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ОглавлениеWas ich in den Sommerferien gemacht habe
von Simon Lewis
In diesem Sommer habe ich in Brooklyn gewohnt. Ich bin jeden Morgen durch den Park gelaufen. Eines Morgens bin ich einer Nixe begegnet, die im Hundeteich lebt. Sie hatte …
Simon Lewis hielt inne, um in seinem Wörterbuch Englisch – Cthonisch das Wort für »blond« nachzuschlagen, aber er fand keinen Eintrag. Anscheinend spielten bei den Wesen der Dämonendimensionen Begriffe wie »Haarfarbe« keine Rolle. Und offenbar galt das auch für Wörter, die sich auf Familie, Freundschaft und Fernsehen bezogen, wie Simon feststellte. Nachdenklich knabberte er am Radiergummi seines Bleistifts, seufzte und beugte sich erneut über sein Heft. Er musste seinem Cthonisch-Lehrer am nächsten Morgen einen fünfhundert Worte langen Aufsatz zum Thema Sommerferien abliefern und nach einer Stunde konzentrierter Arbeit hatte er schätzungsweise … dreißig Worte geschrieben.
Sie hatte Haare. Und …
… einen gewaltigen Vorbau.
»Ich versuche nur zu helfen«, sagte Simons Mitbewohner George Lovelace, der sich über Simons Schulter gebeugt und den Satz für ihn vollendet hatte.
»Erbärmlich«, erwiderte Simon, konnte sich ein Grinsen aber nicht verkneifen.
Er hatte George während des Sommers vermisst, und zwar stärker als erwartet. Genau genommen hatte er all das hier stärker vermisst als erwartet – nicht nur seine neuen Freunde, sondern auch die Schattenjäger-Akademie, den vorhersehbaren Tagesablauf und all die Dinge, über die er sich monatelang beschwert hatte. Der Schleim, die muffigfeuchte Luft, das Rascheln und Piepsen der Kreaturen hinter den Mauern … Simon hatte sogar die Suppe vermisst. Während seines ersten Jahrs an der Akademie hatte er sich ständig Sorgen gemacht, dass er irgendwie fehl am Platz sei – dass die Schulleitung jeden Moment erkennen würde, dass ihr ein schrecklicher Fehler unterlaufen war, und ihn umgehend nach Hause schicken würde.
Erst als er wieder in Brooklyn war und versuchte, in seiner Batman-Bettwäsche zu schlafen, während seine Mutter im Nebenzimmer schnarchte, wurde ihm bewusst, dass er sich in seinem Elternhaus nicht länger zu Hause fühlte.
So unerwartet und unerklärlich das auch sein mochte: Die Schattenjäger-Akademie war nun sein Zuhause.
Park Slope war nicht mehr das Viertel, das er von früher kannte: Jetzt tummelten sich Werwolfwelpen auf der Hundewiese im Prospect Park und boten Hexenwesen auf dem Grand-Army-Wochenmarkt handgemachten Käse und Liebestränke an. Am Ufer des Gowanuskanals lungerten Vampire und schnipsten Zigarettenstummel nach vorbeischlendernden Hipstern. Simon musste sich ständig ins Gedächtnis rufen, dass sie auch früher schon hier gewesen waren: Nicht Park Slope hatte sich verändert, sondern er selbst. Er hatte jetzt das Zweite Gesicht. Er war derjenige, der reflexartig vor flackernden Schatten zurückwich und seinen alten Freund Eric, der sich unglücklicherweise bei einer Gelegenheit von hinten an ihn herangeschlichen hatte, mit einem instinktiven Judowurf zu Boden beförderte.
»Alter«, keuchte Eric und starrte ihn aus dem verdorrten Gras der Sommerwiese an. »Feuerpause, Soldat!«
Eric glaubte, dass Simon das letzte Jahr auf der Militärakademie verbracht hatte. Genau wie seine anderen Kumpels und Simons Mutter und Schwester. Er hatte fast alle belogen, die ihm nahestanden. Auch dieser Aspekt unterschied sich von seinem früheren Leben in Brooklyn und trug wahrscheinlich noch am stärksten dazu bei, dass Simon den Tag seiner Abreise kaum erwarten konnte. Denn es war eine Sache, darüber zu lügen, wo er sich die vergangenen zwölf Monate aufgehalten hatte, und irgendwelche bescheuerten Geschichten über Strafpunkte und Militärausbilder zu erfinden (von denen er die meisten aus miesen Achtzigerjahre-Filmen abgekupfert hatte). Aber es war etwas völlig anderes, Freunden und Verwandten seine wahre Identität zu verschweigen. Er musste so tun, als sei er immer noch derselbe wie früher: der Simon Lewis, der dachte, Dämonen und Hexenwesen würden nur in Comics existieren, und der nur ein einziges Mal ganz kurz in Todesgefahr geschwebt hatte – nachdem er sich an einer Schokomandel verschluckt hatte. Doch diesen Simon gab es nicht mehr. Er mochte zwar noch kein Schattenjäger sein, aber er war auch kein normaler Irdischer mehr – und er war es allmählich leid, anderen etwas vorzumachen.
