerst. Die schreitet meistens erst ein, wenn sie bestochen wird.“

„Hmm.“

Sie schaut nach ihrer Tochter, die aufgewacht ist. Ich schließe die Augen. Nicht lange, da wird schon die Landung angekündigt.

***

Ich helfe der Mutter, deren Namen ich noch immer nicht weiß, trage zwei Taschen voll Kinderzeug und meinen eigenen Rucksack aus dem Flugzeug. Sie humpelt, meint, das Knie tue ihr seit Düsseldorf weh. Sie trägt den Jungen auf dem linken Arm und hält ihre Tochter an der Hand. Die beiden Kinder sind erstaunlich still, glauben wohl, sie träumen noch, der Schnuller und der Daumen wirken Wunder. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich viereinhalb Stunden hinter der indischen Zeit zurückhänge. Wir sind also der Sonne entgegengeflogen, das macht Sinn, schließlich liegt Indien südöstlich von Deutschland. Es ist also nicht mehr Viertel vor sieben, sondern Viertel nach elf.

Ein Mann mit Oberlippenbart und Handfunkgerät in der Hemdtasche tritt an uns heran, sagt kein Wort, bedeutet mir lediglich, ihm zu folgen. Einem Gespräch weicht er aus, er macht Handzeichen, hat es eilig, vielleicht ein Zollbeamter. Wir gehen zur Gepäckausgabe. Der Mann zieht unser Gepäck vom Band, stapelt es auf einen Rollwagen, fährt ihn zur Passkontrolle an den Wartenden vorbei, füllt für uns die Einreisepapiere aus, winkt uns durch. Als er von mir Geld will, schüttelt die Mutter den Kopf und meint, der würde hier arbeiten. Ich habe eh nur Euro, fällt mir ein. Der hilfsbereite Mann trabt davon. Das Mädchen möchte geschoben werden. Ich setze sie oben auf das Gepäck, sage ihr, sie solle sich gut festhalten. Zunächst guckt ihr kleiner Bruder skeptisch, dann will auch er auf den Rennwagen.

Wir brauchen beide Geld, schauen uns nach einem Bankautomaten um, aber es gibt keinen, nur eine Geldwechselstube von Thomas Cook.

„Der Kurs ist super schlecht“, sagt sie, „für hundert Euro müssten wir eigentlich mindestens siebentausend Rupien bekommen, nicht sechstausend.“

„Ohne Geld ist auch keine Lösung“, sage ich, und wechsle.

Vor dem Flughafen wird sie erwartet. Ein Mann mit Vornamen Martin aus dem Ashram winkt ihr über das Absperrgitter hinweg. Er ist groß, überragt alle um sich herum wie eine Statue.

„So, ihr beiden Abenteurer, ich bräuchte jetzt mein Gepäck“, sage ich. „Kommt ihr da alleine runter?“

„Nee“, sagt das Mädchen und zieht ein trotziges Gesicht, das ihr Bruder ulkig nachmacht.

„Könnt ihr noch nicht klettern?“

„Das ist doch puppig.“

„Glaube ich nicht.“

Die Mutter hebt mit zwei raschen Bewegungen ihre Kinder vom Rollwagen und stellt sie vor sich hin, was das Mädchen mit Genörgel quittiert.

„Ruhe im Karton“, sagt sie auf eine Art, die mich an meine Mutter erinnert, die ebenfalls sehr bestimmend sein konnte.

Ich greife mir mein Gepäck. Die Frau umarmt mich zum Abschied wie einen alten Freund, wünscht mir Glück, schöne Momente, neue Erfahrungen und Gesundheit.

„Das wünsche ich euch auch.“

Sie gehen Martin entgegen, der sich einen Weg um das Absperrgitter herum bahnt.

Es ist schwül, die Sonne ist durch Hochnebel oder Smog verdeckt. Ich ziehe meinen braunen Pulli aus, schmeiße ihn in meinen großen dunkelroten Plastikhartschalenkoffer. Ein Thomson, den ich mir vorgestern für fünfzehn Euro im Trödelladen einer sozialistischen Selbsthilfe gekauft habe. Das Ding ist nicht einmal halbvoll, nur mit Klamotten, einem Buch und Fernglas beladen, das ich für fünf Euro in dem sympathischen Trödelladen obendrauf bekam. Der Thomson hat vier Räder und eine Schnur, an der man ihn hinter sich herziehen kann, wenn es der Untergrund zulässt. Ich überlege, ob ich auch meinen kleinen Rucksack, in dem der Laptop, der Camcorder und meine Geldbörse sind, im Koffer verstauen soll, entscheide mich aber dagegen. Ich frage zwei junge Touristinnen, die in indischen Gewändern stecken und sehnsüchtig auf jemanden zu warten scheinen, ob sie wüssten, wie man nach Mamallapuram kommt. Drei Taxifahrer kommen ihnen zuvor, bieten mir die Tour für eintausendzweihundert Rupien an. Ich versuche, zu handeln. Die beiden Schönheiten mischen sich ein und raten mir, mit dem Bus zu fahren, der irgendwo hinter der Menschentraube abfahren soll, das koste nur achtzig Rupien und ginge genauso schnell. Die Taxifahrer geben nicht auf, während ich mich auf den Weg zum Bus mache. Sie unterbieten sich gegenseitig, bekommen sich gar in die Haare darüber, wer meinen Koffer ziehen darf. Ich sage immerzu: „Thank you, I take the bus.“

***

Der fahrende Schrotthaufen ist ungemütlich, rumpelt und hupt sich durch eine Stadt, die schon nach wenigen Minuten aussieht, als hätte sie einen schlimmen Bombenangriff hinter sich. Die Fassaden sind vielfach nicht vorhanden, Menschen bewegen sich in den Ruinen und wirken auf den ersten Blick wie Puppen in einem unaufgeräumten Puppenhäuschen. Kurzum, die Stadt liegt in Schutt und Asche, wer nicht auf seinem Steinhaufen kauert oder durch kaputte Räume geistert, ist Maurer, vermute ich. Alles wirkt wie inszeniert, die Bühne großartig, die Komparsen reichlich. Manche fegen die Straße mit selbstgebastelten Besen, andere klopfen mit winzigen Hämmerchen auf Steinen herum, fünf alte Frauen stapeln rote Ziegelsteine. Viele Menschen hocken einfach nur am Straßenrand und warten möglicherweise auf Anweisungen von ganz oben. Leicht bekleidete junge Männer sitzen auf Gerüsten aus Bambus, manche in schwindelerregender Höhe an gigantischen Betonpfeilern und scheinen die Aussicht zu genießen.

Ich frage mich, ob dieser Bus wirklich nach Mamallapuram fährt. Mich beschleicht immer mehr das Gefühl, wir dringen tiefer und tiefer in die Baustelle ein. Der Mann, der die Tickets verkauft, nickt mürrisch, sagt etwas von einem Busbahnhof, den Rest verstehe ich nicht. Ich wende mich dem Fahrgast hinter mir zu, auch er nickt, macht eine beschwichtigende Handbewegung. Alles ist gut. Ich bedanke mich, zeige aus dem Fenster, möchte wissen, was hier passiert sei. Er versteht nicht, was ich meine. Der junge Mann hinter ihm mischt sich ein, erklärt mir mit wenigen Worten und vielen Gesten, dass eine Hochstraße gebaut würde. Immer mehr ärmlich aussehende Menschen drängen in den Bus, sie wirken verschlossen und sprechen kein Wort miteinander.

Das Schlimmste an all dem ist aber nicht, dass Menschen ganz offensichtlich unter solchen unwürdigen Bedingungen leben müssen, sondern, dass ich hier stumpf sitze und kaum schockiert bin. Sie machen es einem aber auch nicht leicht, niemand weint, schreit oder beschwert sich, nicht einmal die Kinder. Die wenigen Kinder, die ich bisher aus dem Fenster gesehen habe, spielen zwischen den Trümmern Kricket oder führen mit einem Stock im Laufschritt einen Reifen spazieren.

Ich biete einer alten Frau meinen Platz an, die ihn nicht annimmt, also bleibe ich sitzen. Die Menschen riechen hier anders als in Deutschland, würziger, finde ich. Der Verkehr hat zugenommen, ist nicht zum Aushalten. Die Hupe dient als Kommunikationsmittel. Der Bus hält an, weil fünf Wasserbüffel seelenruhig die Straße überqueren. Sie sehen anmutig und stolz aus.

Das Bild der Stadt ist im nächsten Moment ein anderes, Häuser stehen dicht, rahmen die Straße, jedes trägt aufgepinselte Reklame. Am Straßenrand werden alle möglichen Waren und Speisen angeboten. Die Leute, die sich hier aufhalten, wirken lebhaft, unterhalten sich, lachen, feilschen, einige spielen Backgammon, trinken Tee. Mir fällt auf, dass beinah alle Männer Schnauzbart tragen. Zwei Straßen weiter zieht mir ein übler Geruch in die Nase. Wir nähern uns einem Slum, Schulter an Schulter stehen schiefe Baracken aus Bambus, Lehm und Wellblech, um die herum Berge aus Müll sind, auf denen kaum bekleidete dürre Menschen herumwühlen. Ein bärtiger Mann hisst eine zerfledderte weiße Flagge. Zwei Kinder werfen sich einen Ball zu.

