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ERSTES KAPITEL

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I

Der Pausenplatz des größten Schulhauses der kleinen Vorstadt lag von der Sommersonne mächtig aufgeheizt da. Vom aufgeweichten Asphaltbelag stieg die Luft flirrend auf. Die kleine Birke neben dem Eingang zum Hauptgebäude ließ ihre Blätter schlapp hängen. Auch die Biokräuter in den Kistchen am Rande des rechteckigen Platzes dürsteten nach Wasser. Zwar hielten sie der trockenen Hitze noch stand, aber sie verströmten nur noch schwach ihre wohlriechenden Düfte. Alles Leben schien in der Gluthitze zum Stillstand gekommen zu sein. Selbst die riesige Schulhausuhr war benommen und ihre Zeiger schleppten sich nur mühsam voran. Endlich schob sich die große Hand auf 12 Uhr.

Die mächtige Schulglocke trat in Aktion und zeigte melodiös und immer stärker anschwellend die Mittagspause an.

Die wegen der Sommerhitze in ihren ungekühlten Schulzimmern gründlich verschwitzten Schüler hatten dieses Signal sehnlich erwartet. Sogleich packten sie ihre Sachen und drängelten unter großem Getöse aus dem Schulgebäude. Schnurstracks überquerten sie den Pausenhof und eilten nach Hause zu Muttern an den Mittagstisch. Schnell war der riesige Pausenplatz wieder fast leer.

Nur in der Mitte des Platzes stand noch ein Junge.

Es war Sigi Sanftic und der hatte gewaltige Angst, denn Sigi war nicht alleine. Der für seine 12 Jahre ziemlich hochgeschossene Junge war vom stiernackigen Kai und seinen brutalen Freunden eingekesselt. Diese fuhren auf ihren Fährrädern im Kreis um Sigi herum, lachten höhnisch und machten aggressive Sprüche.

„Sigi Saftfisch!“, rief einer.

„Figgi Saftfisch!“, höhnte ein anderer.

Ein Dritter, der nicht besonders schlau war und dem nichts wirklich Kreatives einfiel, blökte ganz einfach „Sigi Schwuchtel!“

Die unappetitlichen Pöbeleien dieser Flegel waren nicht der Grund, warum Sigi Angst hatte. Sigi hatte nie Angst und vor solchen Dummköpfen schon gar nicht. Der Junge war einfach nur besorgt, weil er befürchtete Milena zu verpassen. Milena war eine Schülerin aus seiner Parallelklasse. Sie fuhr immer um 12 Uhr - nach der Vormittagsschule - nach Hause zum Mittagessen. Das Mädchen, das gleich alt wie Sigi, aber im Gegensatz zu ihm klein und zierlich war, wohnte im gleichen Vorort wie Sigi, ganz in der Nähe von Basel. Sigi beeilte sich daher immer, um spätestens zwölf Uhr bei den Fahrradunterständen zu sein. So konnte er gleichzeitig mit Milena losfahren, ohne dass jemand Verdacht geschöpft hätte. Sigi wusste, dass seine liebste Mitschülerin ohne ihn losführe, wenn er bis Punkt 12 Uhr nicht bei den Fahrrädern aufgekreuzt wäre.

Damit lag er richtig. Milena würde nie auf ihn warten, denn sonst dächten ihre Kolleginnen, dass sie und Sigi ein Liebespaar wären. Dann hätten diese Milena vielleicht sogar gefragt, ob sie und er miteinander gingen. „Sigi? Pfft!“, hätte Milena ihnen dann geantwortet. „Der gefällt mir doch nicht.“

Aber das stimmte nicht. Milena mochte Sigi Sanftic. Sehr sogar! Der Junge gefiel ihr, weil er für seine zwölf Jahre bereits ziemlich hochgewachsen war. Sigi getraute sich, seine krausen Haare noch länger wachsen zu lassen als alle seine Kollegen. Meist konnte man seine grünbraunen Augen unter den dichten dunkelbraunen Locken kaum entdecken. Wenn es ihr aber für einmal gelang, ihm in seine Augen zu sehen, leuchteten diese wie ein Tigerauge. Milena mochte diesen großen Jungen, ja, aber das hätte sie nie vor ihren Freundinnen zugegeben. Wenn ihr heimlicher Schatz Punkt Zwölf nicht bei den Unterständen war, dann war sie immer schwer enttäuscht. Auch sie wollte mit Sigi - und nur mit ihm! - zusammen nach Hause fahren. Sie liebte es, wenn er neben ihr fuhr und Späße auf seinem Drahtesel machte. Sigi konnte auf seinem Rad sogar freihändig fahren. Das machte Milena gehörigen Eindruck, denn freihändig zu fahren hätte sie sich nie getraut.