Der einzige Mensch, bei dem er sich nicht verstellen musste, war Clary. Im Laufe des Sommers verbrachte er mehr und mehr Zeit mit ihr, streifte mit ihr durch die Stadt und hörte sich ihre Geschichten über den Simon an, der er früher gewesen war. Er konnte sich zwar nach wie vor nicht daran erinnern, wie viel sie einander in diesem anderen Leben, das er aufgrund von Dämonenmagie vergessen hatte, bedeutet hatten, aber die Vergangenheit schien immer unwichtiger zu werden.
»Ich bin auch nicht mehr der Mensch, der ich früher einmal war«, hatte Clary ihm eines Tages im Java Jones erklärt, während sie sich an ihrer vierten Tasse Kaffee festhielten. Simon gab sich alle Mühe, sein Blut bis zum Schulbeginn im September in Koffein zu verwandeln. Die Schattenjäger-Akademie war eine kaffeefreie Zone. »Manchmal fühle ich mich von der alten Clary so weit entfernt wie du dich vermutlich vom alten Simon.«
»Fehlt sie dir?«, hatte Simon gefragt, doch eigentlich meinte er: Fehlt er dir? Der alte Simon. Der andere Simon. Der bessere, mutigere Simon, von dem er fürchtete, dass er nicht länger in ihm steckte.
Clary hatte so heftig den Kopf geschüttelt, dass ihre feuerroten Locken in alle Richtungen flogen, und ihn mit ihren grünen Augen fest angesehen. »Und du fehlst mir auch nicht mehr«, hatte sie hinzugefügt, mit ihrem unheimlichen Gespür für das, was ihm gerade durch den Kopf ging. »Weil ich dich zurückhabe. Zumindest hoffe ich das …«
Simon hatte ihre Hand gedrückt; das reichte ihnen beiden als Antwort.
»Apropos Sommerferien«, setzte George nun an und warf sich auf sein Bett mit der durchgelegenen Matratze, »wann erzählst du mir endlich davon?«
»Wovon?« Simon lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, woraufhin das Holz unheilvoll krachte. Hastig beugte er sich wieder vor. Als Akademieschüler im zweiten Jahr hatten George und er eigentlich Anspruch auf ein oberirdisches Zimmer, doch sie hatten sich entschlossen, in ihrem Verlies zu bleiben. Simon war die feuchtkalte und düstere Atmosphäre fast schon ans Herz gewachsen – und außerdem hatte er festgestellt, dass es durchaus von Vorteil sein konnte, weit entfernt von den neugierigen Augen der Tutoren zu wohnen. Ganz zu schweigen von den abschätzigen Blicken der Eliteschüler. Die meisten Schattenjägerschüler in seiner Klasse hatten sich inzwischen an die Vorstellung gewöhnt, dass ihre irdischen Klassenkameraden möglicherweise doch etwas auf dem Kasten hatten. Aber im neuen Schuljahr war eine große Gruppe neuer Schüler dazugekommen und Simon hatte keine Lust, auch ihnen die gleiche Lektion erteilen zu müssen. Als sein Stuhl jedoch weiterhin bedrohlich knackte und ihm etwas Graues und Pelziges über die Füße lief, fragte Simon sich, ob es wohl schon zu spät war, sich die Sache mit dem Zimmerwechsel noch mal zu überlegen.
»Simon. Kumpel. Jetzt lass mich hier nicht hängen. Hast du eine Ahnung, was ich die ganzen Sommerferien über gemacht habe?«
»Schafe scheren?« George hatte ihm im Laufe der vergangenen zwei Monate eine Reihe von Postkarten geschickt. Die Vorderseiten zeigten idyllische Landschaftsaufnahmen der schottischen Highlands, während die Mitteilungen auf den Rückseiten im Grunde nur ein Thema kannten:
Mir ist langweilig.
