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Kapitel 1: Schuljahre

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Du hieltest mich fest und fern

von dir ging ich beinah leicht

Ulla Hahn

Was immer erahnt wird oder gar zu der Hoffnung auf Erfüllung Anlass gibt, wenn man sich dem Reiz einer Person ausgesetzt sieht, es kann Sehnsüchte wecken, die schon weit ins Unterbewusstsein verlagert oder fast vergessen sind durch Verdrängungsprozesse, durch lange währende Vorläufe. Einst zaghaft angedachte Lebensentwürfe, die im Laufe der Zeit bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen oder gar beschädigt wurden, schieben sich plötzlich zumindest in Gedanken wieder in den Vordergrund, in den Bereich des Machbaren, und es stellt sich dasselbe Gefühl ein, von dem man beispielsweise bei dem Betrachten alter Zeugnisse, die man gelegentlich verschämt aus einem alten Ordner hervorholt, heimgesucht wird. Vielleicht gibt es tatsächlich noch eine Möglichkeit hin zu dem, was man etwa mit dem grauenhaften Begriff »Selbstverwirklichung« umschreiben könnte.

Es ist einer jener Abende am Wochenende, an denen er alleine unterwegs ist. Tanzen kann er nicht, also muss ihn seine Unbestimmtheit, die er vor sich selbst in vorzüglicher Weise sogleich als Couragiertheit verbucht, in diese Diskothek gespült haben. Sie sitzt an einem der leicht erhöht stehenden, kleinen Tische, die durch eine Balustrade von der Tanzfläche getrennt sind, und unterhält sich mit einer wesentlich jüngeren Frau, als er sie zum ersten Mal wahrnimmt. Sie sieht etwas allzu beiläufig in seine Richtung mit einer Art von Selbstverständlichkeit, mit der er nicht umgehen kann - als ob sie sich schon seit Jahren kennen würden. Gewiss, die scharfkantigen, prüfenden, was seinen Fall betrifft auch gelegentlich missbilligenden Musterungen reifer Frauen haben Daniel immer schon gehemmt, aber hier - das ist etwas gänzlich Anderes, Neues. In ihrem Blick ist wesentlich mehr, als er ertragen kann. Eine in sich ruhende, kühle Mahnung zum Bekenntnis. Er hat das Gefühl, dass sie mehr über ihn weiß als er selbst; alles in allem eine ganz entschieden zu indiskret gewirkte Attitude, die ihn vermutlich an jedem anderen Menschen stören würde, die scheinbar genau dort hingreift, wo er am wehrlosesten ist, dort, wo seine Lebenslügen versteckt sind. Er versucht noch verzweifelt, sie systematisch zu übersehen, doch er merkt gleich, wie angestrengt lächerlich und gleichermaßen vergeblich dieses Unterfangen angesichts ihres Habitus wirken muss. Sie nötigen sich noch ein kurzes, qualvolles Lächeln ab, dann spürt er, dass er weg muss, weg aus ihrem Kraftfeld, an eine andere, möglichst weit entfernte Stelle, besser noch in einen anderen Raum dieses Riesentanzschuppens. Doch dazu müsste er zurück und damit zwangsläufig ihren Tisch passieren, da die übrigen Gänge der überfüllten Diskothek nahezu blockiert sind.

»Bei uns ist noch ein Platz frei«, signalisiert ihm die Jüngere mit erfrischender Unbefangenheit, als er sich bei ihnen vorbeistehlen will.

»Hier neben meiner Schwester.«

»Einen anderen Platz werden sie nicht mehr finden, es wäre sinnlos.«

Es war der erste Satz überhaupt, den er aus Violas Mund hörte.

»Danke, angenommen, sie haben mich gerettet, mein Name ist Daniel.«

»Meine Schwester Marion ist manchmal etwas ungestüm, sehen sie ihr die vorlaute Art bitte nach. Sie hat die Unbekümmertheit, die uns beiden fehlt. Ich heiße übrigens Viola.«

»Könnten wir nicht das steife Sie für den Rest des Abends verbannen, es passt nicht zu diesen Räumen«, fragt Marion, nachdem sie sich ebenfalls vorgestellt hat.

»Dafür umso besser zu uns beiden, nicht wahr, Daniel«, bemerkt Viola daraufhin süffisant und blickt ins Leere.

»Das befürchte ich auch«, erwidert Daniel mit einer Mischung aus Stolz und Befriedigung, die er sich nicht erklären kann.