Ich soll auf den Bus 568 C warten. Die anderen Wartenden trauen sich kaum, mich anzuschauen, habe ich das Gefühl. Ich beobachte die ankommenden Busse, die alle aussehen, als seien sie in den letzten Atemzügen. Meiner ist aber nach dreißig Minuten immer noch nicht dabei. Allmählich hat man sich an meine Anwesenheit gewöhnt, einige schauen neugierig, andere lächeln, dritte werfen mir verstohlene Blicke zu. Ich werde ungeduldig, glaube nicht mehr an den verdammten Bus. Außer Gesichtern, Abgasen und Lärm gibt es hier nichts für mich. Das Beste wäre, so schnell wie möglich aus dieser Stadt zu verschwinden. Aber wie? Das Schicksal hat Humor, das muss man ihm lassen, denke ich. Es will mir seinen verdammten Busbahnhof zeigen, und wer weiß was noch alles?

Ich hole mir bei einem der Stände einen Mango Lassi, der mir schmeckt und meine Stimmung etwas hebt. Ein alter Mann tritt an mich heran, er fragt mich in gutem Englisch, worauf ich hier warte. Ich starre ihn ungläubig an, der kleine Mann trägt ein schneeweißes Hemd, gebügelt mit Krawatte. Er erinnert mich an eine Marionette aus dem Kinderfernsehen, deren Name mir leider nicht einfällt. Als ich ihm antworte, lächelt er und bringt mich zu dem Busbahnhof hinter dem Busbahnhof, von wo die Busse andere Städte anfahren. Er redet mit den Fahrern, die mir bedeuten, zu warten. Mein Bus wird gleich kommen, heißt es.

„Thank you.“ Ich sage es mehrmals. „That’s nice.“

„You’re welcome.“

Ich schaue mich vergebens nach einem Mülleimer um, denke, Mülleimer wurden noch nicht erfunden, und schmeiße den Pappbecher in eine Ecke, wo anderer Müll herumliegt.

***

Der Bus fährt die gleiche Strecke zum Flughafen zurück, die ich gekommen bin, ist mein Verdacht. Diesmal ist der Verkehr noch stockender, teilweise geht gar nichts, die Autos, Lkws, Busse, Rikschas und Motorbikes stehen sich gegenseitig im Weg, jeder versucht den anderen zu überhupen. Ich stopfe mir Fetzen eines Taschentuchs in die Ohren, bin mir nicht mehr sicher, ob die Leute mit den leichten Werkzeugen damit beauftragt sind, die Stadt auf- oder abzubauen. So oder so, das Unterfangen wirkt ohne Baumaschinen aussichtslos, kein Bagger, kein Presslufthammer, nichts, die meisten arbeiten mit den bloßen Händen. Neben uns hält ein Bus, der völlig überfüllt mit Fahrgästen, Hühnern und Ziegen ist. Und auch in unseren Bus drängen immer mehr Menschen, weil es anfängt zu regnen. Ein Mann sitzt unangenehm nah an mir dran. Ich schau nach vorne durch die Windschutzscheibe. Der Scheibenwischer gibt den Takt an. Ich spüre einen leichten Druck auf der Blase. Die Stadt liegt mittlerweile hinter uns. Der klappernde Bus nimmt Fahrt auf, verwandelt sich in eine Rennmaschine, die schneller als jedes andere Gefährt mit Dauerhupe die Gegenspur für sich in Anspruch nimmt. Der Fahrtwind macht mir zu schaffen. Merkwürdig unbeteiligt betrachte ich alles, was mich umgibt, mache mir kaum Gedanken um das Leben da draußen, bin sprachlos. Die Landschaft kennt nur Felder und Palmen. Menschen hocken oder stehen vor ihren primitiven Häusern. Hunde streunen umher. Kühe und Ziegen liegen erschöpft am Straßenrand. Wenn ich genauer hinschaue, sehe ich wieder reichlich Müll, er flattert in den Büschen, hat sich vielfach festgetreten. Ich weiß aus Thailand, dass die Landbevölkerung sich gerne mit Müll umgibt, er steht für Wohlstand.

Meine volle Blase zwingt mich, vornübergebeugt zu sitzen. Ich denke darüber nach, zu sagen, dass ich aussteigen möchte, kann mich aber nicht durchringen, wer weiß, wann der nächste Bus kommt, und ob er überhaupt anhalten würde. Fast zwei Stunden später hat es der Fahrscheinverkäufer auf einmal ganz eilig, mich loszuwerden . Bevor ich mir noch in die Hose mache, greife ich mir meinen Rucksack, zwänge mich zur Tür. Auf einem Schild steht Mamallapuram und eine Fünf, ich kann mein Glück gar nicht fassen. Eine Fünf … eine Fünf.

Nach den längsten fünf Kilometern meines Lebens steige ich aus dem Bus in das schmuddelige Draußen, öffne die Gepäckklappe und zerre den dunkelroten Koffer hervor. Kaum habe ich die Klappe zugeschmissen, fährt der Bus weiter. Ich eile mit zusammengekniffenen Beinen auf ein Mäuerchen zu, öffne mir hektisch die Jeans und pinkle erleichtert los. Währenddessen kommt eine dreirädrige Rikscha angerumpelt, trötet ohne Unterlass, der Fahrer, beinah ein Kind, ist erfreut, mich zu sehen. Der Junge fährt mich in das Städtchen, er kennt sich aus, redet mit den Einheimischen, bald schon habe ich wenige Meter vom Strand im ersten Stock eines blauen Gebäudes eine günstige Unterkunft mit Bett und eigenem Badezimmer. Das Ganze war eine schlechte Wahl. Aber das begreife ich erst später. Die Wände sind bei genauer Betrachtung verschimmelt, das Bad ist völlig verrostet, es tropft und schmiert aus allen Ritzen, zum Anfassen ist hier nichts. Die Matratze ist nicht durchgelegen, wie man es sonst aus billigen Absteigen kennt, sondern hart wie ein Brett.

Trotz des leichten Regens gehe ich an den Strand, wo es deutlich windiger ist. Der Himmel ist schwer wie Blei und sieht aus, als würde er bald in den Ozean stürzen. Schmale bunte Fischerboote, schwere ölverschmierte Motoren und zusammengerollte Netze, die wie riesige Quallen aussehen, liegen kreuz und quer im Sand. Dazwischen Plastikflaschen, abgemagerte Kühe, hinkende Hunde und hockende Männer. Die Fassaden der Restaurants und Guest Houses, die an den Strand angrenzen, sind in knalligen Farben gehalten.

Ich schaue auf den gewaltigen Ozean, super Breitbild, er braust und schwappt, als würde einer das Aquarium hin und her wiegen.

Seit knapp dreißig Stunden habe ich nicht geschlafen, rechne ich aus. Gemessen daran, geht es mir gar nicht so schlecht. Zwei fliegende Händler, denen der warme Nieselregen auch nichts ausmacht, sprechen mich an, sie bieten Schmuck und Tücher. Ich habe nicht das geringste Interesse, zeige ihnen das Foto von Melek, auf dem der Wind ihre langen schwarzen Haare verweht, und sie lacht. Es ist das einzige Foto, das ich noch besitze, alle anderen hat sie mitgenommen oder verbrannt.

Einer der Händler meint, er hat ihr hier am Strand vor zwei Wochen ein Armband verkauft, was nicht sein kann, da sie da noch in Köln war.

Kurz vor meinem Guest House fragt mich ein langhaariger Bursche im Bob Marley-Shirt, der maximal fünfzehn oder sechzehn Jahre alt ist, ob ich Marihuana kaufen möchte. Ich bin nicht abgeneigt und schlage vor, dass er mir seine Ware oben auf meiner Terrasse zeigt. Das Zeug macht einen ganz guten Eindruck. Und eintausend Rupien für zwanzig Gramm Marihuana ist extrem billig. Ich bin dennoch unschlüssig, sollte ich tatsächlich wieder mit dem Kiffen anfangen? Und was passiert, wenn die Polizei mich mit so viel Gras erwischt? Ich sage, dass ich nur fünf Gramm brauche.

„All or nothing, that is the deal“, sagt er, und nimmt die Ware wieder an sich. „A lot of people –“

„Okay, okay.“

***

Kaum habe ich mich hingelegt, ertönt ein ohrenbetäubendes, fürchterliches Getrommel, Getröte und Gejaule, ich kann es gar nicht fassen, so laut ist das. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich keine drei Meter entfernt einen großen Lautsprecher an einem Mast, der genau auf mich ausgerichtet ist. Ich weiß nicht, ob die Musik Propagandazwecken dient oder hier jemand das Unterhaltungsmonopol auf die halbe Stadt besitzt. Ich ziehe mich wieder an, kaufe mir in einem kioskähnlichen Lädchen lange Blättchen, ein Päckchen Drum, Feuerzeug, Toilettenpapier und eine Flasche Wasser. Die Verkäuferin, eine ältere mollige Frau in einem feinen rotgoldenen Sari weiß auch nicht, wann die Musikdarbietung ein Ende hat. Sie sagt etwas von einem Festival und hebt anmutig ihren Kopf.

Als ich wieder auf die Straße trete, hat der Regen aufgehört, doch Windböen ziehen wie Gespenster durch die Gassen. Zwei Pärchen schlappen händchenhaltend Richtung Strand, die Verkäufer vor ihren Geschäften nennen sie Freunde und bitten, sie sollen doch eintreten, sich ihre Waren anschauen. „Is very good, very cheap. Everything is possible“, höre ich sie sagen.