Momentan war Sigi aber noch von Kai und seinen Kläffern eingekreist, die grölten wie ein Haufen betrunkener Grobiane, die Streit suchen. Sigi überlegte sich, ob er sich in das Rad eines dieser Rabauken werfen sollte. Das würde ihm sicher gehörig weh machen, aber auch sein Gegner könnte böse auf die Schnauze fallen. Allerdings würde er dann sogar noch Gefahr laufen, dass Kais Idiotenbande sich dafür rächen würde. Keine gute Idee!

Sigi steckte seine Hände in die Taschen seiner nach unten immer breiter werdenden Jeans. Weil er die Hose extra tief auf seinem Gesäss trug, sah er mit seinen langen Armen noch schlaksiger aus, als er eh schon war. Sigi zermarterte sich das Hirn, um einen Weg zu suchen, den doofen Anpöbeleien zu entgehen. Als der 12-Jährige schon aufgeben wollte, sah er Pauli aus seinem Kabäuschen kommen.

Pauli war der dicke Hausmeister des Schulhauses Fröschmatt. In seinem Mund steckte immer ein Zigarrenstumpf. Rauchen durfte Pauli diesen gerollten Pferdedung in der Schule natürlich nicht. Also schob er den Zigarrenstummel jeweils nur von einem Mundwinkel in den anderen. Dabei zerknautschte er den Stummel bis dieser in der Form zu seinem mürrischen und unrasierten Gesicht passte. Pauli voraus ging wie immer sein riesiger Bauch. Dieser Bauch sah aus wie eine Pauke. Eingepackt war die Pauke in ein geripptes weißes Unterhemd. Pauli trug zwar einen blauen Arbeitsmantel, aber der war viel zu klein um seinen mächtigen Bauch verdecken zu können. Knöpfe hatte der blaue Kittel deshalb schon lange nicht mehr. Die waren vor mehr als dreißig Jahren abgerissen, als der Abwart zum ersten und letzten Mal versucht hatte seinen Bauch einzupacken. Seither war sein Bauch wie ein Hefekuchen im Ofen nur noch weiter aufgegangen.

Pauli kam mit raschem Schritt auf die Gruppe um Sigi zu. Weil es sommerlich heiß war, begann er sofort zu schwitzen. Dicke Tropfen zeigten sich auf seiner Stirn und auf seinem Unterhemd bildete sich auf Höhe des Brustbeines ein ovaler Schweissfleck, so groß wie eine Pfütze.

Sigi glaubte, dass ihm der dicke Hausmeister zu Hilfe kommen wolle. Der aber rumpelte nur etwas von „Saubande … Fahrverbot … Schieben lernen!“ Offenbar hatte es Pauli nicht gestört, dass Kai und seine Schergen einen Schüler vermöbeln wollten. Den übergewichtigen Abwart störte einzig, dass die Bande mit ihren Rumpelrädern über seinen Pausenplatz fuhr. Nur das hatte ihn zur Weissglut getrieben. Fahrradfahren war auf dem Areal des Schulhauses Fröschmatt natürlich strengstens verboten!

Als Mike, der Kleinste von Kais gemeiner Bande, vom keifenden Hausmeister aufgeschreckt wurde, stoppte er sein Rad abrupt. Prompt fuhren die anderen Buben einer nach dem anderen ineinander. Blech schlug auf Blech und es schepperte und knallte wie bei einem besonders heftigen Sommergewitter. Den Donner zum diesem metallischen Gewitter lieferte Pauli. Er fuchtelte wild mit seinen Armen und rumpelte: „Folterknechte … Supergauner … Terroristen!“ Beinahe wäre ihm sein Stumpen aus dem Mund gefallen.