Irgendwie hat er das Gefühl, dass seine durchaus gelegentlich mit Zügen von Trash behaftete Träumerexistenz gerade einer äußersten Überprüfung unterzogen wird. Der Preis für die Unbestechlichkeit von Gefühlen scheint Beklemmung zu heißen, steigt in ihm leise die Vorahnung auf.

In der Folge versucht Daniel, wie meist, wenn er gehemmt ist, künstlich ein Gespräch in Gang zu setzen, stellt Fragen, die keine sind, will Antworten geben auf Fragen, die niemand gestellt hat. In solchen Momenten hasst er sich, dann hat er sich selbst in Verdacht, einer jener Spießbürger zu sein, vor denen er sonst stets auf der Hut sein will. Doch diese Umschreibung ist in Bezug auf seine Befindlichkeiten, was solche Situationen betrifft, noch nicht die ganze Wahrheit. In Wirklichkeit liegt das ganze Szenario, mit dem er momentan konfrontiert ist, zu nahe, zu greifbar vor ihm, als dass er es aufnehmen könnte. Vielmehr ist es so, dass seine stets präsente Hirnakrobatik, seine vor allem, was Frauen betrifft, oftmals von klischeehaften oder gelegentlich gar fetischisierten Vorstellungen durchdrungene Phantasie keine unmittelbaren Schlussfolgerungen und schon gar keine Gefühlswallungen zulässt. Noch bis vor wenigen Jahren glaubte er beispielsweise allen Ernstes, die Tatsache, dass Apothekerinnen oder entsprechende Mitarbeiterinnen oftmals einen Halsschal tragen, sei einer gewissen Art von vornehmer Zurückgenommenheit geschuldet; dass dies ganz handfeste praktische Gründe hat, die mit den Befindlichkeiten der Kundschaft zusammenhängen, dämmerte ihm erst langsam. Direkte Wege sieht er zwar, aber er kann sie nicht gehen. Als versierter Jongleur seiner Ahnungen muss sein geistiges Auge zuerst das Tableau sämtlicher möglichen Fort - und Rückschritte begutachtet haben, bevor der erste überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Das ist nicht nur mühsam, sondern in den letzten Jahren auch mit einer sanften Zunahme an Zwangsneurosen befrachtet, was ihn schon seit geraumer Zeit beunruhigt. So hatte es ihm vor nicht allzu langer Zeit einmal eine Ingenieurin schwer angetan, die er zufällig kennengelernt hatte, die er auf den ersten Blick von ihrem ganzen Wesen her für eine Krankenschwester gehalten hätte. Aber sie war eben keine, und enttäuscht über seine Fehlannahme wollte sich in seinem Kopf kein belastbares Bild mehr runden. Auf diese Weise hat er in der Vergangenheit schon etliche Chancen verpasst.

»Wofür sind wir eigentlich hier, Daniel?«

»Zum Tanzen natürlich, wozu sonst«, hört er sich mit einem Anflug gespielter Euphorie widerwillig aufsagen.

»Na?«

»Ich bin nicht gerade ein guter Tänzer.«

»Solange ich bei dir bin, kann dir nichts passieren.«

So überwindet sich Daniel und fordert Viola zum Tanz auf; man sollte wohl eher sagen: Er begibt sich in ihre Hände. Und sie nimmt ihn mit - was gar nicht mehr nötig gewesen wäre, schließlich hat sie ihn zu diesem Zeitpunkt doch schon längst. Sie wirken beide seltsam deplatziert hier in diesen Räumen. Viola eigentlich nicht so sehr durch ihr Äußeres - sie trägt eine dünne, von seriöser Geschmackssicherheit zeugende, dezente Bluse, welche jedoch in Kombination mit dem eine Spur zu lasziv arrangierten BH, der von hautfarbenen Plastikträgern zusammengehalten wird, offensichtlich mehr erahnen lassen soll, als zu ihr passen würde, und somit ihre Gesamterscheinung eher konterkariert, geradezu so, als ob sie ihrer äußeren Wirkung nicht trauen würde, und eine enge, abgetragene Jeanshose, die oben sorgfältig in den Schritt gezogen ist - als vielmehr durch ihre Aura. Sie strahlt auf ihn etwas aus, was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht entziffern kann, etwas, was ihn gleichwohl reizt bis zum Äußersten. Viola ist nicht viel kleiner als er, und zusammen mit ihren daher unnötig hohen, etwas altmodisch anmutenden Stöckelschuhen, die wie emailliert aussehen, überragt sie ihn sogar leicht, muss das Ganze auf Außenstehende so wirken, als ob sie ihn, den Verzagten, mittels raumgreifender Schritte an sicherer Hand über das Parkett ziehen würde. Das zähnebleckende Lächeln, das sie ihm dabei gelegentlich zukommen lässt, kann dabei nur heißen: Du bist zwar der schlechteste Tänzer, der mir je untergekommen ist, aber, vorausgesetzt, du begibst dich ab sofort in meine Hände, so könnte selbstverständlich auch in diesem Punkt Abhilfe geschaffen werden.

