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Teil 1: Oberst Klebb
ОглавлениеEs ist noch eine Weile, bis die Vorstellung beginnt, und die Lobby des Staatstheaters ist fast menschenleer, als er hindurchspaziert. Zusammen mit Angelika hatte er das zu Beginn ihrer Beziehung öfter getan. Nicht immer, um eine Vorstellung zu besuchen, denn dafür fehlte häufig das Geld, wobei dieser Umstand im Grunde wie gerufen kam, um den mindestens ebenso oft fehlenden kulturellen Hintergrund zur gerade angesetzten Aufführung zu verdrängen. Ein Umstand, der sich überdies hervorragend eignete, ein gewisses Bild von ihnen beiden zu erzeugen, jenes Bild, auf das es Angelika so sehr ankam, das ihr scheinbar doch noch die Chance bot, ihre erlernte Weltanschauung unterzubringen - es konnte doch nicht alles umsonst gewesen sein: Die schöne, kluge Sozialistin, Arm in Arm mit dem frischgebackenen, ängstlichen Akademiker, den sie fortan beschützen musste vor diesem Gesellschaftssystem, in dem man sich unerhörter Weise selbst Kultur leisten können muss.
Angelika war vor einigen Jahren aus den neuen Bundesländern in den Westen gekommen. Genaugenommen war ihre schon erwachsene Tochter bereits früher als sie dagewesen, und Angelika ist ihr dann zwei Jahre später hinterhergereist. Angelika kennengelernt zu haben, verstand er damals als ein Zeichen - aus heutiger Sicht wohl eher eine naive Anwandlung - für einen unbelasteten Neubeginn, dafür, endgültig den ganzen Ballast, einschließlich aller eventuell noch vorhandenen Erwartungen und möglicherweise noch offener Rechnungen aus der Vergangenheit, mit einem Mal abwerfen zu können. Angelika war bereits vierundvierzig. Sie ist neun Jahre älter als er. Zwei Menschen, die sich in ihrer zum größten Teil selbstinszenierten Not gefunden hatten, und von denen keiner über eine Perspektive jenseits des beängstigend unbeschwerten Moments hinaus verfügte. Insofern war ihr erstes Aufeinandertreffen wohl auch keine Zufallsbegegnung - falls es so etwas überhaupt gibt zwischen zwei Menschen, die miteinander zu tun haben.
Im Omnibus waren sie sich ausgerechnet auf seiner letzten Fahrt zur Universität begegnet - er wollte lediglich noch sein Zeugnis abholen – und kamen in ein Gespräch, worüber sie beide den Ausstieg verpassten. Wohin sie eigentlich wollte an diesem Vormittag, wurde schnell zur Nebensache, denn sie spüren, dass ab jetzt keine Zeit mehr zu verlieren ist – schon gar nicht die, die man eventuell verbrauchen würde, um sich in unnötigen, grundsätzlichen Fragen zu ergehen. Sie verabreden sich bereits für das nächste Wochenende.
In schwarzer Hose und schwarzer Lederjacke erwartet sie ihn bereits, als er am frühen Samstagabend an der ausgemachten Bushaltestelle ankommt. Für einen Moment wirkt sie auf ihn wie eine Agentin, die im Halbdunkel jemandem auflauert. Von da an wird er sie im Scherz gelegentlich Oberst „Klebb“, bekannte Figur aus einem frühen James Bond-Film, nennen. Wo und wie sie wohnt, will sie ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht verraten - was er aber spätestens ein paar Wochen später, als er sie zum ersten Mal besucht, im Nachhinein verstehen wird. Auf seine flaue Anfrage, ob man lieber eine Lokalität im Stadtteil oder in der nahegelegenen City aufsuchen sollte, schallt ihm bereits ein resolutes »Lass uns doch ganz einfach zu dir gehen!« entgegen.
Bei ihm zu Hause angekommen sieht sie durch das erleuchtete Fenster in der unteren Etage seinen Vater vor dem Fernseher sitzen – was sie sichtlich beruhigt. Er stellt seinem Vater zum ersten Mal in seinem Leben eine Frau vor, was sowohl den Vater als auch ihn stolz macht, und dann begeben sie sich nach oben in Arnolds Wohnung. Obwohl Angelika unablässig ohne Punkt und Komma redet - was ihm im Grunde genommen entgegenkommt, denn er hat sowieso nicht viel zu erzählen -, kann er dem ganzen Wortschwall nur wenige brauchbare Informationen entnehmen. Was er jedenfalls versteht, ist, dass sie in ihrer früheren Heimat als Ingenieurin in einem Rüstungskombinat gearbeitet hatte, welches als Spätfolge von Glasnost und Perestroika abgewickelt wurde. Die Wortwahl, mit der sie das alles umschreibt, klingt dramatisch, und an dem Initiator dieser Entwicklung lässt sie denn auch, wie nicht anders zu erwarten, kein gutes Haar. Den Rest des Abends beklagt sie sich dann über den ihr nicht genehmen Freund ihrer Tochter. Anschließend bringt er sie zu ihrem Ausgangstreffpunkt zurück.
Nach einem weiteren Treffen unter der Woche im universitätseigenen Hallenbad, wo sie - das liest er jedenfalls aus einigen ihrer geringschätzigen Gesten und Kommentare ab, die sie ihm unverblümt entgegenbringt - wohl schon zum ersten Mal seine Blauäugigkeit bemerkt zu haben scheint, finden sie dann bereits am darauffolgenden Wochenende ins Bett. Am Fernseher läuft gerade eine idiotische Westernparodie aus den sechziger Jahren – auch noch mit Frauen in den Hauptrollen, allerdings mit Aktricen von in jeder Hinsicht gewichtigem Kaliber für diese Epoche: Jeanne Moreau und Brigitte Bardot; und zu allem Überfluss auch noch gedreht von einem ebenso berühmten Regisseur: - da muss man sich in Anbetracht dessen, was da geboten wird, zuerst einmal die Augen reiben, sonst glaubt man es nicht - Louis Malle. Normalerweise würde er sich so etwas nicht aufzwingen, doch Angelika will unbedingt weitersehen, hat wohl ein sicheres Gespür dafür, dass sie das dralle Possenspiel am Schirm an diesem Abend noch nutzen kann, um ihm seine bleierne Verkrampftheit auszutreiben – er weiß gar nicht mehr, ob er in Jahren oder bereits in
Jahrzehnten rechnen müsste, um sich zu erinnern, wann er das letzte Mal mit einer Frau intim war -, was ihr schließlich noch vor Ende des Films gelingt. Besonders versiert scheint sie nicht zu sein, soweit er das beurteilen kann – soweit das Arsenal seiner im Kopf stetig präsenten Phantasmen nicht bereits jeden Gedanken an eine Gewöhnlichkeit verblasen hat, müsste es eigentlich heißen. Aber das hat sie auch nicht nötig, verfügt sie doch über jene disziplinierte, solide Körperlichkeit, die noch aus der untergegangenen Gesellschaftssystematik resultiert, in der sie geistig nach wie vor zu Hause zu sein scheint, und somit weitestgehend selbsterklärend wirkt.
