Читать книгу Das Böse, das wir lieben - Robin Wasserman - Страница 4

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Es gab so viele Methoden, einen Brief zu vernichten, überlegte Simon Lewis. Man konnte ihn zu Konfetti zerschnitzeln. Man konnte ihn anzünden und verbrennen. Man konnte ihn an einen Hund verfüttern oder an einen Hydra-Dämon. Oder man konnte sich mit freundlicher Unterstützung des örtlichen Hexenmeisters nach Hawaii teleportieren lassen und den Brief in einen Vulkankrater werfen. Angesichts all dieser Briefvernichtungsoptionen war die Tatsache, dass Isabelle Lightwood seinen Brief unversehrt zurückgeschickt hatte, vielleicht von Bedeutung, dachte Simon. Vielleicht war das ja ein gutes Zeichen.

Oder wenigstens ein nicht-ganz-so-schlechtes Zeichen.

Zumindest hatte Simon sich das während der vergangenen Monate einzureden versucht.

Doch er musste sich eingestehen: Wenn man bedachte, dass es sich bei besagtem Brief irgendwie schon um so was wie einen Liebesbrief handelte – ein Brief, in dem tief empfundene, demütigende Sätze standen wie »Du bist umwerfend« und »Ich weiß, dass ich tief in mir drin derselbe Typ bin, den du geliebt hast« –, und wenn dieser Brief schließlich ungeöffnet zurückkam, mit dem Vermerk ZURÜCK AN ABSENDER in rotem Lippenstift, dann war »nicht-ganz-so-schlecht« vielleicht ein wenig zu optimistisch.

Immerhin hatte sie ihn als »Absender« bezeichnet. Simon war sich ziemlich sicher, dass Isabelle einige andere deftige Bezeichnungen für ihn auf der Pfanne hatte, nicht halb so freundlich wie diese. Auch wenn ein Dämon ihm sämtliche Erinnerungen genommen hatte, so war seine Beobachtungsgabe völlig intakt – und er hatte durchaus beobachtet, dass Isabelle Lightwood nicht zu der Sorte Mädchen gehörte, die sich gern abweisen ließ. Allen Naturgesetzen und jeglichem gesunden Menschenverstand zum Trotz hatte Simon sie gleich zwei Mal abgewiesen.

Er hatte versucht, es ihr in dem Brief zu erklären, und sich dafür entschuldigt, dass er sie von sich gestoßen hatte. Er hatte ihr gestanden, wie sehr er sich wünschte und darum kämpfte, wieder die Person zu werden, die er einst gewesen war. Ihr Simon. Oder zumindest ein Simon, der ihrer würdig war.

Izzy – ich weiß nicht, warum du auf mich warten solltest. Aber falls du dich dazu entschließt, verspreche ich dir, dass sich das Warten lohnt, hatte er geschrieben. Ich werde es zumindest versuchen. Ich verspreche dir, dass ich es zumindest versuchen werde.

***

Genau einen Monat, nachdem er ihn abgeschickt hatte, war der Brief ungelesen zurückgekommen.

Die Tür seines Zimmers öffnete sich knarrend und Simon stopfte den Brief hastig in die Schreibtischschublade zurück. Darauf bedacht, nicht an die Spinnweben und Schimmelflecken zu stoßen, mit denen jedes Möbelstück im Raum überzogen war – ganz gleich, wie eifrig er auch putzte und wienerte. Aber er war nicht schnell genug.

»Nicht schon wieder dieser Brief?!«, stöhnte Simons Mitbewohner George Lovelace. Er warf sich aufs Bett und legte melodramatisch einen Arm über die Stirn. »Oh, Isabelle, meine Liebste, wenn ich nur lange genug auf diesen Brief starre, kann ich dich ja vielleicht auf telepathischem Wege zurückgewinnen und dazu bringen, an meinen weinenden Busen zurückzukehren.«

»Ich habe keinen Busen«, erwiderte Simon mit so viel Würde, wie er nur aufbringen konnte. »Und selbst wenn: Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht weinen würde.«

»Dann halt ›wogender Busen‹? Das tun Busen doch, oder?«

»Ich habe bisher nicht so viel Zeit in ihrer unmittelbaren Nähe verbracht«, räumte Simon ein. Zumindest konnte er sich nicht daran erinnern – mal abgesehen von dem unterbrochenen Versuch in der neunten Klasse, als er mit Sophie Hillyer herumgemacht hatte. Aber ihre Mutter war ins Zimmer geplatzt, bevor er den Verschluss von Sophies BH auch nur gefunden hatte – vom Öffnen ganz zu schweigen. Und dann hatte es, wahrscheinlich irgendwann, noch Isabelle gegeben. Simon hatte sich die ganze Zeit größte Mühe gegeben, nicht weiter daran zu denken. Der Verschluss an Isabelles BH; seine Hände auf Isabelles Körper; der Geschmack von …

Heftig schüttelte Simon den Kopf, beinahe kräftig genug, um wieder auf andere Gedanken zu kommen. »Können wir bitte aufhören, über Busen zu reden? Am besten für immer?«

»Ich hatte nicht vor, dich bei deiner superwichtigen Trübsalblaserei zu unterbrechen.«

»Ich blase kein Trübsal«, log Simon.