Doch jenseits ihres saloppen Gehabes wird auch noch etwas anderes für ihn spürbar, schimmert - für Bruchteile von Sekunden zwar nur, aber dennoch sichtbar - eine wohl leicht zu verletzende und wahrscheinlich auch schon verletzte Note durch ihren Blick, die aus ihrem Innersten zu kommen scheint, die dann in eine Form von Ernsthaftigkeit mündet, die von nichts anderem mehr als Vollkommenheit künden kann, die ihn so sehr anspricht und für sie einnimmt, dass sie ihm sämtliche Auswege versperrt - gut überspielt immerhin mittels einer eisernen Maskerade, aber nicht gut genug für ihn; denn, wenn er wirklich etwas gelernt hat in diesem Leben, dann besteht es wohl mit Sicherheit darin, die entscheidenden Informationen stets zwischen den Zeilen zu suchen, das Ungesagte, das durch die Tonlage mitschwingt, zu deuten. Der Gestus sowie die Körpersprache in als unbeobachtet angenommenen Momenten sagen ihm meist mehr oder etwas anderes über jemanden, als dieser darzustellen beabsichtigt. Ebenso charakterisiert für ihn die Art der Sprache, weniger, was konkret gesagt wird, oftmals sein Gegenüber, wobei er gerade in diesem Punkt immer häufiger eine sich verstetigende Unmäßigkeit, die sich darin ergeht, aus wirklich allem etwas herauslesen zu wollen, an sich festzustellen glaubt, die von seiner Umgebung zuweilen als Impertinenz oder gar einen Hang zur Indiskretion wahrgenommen zu werden scheint, und die nicht selten auch ihn selbst zu Fehlannahmen verleitet, die er dann oftmals nur mit viel Mühe und gemessener zeitlicher Distanz an sich heranlässt. Das liest er jedenfalls gelegentlich aus ihm gegenüber verstört wirkenden Gesichtern ab.

Was er zum Ausgang des Abends zu seiner Überraschung noch in Erfahrung bringt, ist, dass Viola aus Ostdeutschland stammt und in Österreich aufwuchs, nachdem sich ihre Mutter bei einer internationalen Sportveranstaltung abgesetzt hatte und eine erneute Ehe mit einem Mann eingegangen war, der in Graz lebte. Dort ist dann ihre wesentlich jüngere Halbschwester Marion geboren, mit der sie momentan zusammenwohnt. Viola arbeitet schon seit langem an der hiesigen Universitätsbibliothek.

Als sie das Tanzlokal gemeinsam verlassen, unternimmt er noch einen kläglichen Versuch, mit Viola zu flirten zu wollen, was er nicht nur nicht kann sondern auch seinem Naturell völlig zuwiderläuft, was sie selbstverständlich durchschaut und ihn daraufhin schroff am Arm zur Seite zieht.

»Marion und ich sind gemeinsam mit nur einem Auto da; sie hat immerhin den Kontakt zwischen uns hergestellt; sollen wir sie zum Dank allein nach Hause schicken? Also lass gefälligst das Geplänkel, es passt überdies nicht zu uns beiden! Wir haben schon zu viel zusammen versäumt, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Wenn du mir etwas zu sagen hast, hier ist meine Telefonnummer. Überlege gut, aber überlege nicht zu lange! Danke für den Abend. Mach's gut, Daniel.«

Daniel hatte bereits eine langjährige Beziehung zu diesem Zeitpunkt zu einer Russin namens Tamara, die für ihn alles zu erbringen schien, was er zu benötigen meinte. Diese lernte er erst mit Mitte dreißig kennen. Sie hat ihm sogar eine schon erwachsene Tochter überantwortet, die ihn bis heute ohne innere Not Vater nennt und ihm im übertragenen Sinne auch schon zwei Enkelkinder geschenkt hat. Ja, »im übertragenen Sinne«: Es gibt wohl kaum einen Ausdruck, der seine Befindlichkeiten, seinen Zugang zur Realität oder vielmehr das, was er dafür hält, besser charakterisiert. Denn wirkliche Bindungen hat er keine zu seiner Umgebung, ganz zu schweigen von Freundschaften.