Ich steuere auf die Pärchen zu, frage, ob sie diese Frau kürzlich gesehen haben und halte ihnen die Fotografie von Melek hin. Sie sprechen französisch mit mir. Ich sage mehrmals, dass ich nur Englisch und Deutsch verstehe, was sie mir nicht glauben, da sie immer weiter in ihrer Sprache reden. Aber das allgemeine Kopfschütteln lässt mich glauben, sie hätten Melek noch nie gesehen. Ich bin beinah beruhigt, mir wird klar, dass ich für ein Wiedersehen noch gar nicht bereit bin.

Um halb sieben bricht die Dunkelheit so plötzlich herein, als hätte einer einen Lichtschalter umgelegt. Wilde Hunde kreuzen meinen Weg wie Banditen, die darauf bedacht sind, nicht aufzufallen.

Ein Typ winkt mir und ruft: „Hello my brother, how are you?“

So hat mich schon lange keiner mehr angesprochen. Wir geben uns lässig die Hand wie zwei alte Sportsfreunde. Er führt mich in sein hellerleuchtetes Geschäft, stellt mir einen Stuhl hin, auf den ich mich dankbar niederlasse, und reicht mir einen Milchtee, der sehr süß ist. Der junge Mann möchte wissen, wo ich herkomme, was ich mache, wie es in Deutschland sei, wie lange ich in Indien bleiben werde, wo ich noch überall hin möchte. Ich antworte aufgrund meiner Müdigkeit sehr einsilbig und zeige ihm die Fotografie von Melek, die er sich kurz anschaut und meint, er habe sie vor circa einer Woche das letzte Mal gesehen. Sie war mehrere Tage im Ort und kam immer wieder hier vorbei. Auf meine Nachfrage, sagt er noch, dass sie glücklich wirkte und sich viele Freunde gemacht hat. Ich kann es mir lebhaft vorstellen, ihre kontaktfreudige Art nervte mich zuweilen.

Er erzählt, dass sein Geschäft wegen der Weltwirtschaftskrise schlecht läuft, möchte wissen, was ich über sein Ware denke. Seine Klamotten sind nicht mein Fall, über die Qualität kann ich nichts sagen, doch mir fehlt es an einer individuellen Geschäftsidee, denn sein Shop gleicht den anderen. Er weiß, was ich meine, sagt, diese Hemden und Hosen seien immer gut gegangen. Ich kaufe schließlich ein grüngraues Tuch, das einen vierarmigen Menschen mit Elefantenkopf zeigt, nachdem der Verkäufer mir erzählt hat, dass Shiva seinem Sohn Ganesha in der Wut den Kopf abgeschlagen hat, als er ihn daran hindern wollte, seine Mutter Parvati beim Baden zu stören. Kurz darauf habe es ihm leidgetan und setzte ihm einen Elefantenkopf auf.

Diese Geschichte verstehe ich auf Anhieb. Ich überreagiere auch manchmal, rede vernichtend, und kaum ist mein Gegenüber verletzt, schäme ich mich und relativiere mein Gequatsche.

***

Fünfzehn Minuten später sitze ich unter einem aus Bambus und Palmenblättern gebastelten Dach und esse Reis mit Fisch in zu scharfer Currysoße. Außer mir sind hier fünf weitere Gäste, ich vermute Israelis, die nach Beendigung ihres Militärdienstes gemeinsam Urlaub machen. Sie hocken auf Sitzkissen in der Chillout-Ecke, rauchen Shisha und spielen Karten. Ich winke dem Kellner und bestelle eine Cola, von der ich mir erhoffe, das sie gegen die Müdigkeit und das Brennen im Mund hilf. Ich frage ihn auch, ob ich den Ventilator so stellen kann, dass der Geruch von der Wasserpfeife nicht in meine Richtung zieht. Er guckt mich an, als sei ich etepetete, und vielleicht bin ich das ja auch und ein Hypochonder noch dazu. Ich erkläre ihm, dass mir der Geruch von künstlichen Aromen Übelkeit bereitet, was nicht übertrieben ist. Beinah hätte ich ihm auch noch erzählt, dass diese widerlichen Pfeifen mittlerweile auch in Köln an jeder zweiten Ecke herum stinken. Doch da hat er den Ventilator schon umgedreht und mir zugezwinkert.

Die Schwingtür geht auf, und ein Typ mit auffälligen Koteletten und viel Gel in den Haaren kommt herein. Er spricht mit dem Personal. Ganz offensichtlich gehört ihm das Restaurant. Kurz darauf ertönt ein Song der Dire Straits, der Sänger singt: „Where do you think you are going.“ Der Schlagzeuger hält sich noch dezent zurück, lässt den beiden Gitarren ihr zärtliches Vorspiel, dann scheppert er los, das Tempo des Liebesaktes steigernd, dass ich prompt eine Gänsehaut am Kopf bekomme.

Der Chef nimmt seinem Angestellten die Cola aus der Hand, bringt sie mir und fragt mich mit Berliner Zungenschlag, ob er sich kurz zu mir setzen könne. Bevor ich antworte, sitzt er auch schon an meinem Tisch.

„Hey, icke bin Axel.“

„Ron, freut mich.“

„Guten Appetit.“

„Danke.“

„Schmeckt es dir?“

Ich nicke und gähne.

„Die Inder, das sind ewige Kinder. Aber wenigstens halten die sich nicht für Rockstars, oder schlimmer noch, für Hippies, so wie die Israelis da.“ Er lacht über seinen Witz. „Immer slow down die Inder, keep cool. Was du heute kannst besorgen, besorgst du besser mal nächste Woche.“

Ich schlucke und putze mir den Mund ab. Im Hintergrund läuft eine weitere Rockballade.

„Schmeckt dir nicht, wa?“

„Doch, doch.“ Ich nehme noch einen Happen wie zum Beweis und lösche mit Cola.

„Kommst du aus Berlin?“

„Nein … Köln … Das liegt in NRW.“ Das Sprechen und Zuhören strengt mich an.

„Oh, ein Jeck, heute ohne Clownsnase unterwegs, wa? … Spaß.“

„Schon okay.“

Er nimmt aus der Brusttasche seiner Lederweste eine Packung Camel und zündet sich eine Zigarette an. Den Rauch pustet er nach rechts über seine Schulter. „Berlin boomt, wer hätte das gedacht. Jetzt regiert das Geld. Aus ist es mit dem Freigeist … Stört es dich, wenn ich rauche?“

„Nein.“

„Mich aber.“ Er schnippt die Kippe auf die Straße. „Bist du auf dem Weg nach Auroville?“

„Wieso?“ Ich erinnere mich vage, vor Jahren etwas über Auroville gelesen zu haben. Die Rede war vom Paradies in kleinen Schritten, ein Prozess. Der Meditationstempel, ein gigantischer goldener Golfball, von einem herrlichen Park umgeben, in dem die Bewohner wandelten, war abgebildet.

„Da wollen sie eigentlich alle hin, die sich hier aufhalten.“

„Was gibt es denn da Besonderes?“, stelle ich mich ahnungslos, was ich im Grunde auch bin.

„Auroville ist ein autonomes Gebiet mit eigener Verfassung und so, das vor über vierzig Jahren von der Mother gegründet wurde.“

„Mother?“

„Die gute Frau war die spirituelle Partnerin von Sri Aurobindo … Kennst du auch nicht, wa?“

„Nee.“

„Der ist in Indien ein berühmter Philosoph und Yogi gewesen.“

Ich stelle meine Ellbogen auf dem Tisch ab und massiere mir die Schläfen.

„Ich glaube, du gehörst ins Bett.“

„Ich glaube auch“, gähne ich.

„Allerdings, wer in Auroville leben möchte, muss bereit sein, das Göttliche Bewusstsein in sich zu entfalten.“

„Und Besucher?“

„Die sind befreit“, lacht er.

„Wie viele Götter leben da denn so?“

„Über zweitausend – die Hälfte sind Europäer, die meisten aus Frankreich und Deutschland.“

Plötzlich ist es stockfinster und die Musik aus.

„Stromausfall.“

„In der ganzen Straße?“

„Nein, in ganz Tamil Nadu. Willkommen in Indien.“

Es werden Kerzen angezündet.

***

Es windet und regnet stark, als ich aufwache, meine Füße jucken, sie sind total zerstochen. Ich stehe auf, ziehe mir die Hose an, setze mich nach draußen vor die Tür und drehe mir einen Joint. Ich sehe von meinem Platz einen Fetzen des schäumenden Ozeans, die Straße unter mir ist vom Regen geflutet, weit liegt beides nicht mehr auseinander. Das Dach über mir hält dicht. Der Weltuntergang war eigentlich für letzte Woche angekündigt. Wegen mir kann die Sintflut kommen. Manchmal braucht es einschneidende Veränderungen. So geht es doch nicht weiter. Welcher meiner Träume ist jemals in Erfüllung gegangen? Fußballer bin ich nicht geworden. Revolutionär auch nicht. Ich lache. Anstatt dass ich wenigstens Schriftsteller geworden bin, berate ich für die Arbeitsagentur Arbeitslose. Natürlich tue ich es auf meine Weise, doch das ist nur ein schwacher Trost und überhaupt keine Entschuldigung. Die Wahrheit ist, ich habe mich an den Staat verkauft.