»Klasse.« George grinste triumphierend und Simon erkannte, dass er offenbar in eine Falle getappt war. »Dann kannst du ja mit nach draußen zum Trainingsgelände kommen und mir helfen, die neuen Dolche zu testen. Wir veranstalten einen Sparringskampf, Irdische gegen Elite. Die Verlierer müssen eine Woche lang eine Extraportion Suppe auslöffeln.«

»Wow, Schattenjäger wissen echt, wie man feiert«, meinte Simon sarkastisch; allerdings war er nicht mit dem Herzen dabei. Denn in Wahrheit verstanden seine Mitschüler durchaus zu feiern, auch wenn ihre Vorstellungen von einer gelungenen Party in der Regel den Gebrauch scharfer Waffen beinhalteten. Da sie die Prüfungen hinter sich hatten und die Jahresabschlussparty und der Beginn der Sommerferien nur noch eine Woche entfernt waren, glich die Schattenjäger-Akademie eher einem Ferienlager. Simon konnte kaum fassen, dass er ein ganzes Schuljahr hier verbracht hatte … und dass er es tatsächlich überlebt hatte. In den vergangenen Monaten hatte er Latein gelernt, konnte Runen zeichnen und schreiben und sprach ein paar Brocken Cthonisch. Er hatte gegen winzige Dämonen im Wald gekämpft, eine ganze Vollmondnacht in der Gegenwart eines Werwolffrischlings ertragen, hatte ein Pferd geritten (und sich dabei fast von dessen Hufen niedertrampeln lassen) und sein eigenes Körpergewicht in Suppe vertilgt. Während der ganzen Zeit war er weder von der Schule verwiesen worden noch verblutet. Er hatte sogar genügend Muskeln entwickelt, dass er seine Damenmontur gegen eine Kampfmontur für Männer hatte tauschen müssen (auch wenn es die kleinste verfügbare Größe war). Und entgegen allen Erwartungen hatte sich die Akademie irgendwie zu einem Zuhause entwickelt. Okay, ein schleimiges, schimmliges, verliesartiges Zuhause mit defekten Toiletten, aber immerhin ein Zuhause. George und er hatten sogar den Ratten, die in den Mauern lebten, Namen verpasst. Jeden Abend ließen sie für Jon Cartwright Jr., III. und IV. ein paar trockene Brotkrumen zurück, weil sie hofften, dass die Nager diese Brocken menschlichen Zehen vorzogen.

In dieser letzten Schulwoche drehte sich alles ums Feiern, um spätnächtliche Gelage und um Dolchkämpfe mit niedrigen Wetteinsätzen. Aber Simon kam einfach nicht in die richtige Stimmung, um sich zu amüsieren. Vielleicht lag es am drohenden Schatten, den die bevorstehenden Sommerferien warfen … die Aussicht darauf, an einen Ort zurückzukehren, der sich nicht länger wie sein Zuhause anfühlte.

Vielleicht lag es aber auch – wie üblich – an Isabelle.

»Ja, du hast hier definitiv mehr Spaß, allein und schmollend«, konterte George spöttisch, während er seine Kampfmontur überstreifte. »Blöd von mir, dir was anderes auch nur vorzuschlagen.«

Simon seufzte. »Du verstehst das nicht.«

George hatte das Gesicht eines Filmstars, einen schottischen Akzent, sonnengebräunte Haut und die Sorte von Muskeln, bei deren Anblick die Mädchen ins Schwärmen gerieten – sogar die Schülerinnen der Schattenjäger-Akademie, die vor Simons Ankunft offenbar noch nie einen Jungen ohne Waschbrettbauch gesehen hatten. Probleme mit Mädchen, insbesondere solche Probleme, die Demütigungen und Abblitzen umfassten, waren George vollkommen fremd.

»Nur dass ich das richtig sehe«, setzte George an, dessen ausgeprägten Akzent sogar Simon einfach charmant fand, »du kannst dich nicht daran erinnern, dass du mit diesem Mädchen zusammen warst, oder? Du kannst dich nicht erinnern, dass du in sie verliebt warst, und auch nicht daran, wie es war, als ihr beide …«

»Stimmt«, warf Simon hastig ein.