Sterbenslangweilig.
Gib mir die Kugel!
Zu spät, bin schon tot.
»Schafe scheren«, bestätigte George. »Schafe füttern. Schafe hüten. Durch Schafmist waten. Während du … weiß der Himmel was mit einer gewissen schwarzhaarigen Superkriegerin getrieben hast. Kann ich nicht wenigstens aus zweiter Hand an deinen Erlebnissen teilhaben?«
Simon seufzte. George hatte sich viereinhalb Tage lang zurückgehalten. Das war vermutlich mehr, als man erwarten konnte.
»Wie kommst du auf die Idee, dass ich irgendetwas mit Isabelle Lightwood getrieben habe?«
»Hm, lass mich mal nachdenken … vielleicht weil du an unserem letzten Schultag von nichts anderem geredet hast?« George versuchte sich an einem amerikanischen Akzent – mehr schlecht als recht. »Was soll ich bei meinem Date mit Isabelle nur tun? Was soll ich bei meinem Date mit Isabelle nur sagen? Was soll ich bei meinem Date mit Isabelle nur anziehen? Oh, George, du braun gebrannter schottischer Liebesgott, sag mir, was ich mit Isabelle machen soll!«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass mir diese Worte über die Lippen gekommen sind.«
»Ich habe lediglich deine Körpersprache interpretiert«, erwiderte George. »Und jetzt schieß los.«
Simon zuckte die Achseln. »Es hat nicht funktioniert.«
»Es hat nicht funktioniert?« Georges Augenbrauen schossen in die Höhe. »Nicht funktioniert?«
»Ganz genau«, bestätigte Simon.
»Willst du mir ernsthaft sagen, dass deine epische Liebesgeschichte mit der schärfsten Schattenjägerin ihrer Generation, die sich über mehrere Dimensionen und diverse Weltrettungsaktionen erstreckt, einfach so zu Ende gegangen ist? Mit nichts als einem Achselzucken und einem …« – wieder setzte er seinen amerikanischen Akzent auf – »Es hat nicht funktioniert?«
»Das trifft’s auf den Kopf.« Simon versuchte, beiläufig zu klingen, was ihm aber offenbar nicht gelang, denn George stand auf und verpasste seinem Mitbewohner einen Knuff gegen die Schulter.
»Tut mir leid, Alter«, sagte George leise.
Simon seufzte erneut. »Ja, mir auch.«
Was ich in den Sommerferien gemacht habe
von Simon Lewis
Ich habe es mir mit dem tollsten Mädchen der Welt vermasselt.
Nicht einmal, nicht zweimal, sondern gleich dreimal.
Beim ersten Date hat sie mich in ihren Lieblingsklub mitgenommen, wo ich dann den ganzen Abend wie eine Ölgötze herumstand und einmal sogar über meine eigenen Füße gestolpert bin. Anschließend habe ich sie nach Hause gebracht und mich per Handschlag von ihr verabschiedet.
Ja, richtig: per Handschlag.
Beim zweiten Date habe ich sie in mein Lieblingskino geschleift und sie gezwungen, sich mit mir stundenlang Star Wars: The Clone Wars anzusehen. Und nicht mal gemerkt, dass sie währenddessen eingeschlafen ist. Anschließend habe ich versehentlich ihren guten Geschmack beleidigt, denn woher sollte ich wissen, dass sie mal mit irgendeinem Hexenmeister mit Ringelschwanz zusammen war – eine Info übrigens, auf die ich gerne verzichtet hätte. Und dann: Nahaufnahme einer weiteren Verabschiedung per Handschlag.
Date Nummer drei: noch so eine meiner genialen Ideen. Ein Doppeldate mit Clary und Jace. Was vielleicht sogar ganz gut gelaufen wäre, wenn Clary und Jace nicht verliebter wären als sämtliche verliebte Pärchen in der Geschichte des Universums. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie unterm Tisch heimlich gefüßelt haben, denn irgendwann hat Jace seinen Fuß an meinem Bein gerieben. (Ein Versehen? Das will ich zumindest schwer hoffen!) Und kurz darauf wurden wir von Dämonen angegriffen, weil Clary und Jace anscheinend eine magische Anziehungskraft auf Dämonen ausüben. Nach etwa dreißig Sekunden war ich k. o. geschlagen und lag halb bewusstlos in einer Ecke, während die anderen zu Höchstleistung aufliefen und Isabelle ihre umwerfenden Kriegergöttinenkräfte spielen ließ. Denn sie ist eine umwerfende Kriegergöttin – und ich bin ein Waschlappen.