Diese anfängliche Zeit mit Angelika verläuft in jeder Hinsicht bescheiden. Er hat noch keine Arbeit, sie befindet sich gerade in einer Umschulung, verdient ebenfalls kein Geld, hat immer noch viele Probleme, hier im Westen Fuß zu fassen. Obwohl ihm im elterlichen Haus eine ganze Wohnung zur Verfügung steht, hausen sie zumeist wie Studenten in Angelikas Einzimmerappartement, das so klein ist, dass man nur stehen oder liegen kann, und wo auf demselben Stockwerk auch noch ihre Tochter wohnt. Von dem wenigen Geld, das zur Verfügung steht, zumeist verdient durch Nachhilfestunden, die er jetzt wieder öfter erteilt, wird der Tagesbedarf bestritten; manchmal kocht die Tochter für sie.
Arnold schickt seine Bewerbungen los, wobei er zunächst krampfhaft versucht, sein nach einem albtraumhaft verlaufenen Studium doch noch erworbenes Informatikdiplom in Kombination mit seinen während der langen Leerzeiten des Studiums gemachten Erfahrungen im Reparieren von Motoren großen Automobil - oder Automobilzulieferfirmen irgendwie schmackhaft zu machen. Bewerbungen an reine Softwarefirmen betreibt er weniger intensiv. Doch diese großen, bekannten Firmen haben Anforderungsprofile, die zwar weitestgehend allgemein gehalten sind, was die Arbeitsinhalte betrifft, dafür aber umso genauer Bezug auf Studiendauer und Notengebung nehmen; und da fällt er mit seiner Semesterzahl natürlich durch jedes denkbare Raster. Aber dann gelingt doch noch der Einstieg in eine Automobilzulieferfirma, zumindest als studentischer Ferienarbeiter.
Am selben Tag beginnen sie zu arbeiten: Angelika als Aushilfe in einem nahegelegenen Kindergarten für russische Immigrantenkinder, Arnold in der Fabrik im Schichtdienst. Die nächsten Monate weiß er manchmal nicht mehr, ob er das alles erlebt oder nur träumt. Sehr viel hat sich fast schlagartig verändert. Die Arbeit in der Fabrik setzt ihm zu, wobei es weniger der Schichtdienst ist - schon während seiner Militärzeit hatte er in Schichten gearbeitet auf einer Funkstation. Auch, was die Arbeitsinhalte selbst angeht, gibt es aufgrund seiner wie gesagt soliden, autodidaktisch erworbenen Halbbildung im Automobilsektor ebenfalls wenig Probleme. Die Frage stellt sich nun irgendwann, ob er in diesem Bereich, der nicht seinem erlernten Beruf entspricht, bleiben soll. Aber bereits nach relativ kurzer Zeit bietet man ihm einen Zeitvertrag. Entscheidend ist, wo man arbeitet, nicht so sehr, was man arbeitet, dieser Satz wird von da an sein Credo, und er bleibt. Die Tatsache, dass er auf der Suche nach einem Job als studentische Hilfskraft ausgerechnet die beste aller Möglichkeiten in dieser Hinsicht getroffen hat, betrachtet er dabei als Wink mit dem Zaunpfahl; es wäre wirklich idiotisch, jetzt ohne Not abzuspringen. Außerdem bestünde auch hier wahrscheinlich noch die Möglichkeit, irgendwann später in einer IT-Abteilung des Betriebs einzusteigen, doch seine innere Stimme sagte ihm damals schon, dass er es nie versuchen werden würde.
Dass er mit seiner anfänglichen Idee trotzdem nicht gänzlich falsch lag, dafür erhält er erst gut ein Jahr später die Bestätigung, als ein Antwortschreiben auf eine Bewerbung, die er bereits abgeschrieben hatte, im Briefkasten liegt: Der Personalchef einer mittelständischen Firma, die jemanden sucht für die Programmierung von Dieselmotor-Prüfständen, will ihn zum Vorstellungsgespräch einladen; doch dafür ist es dann aus seiner Sicht schon zu spät. Er befindet sich zwar noch im Zeitvertrag, trotzdem erscheint ihm der Absprung von einer großen Firma zur kleinen hin jetzt als zu riskant. Er ist Mitte dreißig und kann sich keine allzu umfangreichen Kapriolen mehr erlauben.
Angelika ist in ihrer neuen Arbeit ebenfalls sehr eingespannt, auch sie verdient bereits nach einigen Wochen gutes Geld, soviel, dass Arnold sogar einen ernsthaften Anlauf unternimmt, zu sparen, denn sie wissen von Beginn an schon, dass Angelikas Job auf ein Jahr befristet sein wird; das ist von der Stadtverwaltung ohne Ansehen der Person so geregelt. Es wird freilich auch schon der letzte Versuch sein, den er jemals unternehmen wird, denn irgendwann tritt Angelikas Tochter, die gerade die Beziehung zu ihrem Freund auf Angelikas Druck hin beendet hat, mit den damit verbundenen Notwendigkeiten verstärkt in den Fokus. Sie arbeitet überwiegend in Spielotheken zu dieser Zeit, was natürlich kein Dauerzustand bleiben soll.
Zudem muss auch er allmählich damit beginnen, seinen eigenen Investitionsstau, der sich - sei es, was Kleidung oder beispielsweise Mobiliar betrifft - über die Jahre an der Universität gebildet hat, abzuarbeiten. Das alles hört sich wesentlich leichter an, als es ist, für jemanden, der, obwohl er nie etwas besessen hat, gleichwohl niemals sparen gelernt hat.