Kai und seine Unterhunde lagen wie umgeworfene Kegel am Boden, doch sie hatten keine Zeit sich über irgendwelche Schürfungen oder blaue Flecken Gedanken zu machen. Momentan war der wie ein gewaltiger Tornado näher brausende Pauli ihre größte Sorge. Sie schnappten sich ihre Räder und stoben wie die Fliegen in alle Richtungen davon.

Kai rief Sigi mit verächtlich schief gezogenem Mund noch etwas zu. Sigi verstand nicht genau, was der gedrungene Anführer der gemeinsten Bande des Schulhauses knirschte, aber es tönte verdächtig nach „… Rache nehmen …“ Dann warf ihm Kai noch einen Satz zu und den verstand Sigi gut. Kai zischte: „Dich mach’ ich fertig!“.

Sigi war das ziemlich egal. Vor diesem dummen Grobian hatte er keine Angst. Klar. Der Anführer der Bande war mehr als ein Jahr älter als er selbst. Kai hatte kurzgeschorene rostrote Haare. Seine Schultern waren breit, die Muskeln durchtrainiert und standen wie bei einer Bulldogge hervor. Seinen Kopf, der ihm stiernackig auf den Schultern saß, hielt er immer tief. Seine Augen saßen eng und drohend beieinander. Sigi war sich durchaus bewusst, dass dieser streitsüchtige Kerl ihn jederzeit ohne Probleme verdreschen könnte. Trotzdem machte ihm die brutale Schlägervisage von Kai Sigi kaum Eindruck, Sigi befürchtete nur, dass er Milena verpassen könnte. Nur das jagte ihm einen echten Schrecken ein. Schnell blickte er auf die große Schulhausuhr. Der große Zeiger war bereits am kleinen vorbeigehuscht.

12 Uhr 04!

Der Junge verlor keine Zeit. Er raste sofort Richtung Fahrradunterstände los, die etwa 100 Meter entfernt waren. Wenn Sigis Zeit bei den olympischen Spielen gestoppt worden wäre, dann hätte Sigi eine Goldmedaille im Sprint gewonnen. Aber reichte ein neuer Weltrekord im Sprint, um Milena noch zu erwischen?

II

Als Sigi keuchend um die Ecke der Turnhalle bog, war der Parkplatz bereits leer. Zu spät! Milena war schon weg. Sigis eigenes Rennrad mit dem tiefen Lenker stand fast alleine da. Daneben befand sich nur noch eine alte Fahrradleiche ohne Klingel. Die war schon vor Paulis Zeiten hier vergessen worden. Dieser kaputte und verrostete Drahtesel stand krumm in einem verbogenen Ständer. Die Bremskabel waren abgerissen und ragten in die Luft. Sie sahen aus wie ungekochte Spaghetti, die aus der Pfanne schauen. Die rissigen Pneus waren flach gedrückt, der Sattel von Vögeln aufgepickt worden. Alles Verwertbare war von diesem Fahrrad vor langer Zeit abgeschraubt worden. Einzig die verrostete Kette hatte keiner gewollt. Die hing ausgehängt und schlaff von den Zahnkränzen herunter und schimmerte in fleckigem Rot in der hohen Sonne.

Sigi schaute dieses verkrüppelte Rad mitleidig an. Er fühlte sich ebenso kaputt und traurig. Milena war schon weg! Was hätte es Schlimmeres geben können? Dass seine Mitschülerin bereits losgefahren war, verwunderte ihn aber nicht. Er verstand seine heimliche Freundin, denn Milena hätte unmöglich auf ihn warten können. Sonst hätte sie ja verraten, dass sie ihn ganz gerne mochte.

Der schlaksige Junge ließ die Schulten hängen und senkte den Kopf. So enttäuscht wie er war, nahm er gar nicht wahr, dass jemand nach ihm rief.