Danach sind alle zu einem supercoolen Querfeldeintrip aufgebrochen, um die Dämonen aufzuspüren, die uns die ersten Dämonen auf den Hals gehetzt hatten. Ich durfte nicht mit. (Weil ich so ein Waschlappen bin; siehe oben.) Als sie wieder zurück waren, hat Isabelle mich nicht mal mehr angerufen, denn welche Kriegergöttin will schon ein Date mit einem feigen Waschlappen? Ich habe sie ebenfalls nicht angerufen, denn welche Kriegergöttin usw. … außerdem dachte ich, dass sie mich vielleicht anrufen würde.
Hat sie aber nicht.
Ende
Simon beschloss, seinen Cthonisch-Lehrer um Aufschub zu bitten.
Wie sich herausstellte, unterschied sich der Lehrplan des zweiten Schuljahrs kaum von dem im ersten Jahr – mit einer Ausnahme: Da der Tag der Aszension spürbar näher rückte, verlangte die Akademie von ihren Schülern, dass sie sich auch mit aktuellen, tagespolitischen Themen beschäftigten. Nach dem zu urteilen, was Simon bis dahin gelernt hatte, ließ sich dieser Teil des Unterrichts genauso gut unter dem Titel »Warum Feenwesen echt ätzend sind« zusammenfassen.
Jeden Tag drängten sich die Eliteschüler und ihre irdischen Klassenkameraden in einem der Klassenräume, die im Jahr zuvor verriegelt gewesen waren. (Angeblich wegen irgendeiner Dämonenkäferplage.) Dort quetschten sie sich in angerostete Sitzpult-Kombinationen, die für Schüler konstruiert zu sein schienen, welche nur halb so groß waren wie sie selbst. Nur, um dann schweigend zuzuhören, wie Professor Freeman Mayhew die Umstände des Kalten Friedens erklärte.
Freeman Mayhew war ein dürrer, kahler Mann mit einem kleinen, zu einem akkuraten grauen Quadrat zurechtgestutzten Oberlippenbärtchen. Obwohl die meisten seiner Sätze mit »Zu meiner Zeit, als ich noch gegen Dämonen gekämpft habe …« begannen, machte er nicht den Eindruck, als könnte er auch nur eine simple Erkältung bezwingen. Mayhew hielt es für seinen persönlichen Auftrag, jeden Schüler davon zu überzeugen, dass alle Feenwesen gerissen, nicht vertrauenswürdig und kaltherzig seien und am besten ausgerottet werden sollten, auch wenn die »feigen Politiker«, die den Rat zurzeit führten, das wohl nicht so bald zugeben würden.
Die Schüler erkannten sehr schnell, dass jeder Widerspruch – oder der bloße Versuch, eine Frage zu stellen – Mayhews Blutdruck in die Höhe schießen ließ. Dann bildete sich ein leuchtend roter Fleck auf seinem kahlen Schädel und er fauchte: »Warst du etwa dabei? Ich denke nicht!«
An diesem Morgen überließ Mayhew den Unterricht einer jungen Frau, die nur wenige Jahre älter war als Simon. Platinblonde Ringellocken umspielten ihre Schultern, ihre blaugrünen Augen glitzerten und ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst, was darauf hindeutete, dass sie in diesem Moment wohl an jedem anderen Ort der Welt lieber gewesen wäre als in diesem Klassenzimmer. Professor Mayhew stand neben ihr, doch Simon bemerkte, dass er darauf achtete, deutlich Abstand zu halten und ihr nicht den Rücken zuzukehren. Mayhew hatte Angst.
»Na los«, forderte der Professor schroff. »Sag ihnen deinen Namen.«
Die junge Frau hielt den Blick gesenkt und murmelte irgendetwas.
»Lauter!«, fauchte Mayhew.
Nun hob seine Begleiterin den Kopf, sah die Klasse direkt an und verkündete mit lauter und klarer Stimme: »Helen Blackthorn. Tochter von Andrew und Eleanor Blackthorn.«
Simon musterte sie genauer. Helen Blackthorn – den Namen kannte er aus den Geschichten, die Clary ihm über den Dunklen Krieg erzählt hatte. In dieser Schlacht hatte die gesamte Familie Blackthorn schwere Verluste erlitten, aber Simon war immer der Ansicht gewesen, dass es Helen und ihren jüngeren Bruder Mark am härtesten getroffen hatte.