Niemand wollte meine Texte, das war hart. Melek haben sie gefallen, auch dafür habe ich sie geliebt. Doch sie mochte es nicht, wenn ich zu viel Zeit auf das Schreiben verwendete, mich in meinem Wahn einschloss, sie und auch sonst niemanden sehen wollte. Ich vergaß zeitweilig selbst zu leben. Helle, die Hauptfigur in Komfortzone, war lange ein anspruchsvoller Freund, ihn konnte ich zuweilen beneiden, aber auch bedauern, eine wunderbare Mischung. Dieser Bursche war ein Phänomen beziehungsweise ein Charakter, der nur schwer zu fassen ist. Ob er sich neu verliebte, polternd philosophierte, als Psychologe, gesellschaftskritischer Redner oder Journalist agierte – von beinah nichts, was er tat und wofür er einstand, war er wirklich überzeugt … Vor über zwei Jahren wurde mein schriftstellerisches Selbstwertgefühl endgültig zu Grabe getragen, als ein österreichischer Verlag ernsthaftes Interesse an einer Veröffentlichung anmeldete, und es kurz vor Vertragsabschluss plötzlich hieß, ich solle mich an der Veröffentlichung mit fünftausend Euro beteiligen.

Ich solle ihnen bitte nichts mehr schicken, teilten mir damals schon Monate vor dem völligen Knock-out, zwei, drei andere Verlage mit. Eine Verlagslektorin riet mir gar, mir einen Ausgleich zum Schreiben zu suchen, mir würde der gesunde Abstand fehlen, man würde es merken. Sie hatte recht, ich lebte kaum noch für mich oder den Moment, sondern für die Literatur, wollte unbedingt meine Art, zu schreiben, durchziehen.

Ich lächle über mich selbst, was gut tut. Nie werde ich vergessen, wie ich zum ersten Mal von einem kleinen Verlag eingeladen wurde. Dieser Lektor wollte meine ganze Geschichte umstrukturieren, danach wäre sie der totale Pseudolinkenschrott gewesen, Helle einer, der sich und seine Gedanken und Ideen tatsächlich ernst nahm. Ha, ha!, mir kommen die Tränen.

Ich zünde die Tüte an. Das Gras wirkt erst gar nicht, dann ganz furchtbar, ich schaffe es so grade noch bis in mein Zimmer zurück, das Draußen braust, klappert, sabbert und schmatzt.

***

Ich betrete eine Cafébar, die voller Buddhafiguren ist, in der Mönche in dunkelroten Kutten bedienen, die mir zur Begrüßung zunicken und die Augen niederschlagen.

„Good morning“, sage ich.

Vier vergnügte ältere Gäste bearbeiten mit Zange und Hammer zum Frühstück einen großen Hummer. Ich mache wegen des Lärms, den sie machen, und dem Fettgespritze einen großen Bogen um sie, und wende mich dem Tresen zu, wo die Menüs mit Kreide auf einer Tafel geschrieben stehen. Ich weiß noch nicht, ob ich hier unter den Buddhisten bleiben möchte, weil wo ich hinschaue, sitzt Buddha und meditiert. Nicht dass ich etwas gegen ihn hätte, im Gegenteil, ich bewundere ihn auf gewisse Weise, und er ist mir um ein Vielfaches sympathischer als der leidende Jesus am Kreuz, doch einen Dauermeditierer in zehnfacher Ausführung brauche ich gerade auch nicht um mich.

Das Frühstücksangebot überzeugt mich schließlich hier zu bleiben. Ich bestelle, gehe nach oben auf die Dachterrasse, von wo ich den Strand, die hochstehende Sonne, die weiß durch die Wolken brennt, die Straße und die Händler im Blick habe. Wenn Melek noch in diesem Ort ist, wird sie hier vorbeikommen, bin ich mir sicher. Mein Fernglas erfüllt seinen Zweck wunderbar, ich erkenne sogar die tausend Jahre alten Gesichter mit den großen Glupschaugen an dem aus einem Fels gemeißelten pyramidenförmigen Tempel, der über einen Kilometer entfernt steht. Obwohl es erst elf Uhr ist, umkreisen Hunderte diesen Fels. Ein junger Mönch stellt mir das Frühstück hin, verneigt sich und ist so plötzlich verschwunden, wie er erschienen ist. Dabei wollte ich ihm noch die Fotografie von Melek zeigen, doch das kann ich auch später noch machen.

Mein Pancake mit Banane und Schokostreusel, das Cheese Omelett mit Tomaten, der frisch gepresste Orangensaft und der Milchtee schmecken exzellent. Merkwürdige Touristen sind das, die hier shoppen gehen, nicht viele zwar, sie sind überwiegend furchtbar farbenfroh gekleidet, wirken etwas runtergekommen. Von Melek auch um ein Uhr noch keine Spur, bestimmt ist sie in Auroville.

***

Ich handle in einem Reiseoffice mit einem Angestellten über den Preis für ein Taxifahrt nach Auroville, noch einmal werde ich nicht mit dem Bus reisen. Der stämmige, wohlgenährte Mann ist hartnäckig, verzieht keine Miene, der Preis scheint fix. In drei Stunden soll es losgehen, genug Zeit, um mir noch die roten Felsen und die Tausende Jahre alten Geschichten anzuschauen, die da in Höhlen gemeißelt sein sollen. Ich lasse meinen Koffer im Office.

Als ich die dreihundert Meter Touristenmeile verlassen habe, muss ich höllisch aufpassen, nicht alle paar Meter totgefahren zu werden, der Verkehr ist spiegelverkehrt, das kriege ich partout nicht in den Kopf. Ich komme an unzähligen kleinen Werkstätten vorbei, vor denen Männer mit Meißel und Hammer Götter aus Granit fertigen, was höllisch laut ist. Frischer bekommt man die Götter wahrscheinlich nicht mehr zu Gesicht, denke ich.

Ein muskulöser Steinmetz mit freien Oberkörper, der an einer vierköpfigen gut drei Meter hohen Figur herummeißelt, sagt mir auf meine Nachfrage hin, das soll mal Brahma werden, der, wie ich zufällig weiß, im Hinduismus der Schöpfer und somit einer der drei Hauptgötter ist. Hier in Mamallapuram werden seit hunderten Jahren die Götter hergestellt, die die indischen Tempel zieren, erfahre ich außerdem.

Kurz nachdem ich bei den roten Felsen ankomme, hat die Sonne auch die letzte Wolke weggedampft. Meine Poren öffnen sich, der Schweiß strömt mir aus der Haut, tropft in alle Richtungen, brennt in den Augen, mein T-Shirt und die Jeans kleben mir unangenehm auf dem Körper. Ich nehme mehrere Schlucke Wasser, krame meine Sonnenbrille hervor, sehe wie Familien aus einem modernen Reisebus steigen. Die Frauen tragen herrliche Saris, haben Blumen in den Haaren, die Männer Hemd, Anzughose und Schlappen. Die Kinder sind auch schick gemacht, besonders die Mädchen mit ihren aufwändigen Zöpfen. Die Leute knipsen munter und lassen sich alles genau erklären. Anscheinend war Mamallapuram noch bis vor ein paar Hundert Jahren eine bedeutende Hafenstadt, doch davon ist nichts mehr zu sehen, der Hafen ist irgendwann von der See verschluckt worden.

Ich schleppe mich den mit Büschen, Nadelbäumen und Palmen bewachsenen Hügel hinauf. Dort ist es schattiger, und es weht auch ein bisschen Wind. Die Aussicht ist grandios. Mamallapuram von oben, das Meer dahinter. Auf der anderen Seite sehe ich am Horizont ganz eindeutig ein Atomkraftwerk. Es flimmert da einsam auf weiter Flur, wie in der Wüste, das Meer zu Füßen. Ich hole meinen Camcorder hervor, setze den Akku ein und filme. Zwischen den Bäumen und Büschen stehen antike Säulen, Gebäude und Höhlen, in die Menschen und Tiere gemeißelt sind. Ich nehme alles auf, auch die Touristen sollen ins Bild.

Hoppla, wo kommen die Affen denn her? Beinah wäre ich über sie gestolpert. Die drei tragen ihren Hintern zu Schau, sie scharwenzeln um mich herum, wollen, dass ich ihnen dafür, dass ich sie filme, etwas gebe.

Ich sage: „Kusch, kusch, verschwindet.“

Sie weichen zurück, jedenfalls zwei von ihnen, der Dritte zieht plötzlich eine angriffslustige Fresse und attackiert mich. Ich erschrecke zutiefst, das kleine Äffchen, das mir nur bis zum Knie reicht, ist zu einer Bestie geworden und krallt sich an meinem Hosenbein fest. Ich versuche vergebens, ihn wegzuschleudern. Seine beiden Freunde schauen interessiert, während sie sich kratzen. Eine junge Frau kommt mir zu Hilfe, macht Lärm, meint auf Englisch, ich solle stillhalten, und tritt mir mit voller Wucht gegen die Wade. Ihr tut es sofort leid, mir schmerzt die Wade, sie erklärt, sie wollte den Affen treffen, der nun tatsächlich das Weite sucht. Ich stehe starr, den Camcorder immer noch im Anschlag, statt des flüchtenden Affen eine Elfe im Bild.

„Hat der dich gebissen?“, sagt sie, eine Deutsche, auf Inderin gemacht, nicht älter als zwanzig, hellblondes Haar, bei genauer Betrachtung keine Elfe, zu trotzig.

„Ich glaube nicht“, sage ich.

„Solltest aber schon genauer wissen, oder bist du gegen Tollwut geimpft?“

„Weiß nicht, warum?“, stelle ich mich blöd.