Man hörte es auch kaum, denn es kam von jenseits der Bahngeleise, die neben dem Fahrradunterstand lagen. Das war die Linie von Basel nach Olten, die nach einer Abzweigung nach Zürich und nach Bern führte. „Sigi!“, schallte eine feine Mädchenstimme herüber. „Hoi, Sigi!“

Der Junge, dem das Rufen galt, stand wie ein zusammengestauchtes Fragezeichen auf dem Parkplatz und hörte nichts. Darum machte das Mädchen, das von jenseits der Gleise herüberrief, mit winkendem Arm auf sich aufmerksam. Endlich merkte es Sigi. Er sah über die Eisenbahnlinie und wen erblickte er? Es war Milena. Sie stand auf den Zehenspitzen, hielt mit der linken Hand ihr Fahrrad und winkte mit der rechten Hand, um auf sich aufmerksam zu machen.

Milena war ein hübsches Mädchen. Sie hatte lange schwarze Haare, die nur ganz leicht gewellt waren. Das Mädchen band sie mit einem Gummizug zu einem Rossschwanz zusammen, trotzdem fiel ihr eine übergroße Locke mächtig über die Stirne. Milenas Augen waren kastanienbraun. Ihr Mund lächelte so oft am Tag wie es auf der ganzen Welt Chinesen gibt.

Milena trug wie immer einen bunten Rock, den ihre Mutter selbst genäht hatte. Als Leibchen trug sie ein lila T-Shirt mit dem gestickten Bild eines kleinen rosaroten Ponys drauf. Auch das hatte ihre Mutter für sie geschneidert. Das Pony blickte mit großen treuherzigen Augen in die Welt. Seine prächtige Mähne war so perfekt gestickt, dass man meinte, sie würde im Wind wehen.

Sofort winkte Sigi seiner Schulfreundin zurück. Jetzt lachte auch er. Sein Herz begann zu rasen. Er sprang zu seinem Rad, öffnete das Schloss, riss das Fahrrad aus dem Ständer und schwang sich auf den Sattel. Er raste zum Eingang der Unterführung, die ihn unter der Bahnlinie hindurch auf Milenas Seite bringen würde. Ohne abzusteigen fuhr er direkt nach unten. Natürlich hätte Sigi diese Unterführung nicht befahren dürfen. Große Fahrverbotsschilder erinnerten daran, denn es war nicht ganz ungefährlich. In die Unterführung führten Treppen. Darauf waren zwei Spuren angebracht, damit junge Mütter ihre Kinderwagen leichter über die steilen Treppen nach oben bugsieren konnten. Über eine dieser nur etwa 20 Zentimeter breiten Spuren sauste Sigi nun hinunter. Sigi hatte keine Angst und das Befahren einer so winzigen Spur, die im oberen Teil sogar noch in einer schwierig zu meisternden leichten Kurve nach unten führte, war für Sigi Pipifax. Auf der anderen Seite schoss er wieder nach oben und war endlich bei seiner Freundin - also Mitschülerin, wie Sigi sie vor seinen Kumpels benennen würde.

Sigi schaute Milena an.

Milena schaute Sigi an.

Keiner von beiden sprach etwas. Sigi wollte eine Bemerkung machen, aber er getraute sich nicht. Also schaute er irgendwo in die Weite und tat, als wäre es selbstverständlich, dass man auf ihn wartete. Insgeheim pochte sein Herz bis zum Hals. Er hatte wohl gemerkte, dass weit und breit kein Schüler mehr zu sehen war. Milena war also tatsächlich die Letzte gewesen, die nach Hause fuhr. Sie musste also auf ihn gewartet haben. Auf ihn! Sigi Sanftic. Dem Sigi, von dem ein paar Mädchen sagten, dass er doof sei, mit seinem krausen kastanienbraunen Haar, das ihm wie das Fell eines Maltesers über die Augen hing. Das nahm Sigi nicht so ernst. Sollten diese Zicken doch nur reden. An seine Haare würde er noch lange keine Schere lassen.