Natürlich wohnt man nicht zusammen, das wäre für ihn entschieden zu viel aufgebürdeter Lebenspraxis, vor allem aber wäre es eine empfindliche Beeinträchtigung seines gedanklichen, meist zu nichts führenden Pseudoperfektionismus, den er niemandem zumuten will, der ihm wenigstens halbwegs nahezustehen glaubt.

Er machte ihre Bekanntschaft während seines letzten Ganges zur Universität, als er sein Zeugnis abholte - zeitlich die perfekte Nachzeichnung eines Neubeginns, zusammenfallend mit der Beendigung eines lange andauernden, strapaziösen Irrlaufes, der ihn fast die Existenz gekostet hätte und ihn zumindest materiell noch nachhaltig behindern würde, fehlte zu diesem Zeitpunkt doch bereits eine nicht zu vernachlässigende Anzahl an Rentenbeitragsjahren. Zum Glück haben ihn materielle Szenarios weder im Guten noch im Schlechten jemals ernsthaft berührt. Das ist wohl einem jener Effekte der ihm angediehenen Erziehung geschuldet, die seine Mutter gegen sämtliche Widerstände durchsetzen konnte.

Schon der Beginn seines schulischen Werdegangs in Richtung Gymnasium eingangs der siebziger Jahre war aus seiner heutigen Sicht weniger der Intention der Eltern, ihn einmal finanziell oder materiell besser gestellt zu sehen als vielmehr dem Drang nach Aufbruch und, was seine Mutter betrifft, Ausbruch aus ihrer inneren Bedrängnis, geschuldet, wofür sie in seiner vermeintlich vorzeichenbarer und vor allem konstruierbarer Entwicklung das geeignete Instrument wähnte.

Seine Eltern waren zwei Menschen, die sich wohl besser übersehen hätten, aber das war kaum möglich, denn sie entstammten Nachbarshäusern innerhalb einer Bergarbeitersiedlung, in denen dennoch die innerfamiliären Ausprägungen unterschiedlich in fast jeder denkbaren Beziehung waren. Sein Vater war zu jener Zeit jemand, der über Meisterbrief bei gleichzeitigem Hausbau sowie Weiterbildung zum Techniker zäh seine Lebensbahn zog, der auch schon eine gewisse kühle Modernität ausstrahlte, die zu der Hoffnung gereichte, zum immer noch allgegenwärtigen Muff der Fünfziger zumindest auf Distanz gehen zu können, doch das erwies sich dann doch als Illusion, stellenweise eine gefährliche sogar. Den offenen Konflikt wagen - das war in solchen Gefilden kaum denkbar, geschweige denn durchführbar. Zu sehr war man in dem Geflecht aus Bedingtheiten und Zugeständnissen, nicht zuletzt innerhalb des Verwandtschaftskreises, in dessen Fahrwasser man sich weitestgehend bewegte, beispielsweise beim Hausbau, gefangen. Das Pump - und Hebelwerk aus Abhängigkeiten, daraus resultierenden faulen Kompromissen und Verdrängung der eigenen wirklichen Wünsche, wo sie denn vorhanden waren, musste unbeirrt laufen, um vermeintlich vorwärts zu kommen. Der Weg hatte das Ziel zu sein, Besinnung war hier nicht vorgesehen. Das war der eigentliche Preis neben allem Habhaften, das war der Lebensdeal. Der materielle Aufschwung musste doch wohl genügen. Das für sich genommen wäre natürlich nichts Besonderes gewesen: So - oder so ähnlich haben viele Leute in jener Zeit agiert. Doch speziell aus dem Verwandtschaftskreis seines Vaters ist dann auch Vieles mit einer unerträglichen Begleitmusik vonstattengegangen, die man aus Dankbarkeit wohl glaubte, hinnehmen zu müssen. Die tonangebenden älteren Geschwister auf beiden Seiten, waren durchweg Figuren der fünfziger Jahre. Die Geburtstage oder sonstige Familienfeiern beispielsweise, die dann im neuen Haus abgehalten wurden, glichen eher im wahrsten Sinne des Wortes Sitzungen, wo die nassrasierten Ältesten ihre Monologe abhielten. Fragen waren hier keine erlaubt, höchstens solche, die keine sind, geschweige denn Kritik. Geprägt noch zur Unzeit - was keineswegs als Vorwurf taugt - legte man, falls denn wirklich einmal die joviale Fassade angekratzt wurde, untermalt aus alterslosen, spitzbübigen Gesichtszügen, eine fein ziselierte, aber dennoch barsche Diktion an den Tag, die überhaupt keinen Zweifel daran lassen sollte, dass man, mit Sekundärtugenden im Übermaß ausgestattet, keine Infragestellung der Befindlichkeiten wünscht - und überhaupt verböte sich angesichts der Lebensleistung jede Form von Diskussion. Was sollte auch darüber hinaus noch zu sagen sein. Es gibt kein Entrinnen, es kann keines geben. Es war immer alles klar und es hat keinen wirklichen inneren Bruch gegeben. Alternativen muss man zumindest gesehen haben, aber wo sollte das sein, wo sollte sich der Spielraum dafür auftun, wenn doch immer alles geregelt ist. Seine Eltern leiden sichtbar und fühlbar unter dieser ganzen Gemengelage, diesen ranzigen Ausdünstungen der fünfziger Jahre, das ist für ihn bereits als Heranwachsender, wo man noch über ein besonders unvoreingenommenes, unverfälschtes Gespür verfügt, regelrecht greifbar. Widerspruch wäre genug da, aber er ist nicht vorgesehen und somit kann es auch nirgends den dafür nötigen Rückhalt geben - und das ist entscheidend. Darüber hinaus bräuchte man natürlich für neue Ansichten auch eine unverbrauchte Sprache.