„Zwei Tage hast du, dann ist es zu spät für ein Gegengift.“

„Na dann.“

Wir reden noch über andere Dinge, der übliche Touristenkram. Ich komme von …, ich bin hier seit …, ich bleibe bis …, ich fahre bald nach … „Ach was, dann haben wir die gleiche Richtung.“

Ich biete ihr an, mit mir zu kommen, quasi als Gegenleistung, weil sie mir gerade das Leben gerettet hat. Sie meint, heute wolle sie nicht reisen, heute sei Silvester. Das Wort Silvester versetzt mir einen Stich. Für Melek ist Silvester der wichtigste Tag im Jahr, nur einmal haben wir es zusammen verbracht, auf Gran Canaria, lange ist das her. Auf Gran Canaria schliefen wir auch nach fünf Monaten Beziehung das erste Mal miteinander, dabei wollte sie unbedingt bis zur Hochzeit warten. Das mit der Jungfräulichkeit war ihr wichtig, nicht nur wegen ihrer Eltern. Dabei war ihr Häutchen schon lange vor mir kaputtgegangen. Doch von Hochzeit konnte zum Glück eh keine Rede sein, Meleks Eltern lehnten mich, einen Ungläubigen, kategorisch ab. Ja, sie hassten mich und übten am Telefon Psychoterror aus, schimpften ihre Tochter eine Nutte, drohten gar, sie zu enterben, wenn sie nicht zurück ins Elternhaus nach Gießen käme.

Ich leistete damals in Köln-Ehrenfeld meinen Zivildienst und flog wegen einer Auseinandersetzung, die ich mit den katholischen Nonnen hatte, aus dem Schwesternwohnheim , in dem ich Melek kennengelernt hatte. Meine Zivistelle besorgte mir daraufhin ein Zimmer mit Kochnische im Westend Hotel, das mitten im Industriegebiet lag. So kam es, dass Melek und ich zusammenzogen. Leider dauerte es nicht lange, und Meleks Eltern standen überraschenderweise eines Tages auf der Matte. Sie schrien und schimpften. Dass ich Melek die Wohnung nur untervermietet hatte, glaubten sie nicht, dafür lag zu viel Zeug von mir herum. Die Mutter war die Lauteste, der Vater, so ein Djingis-Kahn-Verschnitt mit blauen Schlitzaugen, scheuerte mir mit dem Handrücken eine, als ich mich schützend vor Melek gestellt hatte. Ich zuckte nicht einmal mit der Wimper, obwohl es wehtat, das machte Eindruck.

Melek weinte manchmal wegen ihrer durchgeknallten Familie, machte sich Vorwürfe. Ich durfte niemals auch nur ein schlechtes Wort gegen ihre Familie sagen, sie verteidigte sie heftig, meinte gar, sie hätte noch Glück gehabt. Ihre Eltern seien schließlich liberale Sunniten, andere moslemische Eltern hätten uns möglicherweise schon längs umgebracht. Ich sollte dankbar sein.

Ich schlage der Elfe vor, an den Strand zu gehen, dort könne man ja eine Kleinigkeit essen. Sie macht ein zustimmendes Gesicht. Wir steigen schweigend von dem Hügel herab, das süße Gebimmel ihrer Fußkettchen im Ohr. Das Schweigen wird mir zu viel, ich weiß nicht, was ich sagen soll, was mir im Kopf herumschleicht, ist nicht zu gebrauchen. Das Gehupe macht mich nervös, ja fast aggressiv. Ich möchte nett sein.

„Die Sackhose steht dir“, sage ich, als wir auf der Tourimeile ankommen, „verleiht deinem Gang etwas Schwebendes.“

Sie schaut zu mir hoch, ein wenig verunsichert, ein wenig belustigt, ein wenig auf der Hut. „Oh, danke … Wie geht es deiner Wade?“

„Besser.“

Die Händler reden mehr auf sie ein als auf mich, jeder trägt ihr sein Anliegen vor. Sie ist sehr geduldig, bleibt höflich und gelassen. Ich bin völlig mit meinem Schweiß beschäftigt und ziehe ein angestrengtes Gesicht, wenn mich mein Spiegelbild in den Schaufenstern nicht täuscht.

„Solltest dich mal im Meer abkühlen.“

„Hab keine Badehose.“

„Nimm doch die hier.“ Sie zeigt auf eine gelbrote Blümchenbermudahose.

„Ach, etwas Lächerlicheres als das hat der Indische Ozean bestimmt noch nicht gesehen, was?“

„Bist schlecht gelaunt?“, sagt sie.

Frauen lieben es offenbar, solche Sachen zu sagen, darin sind sie alle gleich. Melek sagte oft, ich solle nicht so böse schauen, ich sei schlimmer als jeder Türke. Dabei haben ihr meine früheren Eifersuchtsanfälle meistens gut gefallen, sie waren eine Art Liebesbeweis. Doch Eifersucht hat nie etwas mit Liebe zu tun, ist immer die Folge von einem schlechten Selbstwertgefühl oder Verlustängsten. Die Ursache der allermeisten Ängste ist in der frühen Kindheit zu finden, das habe ich lange unterschätzt. Meine Mutter war sehr jung und hübsch, alle paar Jahre stand ein neuer Stiefpapi auf der Matte. Manchmal glaubte ich, ich sei Schuld an den Streitereien, die meine Mutter mit ihren Kerlen hatte, weil so oft mein Name fiel. Später machte ich sie dafür verantwortlich. Natürlich hat alles im Leben eine lange Geschichte, eine sehr lange, sie reicht von Generation zu Generation. Mich wundert es jedenfalls nicht, dass ich mir Melek ausgesucht habe, eine, die ständig Liebesbeweise brauchte, eine, die wusste, wie man mich bespielte, Knöpfchen hier, Knöpfchen da, der Ron war wieder eifersüchtig. Verzeihen konnte Melek auch nur schwer. Immer wenn sie betrunken war, was nach der ersten Trennung immer häufiger vorkam, fiel ihr ein, was sie an mir nervte und was ich alles verbockt hatte – Eltern, Hochzeit, ich solle mich mit dem Politologiekram beeilen, weniger schreiben, Geld verdienen, nicht so viel kiffen, ihr mal was Schönes mitbringen, nie Blumen, Urlaub, Kinder, neue Wohnung. Dann entdeckte sie auch noch einen Pornofilm, warf mir vor, ich würde sie nicht lieben, ich sei ein Schwein … Schon nach drei Jahren hatte sie ein riesiges Repertoire an Vorwürfen zur Verfügung, um mich auf die Palme zu bringen. Aber sie konnte sich auch wunderbar über mein Geknurre, Getue und Gehampel amüsieren und Tränen lachen, bis ihr die Beine wegknickten. Und wenn es ihr mal zu viel wurde mit mir, mein Gequatsche sie anstrengte, war ich im nächsten Augenblick wieder artig, tat ich, als sei ich der liebenswerteste Junge unter dieser Sonne, zum Kuscheln immer bereit. Massieren, Streicheln, Küssen, Sex, für allerlei Zärtlichkeiten nahmen wir uns oft Zeit. Gerne spielten wir Backgammon ums Massieren. Leider verlor ich meistens. Mindestens sechs Stunden Massage hat sie noch gut bei mir.

Ich kaufe die Hose, ohne zu handeln, umgerechnet drei Euro ist doch nichts. Meine Begleitung betrachtet mich überlegen, meint, ich hätte viel zu viel bezahlt.

„Ist gegönnt“, sage ich, meine Laune ist tatsächlich im Keller, die Vergangenheit hat mich wieder an den Eiern.

Wir gehen ein paar Meter den Strand hinauf bis zu einer Stelle, wo es halbwegs sauber ist. Der Wind spielt mit ihren Haaren, etwas Schöneres konnte es nicht geben. Sie sagt mir, sonst sei es hier nicht so dreckig, der ganze Müll sei vor einigen Tagen mit der Flut gekommen, die Strömung habe sich verändert. Das Meer braust immer noch gewaltig, so wild kannte ich es eigentlich nur am Atlantik. Hinter einem Fischerboot ziehe ich mich um. Ein junger Mann nähert sich mir langsam, er sieht aus, als führe er etwas im Schilde. Ich blicke aufs Meer. Wenn man durch die ersten beiden Wellenbrecherstellen durch ist, dürfte es entspannter zugehen. Keine zehn Meter von mir hockt der Mann sich hin, hebt seinen Rock und kackt sich eine Wurst zwischen die Beine. Na toll, denke ich. Die Deutsche ruft mir zu, die Inder würden den Strand als Toilette benutzen, das sei am ökologischsten. Dann geht sie mit Klamotten ein Stück ins Wasser, sie macht es wie die Frauen, die wir auf dem Weg hierhin gesehen haben, und springt vor den Ausläufen der heranbrausenden Wellen davon. Ich baue mich neben ihr auf, hüpfe mit, das Wasser ist warm. Ich rufe, dass der Ozean wilder wirke, als er in Wahrheit sei. Sie lacht, als hätte ich einen Witz gemacht, und weist mich auf meine Armbanduhr hin.

„Die ist unzerstörbar“, sage ich.

„Hast wohl gerne die Zeit im Blick, was?“

„Zeit hat man, oder man hat sie nicht, besser man hat sie.“

Sie lacht wieder. Sie weiß nicht, dass mich diese Uhr mit Melek verbindet, ich habe sie erst kurz vor der Abreise wieder hervorgekramt. Melek hat sie mir vor fünf oder sechs Jahren zum Geburtstag geschenkt, eine schwarzsilberne Swatch ohne Sekundenzeiger, wasserdicht und mit braunem Lederarmband, so, wie ich sie mir gewünscht habe. Auf keinen Fall wollte ich eine Digitaluhr, und einen Sekundenzeiger sollte die Uhr auch nicht haben. Melek rief mich damals aus dem Geschäft an, meinte, die guten Armbanduhren mit Zeiger haben auch einen Sekundenzeiger. Dann will ich keine, sagte ich. Schlimm genug, dass die Zeit vergeht, doch beim Rasen muss ich ihr nicht zuschauen. Sie ließ den Sekundenzeiger beim Uhrmacher ausbauen.