Im Jahr darauf leisten sie sich den ersten gemeinsamen Urlaub, der zeitlich über einen Wochenendtrip hinausgeht, im Sommer an die belgische Küste nach Ostende. Sie wohnen in einem ehemaligen Thermalbad direkt am Strand, das irgendwann zum Luxushotel umdefiniert wurde – und das sogar noch zu erträglichem Preis -; bereits ein Jahr später wird ein etwaiger Aufenthalt über eine Woche hinaus dort infolge einer erneuten Sternekategorisierung nahezu vollkommen unerschwinglich sein. Ihm kommt der Urlaub gerade recht; vor ein paar Wochen erst hatte er einen üblen Arbeitsunfall glimpflich überstanden und kann sich hier auskurieren. Das frische Klima tut ihm gut; der ständige Wind - er ist zum ersten Mal an der Nordsee - nervt allerdings. Die Qualität des Meerwassers scheint zwar undefinierbar zu sein, befindet man sich doch am ausgehenden Kanalufer, einer der immer noch am meisten frequentierten Schifffahrtsrouten weltweit, aber das bietet dann auch andere Möglichkeiten, beispielsweise mit dem Katamaran einen Tagestrip via Ramsgate nach London zu unternehmen. Angelika ist so etwas wie erwartet nicht zu vermitteln. Sie verbringt die meiste Zeit in dem direkt an das Hotel angrenzenden, kombinierten Hallen-Freibad.
Das Meeresklima ermüdet, was bei ihnen dazu führt, dass sie abends rechtzeitig zu Bett gehen, und bei ihm der daraus resultierende positive Effekt zu verzeichnen ist, dass er wenigstens für annähernd zwei Wochen einen geregelten Tagesablauf hat. An die Tatsache an sich, auf Dauer jeden Morgen neben jemandem aufzuwachen, könnte er sich wohl - wenn überhaupt - nur schwerlich gewöhnen, das wird ihm in diesem Urlaub ebenfalls klar. So wird es auch schon der letzte über ein Wochenende hinaus sein, den sie miteinander verbringen.
Zurück aus dem Urlaub muss nun zunächst dringend eine Lehrstelle für Angelikas Tochter besorgt werden. Diese hatte irgendwann damit begonnen, ihn „Vater“ zu nennen und tut das bis heute offensichtlich ohne Not. Also kümmert er sich auch um sie.
Eines Tages stößt Arnold auf eine für sie passgenaue Stellenanzeige: Eine große Hotelkette wird am Rande des Stadtparks in der City ihre neue Zentrale errichten und sucht Auszubildende. Angelikas Tochter hatte schon in ihrer früheren Heimat das Hotelfach erlernt mit Abschluss, doch der wird hier nicht vollständig akzeptiert, bestenfalls ein halbes Lehrjahr bekommt sie deswegen erlassen. Sie von der Notwendigkeit einer solchen Maßnahme zu überzeugen gestaltet sich fast schwieriger als die nachfolgende Ausbildung zur Hotelfachfrau selbst.
Nach zähen Diskussionen bringt er sie dazu, sich zu bewerben, und sie kommt schließlich auch dort unter.
Das Hotel liegt für öffentliche Verkehrsmittel etwas ungünstig, und die Leerlaufzeiten, die in der angeschlossenen Gastronomie zwangsläufig nachmittags entstehen, sind lang, sodass er sie, die zu der Zeit, als der Betrieb losgeht, noch keinen Führerschein hat, oftmals hinbringt oder abholt. Da der Chef der Hotelkette selbst im Haus wohnt und gleichzeitig Präsident sowie Sponsor des städtischen Fußballklubs ist, wird dort oft bis spät in die Nacht getagt, und sie muss dann, obwohl Auszubildende, offenbar auch bis zum Schluss bleiben; manchmal steht er nach seiner Spätschicht stundenlang vor der Tür und wartet auf sie.
Innerhalb der folgenden Jahre gilt es, einige Rückschläge zu verarbeiten: Arnold muss als Folge einer kurzen Rezession wieder seine Firma verlassen, da er sich noch im Zeitvertrag befunden hatte, doch schon ein halbes Jahr später erfolgt nach einem Intermezzo in einem kleineren Betrieb derselben Branche die Rückkehr und schließlich die Festanstellung beim alten Arbeitgeber.
Angelika hingegen wird nach Beendigung der Arbeit im Kindergarten beruflich nicht mehr richtig auf die Beine kommen: Während sie gerade eine diesmal durchaus vielversprechende, staatlich geförderte Schulungsmaßnahme absolviert, erleidet sie als Fußgängerin einen schweren Verkehrsunfall - sie läuft in ein Auto -, von dem sie als Andenken bis heute ein stabilisierendes Metallelement im Unterschenkel zurückbehalten hat. Zudem muss der Schaden des Unfallgegners, der in die Tausende geht, bezahlt werden, da sie auch noch den größten Teil der Schuld trägt und natürlich - aus ihrer Sicht jedenfalls - keine Haftpflichtversicherung hat; schon vor gut zwei Jahren hatte es wegen diesem Thema einen fulminanten Streit zwischen ihnen gegeben, der sich wie zumeist in absurden weltanschaulichen Unvereinbarkeiten festfuhr: Selbst bei zweistelligen Jahresbeiträgen glaubt sie, jemand wolle sie über den Tisch ziehen - das Misstrauen gegen das ihr suspekte Gesellschaftssystem scheint immer noch grenzenlos zu sein.
Insgesamt verlaufen die nächsten Jahre über das Millennium hinaus zum größten Teil harmonisch, was überwiegend Angelikas Bemühungen zu verdanken ist, die es schafft, Arnold stets auf eine spezielle Art mit all dem zu beliefern und bei Laune zu halten, was gerade sein diffuses Selbstwertgefühl so sehr benötigt zu dieser Zeit. So versteht sie es, ihn unter anderem mit Szenarios zu versorgen, die man sonst allenfalls aus amerikanischen Screwball-Komödien kennt, indem sie von ihrem Temperament her beispielsweise durchaus fähig ist, Frauen, auf die sie in Gesellschaft treffen und die sie in Bezug auf ihn für gefährlich hält, vor allen Leuten durchaus alles Andere als augenzwinkernd gemeinte filmreife Eifersuchtsszenen – da fehlen oft nur noch die fliegenden Torten zum Klischee - zu zelebrieren, die ihn nach der ersten Aufregung oftmals demütig zurücklassen. Oder sie treibt etwa Heerscharen von angeblich besten Freundinnen aus ihrem Bekanntenkreis auf, mit denen man dann in der Landeshauptstadt eine Edeldisco besucht - er als einziger Mann in dieser Runde, weithin sichtbar in der Rolle des Westentaschen-Casanovas –, ein Szenario, das Angelika offenbar noch mehr genießt als er selbst. Überdies kann sie es nach wie vor nicht lassen, ihn mit zwar gebrauchten, aber ehemals wohl teuren und in erster Hand aus gut situierten Kreisen kommend wirkenden Anzügen und Mänteln zu versorgen. Dies geschieht alles, ohne dass er Viel dazu tun müsste.