»Oder ob ihr zwei überhaupt jemals …«

»Auch das stimmt«, unterbrach Simon ihn erneut. Dieser Aspekt des dämonenbedingten Gedächtnisschwunds nervte ihn am meisten. Welcher Siebzehnjährige außer ihm wusste nicht, ob er noch Jungfrau war oder nicht?

»Und weil deine kleinen grauen Zellen ganz offensichtlich den Dienst eingestellt haben, erzählst du diesem hinreißenden Wesen, dass du sie komplett vergessen hast, und weist sie in aller Öffentlichkeit ab. Und danach reagierst du überrascht, wenn sie nichts mehr von dir oder deinem schmalzigen Liebesbrief wissen will, und verbringst die nächsten zwei Monate damit, ihr hinterherzuschmachten. Hab ich das so weit richtig verstanden?«

Simon ließ den Kopf in die Hände sinken. »Okay, wenn man es so formuliert, ergibt es keinen Sinn.«

»Doch, doch – ich hab Isabelle Lightwood gesehen und es ergibt total Sinn.« George grinste. »Ich wollte nur mal die Fakten klären.«

Er war aus der Tür, bevor Simon klarstellen konnte, dass es ihm nicht um Isabelles Äußeres ging – auch wenn sie für ihn natürlich das hübscheste Mädchen der Welt war. Es ging auch nicht um ihre langen, seidig-schwarzen Haare oder die unergründlichen braunen Augen und auch nicht um die unfassbar geschmeidigen Bewegungen, mit denen sie ihre Elektrumpeitsche schwang. Simon konnte nicht erklären, worum es genau ging, denn in einem hatte George recht: Er besaß keinerlei Erinnerung an Isabelle oder an ihre gemeinsame Zeit als Pärchen. Er hatte ja noch immer Probleme zu glauben, dass sie tatsächlich ein Paar gewesen waren.

Aber er wusste ganz tief im Inneren und jenseits von Vernunft und Erinnerungsvermögen, dass ein Teil von ihm zu Isabelle gehörte, ihr womöglich sogar ganz und gar gehörte. Egal ob er sich daran erinnerte oder nicht.

Auch Clary hatte er einen Brief geschickt. Darin hatte er ihr erklärt, wie sehr er sich wünschte, sich wieder an ihre Freundschaft zu erinnern, und sie um ihre Hilfe gebeten. Im Gegensatz zu Isabelle hatte sie ihm geantwortet und beschrieben, wie sie sich kennengelernt hatten. Das war der erste Brief eines langen Briefwechsels gewesen, der Episode um Episode der großartigen und abenteuerlichen Geschichte von Clarys und Simons Freundschaft aufschlüsselte. Je mehr Simon las, desto mehr fiel ihm wieder ein und manchmal berichtete er Clary von eigenen Anekdoten, an die er sich erinnerte. Diese Art der Kommunikation per Brief fühlte sich sicherer an, weil nicht das Risiko bestand, dass Clary irgendetwas von ihm erwartete und er sie dann enttäuschte und den Schmerz in ihren Augen sah, wenn ihr wieder einmal bewusst wurde, dass ihr Simon nicht mehr existierte. Mit jedem Brief fügten sich Simons Erinnerungen an Clary wie Puzzleteile mehr und mehr zusammen.

Bei Isabelle lag der Fall anders: Simon hatte das Gefühl, als wären seine Erinnerungen in einem schwarzen Loch begraben – ein gefährlicher und hungriger Abgrund, der ihn zu verschlingen drohte, wenn er ihm zu nahe kam.

Simon war nicht zuletzt deshalb an die Akademie gewechselt, um vor seinem schmerzhaften und verwirrend doppelsichtigen Blick auf die Vergangenheit zu fliehen, vor der kognitiven Dissonanz zwischen dem Leben, an das er sich erinnerte, und dem, das er tatsächlich geführt hatte. Das Ganze ließ ihn an diesen schlechten alten Witz denken, den sein Vater so geliebt hatte. »Herr Doktor, mein Arm tut weh, wenn ich diese Bewegung mache«, hatte Simon dann angesetzt. Und daraufhin hatte sein Vater in einem grauenhaften deutschen Akzent – seiner Version einer »Arzt-Stimme« – geantwortet: »Dann … machen Sie diese Bewegung doch einfach nicht.«

Solange Simon nicht über die Vergangenheit nachdachte, konnte diese ihn auch nicht verletzen. Aber in letzter Zeit fiel ihm das zunehmend schwerer.

Der Schmerz war einfach mit zu viel Lust verbunden.

Das Böse, das wir lieben

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