Ich wage mich weiter rein in das Geschäume und Getöse, setze einen Kopfsprung durch eine hohe Welle und schwimme raus, immer weiter, die Wellen stets im Blick. Die blonde Wetterfahne taucht kurz hinter der schwappenden See auf, sie winkt mir vergnügt zu. Ich fühle mich großartig, werde etwas angehoben und winke zurück. Sie scheint sich nicht weiter hereinzutrauen. Erstklassige Surfergegend, der reinste Whirlpool für Götter, selbst Schuld, wenn sie sich nicht traut. Ich versuche, mein eigenes Surfbrett zu sein, ein Spiel, das ich mir vor vielen Jahren in Frankreich am Atlantik abgeguckt habe. Ich warte auf die passende Welle, schwimme, warte, ein paar kleinere lasse ich vorbeiwandern. Dann endlich schwappt sich das Wasser vielversprechend in die Höhe und kommt genau auf mich zu, ich bin in der richtigen Spur. Eine verdammte Wand aus Wasser ist das. Ich habe das Ungeheuer im Visier, schwimme so schnell ich kann, ein letzter Blick zurück. Die Welle ist früher als erwartet gestürzt, überschlägt sich, schäumt und brodelt hundert Fäuste. Ich tauche ab, zu spät, das Biest walzt einfach über mich hinweg, wirbelt mir die Körperteile auseinander. Ich weiß nicht mehr, wo oben und unten ist, mache Schwimmbewegungen, vermutlich in die falsche Richtung, kehre um, habe keine Luft mehr, der Hals wird mir eng, ich würge, gerate in Panik, schlage eine andere Richtung ein, suche das Licht. Jetzt ist es vorbei, also so war das gedacht, ertrinken sollte ich, dafür bin ich in Indien, nicht um Melek zu … Melek winkt mir, sie haucht mir gar einen Kuss zu, sie konnte sehr herzlich sein, eine richtige Stimmungskanone.

Ich sehe den Himmel, dahinter der endlose Ozean, bekomme wieder Luft, röchle und werde rücklings an den Strand katapultiert. Auf allen vieren krieche ich, huste erst salziges Wasser, kotze dann mein Frühstück aus. Eine Welle schwappt wieder über mich, saugt mich zurück tiefer ins Wasser, ich kralle mich am Meeresgrund fest. Das kann doch nicht wahr sein. Mit letzter Kraft richte ich mich auf, bin schwer außer Atem, das Wasser geht mir nur bis zur Hüfte, ich dachte, es wäre viel tiefer. Die Wetterfahne kommt angerannt, gestikuliert. Ich weiß gar nicht, was sie hat. Das Wasser zieht sich zurück, ich sinke tiefer in den Sand, blicke mich um. Dann sehe ich es auch, zu spät, eine weitere Welle haut mich um und spült mich Richtung Strand. Etwas Glitschiges versperrt mir die Sicht, der Himmel ist ins Rötliche getüncht, ich vermute, dass mir eine Qualle über den Kopf fließt. Ich will sie da weg haben, zerre dran, komme nicht mehr auf die Beine. Die Blonde greift mir unter die Arme, stützt mich, sagt etwas, das ich nicht verstehe, und hilft mir. Ich schaue sie von der Seite an, nur ein kurzer Blick, sie hat drollige Sommersprossen. Mir fällt auf, dass ich gar nicht ihren Namen weiß. Ich stolpere mit ihr ans Ufer, stürze, wälze mich im Sand, will das glibberige Zeug von meiner Brust haben. Mit einem Riss hat sie es in der Hand, eine ekelige rote Plastiktüte und lässt sie wie einen Drachen im Wind davonflattern. Ich atme schwer, halte mir den Hals, mir geht es ziemlich dreckig, zeigen möchte ich es nicht, und sie verkneift sich das Grinsen.

„Wie heißt du eigentlich?“, krächze ich, da kommt mir alles hoch, ich würge es noch zurück, nichts zu machen, in einem gewaltigen Strahl übergebe ich mich, kotze Wasser, den halben Ozean.

„Lena.“ Sie kniet neben mir, streichelt mir den Arm, bis alles draußen ist, ich völlig leer, durch, erleichtert. „Geht’s dir jetzt besser?“

Ich nicke tapfer. „Das Omelett war schlecht.“

Sie schaut mich mitfühlend an. „Ja, ja.“

Ich sage erst mal nichts mehr, dann frage ich, wo meine Sachen sind, mein Rucksack, verdammt. Sie legt mir die Hand auf den Unterarm, zeigt mit der anderen auf eines dieser schlanken Fischerboote. Ich würde gerne ein Schluck Wasser trinken. Während sie die Sachen holt, denke ich nach. Meinen Job will ich nicht mehr haben, damit ist es aus. Ich werde meinen Blick weiter schärfen, die richtigen Worte finden, nur für mich, im Geiste. Die Geschichten liegen auf der Straße, das ist es, worauf es ankommt, das Sehen, das Erkennen, das Fühlen, das Erfahren. Das Leben ist voll von kleinen Wundern, der Tod muss warten. Das Meer hatte mich bereits in seinem Rachen und wollte mich verschlingen. Aber es hat mich wieder ausgespuckt. Ich bin angeschlagen, mehr nicht.

***

Die Fahrt nach Auroville habe ich auf morgen elf Uhr verschoben. Das war Lenas Vorschlag, dann könne man zusammenfahren, meinte sie. Sie hat mir nach dem Essen ein schönes Zimmer in ihrem Guest House, dem Sunrise, verschafft. Es grenzt mit der Rückseite an einen Tümpel, der mit Seerosen und Lotosblüten zugewachsen ist. Die Fenster sind getönt und vergittert, sodass niemand hereinschauen, geschweige denn einbrechen kann. Mücken sind trotz der Moskitonetze dennoch im Zimmer. Zwei Zwillingsbrüder sind fürs Geschäftliche zuständig. Sie kommen mit elektrischen Tennisschlägern angerückt, knistern in meinem Zimmer herum, behaupten, die Mücken würden wegen der Frequenzen sterben. Was sie da machen, sieht merkwürdig aus, sie streifen umher wie übergeschnappte Schmetterlingsfänger in einem Computergame. Als sie wieder gehen wollen, sehe ich immer noch Mücken, keine Einzige haben sie gekriegt, das sage ich ihnen auch. Einer von den beiden kommt mit einem gekringelten dicken Räucherstäbchen zurück. Der Gestank soll die Mücken vertreiben. Wie sie allerdings aus dem Zimmer herauskommen sollen, verrät er nicht. Ich könnte ihnen die Tür aufhalten, aber das erscheint mir widersinnig angesichts des Tümpels und der Millionen anderen Mücken. Nein, nein, er ist sich sicher, ich müsse mir keine Sorgen mehr machen. Den Geruch vertragen die Mücken nicht, sie hassen ihn.

Ich gehe erst mal auf die Dachterrasse, bestelle gegrillten Fisch und Reis, und schaue über ein großes Gelände auf die Rückseite einer riesigen Bühne. Lena kommt zu mir an meinen Tisch, sitzen will sie nicht, sie sagt nur, da würden gleich indische Tänze aufgeführt. Sie sei zum Essen verabredet, ein Freund habe sie zu sich in die Familie eingeladen, wir würden uns morgen zum Frühstücken sehen.

Mir schwirrt das Wort Silvester im Kopf herum. Sollte ich diesen Übergang von einem Jahr ins nächste alleine verbringen? Es scheint so. Lena hat schon genug für mich getan. Ich nicke nur, sie dreht sich um, verschwindet, ohne noch irgendetwas zu sagen. Als ich sie auf der Straße unter mir sehe, rufe ich, sie solle gut ins neue Jahr kommen. Sie wirft mir einen verschlossenen Blick zu, sagt: „Du auch!“ Winken tut sie nicht, sie hat es eilig.

Ein Typ mit Stoppelfrisur und verblasster grüner Tätowierung auf dem Unterarm, der mir gestern schon irgendwo aufgefallen war, stellt sich neben mich, nickt mir mit roten Kifferaugen zu und zündet sich einen Joint an. Rauch hüllt ihn ein, der intensiv nach Gras riecht. Ich will mir gerade bei einem der Zwillinge eine Limonade bestellen, da hält der Typ mir den Joint unter die Nase und sagt: „Power Skung.“ Und grinst eine Grimasse, die mich an Halloween erinnert.

Ich zögere, will heute nicht schon wieder kiffen.

„Best stuff for Silvester.“

Na gut, denke ich. Zwei, drei Züge können nicht schaden. Wir bemühen uns um ein Gespräch, doch er spricht praktisch nur Russisch. Und eh ich mich versehe, fühle ich mich wie entstellt, als wäre der Kürbiskopf mein Spiegelbild. Ich verabschiede mich.

Mein Zimmer ist total verqualmt, Atmen kaum möglich, ich knipse das Licht an, schmeiße das Räucherzeug vor die Tür, schließe ab und schalte den Deckenventilator an, der eine Weile braucht, um ins Rotieren zu kommen. Bei Stufe vier habe ich das Gefühl, mein Zimmer wird jeden Moment abheben. Der Wind tut zwar gut, doch der Hubschrauberlärm nervt, weshalb ich zwei Gänge zurückschalte. Ich schaue mich nach Mücken um, bewege die Vorhänge, wo sie gerne lauern. Ganz offensichtlich hat es sie tatsächlich alle dahingerafft.