Sigi war für sein Alter richtig sportlich und hatte dadurch ein paar Muskeln mehr als andere Buben, die nur vor dem Computer saßen. Natürlich waren deshalb auch seine Gesässmuskeln eine ganze Spur ausgebildeter als bei anderen Jungen. Das kam vom vielen Fußballspielen. Muskeln waren das. Nur Muskeln! Trotzdem hatte ihm die hochnäsige Maria einmal „Sigi Saftig Entenhintern!“ nachgerufen. Das war, als sie besonders wütend auf Sigi gewesen war. Maria war nämlich auch heimlich in Sigi verliebt und beleidigte ihn nur, weil der ihre Annäherungsversuche überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Prompt hatten die Freundinnen von Maria über ihren abwertenden Spruch gewiehert und gekichert und gegluckst und gepiepst. Nur Milena hatte das nicht getan. Milena hatte Sigi mit ihren Rehaugen angeschaut und ihm gesagt - also nicht mit Worten, sondern nur mit ihren Augen - dass sie überhaupt nicht fände, dass er ein Hinterteil wie eine Ente habe. Nur Muskeln waren das! Dann hatte Milena demonstrativ ihre Arme verschränkt, hatte zur dummen Maria geblickt und diese mit dem giftigsten Blick erstochen, der je aus Milenas blitzenden Mahagoni-Augen gekommen war.

„Wo bist du so lange geblieben?“, fragte Milena Sigi und errötete sofort stark. Sie war einfach neugierig und wollte wissen, warum er sie hatte warten lassen. Aber kaum, dass sie diese Frage gestellt hatte, merkte sie natürlich sofort, dass sie sich verraten hatte. Jetzt würde Sigi aus ihrer Neugier unweigerlich folgern, dass sie extra auf ihn gewartet hatte. Natürlich hatte sie das getan. Aber sie wollte nicht, dass er das wusste, obwohl sie sich doch schon beinahe verraten hatte.

„Ooch, nichts Wichtiges“, beantwortete Sigi die Frage nach dem Grund seiner Verspätung. Er schaute Milena dabei nicht in die Augen. Auch ihm war ein wenig unwohl, denn Milena hatte sicherlich gesehen, dass der große Sigi wie ein Blitz um die Ecke gekommen war. Offensichtlich musste sie gemerkt haben, dass er versucht hatte, sie noch einzuholen. Ja, klar. Sigi hätte dafür gemordet, um mit Milena gemeinsam nach Hause fahren zu können. Na ja, nicht wirklich gemordet! Aber er hätte viel dafür gegeben, um mit Milena zusammen sein zu können. Aber das durfte seine kleine Wunschfreundin natürlich niemals merken.

„Wollen wir fahren?“, fragte Sigi um der peinlichen Situation auszuweichen. Wieder blickte er Milena dabei nicht an. Wenn er mit ihr zusammen war, schaute er sie nur selten an und meist, wenn sie es nicht merkte. Besonders liebte er es, wenn Milena die große Locke von ihrer Stirn wegpustete. Das Mädchen mit dem Rossschwanz blickte dabei jeweils schielend nach oben, spitzte die Lippen und nahm die Locke ins Visier. Dann schob sie den Unterkiefer nach vorne und blies kräftig unter die Strähne, so dass diese von links nach rechts flog, oder von rechts nach links. Milena tat das übrigens nicht, um die vorwitzige Locke von ihren Augen wegzubekommen. Sie ließ ihre Locke nur dann tanzen, wenn sie besonders verärgert war, etwa weil sie viel Pech gehabt hatte. Oder wenn sie besonders glücklich war. Glück und Pech, die liegen manchmal ja so nahe beieinander.

„Ich wäre sowieso grad losgefahren“, neckte Milena Sigi und schwang sich auf den Sattel. Bevor sie aber ins Pedal trat, sah sie nochmals ihren heimlichen Schatz an. Das Warten hatte sich für sie gelohnt. Sie hatte besonders lange getrödelt und als Belohnung konnte sie jetzt mit ihrem Freund nach Hause fahren. Milena schob ihren Unterkiefer nach vorne, schielte zu ihrer Haartolle hinauf und blies mit mächtigem Stoß die Strähne bis ans Ende der Welt.

III

Milena war mit kräftigem Antritt die Straße entlang der Bahnlinie vorausgefahren. Für eine 12-Jährige war sie ziemlich flott unterwegs. Sigi beeilte sich, mit ihr mitzuhalten. Nach etwa 80 Metern bog die Straße in rechtem Winkel von der Bahnlinie ab. Nach weiteren 100 Metern kam eine Straßenunterführung, die hinunter Richtung eines Außenquartiers der Vorstadt führte. Dort, in einer Trabantenstadt mit billigen Häusern aus Beton, wohnten die zwei. Von weitem konnten die Kinder die Häuser dieser Siedlung bereits erkennen. Sie sahen aus wie kleine quaderförmige Bauklötze. In der Mitte ragten zwei Hochhäuser hinaus.