Zumeist sehen sie sich zu dieser Zeit nur am Wochenende, nicht zuletzt auch deswegen, weil Angelika nach mehreren Wohnungswechseln auch diesmal mit der neuen offenbar keine gute Wahl getroffen hat, jedenfalls scheint man beim Bau dieses Hochhauskomplexes, in den sie einzieht, am Zement in den Decken gespart zu haben: Jeder Schritt von der darüberlegenden Wohnung ist zu hören, und zu allem Elend scheint direkt über ihr offensichtlich auch noch jemand zu wohnen, der seine Erholungsspaziergänge in die eigenen vier Wände verlegt zu haben scheint; später wird sich herausstellen, dass es sich um einen Mann auf Droge handelte, der wohl versucht hatte, auf diese Weise seine Entzüge abzuarbeiten.
Zudem hat man die Modeerscheinung „offene Küche“ in den sechziger Jahren, als dieser Wohnkomplex entstand, wohl auch schon gekannt, scheinbar aber noch anders, irgendwie mehr Leidensfähigkeit voraussetzend, interpretiert als heute: Die Küche ist so positioniert, dass man nahezu direkt nach dem Eintreten in die Wohnung mittendrin steht, und der Kochdunst sich seinen Weg in die andere Richtung über das gesamte Wohnzimmer hinweg bis zur Balkontür bahnen muss. Die alten Holzfenster sind undicht, und die Heizkörper machen Geräusche, was sich des Nachts als nervige Angelegenheit bemerkbar macht. Abhilfe wird erst nach etlichen Anrufen und Bittgängen bei der Besitzerin des Appartements, einer älteren Frau mit kühlem Blick hinter einer goldgeränderten Brille gewährt. Jedenfalls fühlt er sich von Anbeginn an nicht wohl hier.
Eine bemerkenswerte Begebenheit gibt es aber auch dort dann doch noch vor dem erneuten Umzug zu verzeichnen: Eines Abends - er ist gerade dabei einen Wohnzimmertisch zusammenzuschrauben - klingelt es an der Wohnungstür; Angelika öffnet, und da steht - der Oberbürgermeister mitsamt seiner Entourage; er ist auf Wahlkampftour und sucht das Gespräch mit den Bewohnern seiner Stadt. Angelika findet sofort einen Draht zu ihm, entkorkt eine Flasche Wein und unterhält sich mit ihm über die aktuelle Entwicklung im Osten; doch der Mann hat natürlich nicht viel Zeit. Auch Arnold kennt ihn relativ gut, hat ihn vor Jahren zum ersten Mal bei einer Podiumsdiskussion im großen Mathematikhörsaal der Universität erlebt zusammen mit seinem Vorgänger in diesem Amt. Der Oberbürgermeister, als ausgewiesen kompetenter, profilierter Ökonom geltend, war schon vorher Wirtschaftsminister im Land gewesen, noch früher auch schon Bundestagsabgeordneter. Er wird auch diesmal wiedergewählt werden, doch nicht mehr viel Freude an seiner Amtsperiode haben. Schon nach relativ kurzer Zeit wird er nach inzwischen gängiger Manier abserviert werden. Bei der Landschaftspflege etwas zu naiv agierend hatte er wohl die umstehenden Gartenzwerge vernachlässigt.
Am Samstagabend begeben sie sich zumeist zur Tochter, wo man gemeinsam isst, sich etwas vom Fernsehprogramm ansieht und dabei die Woche Revue passieren lässt. Angelikas Beziehung zu ihrer Tochter ist selten spannungsfrei, ein ernsthaftes Gespräch zwischen beiden ist nur in einem sehr begrenzten Themenfenster möglich, insbesondere hat er den Eindruck, dass selbst ein Austausch über spezifische Frauenthemen zwischen ihnen schwierig zu sein scheint.
Dass sie hier bei irgendetwas stören, den Eindruck haben Angelika und Arnold zu jener Zeit nicht, da sie davon ausgehen, dass die Tochter keinen Freund hat. Die Nacht zum Sonntag verbringen sie dann meistens in Arnolds Wohnung – freilich in getrennten Betten. Das ist für ihn in Bezug auf ihr Zusammensein die Idealkonstellation, entbindet sie ihn doch davon, den Abend oder vielmehr die Nacht in irgendwelchen sentimental strukturierten Umklammerungen ausklingen lassen zu müssen. Des nachts braucht er, wenn er schon nicht allein ist, zumindest gefühlte Openend-Szenarios. Deswegen übernachtet er auch so gut wie nie bei Angelika. Der Sex ist nach wie vor leidlich, aber hier sollte nicht der Weg das Ziel sein, sondern das Ziel, denkt er. Außerdem ist Angelika nicht der Typ, der in dieser Hinsicht jemals gewertet hätte, im Gegenteil, sie akzeptiert ihn auch klaglos in Bezug auf seine dürftigen sexuellen Anmutungen, die sich fast ausnahmslos aus trüben Quellen speisen; beispielsweise in seinem unterschwelligen Streben nach lächerlichen Machoallüren, wenn er sich etwa, am frühen Sonntagnachmittag Formel eins schauend, auf dem Bett herumfläzt, und sie sich, in Griffweite vor ihm liegend, an seinem Schwanz zu schaffen macht, immer aufs Sorgfältigste bedacht, die Werbepausen nicht allzu sehr zu überziehen, damit er in seiner Einfalt nicht gestört wird.
Am Sonntagnachmittag schließt sich dann, vorausgesetzt, er arbeitet nicht, zumeist ein Besuch an bei irgendwelchen von Angelikas zahlreichen Bekannten, die sie Freundinnen, im vertrauten Kreis manchmal auch gerne noch Genossinnen nennt; abends dann noch ein Spaziergang, oftmals in dem Park nahe dem Hotel, wo die Tochter gerade ihre Lehre absolviert. Gelegentlich fährt er mit der Tochter sonntags auch auf den naheliegenden ADAC-Übungsplatz.
Dieses ganze Szenario erfüllt sowohl Angelika als auch ihn dann doch mit einem gewissen Stolz auf das bisher gemeinsam Vollbrachte, vermittelt ein Gefühl von Familie, von Kontinuität. Überhaupt hat Arnold in dieser Phase zum ersten Mal seit Jahren wieder das Gefühl, dass sein Leben in halbwegs normalen, geordneten Bahnen abläuft, dass er nicht ständig alles hinterfragen oder in Zweifel ziehen müsste, wie das früher vor allem an der Universität dauernd der Fall war. Es ist eine gute Zeit.