Das Eigenheim entstand mit günstigen Krediten des Arbeitgebers sowie der dahinterstehenden Wohlfahrtsmaschinerie, aber man gewöhnte sich nie wirklich an das nur scheinbar Neue - die zweite große Lebenslüge. In Wahrheit war man einem damals schon rezessiven Industriezweig ausgeliefert, inklusive der diesem innewohnenden Stagnation, mitsamt seinem veralteten Gesellschaftsbild. Die Kohle, einst der Rohstoff zur Anfachung sowie Befeuerung wirtschaftlicher Dynamik, gereichte im Privaten wohl eher zum Gegenteil, dem Inbegriff anheimelnder Immobilität. Es gab wohl vor in harten Wintern kein besseres Heizmittel, aber wenn man sich länger als einen halben Tag von zu Hause entfernt hatte, war der Ofen aus. Eine heile Siedlungswelt, wo in der großen Mehrzahl der Familien die Frauen nicht berufstätig waren, die meisten auch ein gutes Stück älter als seine Eltern. Diese hatten zwar in den fünfziger Jahren noch ihre Berufsausbildungen absolviert, wirkten aber zumindest in ihrem Habitus nicht mehr so gestrig, nicht mehr so eingebunden in die Verheißungen der inneren Bescheidenheit. Sie waren doch schon eine Generation weiter. Es hätte eine Chance sein können,

Die Mutter sieht oder erahnt diese zumindest, glaubt, illuminiert durch den Kontakt mit Menschen aus vermeintlich perfekten gesellschaftlichen Sphären an andere Möglichkeiten. Sie arbeitet als Kinderkrankenschwester im städtischen Krankenhaus, eine Tätigkeit, der mehrere Mitglieder innerhalb des erweiterten Verwandtschaftskreises von ihrer Seite aus nachgehen, gibt es doch dort eine Person, die aufgrund einer beeindruckenden beruflichen Karriere einer bedeutenden Institution im Lande vorsitzt, mit den entsprechenden Möglichkeiten versehen, die eigenen Leute an passender - oder auch weniger passender Stelle mit Nachdruck anzuempfehlen. Neben den ein scheinbar ideales Leben vorexerzierenden Ärzten gibt es da Kolleginnen, die ihr klarzumachen versuchen, dass auch im nichtakademischen Umfeld ein gewisser Anspruch vorhanden und auch erfüllbar sein sollte. Man ist schließlich berufstätig an exponierter Stelle - da wird man doch wohl noch ein Theaterabonnement im Verwandtschaftskreis vorzeigen dürfen, ohne gleich der Hochnäsigkeit geziehen zu werden. Auch ihrer jüngeren Schwester beispielsweise, der Unverheirateten, beruflich an selber Stelle tätig, die später als Liebhaberin klassischer Musik halb Europa bereisen wird, um ihren Lieblingstenor zu besichtigen, begegnet man von Seiten der älteren Geschwister mit einer nur schwer zu ertragenden, respekteinflößenden Häme. Und diese verfehlt auch dort ihre Wirkung nicht, obwohl die Schwester etwas härter im Nehmen ist als seine Mutter. Geradezu so, als ob man selbst schon einmal etwas wirklich Erhebendes gesehen oder gehört hätte. Wenn man in Seilschaften lebt, wirft man doch keinem Sangesbruder Geld hinterher - am Ende fehlt es dann womöglich noch, um ein neues Seil anzuschaffen: Das Leben als Bubenstück.