Ich ziehe mich aus, will kalt duschen, in der Hoffnung etwas nüchterner zu werden. Nur leider kommt kaum Wasser aus der Brause, und richtig kalt ist es auch nicht. Ich trockne mich mit einem winzigen Handtuch ab, das die Zwillinge mir mit einem Stück Seife auf den Spülkasten der Toilette gelegt haben.

Als ich mich in dem Spiegel mustere, der an der Tür des Kleiderschranks hängt, bin ich etwas enttäuscht. Ich habe erwartet, ich würde kräftiger aussehen. Dabei sind meine Arme eher schlank, meine Brust flach, der Bauch steht ein wenig wegen meinem Hohlkreuz vor, die Beine sind okay. Von der Seite sehe ich fast wie ein Fragezeichen aus, das auf dem Kopf steht. Doch immerhin finde ich mich von vorne einigermaßen attraktiv, der Anblick meines Penis und des Hodens erregt mich gar, sodass ich Lust bekomme, mir einen runterzuholen. Mit ein bisschen Fantasie und Fingerspitzengefühl – Von einer Sekunde auf die nächste stehe ich im Dunkeln mit meiner wilden Sexfantasie, den Schwanz in der Hand, der schneller erschlafft, als mir lieb ist. Ich taste mich bis zu meinem Bett und lege mich hin. Der Deckenventilator kommt allmählich zum Stillstand. Ich lausche in die Dunkelheit, höre eine Mücke, die den Giftgasanschlag überlebt hat, Stimmen und dumpfe Trommelklänge. Als die Mücke sich dem Geräusch und Gefühl nach auf meiner linken Wange niederlässt, haue ich mir zaghaft eine runter. Ob ich die Mücke erwischt habe, bezweifle ich. Ich versuche mich zu entspannen, indem ich mich aufs Atmen konzentriere und auf nichts eingehe, was mir so unangemeldet durch den Kopf geht, und sage mir, ja, ja, nun lass mal gut sein, das wird schon, viel zu jung, ach, ach … So, jetzt bin ich halt in Indien. Das mit dem Wichsen lassen wir heute mal. Obwohl, warum eigentlich?

So richtig einschlafen, tue ich zwar nicht, aber immerhin ein bisschen. Laut meiner Armbanduhr habe ich eine gute Stunde gedöst. Das Fest scheint dem Geräuschpegel nach voll im Gange zu sein. Ich raffe mich in die Senkrechte, ziehe mich an, zwänge mich in meine blauen Turnschuhe, beschließe, mir bald vernünftige Sandalen und eine kurze Hose zu kaufen.

Die Trommel-, Flöten- und Gitarrenklänge werden lauter, je mehr ich mich dem vorderen Geländer der Dachterrasse nähere. Von dort sehe ich vor der Bühne Leute unter bunten Lampions sitzen. Ich ringe mich dazu durch, mir das Ganze aus der Nähe anzuschauen.

Das Festival kostet keinen Eintritt, das Gelände bietet für bestimmt über zwei, dreitausend Leute Platz, ich schätze vierhundert sind zugegen, wobei das schwer zu sagen ist, vielleicht sind es auch nur dreihundert. Sicherheitsleute sind keine zu sehen, was in Deutschland undenkbar wäre. Gut situierte indische Familien mit Kindern, die Fangen spielen, und Touristen aus aller Welt sitzen auf Plastikstühlen, bestaunen den golden glitzernden Synchrontanz von verschleierten Schönheiten. Sie tanzen breitbeinig, die Körperteile ruckartig von sich werfend, drehend und mit Arm- und Fußreifen rasselnd, einer Choreografie folgend, die mir Schwindel bereitet. Einige Minuten halte ich durch, dann gehe ich mir eine medizinballgroße grüne Kokosnuss mit Strohhalm kaufen, an dem ich nuckle und sauge, als wäre es das Wunderbarste der Welt, dabei schmeckt es eigentlich nicht viel anders als leicht gesüßtes Wasser mit einem Hauch von Irgendwas. Doch genau dieses Irgendwas macht die Wirkung aus, denn ich fühle mich zunehmend erfrischt, klar und munter wie schon lange nicht mehr. Ich schlendere an gut beleuchteten Ständen vorbei, die Speisen, Schmuck, Plastikspielzeug und die üblichen Götter aus Granit verkaufen.

Ich würde meine leergeschlürfte Kokosnuss gerne in einen Mülleimer schmeißen, doch weit und breit ist keiner zu sehen. Einer der Verkäufer bietet mir an, sie zu entsorgen, wenn ich ihn richtig verstehe. Doch er spaltet sie mit einem kleinen Beil, kratzt das Essbare heraus, das weiß und glibberig ist, und reicht es mir in einem Stück Kokosnussschale. Ich esse das Zeug, das ein bisschen wie Sperma schmeckt, bedanke mich. Er lacht, ich weiß nicht warum, und schmeißt die Kokosnussabfälle hinter sich in die Düne.

Am Ende des Weges fängt ein für mich unbekannter Strandabschnitt an. Meine Augen brauchen einen Moment, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnen. Der Strand scheint nach rechts endlos lang zu sein. Zur linken Seite erkenne ich Zäune und die Silhouette des hinkelsteinförmigen Tempels, den ich heute Mittag durch mein Fernglas gesehen habe. Ich gehe geradewegs auf ein Kinderkarussell zu und schaue es mir genauer an. Das Karussell ist sehr alt, es wird mit einer Handkurbel angetrieben, die sich aber leider nicht bewegen lässt. Über dem Ozean taucht der Mond zwischen den Wolken auf, er sieht aus, als würde er auf dem Rücken liegen und in die Sterne schauen. Supermann fehlt sein rechter Superarm, erkenne ich. An ihm vorbei sehe ich Kinder, die auf das Karussell zulaufen, lachen, kreischen, sich um die gesichtslose Micky Maus, Pippi Langstrumpf, der eines ihrer beiden Zöpfe fehlt, das zerkratzte Einhorn, ein Boot, in dem ein Liebespaar sitzt und der Fährmann steht, streiten. Auf dem kaputten Feuerwehrauto und den kopflosen Schwänen will verständlicherweise keines der Kinder sitzen. Nachdem sie sich geeinigt haben, rufen sie etwas, das ich nicht verstehe, meinen wohl, ich solle kurbeln.

Ich sage: „Is broken.“ Und versuche vergebens, das Karussell auf andere Weise zum Drehen zu bringen. Die Kinder haben trotzdem ihre Freude, sie probieren ihr Englisch aus, wollen wissen, wie ich heiße, wie es mir geht und wo ich herkomme. Zum Abschied winken sie mir, was ich nett finde, und ich winke ebenfalls, während ich näher an die Wasserkante herangehe. Der Ozean hat sich im Vergleich zu heute Nachmittag eindeutig beruhigt, er plätschert verhältnismäßig leise vor sich hin. Das Wasser glitzert matt im Mondschein.

***

Ich stehe allein auf der Dachterrasse meiner Unterkunft und warte darauf, dass das neue Jahr endlich beginnt. „Kopf hoch, Jungs. Mund abputzen und weiter machen“, sagte mein Jugendtrainer Ulrich immer, wenn wir zur Halbzeit zurücklagen. Wie wahr, wie wahr.

Vom Festgelände werden zehn Minuten nach Mitternacht ein paar unspektakuläre Raketen in den Himmel geschossen. Nach guten Vorsätzen ist mir überhaupt nicht. Ich fühle mich einsam und ungeliebt. Genauer gesagt, ich bin von mir selbst enttäuscht. Ich jage mein ganzes Leben nun schon den falschen Dingen nach … „Danke, Herr Psychoanalytiker, gut dass wir mal darüber gesprochen haben“, denke ich laut, und lache gegen meine Traurigkeit an, die schließlich doch die Oberhand gewinnt. Worüber ich konkret weine, weiß ich nicht, und ich weiß es doch. Und eines Tages werde ich mich all dem stellen.

Nach nicht einmal zwei Jahren Beziehung wurde es richtig schlimm, wir hatten jeglichen Respekt voreinander verloren. Da wusste ich auch noch nicht, was ihr angeblich in meiner Abwesenheit widerfahren war … Wo war ich stehengeblieben? – Ach, genau. Sie drohte mit Selbstmord, wenn ich wieder abhaue, aus dem Fenster wollte sie springen. Ich habe sie an den Haaren von der Fensterbank geholt. Das war ein kräftezehrendes Drama, sie schloss mich mit ihr zusammen in ihrem Zimmer ein, drang wieder zum Fenster. Da platzte mir dann der Kragen, den Selbstmord würde ich ihr abnehmen, drohte ich, wenn sie nicht sofort den Schlüssel herausrückte. Diese elende Krankenschwester war schlank wie ein Model, aber sehr zäh, sie hatte Kraft wie ein Holzfäller. Doch ich geriet mächtig in Rage, verlor die Kontrolle, niemand hatte das Recht, so mit mir herumzuspringen. Irgendwann hatte ich den Schlüssel und ein zerkratztes Gesicht, sie ein zugeschwollenes Auge, den rechten Arm ausgerenkt und Nasenbluten, dass es nur so plitschte. Es war furchtbar, das Schlimmste, was passieren konnte. Wir waren wirklich am Ende, mir tat es furchtbar leid, ich wollte gehen, ich musste, so etwas durfte nie wieder geschehen, sollte sie sich doch umbringen. Kaum war sie über mich hinweggekommen, klingelte ich bei ihr, nachdem ich in Paris, Madrid, Lissabon, an der Algarve und in Marokko gewesen war. Wir waren beide ganz ausgehungert vor Liebeslust, der Sex brachte uns wieder zusammen.