Sigi lebte in dieser Siedlung in einem der Mehrfamilienhäuser, die in identischer Bauweise rings um die beiden Hochhäuser angeordnet waren. Dort bewohnte er mit seiner halben Verwandtschaft eine knapp bemessene Vierzimmer-Wohnung. Sigis Familie war aus Kroatien eingewandert und so kam eine ganz ansehnliche Menge an Leuten zusammen - Vater, Mutter, und zwei Onkel. Geschwister hatte Sigi keine.

Milena hingegen wohnte mit ihrer Mutter - einer allein stehenden Schweizerin - in einer Zweizimmer-Wohnung. Diese lag im obersten Stockwerk des größeren der beiden Hochhäuser. Das hatte 15 Stockwerke und war das größte Gebäude dieser Siedlung in der Nähe von Basel.

Im Gegensatz zu der grauen Vorstadt, wo die beiden Schüler unterrichtet wurden, ist Basel natürlich gut bekannt. Basel liegt am Rhein, welcher von den Alpen herunter kommt und in Basel Richtung Nordsee abbiegt. Über den Rhein spannen in Basel insgesamt fünf Brücken. Im Sommer steigen immer wieder mutige Schwimmer auf die Brüstung der mehr als Tausend Jahre alten Mittleren Brücke. Von dort springen sie jauchzend in das Nass darunter und lassen hohe glitzernde Wasserfontänen aufschießen.

Eine solche Abkühlung hätten die beiden Schüler jetzt auch gerne genossen, denn ihr Heinweg war weit und sie kamen in der Mittagssonne, die den Asphalt auf der Straße beinahe zum Kochen brachte, gehörig ins Schwitzen. Zum Glück war der Heimweg zurück leichter als der Weg zur Schule, denn nun führte die Straße mehrheitlich abwärts.

Als die beiden Kinder unter einer Straßenunterführung hindurchfuhren, machten sie wie so oft ein kleines Rennen. Sigi ließ seiner kleinen Freundin dabei immer einen Vorsprung. Die Straße ging nach der Unterführung nicht wieder nach oben, sondern führte noch weiter hinunter in Richtung der Vorstadtsiedlung, wo sie beide wohnten. Milena würde zwar den Schwung der Abfahrt nutzen und mit hohem Tempo am Schwimmbad ihrer Vorstadt vorbeirasen, das rechts von ihrer Strecke in einer weiten Mulde lag. Sigi hätte sie bis zum Ziel am Ende des Schwimmbades sicherlich eingeholt. Sigi holte Milena nämlich immer ein. Manchmal ging es dabei aber nur um Zentimeter!

Auch heute legte Sigi die großen Gänge seines Rennrades ein und jagte Milena hinterher. Die war oben bereits gestartet und hatte auch kraftvoll in den höchsten Gang ihres Mädchenfahrrads getreten. Weil die Abfahrt so steil war und das Rad schon enorm viel Schuss hatte, konnte sie bald gar nicht mehr in die leerlaufenden Pedale treten. Also nahm Milena ihre Füsse von den Pedalen und ließ dem Rad seinen Lauf. Es stellte also kein echtes Problem für den sportlichen Sigi dar, mit seinem Renner den Vorsprung von Milena wettzumachen. Mit seiner großen Übersetzung konnte Sigi auch bei hoher Geschwindigkeit weitertreten und dem Rennrad noch mehr Schub geben.

Milena hörte ihren sportlichen Gegner hinter sich in die Pedale treten. ‚Sipp Sipp Sipp’ tönte es hinter ihr. Dann sah sie ihren heimlichen Freund wie einen Blitz an ihr vorbeischießen. Von hinten sah sie nur noch seinen Hintern, weil sich Sigi tief über seinen nach unten geschwungenen Lenker bückte.