Doch dieses ständige »gegen Windmühlen anrennen« durch einen klaren Schnitt, einen Tabubruch innerhalb der eigenen Reihen zu ersetzen, würde viel Kraft und Selbstvertrauen erfordern. Natürlich, der gesellschaftliche Wandel zu Beginn der Siebziger hätte zu Einigem ermutigen können. Aber dieser stand in ihren Kreisen, falls er dort über das Materielle hinaus überhaupt wahrgenommen wurde, von Anfang an auf tönernen Füßen. Man hat zwar gerade auf finanzieller Seite Einiges erkämpft, doch Manches führte dann auch zu illusionären Fehldeutungen: Bei seinen Eltern beispielsweise glaubte er, eine unterschwellige Koketterie für diese tolle Sportnation, dieses Arbeiterparadies auf der anderen Seite des Horizontes ausfindig gemacht zu haben, wo der kulturelle Anschluss für Leute ihres Schlages scheinbar von Staats wegen angestrebt werden sollte. Sie denken überdies - und das wird sich als wirklich fataler Irrtum herausstellen - man könne durch einen gewissen Aktionismus, der sich fast ausschließlich in falscher Zuvorkommenheit ergeht, bei Leuten, die man für wichtig hält, Augenhöhe erzwingen. Doch das Rüstzeug fehlt, und so sucht und versucht man sich stets an den falschen Stellen, ein Wesenszug, den Daniel erben wird, und der ihn im Grunde genommen bis heute beeinträchtigt. So hat man sich beispielsweise einen Partykeller im neuen Haus eingerichtet, argwöhnisch betrachtet von den Nachbarn, und feiert einem vermeintlich modernen Zeitgeist entgegen, zumeist mit Leuten aus dem Sportverein, die scheinbar furchtbar lustig sind - solange sie nicht bei sich selbst zu Hause feiern müssen. Seine Eltern glauben irgendwann, wobei sich sein Vater allzu leicht von seiner Frau mitreißen lässt, »Klimbim« in Echtzeit leben zu können - ohne Netz und doppelten Boden. Man lässt einen Studenten aus vorgeblich besserem Hause, ebenfalls aus dem besagten Verein, umsonst in einem noch leeren Zimmer wohnen - sich andienen, um vielleicht irgendwann nicht mehr dienen zu müssen. Dass es sich bei diesen Leuten überwiegend um die hinlänglich bekannten Djangos handelt, die man gewöhnlich in Linienbussen antrifft - um das zu erkennen, ist man zu naiv und gerät so in eine Art von Zugzwang, der man mit zunehmender Zeit immer weniger gewachsen ist. Im Grunde genommen wurden damals schon die ohnehin von Beginn an labilen Fundamente ihres fragilen gemeinsamen Lebensentwurfes komplett unterspült. Darüber hinaus versetzt man in dieser Lebensphase auch schon zu viel Tafelsilber, zu viel materielle und pekuniäre Substanz auf ein vages Lebensgefühl vertrauend hin, anstatt sich selbst einmal zu hinterfragen.