Nach Beendigung ihrer Lehre wird Angelikas Tochter allerdings nicht mehr in diesem Hotel arbeiten; scheinbar hat ihr die Arbeitsatmosphäre während der Lehrzeit in diesem doch auch für sie noch fremden Umfeld mehr zugesetzt, als zu erwarten war. Sie hat auch während dieser Zeit stets nebenher noch in anderen Hotels gejobbt, und diese Nebentätigkeiten werden dann irgendwann wieder zur Hauptsache. Aus heutiger Sicht hätte er wohl damals mehr Druck auf sie ausüben sollen, den durch die Lehre eingeschlagenen Weg konsequent fortzuführen, doch er wollte dem Dauerkonflikt, welchem sie in diesem Punkt in Gestalt ihrer Mutter sowieso schon ausgesetzt war, nicht noch zusätzlichen Zündstoff liefern. Später wird sie ihm das, unterschwellig zwar, gelegentlich vorwerfen. Schon das Aufnehmen der Lehre musste er gegen Angelikas Willen durchsetzen. Zudem ist jetzt, seit wieder ein neuer Freund im Spiel ist, sein Einfluss ohnehin äußerst begrenzt. Er quält nicht gerne Menschen, die ihm wirklich nahezustehen glauben - vielleicht ein prinzipieller Fehler. Dass sie besser noch weiter an ihrer beruflichen Karriere gearbeitet hätte, wird sie erst viel später merken, dann aber auch umso eindringlicher.
Fraglos hat er Angelika viel zu verdanken, unter Anderem im übertragenen Sinne so etwas wie familiären Anschluss, obwohl sie keinen Tag zusammengewohnt haben, denn das wäre für ihn entschieden zu viel aufgebürdeter Lebenspraxis gewesen, vor allem aber eine empfindliche Beeinträchtigung seines gedanklichen, meist zu nichts führenden Pseudoperfektionismus, den er Niemandem zumuten will, der ihm halbwegs nahezustehen glaubt. Ja „im übertragenen Sinne“ - es gibt auch heute wohl kaum einen Ausdruck, der seine Befindlichkeiten, seinen Zugang zur Realität oder vielmehr das, was er dafür hält, besser charakterisiert, denn wirkliche innere Bindungen hat er keine zu seiner Umgebung, selbst zu seiner engsten nicht, ganz zu schweigen von Freundschaften.
Der Zeitpunkt ihres ersten Aufeinandertreffens war wie gesagt ausgerechnet sein letzter Besuch der Universität und somit auch formal gesehen die perfekte Nachzeichnung eines Neubeginns, zusammenfallend mit der Beendigung eines lange andauernden, strapaziösen Irrlaufes, der ihn fast die Existenz gekostet hätte und ihn zumindest materiell noch nachhaltig behindern würde, fehlte zu diesem Zeitpunkt doch bereits eine nicht zu vernachlässigende Anzahl an Rentenbeitragsjahren. Dabei handelt es sich zwar noch um nichts wirklich Dramatisches, doch die zeitliche Lücke, die ihn von dem Bescheid, der davon kündet „was sie nach heutiger Kaufkraft von uns bekommen werden“ angähnt, ist eben auch nicht mehr wegzudiskutieren. Zum Glück haben ihn materielle Szenarios weder im Guten noch im Schlechten jemals ernsthaft berührt. Das ist wohl einem jener Effekte der ihm angediehenen Erziehung geschuldet, die seine Mutter gegen sämtliche Widerstände durchsetzen konnte.
Schon der Beginn seines schulischen Werdegangs in Richtung Gymnasium eingangs der siebziger Jahre war dem Bedürfnis seiner Mutter nach anderen Lebensentwürfen, nach einem Ausbruch aus ihrer inneren Bedrängnis geschuldet, wofür sie in Arnolds vermeintlich vorzeichenbarer Entwicklung die geeignete Projektionsfläche wähnte. Seine Eltern waren zwei Menschen, die sich niemals hätten begegnen dürfen, passten sie doch in etwa so zusammen wie Senna und sein letztes Team. Aber das war schwer möglich, denn sie entstammten Nachbarshäusern einer Bergarbeitersiedlung.
Sie hatten zwar in den fünfziger Jahren noch ihre Berufsausbildungen absolviert gehörten aber bereits einer neuen Generation an. Sein Vater, der über Tage arbeitet, zieht über Meisterbrief sowie Weiterbildung zum Techniker zäh und diszipliniert seine berufliche Bahn und ist auch schon mit einem für diese Zeit noch keineswegs selbstverständlichen, ebenso rationalen wie rationellen Gestus versehen, dem die noch allgegenwärtige verschwitzte Montanmentalität schon nicht mehr unmittelbar anzumerken ist.
Die Mutter hingegen bevorzugt einen schwülstig theatralischen Auftritt, der auf den ersten Blick zwar provokant wirkt, bei genauerem Hinsehen aber wohl damals schon ihre innere Verzweiflung konterkarieren soll. Sie arbeitet als Kinderkrankenschwester im städtischen Klinikum, träumt, illuminiert durch den beruflich bedingten Kontakt mit Menschen aus anderen gesellschaftlichen Sphären wie beispielsweise den ein scheinbar perfektes Leben vorexerzierenden Ärzten, von einem eher bourgeois geprägten Anschluss, pflegt so ihre ganz eigenen Illusionen. Und die werden zusätzlich noch angefacht von Kolleginnen, die ihr klarzumachen scheinen, dass auch im nichtakademischen Umfeld ein gewisser Anspruch durchaus vorhanden und auch erfüllbar sein sollte. Man ist schließlich berufstätig in einem hochsensiblen Bereich - da wird man doch wohl noch eine Theaterkarte für ein modernes Stück oder wenigstens den Mitgliedsausweis für einen harmlosen Buchclub im Familienkreis vorzeigen dürfen…
Aber man darf noch nicht wirklich. Denn die Marschrichtung einschließlich der Marschmusik wird dort immer noch von den Altvorderen vorgegeben. Da gibt es zum Beispiel die wesentlich älteren Geschwister auf beiden Seiten, die scheinbar alles wissen, die vor allem alles besser wissen und natürlich auch das, was niemand wissen konnte, doch zumindest leutselig zu beklagen in der Lage sind; die nassrasierten Brüder etwa, die zum sonntäglichen Stelldichein oder bei Familienfeiern, untermalt aus alterslosen Gesichtszügen, ihre fein ziselierten Monologe abhalten. Fragen sind da keine erlaubt, höchstens solche, die keine sind, geschweige denn Widerspruch. Falls dann wirklich versehentlich einmal die joviale Fassade angekratzt wurde im Bubenstück, so konnte die Tonart sehr schnell in eine barsche Diktion umschlagen, die überhaupt keinen Zweifel daran ließ, dass man, mit Sekundärtugenden im Übermaß ausgestattet, keine Infragestellung der Befindlichkeiten wünsche - und überhaupt verböte sich angesichts der eigenen Lebensleistung, die ja von seinen Eltern erst noch zu erbringen sei, jede weitere Diskussion. Was sollte auch darüber hinaus noch zu sagen sein? Außerdem hätte man zum Vortrag neuer Ansichten natürlich auch eine unverbrauchte Sprache benötigt.