„Peng!“, zerriss ein Knall die Luft und es schien, als würde Sigi aus dem Sattel geworfen. Zugleich ging ein Furcht erregendes Rattern los und der Renner tanzte unter dem Hintern des Jungen hin und her. „Ai, Ai, Aiiiii!“, schrie Sigi und riss an den Bremsbügeln. Die Bremsbacken kreischten auf und das Rad schlingerte wie ein Schiff in Seenot. Nur mit Mühe und einem letzten Gerumpel kam der Junge zu stehen. Die krausen Haare, die ihm bei diesem wilden Ritt in alle Himmelsrichtungen geworfen worden waren, fielen ihm wieder wellig über die Augen zurück. Aber jetzt waren sie noch zerzauster als zuvor.

Milena stoppte sofort neben Sigi. Bleich, mit aufgerissenen Augen und offenem Mund, blickte sie ihren Schulkameraden an.

Der sprang vom Sattel und kniete zum Hinterrad. Er hielt das Rad an der Mittelstange fest und betrachtete den Schaden. Sigi selbst war nicht bleich im Gesicht, denn Sigi hatte nie Angst.

„Der Pneu ist geplatzt!“, meinte Sigi fachmännisch. Er stand wieder auf und strich sich die Haare aus der Stirn. Dann wurde er doch ein wenig bleich im Gesicht und seine Knie zitterten tatsächlich. Endlich war auch ihm der Schreck in die Glieder gefahren, denn er hatte zu seiner Begleiterin geschaut. Die hatte beide Hände vor den Mund geschlagen und betrachtete ihn mit starr aufgerissenen Augen. Beide dachten jetzt dasselbe: „Das hätte böse ausgehen können.“

Der schlaksige Junge atmete tief durch. Milena tat es ihm nach. Dann lachte sie sogar ein wenig, weil sie wieder an das Gesäss von Sigi denken musste. Das war wild über dem Sattel auf- und ab- und hin- und hergehüpft, als das Fahrrad seinen irren Tanz aufgeführt hatte. Wie Sigi verzweifelt versucht hatte, das Gleichgewicht zu halten um nicht abgeworfen zu werden, das war schon eine beeindruckende Leistung. Manchmal ist es eben doch von Vorteil, ein klein wenig sportlicher als andere zu sein.

Schließlich untersuchte Sigi den Plattfuß genauer. Er drehte das Rad und prompt entdeckte er einen rostigen Nagel, der tief im Reifen steckte. Verärgert riss er den Nagel aus dem Gummi. Hier würde alles pumpen nichts mehr helfen.

„Mist!“, ärgerte er sich nun doch. „Jetzt kann ich mein Fahrrad nach Hause schieben.“

„Und ich bin schon zu spät. Meine Mutter wird sich Sorgen machen“, meinte Milena, die zu keiner Zeit drangedacht hatte, ihren Freund einfach allein zu lassen. Sie wäre nie ohne ihn weitergefahren.

„Also los, schnell nach Hause“, rief Sigi und schwang sich auf sein lädiertes Rad. Er war fest entschlossen trotz plattem Reifen nach Hause zu strampeln. Der Gummischlauch im Reifen würde dann natürlich ganz kaputt gehen, der Reifen vielleicht auch. Aber was konnte er anderes schon tun? Er würde seine kleine Freundin nach Hause begleiten, egal was es kostete. „Sie hat sicherlich Angst, alleine weiterzufahren“, nahm der große Junge an. „Mädchen haben immer Angst!“

Sigi trat in die Pedale, aber irgendwie kam er nicht recht voran. Das Fahrrad ließ sich nur extrem schwer bewegen und wenn die Straße nicht leicht nach unten geführt hätte, wäre er wahrscheinlich überhaupt nicht vorangekommen.

„Geht es? Kannst du fahren?“, fragte Milena besorgt, während sie neben ihrem sportlichen Freund herfuhr.

Der beugte sich angestrengt über das Lenkrad. „Ja …Ja … es geht“, keuchte er, obwohl er nicht wirklich vorwärts kam.

Als die Straße wieder ins Flache überging, musste der Schüler aufgeben. Außer Puste und mit hochrotem Kopf stieg er ab. Er untersuchte sein Hinterrad und entdeckte, was er schon vermutet hatte. Das Rad hatte eine „Acht“ und schlug daher immer wieder an die Bremsbacken an. Das hatte den gleichen Effekt, als hätte er dauernd gebremst. So konnte er unmöglich weiterfahren.