Aber als ultimativen Türöffner hin zu neuen Ufern hat sich die Mutter Daniel auserkoren, was zunächst auch relativ mühelos erscheint. Sie gibt dafür irrwitzigerweise sogar ihre Stelle in der Kinderklinik auf - und merkt noch nicht, dass sie damit sich selbst aufgibt. So tauscht sie den unsäglichen Vorzug, einen professionellen Umgang mit Leben und Tod pflegen zu dürfen gegen die vermeintlichen Verheißungen des trauten Heimes ein, wofür sie aber nicht geschaffen scheint. Da sich noch ein Kind ankündigt, wird der vorprogrammierte Leerlauf, der argwöhnisch interfamiliär begutachtet wird, noch ein paar Jahre überdeckt; die Einzige, die hier einen klaren Blick behält, ist ihre ledige jüngere Schwester, deren Meinung von ihrer ebenso erbarmungs - wie berufslosen Mutter, die in diesem Familienkreis immer noch die Marschrichtung vorgibt, selbstverständlich ignoriert wird. Was sollte eine Frau, die selbst keine Kinder hat, auch schon über dieses Thema zu sagen haben. Wie sollte man erlernte Kompetenz gegen dumpfen Naturalismus in Stellung bringen. Nichtsdestotrotz wird sie ihre Mutter bis zu ihrem eigenen allzu frühen Ableben pflegen dürfen - man sollte dankbar sein.

In Bezug auf den eigenen gehegten gesellschaftlichen Anspruch hat man sich nun selbst überlistet. Im Grunde genommen hörte seine Mutter damals schon auf, zu leben. Freunde hat man nun keine mehr, jedenfalls nicht die, die man zu brauchen glaubte. Das mag undramatisch und in gewisser Weise auch selbstverständlich klingen für viele, die mit den Erfordernissen des Kinderglücks konfrontiert sind, doch ist es unerträglich für jemanden, der den erhöhten und dadurch erst als blühend empfundenen Moment, die zwischenmenschlichen Finessen, die Aperçus und Bonmots stets inhaliert hat wie eine Droge und nun wie beim Monopoly wieder auf Anfang gesetzt wird. Sie ist von Beginn an überfordert. Dazu lässt sie sich noch die Idee aufschwatzen, da man ja nun nicht mehr arbeite, könne man ja zusätzlich noch gelegentlich die Kinder früherer jüngerer Arbeitskolleginnen betreuen. Wo kein Wille mehr ist, gibt es viele Wege - aber nur für Andere. So erfüllt sie zwar die ersten Jahre noch leidlich ihre Erziehungspflichten - sie funktioniert noch -, doch ihr Lebensweg wird danach relativ schnell in einen ruinösen Selbstzerstörungsprozess münden.

Daniel zieht in diesen Jahren noch unbeirrt seine schulische Bahn. Er war in der Grundschule vorne, erhielt die gewünschte Empfehlung fürs Gymnasium, damals in seinen Kreisen noch fast einem gefühlten Ritterschlag gleichkommend, und er ist ruhig, sehr ruhig. Das hat unter anderem den Vorteil, dass man relativ unbeschädigt durch die Reihen der Nichtempfohlenen kommt, die im selben Ort wohnen. Diejenigen, die eine höhere Schule besuchten, erkannte man damals in der Siedlung daran, dass sie, aus der Haustür heraustretend, den entgegengesetzten Weg zu ihrer Schule nehmen mussten.

Triebfeder zur schulischen Leistung war für ihn von Anfang an weniger das Interesse an irgendwelchen Fächern oder Inhalten als vielmehr die ihm mit größter Selbstverständlichkeit von den Eltern aufoktroyierte Sichtweise, dass es zum Erfolg am Gymnasium nur die Alternative, ins Nichts zu fallen, gäbe. So gerinnt bei ihm bereits in jungen Jahren Vieles, was andere Gleichaltrige eher spielerisch erledigen, zum Krampf, begleitet von einer im Verhältnis zu seinem Alter unnatürlichen Form von Ernsthaftigkeit, die zum Glück wenigstens, was die Schulzeit betrifft, in Gestalt einer gewissen, daraus resultierenden Abgeklärtheit noch nutzbar gemacht werden kann, und es stellt sich damals schon eine eigenartige Distanz zwischen ihm und seiner Umgebung ein. Das ist im Grunde genommen bis heute so geblieben. Er konnte zwar Unmengen auswendig lernen, aber es mangelte, wie man erst sehr viel später bemerken wird, schlicht an Inspiration, vor allem aber an verwertbarer Kommunikationsfähigkeit. Dennoch, der Speicher im Kopf ist zu jener Zeit noch unerschöpflich. Ebenso betreibt Daniel seinen Sport ziemlich konsequent und erfolgreich. Doch er spürt auch dort damals schon, dass man ihn nicht wirklich will. Selbst in seiner erfolgreichsten Phase, als er in seiner Disziplin den Landesmeistertitel im Jugendbereich erringt, wird das von seiner Umgebung mit einer seltsamen Mischung aus Befremdung und aufgesetzt wirkender Bewunderung bestenfalls leidlich goutiert. Man muss ihn nun aufgrund des errungenen Titels mitnehmen zu den überregionalen Turnieren. Gefördert wird er weniger. Im Nachgang betrachtet ist er jedoch froh darüber, ist doch die Beschäftigung mit Dingen, die in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden, zumeist Zeitverschwendung.