Oder die ebenfalls wesentlich älteren Schwestern seiner Mutter – in ihrer äußeren Formlosigkeit eher wie ihre Tanten anmutend -, die sich durchaus vehement über die Enge und Prüderie der vergangenen Jahrzehnte beklagen, deren sich selbst zugeschriebene, angebliche Toleranz aber exakt dort endet, wo der Zeitgeist sie direkt anzugehen droht; die beispielsweise eher in Sack und Asche gegangen wären, als zu solchen Anlässen in Hosen zu erscheinen, wo die eigene Mutter zugegen ist, unter deren eisernem Zepter man sich nach wie vor windet, aus deren erweitertem Familienkreis immerhin die Person stammt, die aufgrund einer beeindruckenden beruflichen Karriere einer zentralen Institution im Lande vorsitzt und demzufolge mit all den Möglichkeiten versehen ist, die eigenen Leute an passender – oder, wenn es denn unbedingt sein muss, auch weniger passender Stelle mit entsprechendem Nachdruck anzuempfehlen. Und dafür wird der gebührende Preis abverlangt unter Anderem in Form einer perfiden Art interfamiliär verordneter Disziplinierung, die den Deal Versorgtheit für lebenslanges Wohlverhalten schon vorab zementieren sollte - ständig fühlt Arnolds Mutter sich von ihrer eigenen beobachtet, ständig wird verlangt, alles richtig zu machen, wo doch irgendwann einmal Wahrhaftigkeit gefragt wäre. Der einzig jüngeren Schwester der Mutter beispielsweise, der Unverheirateten, beruflich an selber Stelle tätig, wird ihr Faible für einen gewissen „Dumm Jones“ – wie ihre Mutter den Briten nennt, dessen Stern im Showgeschäft gerade aufgeht – mittels einer nur schwer zu ertragenden Häme nachgetragen. Diese verfehlt auch dort ihre Wirkung nicht, obwohl die Schwester von ihrem Naturell her etwas härter im Nehmen ist als Arnolds Mutter. Und - gründlich bearbeitet - entschließt diese sich plötzlich für einen Schwenk in Richtung klassischer Tenöre.
Arnolds Mutter leidet sichtbar und fühlbar am meisten unter dieser ganzen Gemengelage, diesen ranzigen Ausdünstungen der Fünfziger, diesem ständigen „In die Zange genommen werden“ aus sämtlichen Richtungen. Um sich dagegen wehren zu können, fehlt ihrem Wesen die grundsätzliche Abgeklärtheit, die Gelassenheit - das ist für ihn bereits als Heranwachsender, wo man noch über ein besonders unvoreingenommenes, unverfälschtes Gespür verfügt, schon damals regelrecht greifbar.
Und so hat man sich denn auch beim Hausbau, dessen Notwendigkeit die Eltern sich einreden lassen - bereits die zweite große Lebenslüge -, schon wieder verfangen in diesem Geflecht aus Bedingtheiten und Zugeständnissen, dem Pump - und Hebelwerk aus Abhängigkeiten, daraus resultierenden faulen Kompromissen und Verdrängung der eigenen wirklichen Wünsche. Besinnung war hier nicht vorgesehen. Das war der eigentliche Preis neben allem Habhaften, das war der Lebensdeal.
Das Eigenheim entstand wie in diesen Kreisen üblich zum Großteil mit günstigen Krediten des Arbeitgebers sowie der dahinterstehenden Wohlfahrtsmaschinerie, ein freilich nur scheinbarer Akt der Güte, denn erwartet wird im Gegenzug selbstverständlich die entbehrungsreiche Eigenleistung – und zwar über viele Jahre, denn man baut nicht nur sein eigenes Haus, sondern in Solidargemeinschaft an der ganzen Siedlung mit, bis auch das letzte Haus steht; und vor allem die Mutter gewöhnt sich nie wirklich an das nur scheinbar Neue, was noch eine Weile durch ihre Berufstätigkeit kaschiert wird. Doch dann wird ausgerechnet der Vater, den normalerweise so schnell nichts umwirft, krank, muss fast ein Jahr aussetzen - erste Vorboten für das Kommende, die natürlich nicht als Solche erkannt werden dürfen: Die ausfallenden Stunden am Bau werden postwendend finanziell beglichen aus dem Familienkreis - neue Verpflichtungen, noch mehr gute Miene, noch längere Sonntagnachmittage im trauten Kreis im neuen Haus, noch mehr zähneknirschend absolvierte Gegenbesuche, noch weniger Zeit für sich selbst.
In Wahrheit war man einem damals schon rezessiven Industriezweig ausgeliefert, inklusive der diesem innewohnenden gesellschaftlichen Stagnation. Die Kohle, einst der Rohstoff zur Anfachung sowie Befeuerung wirtschaftlicher Dynamik, gereichte im Privaten wohl eher zum Synonym einer anheimelnden Immobilität. Es gab wohl vor allem in harten Wintern kein besseres Heizmittel, aber, wenn man sich länger als einen Tag von zu Hause entfernt hatte, war der Ofen aus. Eine heile Siedlungswelt, wo in der großen Mehrzahl der Familien die Frauen nicht berufstätig waren, die meisten auch ein gutes Stück älter als seine Eltern.
Und dann stehen plötzlich die siebziger Jahre vor der Tür, und es hätte eine Chance sein können, zum immer noch allgegenwärtigen Muff zumindest auf Distanz gehen zu können. Natürlich, der gesellschaftliche Wandel zu Beginn dieses Jahrzehntes wirkt verlockend. Aber wie dieser jenseits der beim Arzt ausliegenden Zeitgeistmagazine zu vollziehen sei, hatte ihnen niemand verraten, und so stand er, falls er über das Materielle hinaus überhaupt wahrgenommen wurde, von Anfang an auf tönernen Füßen. Dieses ständige „gegen Windmühlen anrennen“ durch einen klaren Schnitt, einen Tabubruch innerhalb der eigenen Reihen zu ersetzen, würde viel Kraft und Selbstvertrauen erfordern – und vor allem unverrückbare Standpunkte, Überzeugungen, die dann auch gelebt werden müssten. Gelegentlich fällt der Blick dann auch allzu zwangsläufig und unkritisch dorthin, wo Andere Solches für einen zu erledigen scheinen - was stellenweise zu manch grotesker Fehldeutung führte. Eine zumindest unterschwellige Koketterie beispielsweise für diese tolle Sportnation, dieses Arbeiterparadies auf der anderen Seite des Horizontes, wo der gesellschaftliche Anschluss für Leute ihres Schlages scheinbar von Staats wegen angestrebt wurde, war in manchen Momenten mehr als spürbar.