***

Lena ist in der Nacht nicht nachhause gekommen, wie ich in Erfahrung bringe. Ich frühstücke alleine auf der Dachterrasse mit Blick auf den Tümpel, an dem zwei Frauen und ein Mädchen Wäsche waschen, sodass sich Schaumkronen bilden, die in der Sonne in Regenbogenfarben leuchten und beinah schöner als die Seerosen sind. Einer der Zwillinge kommt um Punkt Elf an meinen Tisch und stellt mir meinen Fahrer vor, der Velu heißt und mich rein optisch an Charles Bronson in klein erinnert, den ich als Kind wegen seiner stahlblauen Augen, dem bedrohlichen Lächeln und seiner linkischen, zuweilen kompromisslosen Art verehrt habe. Er war ein Mann der wenigen Worte, dem der Gemütszustand stets ins Gesicht geschrieben stand.

Velus weißes Fahrzeug sieht von hier oben gegenüber der einfachen Behausung einer Großfamilie, die um ein kleines Feuer auf dem Boden sitzt und Reis mit den Händen isst, wie ein Ding aus einer völlig anderen Welt aus. Ich frage, ob wir die Fahrt auf zwölf Uhr verschieben könnten. Er wiegt den Kopf hin und her, ist schließlich einverstanden, nachdem ich ihm einen Kaffee bestellt habe. Der Zwilling bringt ihm die Tageszeitung, die er mit finsterer Miene liest. Ich hole mir derweilen meinen Roman, lese ebenfalls, bekomme aber diesmal keinen Zugang zu der Geschichte, die mir vor drei Tagen noch gut gefallen hat. Komischerweise sehe ich hinter beinah jedem Satz den Autor vor meinem inneren Auge, der ein ziemlich schrulliger französischer Intellektueller ist, mit dem ich mich gerne mal über Sartre, Céline und die Zukunft der Menschheit unterhalten würde.

Um zwölf spendiere ich Velu noch einen Kaffee und verschiebe die Abfahrt auf ein Uhr, was er mit einem Mikronicken zur Kenntnis nimmt. Der andere Zwilling kommt auf die Dachterrasse, grüßt uns heiter und unterhält sich mit meinem Fahrer auf Hindi, während er die Pflanzen gießt. Auch wenn ich kein einziges Wort verstehe , die Sprache gefällt mir, sie klingt harmonisch und weich. Ich unterbreche sie und frage den Zwilling, ob er eine Ahnung hat, wo Lena sein könnte, doch er hat keinen blassen Schimmer. Ich erwäge, sie suchen zu gehen, entscheide mich aber dagegen, weil sonst komme ich hier gar nicht mehr weg, befürchte ich. Um zwei Uhr fahren wir letztendlich ohne Lena los. Ich habe ihr eine Nachricht und meine E-Mail-Adresse hinterlassen, ihr geschrieben, dass ich mir Sorgen gemacht habe, sicher unbegründet, ihr für alles gedankt, mich auf ein Wiedersehen freue. Frohes neues Jahr!

Der Wagen ist geräumig und sauber, am Rückspiegel baumelt eine blaue Figur, die auf einer Kuh reitet und Flöte spielt. Die Fenster sind geschlossen, weil die Klimaanlage angeschaltet ist. Ich sitze hinterm Beifahrersitz wie in einer Limousine, bin aus allem raus, muss nichts machen, das Draußen ist zugleich nah und weit entfernt, gleitet stumm an mir vorüber. Die Menschen auf den Straßen wirken beschäftigt wie Armeisen, die gelassen übereinander herkrabbeln. Ich vermute in ihnen eine innere Grundleere, von der ich nur lernen kann. In meinem Kopf geht es ja meistens munter zu. Vielen wäre das sicherlich zu viel, mir ja auch, zugegeben, manchmal gehe ich mir regelrecht auf die Nerven. Und dennoch, ich lasse den Geist machen, der ich ja selbst bin, vertraue mir, wenn es gut läuft, versuche nicht zu hadern, nicht zu kritisch mit mir zu sein – und wenn dann doch, na gut, auch okay … Der Dalai Lama meint, man müsse seinen Geist bändigen, sonst bringe er einem Krankheit und Leid. Deshalb gibt es ja die ganzen Meditationsübungen und die Mantras. Für mich ist das nichts. Ich bin alles, was ist. Warum sollte ich weniger sein wollen? Ein jeder belügt sich auf seine Weise – auch der Klügste oder Weiseste oder Leerste oder Erleuchteste unter uns. Da braucht sich niemand etwas vorzumachen, auch nicht der Dalai Lama.

Velu fragt mich, nachdem wir die Stadt hinter uns gelassen haben und im Windschatten eines Lkws an einem nicht enden wollenden Maisfeld entlangfahren, ob ich Hunger habe. Ich verneine, aber wenn er will, soll er ruhig anhalten, ich habe es nicht eilig, sage ich. Im nächsten Dorf parkt er am Straßenrand. Ich setze mir die Sonnenbrille auf, steige aus und begleite ihn. Sechs, sieben Bretterbuden bieten gekochten, gegrillten und frittierten Mais, sonstige Speisen, Werkzeuge, Wasser in Plastikflaschen, das teurer ist als das Benzin in den Wasserflaschen. Ich kaufe mir Wasser und frage Velu, ob ich gerade den Touristenpreis bezahlt habe, und er sagt, nein, die Wasserpreise sind stark gestiegen, seit Indien sein Grundwasser an die Konzerne verkauft hat, und spuckt aus. Ich schaue mir die Flasche genauer an, in winziger Schrift steht unten Nestlé drauf.

Der Geruch nach Zimt und warmer Milch steigt mir in die Nase. Wir kommen an Männern vorbei, die schweigend Chai trinken und mich ausdruckslos betrachten. Frauen sehe ich keine, die sind wohl allesamt zuhause. Hunde liegen im Schatten und rühren sich nicht. Drei Kühe versuchen die Straße zu überqueren, ein Auto hupt sie zurück. Vor uns hält ein Bus, Kinder in Schuluniform und mit großen Schulranzen auf dem Rücken kommen aus ihm herausgesummt wie ein Schwarm Bienen in einer Welt voller Blumen. Sie winken uns vergnügt, was wir erwidern. Einige der Männer in den Bretterbuden lächeln dezent über den Anblick der Kinder und wirken plötzlich lebendiger. Es gibt wirklich nichts Heilsameres als Kinder, denke ich.

Velu bekommt frittierte Gemüsebällchen aus Mais und Kichererbsen mit verschiedenen Soßen zum Dippen. Ich nehme auch eine Portion und bin überrascht, wie lecker es ist. Er freut sich, dass es mir schmeckt und fragt mich, wie mir Indien gefalle. Ich schaue an ihm vorbei, beobachte die Kinder, die eines nach dem anderen von ihrer Mutter abgeholt werden, und die mit ihrer Fröhlichkeit und den ordentlichen Uniformen überhaupt nicht zum Rest des Dorfes passen, das mir wie provisorisch hingezimmert vorkommt.

Ich antworte Velu, dass ich mir in diesem Land bisher ziemlich fremd vorkomme und mich das Gewissen plagt, weil es hier so viele arme Menschen gibt, deren Anblick mir kaum erlaubt, mich selbst zu bedauern. Und wie ich mich so reden höre, unterstelle ich mir, dass ich ziemlichen Blödsinn von mir gebe, weil es mir nicht zusteht, über andere zu urteilen, schon gar nicht, wenn ich nicht den Hauch einer Ahnung habe, wie es ist, zum Beispiel hier umgeben von Feldern zu leben. Dennoch frage ich mich, wo sollen die Kinder hier spielen? Ich blicke flüchtig in die Gesichter der Erwachsenen, wüsste gerne, was sie bewegt und worüber sie gerade nachdenken, und mich beschleicht das Gefühl, sie sind genauso unglücklich wie ich. Sie haben aber den Vorteil, dass sie wiedergeboren werden. Ihr nahender Tod hat somit keinen Biss, meiner schon.

Velu blickt kauend an mir vorbei in den blauen Himmel , unter dem das brusthohe Maisfeld so grün leuchtet wie ein Bergsee in den Alpen. Ich entschuldige mich bei ihm, sage, dass ich erst seit zwei Tagen in Indien bin und nichts über dieses Land weiß, außer, dass hier irgendwo meine ehemalige Freundin herumschwirrt, die ich suche.

Wieder im Auto sitzend erzählt er mit wenigen Blicken in den Rückspiegel, dass er seine Freundin vor sechs Jahren verloren hat. Wenn ich ihn richtig verstehe, hat die Kaste nicht gestimmt, sie wurde mit einem anderen Mann verheiratet. Ob er gerade traurig, wütend oder zufrieden ist, kann ich nicht erkennen. Er hat Streit mit seiner Familie, fügt er hinzu. Ich versuche Anteilnahme zu zeigen. Dabei belassen wir es. Ich schließe die Augen, schwelge in Kindheitserinnerungen, muss schmunzeln und bin zugleich etwas traurig. Als ich die Augen wieder öffne, fahren wir gerade über eine Art Deich oder Brücke, die über einen großen See führt, der im Meer mündet, an dem Fischreiher jagen, den hagere schwarze Männer mit Netzen durchwandern, in dem Wasserbüffel suhlen, auf deren Rücken weiße Vögel picken.

Das Kino bin ich

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