Er spürt überdies relativ früh, dass seine jeweiligen Gegenüber ihm nur Dinge erzählen, von denen sie annehmen, dass er sie hören will. Er hat ständig das Gefühl irgendwie außen vor zu sein, belogen zu werden, auch in gewissem Sinne geschont zu werden - als ob seine Umgebung über Kenntnisse oder Einsichten verfügen würde, von denen er, aus welchen Gründen auch immer, ausgeschlossen sein sollte. Sein einziger Vorteil, was die Schule betrifft, in dieser Phase ist, dass er, vorbelastet nicht zuletzt auch durch den Sport, wo ausschließlich Ergebnisse zählen, mit einer äußerst rationellen Arbeitsphilosophie ausgestattet ist, die ihn davor bewahrt, wie viele andere seiner Mitschüler bereits vorzeitig aufgerieben zu werden: Er kann zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden - durchaus nicht selbstverständlich für dieses Alter -, betreibt konsequenterweise Nebenfächer als das, was sie sind, beteiligt sich mündlich so gut wie gar nicht am Unterricht, lässt sich kaum aus der Reserve locken - auch nicht von Mitschülern - und zeigt das den Lehrern, meist unfreiwillig, gelegentlich auf eine Art und Weise, die auf diese außerordentlich befremdend wirken muss. Er kann Dinge ohne innere Emphase be - und auch vorantreiben. Alles Eigenschaften, die ihm später ausgerechnet an der Universität, wo er sie viel dringender benötigt hätte, abhandenkommen werden. Und dann bekommt er es auch noch quasi-offiziell und gleichwohl unfreiwillig mitgeteilt, verpackt immerhin als Freudsche Fehlleistung in gewissem Sinne: Bei der Besprechung der Vornoten zum Abitur liest ihm der Klassenlehrer seine schriftlichen Ergebnisse des letzten anderthalben Jahres vor, die fast alle befriedigend sind und sagt, mehr ins Leere als zu ihm hin gerichtet, mit einer Geste entgeisterten Kopfschüttelns, geradezu so, als ob er über eine ansteckende Krankheit referieren müsste, auf sein Notizbüchlein blickend: Welch eine Gleichmäßigkeit. So erreicht Daniel relativ mühelos das Abitur.

Im Grunde genommen kann er nur in sich hineinsprechen und das so Vorbereitete später abrufen. In Gesellschaft führt das oft dazu, dass das Wenige, was er wirklich sagen will oder zu sagen hat, zu nebensächlich oder uninteressant wirkt, was dann wiederum den Eindruck erweckt, es wäre auch für ihn selbst unbedeutend. Genauso wenig kann er einem Gespräch direkt etwas entnehmen, was zu einer spontanen Replik führen könnte. Er kann nur Informationen sammeln, um sich dann zur Auswertung zurückzuziehen. Die meiste Zeit besteht bei ihm aus einem Zustand apathischen Ausharrens und Zuwartens, der von seiner unmittelbaren Umgebung fälschlicherweise als Geduld interpretiert wird. Um überhaupt wahrgenommen zu werden, redet er oftmals einfach dazwischen oder stellt Fragen, die bei seinem jeweiligen Gegenüber Interesse vortäuschen sollen, was - ebenso falsch - bisweilen als lästige Neugier verstanden wird. Er langweilt sich schnell in Gegenwart anderer Leute.

Überhaupt wurde damals alles, was ihn betraf, als positiv oder zumindest brav gesehen. Dass man, mit diesem Naturell ausgestattet, in einem speziellen Schulfach überdurchschnittlich gut abschneidet, versteht sich fast von selbst. Aber er wählt, wie meistens, den faulen Kompromiss und beginnt ein Informatikstudium, wofür man gerade viele der persönlichen Eigenschaften benötigt, die ihm fehlen. Aber woher sollte man das wissen? Das Fach ist neu und vielversprechend zu jener Zeit.

Künstliche Aussichten

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