Die Mutter denkt überdies - und das wird sich mit zunehmender Zeit als wirklich fataler Irrtum herausstellen -, man könne durch einen gewissen Aktionismus, der sich fast ausschließlich in übertriebener Zuvorkommenheit ergeht, bei Leuten, die man für wichtig hält, Augenhöhe erzwingen, greift dabei auf gesellschaftlicher Ebene – oder, was man dafür hält - nach jedem Strohhalm. Dass es sich bei diesen Leuten, beispielsweise denen vom Sportverein, überwiegend um jene Sorte Djangos handelt, die man für gewöhnlich in Linienbussen unaufgefordert ihre Monatskarten vorzeigen sieht, und die in Gestalt seiner Mutter nun die willkommene Projektionsfläche für ihre spießbürgerlich bedingten Unausgelebtheiten gratis präsentiert bekommen - um das zu erkennen, ist sie zu naiv und gerät so in eine Art von Zugzwang, der sie mit zunehmender Zeit immer weniger gewachsen ist. Sie bemerkt nicht, dass sie von diesen Leuten nur zum Zeitvertreib gelitten wird. Und so bleibt der angepeilte Anschluss an ein bürgerlich geprägtes Umfeld letztendlich doch immer und bis zuletzt auch ein Buch mit sieben Siegeln. Das Rüstzeug fehlt, und so sucht und versucht sie sich stets an den falschen Stellen - ein Wesenszug, den Arnold erben wird, und der ihn im Grunde genommen bis heute beeinträchtigt.
Arnolds Mutter will jetzt den Durchmarsch zu neuen gesellschaftlichen Sphären erzwingen – koste es, was es wolle - und als ultimativen Türöffner hat sie sich Arnold auserkoren, weil sie dessen Entwicklung schlicht für planbar hält. Und dafür soll ein breitgefächerter, aufwendiger Anlauf genommen werden. Sie will ihn wohlbehütet auf dem Gymnasium sehen, nichts soll den Bildungsweg des Sohnes, in dessen Fahrwasser sie sich anschließend sonnen will, stören. So werden Elternversammlungen für sie bereits zu Eventveranstaltungen, nach deren Besuch sie schwadroniert, wen sie da alles getroffen habe - bei denen sie den Kontakt zu der Realität, die gerade dort beleuchtet werden soll, aber mit der Zeit vollends verliert.
Sie gibt irrwitzigerweise sogar ihre Stelle in der Kinderklinik auf - und merkt noch nicht, dass sie damit sich selbst aufgibt. So tauscht sie den unsäglichen Vorzug, einen professionellen Umgang mit Leben und Tod pflegen zu dürfen, gegen vermeintliche Verheißungen ein, die sie letztendlich endgültig dort festnageln, von wo sie auf – und vor allem ausbrechen wollte – im trauten Heim nämlich, wofür sie aber nicht geschaffen scheint.
Die Bedürfnisse seiner Mutter sind, nicht nur, was diese Art von Familienleben angeht, so nicht wirklich zu befriedigen, sind vollkommen anders gelagert. Sie will stets den Königsweg, bevorzugt die ins Vulgäre reichenden Boulevard-Komödien, die neuerdings zumeist samstagabends am Fernseher laufen, geht dafür sogar mit Arbeitskolleginnen gelegentlich ins Theater zu jener Zeit. Das nahezu stereotyp den Leuten aus ihrer unmittelbaren Umgebung insinuierte Mittelmaß bereitet ihr Probleme; sie braucht die Premium-Etikette, will – wenn es denn sein muss - die Beatles hören und bitte nicht die Rolling Stones, will ein Bild von Monet und gefälligst nicht von Manet an der Wand, obwohl sie die gar nicht auseinanderhalten könnte - während der Vater die Rolle des Hauptmann von Köpenick auch mit Rudolf Platte passabel besetzt findet… Sie macht sich lustig über Verschwörungstheoretiker, duldet innerlich keine Philosophie des Zweitbestentums, ängstigt sich vor Sekundärtugenden, bevorzugt den handfesten, authentischen Witz mit dem schweren, unverrückbaren Unterbau, beispielsweise zum Fasching; sieht sich „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ jedes Jahr alleine von Anfang bis Ende an. Subkulturen sind ihre Sache so wenig wie diese Jammertäler von zur Schau gestellter Bescheidenheit, hinter denen sie schlicht Minderwertigkeitskomplexe vermutet.
In einem gewissen Widerspruch zu diesem Wesen steht ihr Männerbild generell, welches offensichtlich ohne, in der Phantasie herbeifabulierte, sogenannte „Mannsbilder“ auskommt – auch Seitensprünge sind an ihr schwer vorstellbar -, das vielmehr von dem männlichen, in einer vermutet hohen Sphäre, jedenfalls über allen Kalamitäten des Lebens schwebenden Neutrum genährt wird. Wahrscheinlich hätte sie tatsächlich besser auf einen Arzt gewartet. Jedenfalls lebt sie regelrecht auf in Gesellschaft von eigenschaftslosen, alterslosen Studenten beispielsweise, bei denen sie eine Zukunft insinuiert, die ihr selbst versperrt ist. So wie bei dem, der nach dem Tod ihrer Schwiegermutter bei ihnen wohnt beispielsweise; den hatte der Vater im Tischtennisverein kennengelernt, und der entführt den Vater nach dem Samstagabend zumeist spät beendeten Tischtennismatch gelegentlich in alternative Lokale - in denen der Vater vermutlich weniger auffällt als der Student selbst. Er schenkt dem Vater eine Langspielplatte von Herb Alpert zum Geburtstag.