Milena stieg sofort von ihrem Rad, als sie sah, dass Sigi nicht mehr weiterfahren konnte. Sie wollte ihrem Freund auch mit Taten zeigen, dass sie mit ihm gemeinsam dieses Malör durchstehen würde.

Also schoben sie ihre Fahrräder gemeinsam nach Hause.

Am Ende des Weges, der dem Schwimmbad entlangführt, war ein Haus. Es sah aus, als wäre es etwa 1920 erbaut worden. Es war der Form eines Einfamilienhauses nachgebildet und hatte drei Stockwerke. Die Fensterläden waren aus Holz, deren Farbanstrich längst abgeblättert war. An der Front war das Haus groß mit PUMPSTATION angeschrieben. Auch dieser Schriftzug war verwittert. Früher war das Haus tatsächlich einmal eine Pumpstation gewesen. Im Haus war Trinkwasser von A nach B gepumpt worden. Das war die eigentliche Funktion, für die das Gebäude gebaut worden war. Aber diese Funktion hatte das Haus schon lange verloren.

Jetzt bewohnte es ein seltsamer Wissenschaftler. Die Leute in der Gegend munkelten, dass dieser Wissenschaftler in Tat und Wahrheit ein Geisteskranker sei. Den habe die lokale Stadtverwaltung in diese ehemalige Pumpstation „versorgt“. So habe sich die Behörden die Kosten gespart, die entstanden wären, wenn dieser „Irre“ in einem Sanatorium hätte untergebracht werden müssen. Seit dieser komische Kauz nun in dem Haus wohnte, sammelte sich immer mehr Unrat um das Gebäude herum an. Im Garten sah es mittlerweile wie auf einem Schrottplatz aus. Das war doch der beste Beweis dafür, dass der Mann nicht ganz bei Trost sein musste. Auch bei der Garage hinter dem Haus stapelte sich immer mehr Altmaterial. Dieses bestand aus kaputten Maschinenteilen, Elektrokabelgewusel, verbogenen Rohren, zusammengeschweißten und wieder auseinander geschnittenen Blechen, Kolbenstangen, abgeschraubten Ventilen, ausgeschlachteten Computern, zusammengelöteten Schaltboxen, verbeulten Schaufelrädern, et ceterum et censis. Das ist Lateinisch und heißt „und so weiter und so fort“, denn es gab noch viel weiteren Unrat wie etwa alte kaputte Rasenmäher, zerfledderte Elektromotoren, zerbrochene gusseiserne Räder, verbeulte Stromabnehmer von Straßenbahnen, und vieles mehr. Tatsächlich erweckten diese alten Maschinen und Geräte den Eindruck, als gäbe es von jedem Schrottteil auf der Welt auch hier ein Exemplar. Beinahe schien es, als würde sich dieser Unrat ständig vermehren und aus der Pumpstation herauswuchern.

Den Wissenschaftler, der in dieser ehemaligen Pumpstation wohnte, hatten nur ganz wenige Menschen je gesehen. Gerüchte besagten, dass er über 1 Meter 90 groß und etwa 50 Jahre alt sei. Er habe eine Glatze und steckengerade Haare die ihm schlohweiß von den Rändern derselben bis zu den Schultern hingen. Die Leute berichteten weiter, dass er vor dem Gesicht eine riesige schwarze Hornbrille trüge. Die beiden Jugendlichen hatten ihn selber noch nie gesehen.

Sigi blickte auf die Pumpstation. Daraus kam ein rhythmisches Geräusch. „Klong-Klong-Klong-Klong.“ Irgendjemand hämmerte in der Pumpstation. Das musste dieser komische Kauz sein. Vielleicht war der wahnsinnig. Na ja, allerdings hatte er sicherlich allerlei Werkzeug in seiner Hütte und das war jetzt das Wichtigste.

„Ich gehe mal fragen, ob sie hier Flickwerkzeug haben“, sagte Sigi mit fester Stimme, denn Sigi hatte keine Angst.

„Ich komme mit dir mit“, beeilte sie Milena zu sagen.

Milena hatte schreckliche Angst.

Der Ponyferrari

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