»Lügnerin!«, rief Mayhew. »Fang noch mal an.«
»Wenn ich lügen kann, sollte Ihnen das nicht zu denken geben und als Beweis genügen?«, konterte sie. Doch es war offensichtlich, dass sie seine Antwort bereits ahnte.
»Du kennst die Bedingungen für deinen Aufenthalt in Idris«, knurrte er. »Sag ihnen die Wahrheit oder geh nach Hause.«
»Dort ist nicht mein Zuhause«, entgegnete Helen mit leiser, aber fester Stimme.
Nach dem Dunklen Krieg hatten die Ratsmitglieder Helen auf die Wrangelinsel verbannt, auch wenn niemand es offiziell so formuliert hätte. Diese winzige Insel im Arktischen Ozean war der zentrale Standort für alle Schutzschilde der Welt – und außerdem eine trostlose Eiswüste, wie Simon gehört hatte. Offiziell widmeten sich Helen und ihre Freundin dem Studium der Schutzschilde, die nach dem Dunklen Krieg wieder errichtet werden mussten. Inoffiziell wurde Helen für die Umstände ihrer Geburt bestraft. Der Rat war zu dem Schluss gekommen, dass man ihr nicht trauen konnte – trotz ihres Muts im Dunklen Krieg, trotz ihrer makellosen Vergangenheit und trotz der Tatsache, dass ihre jüngeren Geschwister nun Waisen waren und nur einen entfernten Onkel hatten, der sich um sie kümmerte. Denn die Ratsmitglieder vertraten die Meinung, dass Helen keine richtige Schattenjägerin war – und das, obwohl ihre Haut Runenmale problemlos vertrug.
Was Simon wiederum die Meinung vertreten ließ, dass die Ratsmitglieder allesamt Idioten sein mussten.
Denn es spielte überhaupt keine Rolle, dass Helen weder Waffen noch sichtbare Runenmale besaß und eine schlichte Jeans und ein hellgelbes T-Shirt trug. Allein ihre Haltung, die Selbstkontrolle, mit der sie ihren Zorn zügelte, und die Würde, die sie dabei ausstrahlte, machten offensichtlich, dass Helen Blackthorn eine Schattenjägerin war. Eine Kriegerin.
»Das ist deine letzte Chance«, knurrte Mayhew.
»Helen Blackthorn«, wiederholte die junge Frau strich sich die Haare aus dem Gesicht, sodass ihre hellen, leicht spitzen Ohren zum Vorschein kamen. »Tochter von Andrew Blackthorn, Schattenjäger, und Lady Nerissa, Prinzessin am Lichten Hof.«
Bei dieser Erklärung stand Julie Beauvale auf und verließ wortlos das Klassenzimmer.
Simon hatte Mitleid mit ihr … oder zumindest versuchte er, Mitgefühl aufzubringen. In den letzten Stunden des Dunklen Kriegs hatte ein Elbenritter Julies Schwester vor ihren Augen getötet. Aber das war nicht Helens Schuld. Helen stammte nur zur Hälfte von einer Elfe ab und das war nicht die Hälfte, auf die es ankam.
Aber das schien weder den Rat noch irgendjemanden im Klassenzimmer zu interessieren. Die Schüler tuschelten aufgeregt, wobei Simon den Begriff »Feenwesen« aufschnappte, der wie ein Schimpfwort die Runde machte. Helen stand reglos und schweigend an der Tafel, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
»Ruhe!«, donnerte Mayhew. »Haltet gefälligst den Mund!« Nicht zum ersten Mal fragte Simon sich, warum dieser Mann überhaupt Lehrer geworden war, wenn es allem Anschein nach nur eine einzige Sache gab, die er noch mehr verabscheute als Jugendliche: das Unterrichten besagter Jugendlicher. »Ich erwarte keineswegs, dass ihr diese … Person respektiert. Aber sie ist hier, um euch eine lehrreiche Geschichte zu erzählen. Und die werdet ihr euch jetzt anhören.«
Helen räusperte sich. »Mein Vater und sein Bruder waren einst Schüler dieser Akademie, genau wie ihr jetzt.« Sie sprach mit leiser, tonloser Stimme, als würde sie über Fremde reden. »Und genau wie ihr wussten auch sie nicht, wie gefährlich das Lichte Volk sein kann. Ein Irrtum, der sie fast vernichtet hätte.«