Und dann wird sie endgültig dorthin zurückbefohlen, wo all das wieder abverlangt wird, was sie schon längst innerlich über Bord geworfen hat. Spät – sie ist gerade beim Übergang von Lonarid mit Wasser zu Valium vor Cognac - kündigt sich noch ein Kind an. In Bezug auf den eigenen gehegten gesellschaftlichen Anspruch hat man sich nun selbst überlistet. Freunde hat man nun keine mehr, jedenfalls nicht die, die man zu brauchen glaubte. Das mag undramatisch und in gewisser Weise auch selbstverständlich klingen für viele, die mit den Begleiterscheinungen des Kinderglücks konfrontiert sind, doch ist es unerträglich für jemanden, der den erhöhten und dadurch erst als blühend empfundenen Moment, die zwischenmenschlichen Finessen, die Aperçus und Bonmots stets inhaliert hat wie eine Droge und nun wie beim Monopoly wieder auf Anfang gesetzt wird.
Und dazu erklingt dann auch wieder allgegenwärtig die Begleitmusik, die man schon halbwegs überwunden glaubte, wobei auch diese sich offenbar weiterentwickelt hat mit der Zeit und nun leiser als früher in Form feiner Nadelstiche daherkommt, die Naturen, die dagegen nicht gewappnet sind wie seine Mutter, bis ins Mark treffen. Da kann man es sich beispielsweise nach der Geburt des Nachkömmlings, die problematisch verläuft – die Kleine muss, obwohl sie nicht vor der Zeit kommt, die ersten sechs Wochen im Krankenhaus verbringen – nicht verkneifen, etwa mit gefurchter Stirn darauf hinzuweisen, was so ein Tag im Brutkasten kostet. Da wird – ebenso dezent natürlich – auf den Tablettenkonsum, den inzwischen dazugekommenen Alkoholkonsum der Mutter hingewiesen, und die „Hätte man doch vorher…“ und „Müsste man doch jetzt eigentlich…“ Litanei nimmt kein Ende. Aber die längst überfällige familiäre Explosion bleibt wie immer aus, und für die Wahrnehmung der zahlreichen bereits stattgefundenen Implosionen fehlt das Feingefühl.
Die Einzige, die in der Folge einen klaren Blick behält, ist ihre ledige jüngere Schwester, die noch als Kinderschwester arbeitet, und ohne deren selbstlose Unterstützung, die sie mehr als einmal an ihre eigenen Grenzen bringt, das familiäre Chaos zu diesem Zeitpunkt bereits perfekt wäre. Deren Hilfe ist gefragt wohlbemerkt, keineswegs hingegen ihre Meinung, denn die wird von deren ebenso erbarmungs - wie berufsloser Mutter, die im Familienkreis immer noch die Marschrichtung vorgibt, selbstverständlich zur Ignoranz freigegeben. Was sollte eine Frau, die selbst keine Kinder hat, auch schon über dieses Thema zu sagen haben. Wie wollte man erlernte Kompetenz gegen einen dumpfen Naturalismus in Stellung bringen?
Arnold zieht in diesen Jahren noch unbeirrt seine Bahn. Er war in der Grundschule vorne, erhielt die gewünschte Empfehlung fürs Gymnasium, damals, aus seinen Kreisen stammend, noch einem gefühlten Ritterschlag gleichkommend, und er ist ruhig, sehr ruhig. Das hat unter Anderem den Vorteil, dass man relativ unbeschädigt durch die Reihen der Nichtempfohlenen kommt. Diejenigen, die eine höhere Schule besuchten, erkannte man damals sofort, weil sie, aus der Haustür heraustretend, den entgegengesetzten Weg zu ihrer Schule nehmen mussten.
Triebfeder zur schulischen Leistung war für ihn von Anfang an weniger das Interesse an irgendwelchen Fächern oder Inhalten als vielmehr die ihm mit größter Selbstverständlichkeit von der Mutter aufoktroyierte Sichtweise, dass es zum Erfolg am Gymnasium nur die Alternative, ins nichts zu fallen, gäbe. Eine Sichtweise, die freilich, bezogen auf sein Umfeld, die Isolation vorprogrammiert. So etwas spürt er schon relativ früh, spürt, dass seine jeweiligen Gegenüber ihm nur Dinge erzählen, von denen sie annehmen, dass er sie hören will. Er hat ständig das Gefühl, irgendwie außen vor zu sein, in einer eigenartigen Weise geschont zu werden - als ob seine Umgebung über Erkenntnisse oder Einsichten verfügen würde, die man ihm nicht unbedingt zumuten sollte. Und so stellt sich damals schon eine eigenartige Distanz zwischen ihm und seiner Umgebung ein. Das ist in abgewandelter Form im Grunde genommen bis heute so geblieben.
Zweite Bildungswege oder Mittelwege? Vielleicht sicherheitshalber zuerst mal eine Lehre absolvieren? – Indiskutable Etappenrennen in den Augen seiner Mutter, die – so wohl ihr Trauma schlechthin – wieder dort hinzuführen drohen, von wo man eigentlich aufbrechen wollte. Es wird von Jahr zu Jahr überdeutlicher, dass die Eltern – nicht nur in Bezug auf ihn –nicht nur Meinungsverschiedenheiten haben, sondern inzwischen offensichtlich auf verschiedenen Planeten leben. Als Konsequenz gerinnt bei ihm bereits in jungen Jahren vieles, was andere Gleichaltrige eher spielerisch erledigen, zum Krampf, zum Ausdruck einer im Verhältnis zum Alter unnatürlich wirkenden Form von Ernsthaftigkeit, die das labile Fundament noch lange überdeckt und zum Glück wenigstens, was die Schulzeit betrifft, in Gestalt einer gewissen, daraus resultierenden Abgeklärtheit noch für ihn nutzbar ist. Er konnte Unmengen auswendig lernen, aber es mangelt, wie man erst sehr viel später bemerken wird, schlicht an Inspiration, vor allem aber an jedweder Kommunikationsfähigkeit.
Ebenso betreibt Arnold seinen Sport ziemlich konsequent und erfolgreich, doch auch dort, wo normalerweise eigentlich nur Platzierungen und Ergebnisse zählen sollten, spürt er bereits relativ früh, dass man ihn nicht wirklich will. Selbst in seiner erfolgreichsten Phase, als er in seiner Disziplin, dem Tischtennis, den Landesmeistertitel im Jugendbereich erringt, wird das von seiner Umgebung mit einer seltsamen Mischung aus Befremdung und aufgesetzt wirkender Bewunderung bestenfalls leidlich goutiert. Man muss ihn nun aufgrund des errungenen Titels mitnehmen zu den überregionalen Turnieren, obwohl er an den vorangegangenen Ranglistenspielen, die normalerweise für die Nominierungen ausschlaggebend sind, nicht teilgenommen hatte. Für zweifelhafte Fleißübungen hatte er schon damals nicht viel übrig - und auch noch einen scharfen, unbestechlichen Blick.