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0083/010 Der Würfel
ОглавлениеSchwarzes Schwarz.
Durch die geschlossenen Augenlider schien sie es zu sehen. Nicht einmal hinter den Augenlidern war Farbe.
Matt und müde lag sie da. Ope Spring traute sich nicht, die Augen zu öffnen.
Sie hatte Angst.
Geschürt von ihrem Empfinden.
Sie lag.
Und sie spürte einen harten Untergrund. Keinen Boden. Sie lag nicht auf dem Boden.
Aber wo?
Und wie war sie zu diesem - Wo?- gekommen?
Ope kämpfte gegen die erneute Müdigkeit und versuchte zu spüren.
Ihr Rücken und ihr Po konnten ihr nicht helfen. Sie lag auf einem angenehmen, aber harten Polster.
Ihre rechte Hand wagte den Vorstoß. Sie zog sie vorsichtig unter ihrem Oberschenkel hervor.
Weshalb spürte sie ihren nackten Oberschenkel?
Und warum hatte sie Angst aufzustehen?
Intuition?
Trotz der Müdigkeit hatte sie kein gutes Gefühl. Die rechte Hand fuhr weiter nach rechts und schwebte im leeren Raum.
Hier war ihre Liege zu Ende.
Wo verdammt noch mal war sie?
Wie hoch oben war sie?
Eine erste leichte Panikwelle durchfuhr sie bei dem Gedanken, der Boden könnte unendlich weit unter ihr sein. Worauf begründete sie diese Annahme?
Sie glaubte, an ihren Fingerspitzen einen leichten Luftzug auszumachen. Luft von unten nach oben?
Vorsichtig zog sie ihre Hand zurück und umfasste den Rand des Polsters. Langsam schob sie die Hand weiter nach unten. In dieser Situation spielte ihr Kopf ihr grässliche Streiche. Er wollte ihr weismachen, dass unter ihr etwas Unheimliches lag.
Eine Schlangengrube?
Ope versuchte ihren Kopf zu bezwingen was fast unmöglich war.
Ihre Finger erreichten das Ende des Polsters und sie spürte sofort den Temperaturunterschied.
Das musste Metall sein.
Danach verließ sie ihr Mut. Noch weiter nach unten wagte sich ihre Hand nicht.
Vorsichtig zog sie die rechte Hand zurück und legte sie auf ihren Bauch.
Sofort spürte sie den Stoff.
Beruhigend und auch wieder nicht.
Beruhigend, weil ihr Kopf ihr sagte, sie lag zu Hause im Bett, im Nachthemd und war gerade dabei, ihrem Alptraum zu entfliehen.
Nicht beruhigend, weil sie am Stoff gleich spürte, dass das niemals ein Nachthemd von ihr war.
Sie sah nichts, rein gar nichts.
Erst jetzt realisierte sie, dass sie nur dieses Nachthemd trug.
Erstaunlich fand sie, was man bei Angst alles mit geschlossenen Augen spüren konnte.
Sie traute sich einfach nicht, die Augen zu öffnen.
Wenn sie ein leichtes Mädchen gewesen wäre oder eine dieser Party-Gören, dann wäre alles klar.
Gestern völlig abgestürzt, mit dem Typen nach Hause und hier im Bett gelandet.
Aber sie wusste aus vielen Gründen, dass das nicht möglich war.
Das Bett war kein Bett sondern eher eine Pritsche, sie ging nicht auf Partys und kein Mann hätte ein Nachthemd für sie parat.
Einhundertfünf Kilo wollten eingehüllt sein.
Wo verdammt noch mal war sie?
Sie fasste allen Mut zusammen und öffnete ihr rechtes Auge.
Schwarz.
Sie sah nur Schwarz und schloss es wieder.
Die Angst strömte durch ihren ganzen Körper.
Könnte sie denn aufstehen, wenn sie ganz mutig wäre?
Sie hob zuerst das rechte, dann das linke Bein an, dann hob sie vorsichtig den Kopf.
Sie war nicht gefesselt.
Was machte ihr dann solche Angst?
Warum stand sie nicht einfach auf und lief davon?
Wie konnte sie diesen Kreislauf endlich durchbrechen?
Die Neugier wurde größer als die Angst.
Der nächste Gedanke entschied über ihre künftigen Handlungen.
Lag sie womöglich in einer Kiste, einem Sarg?
Der Panikreflex löste den Schrei aus und wie von einem Katapult abgefeuert richtete sie ihren schweren Oberkörper auf einen Schlag auf.
Keine Kiste!
Ihre großen Brüste wippten noch etwas nach. Sie trug nichts außer diesem dämlichen Nachthemd.
Mit dem Aufrichten entfuhr ihr ein noch heftigerer Schrei. Fast gleichzeitig war so etwas wie ein Knall zu hören und sie wurde trotz geschlossener Augen fürchterlich geblendet.
Jetzt riss sie die Augen auf.
Zuerst war sie vom Weiß umhüllt doch mit der Zeit konnte sie erste Umrisse wahrnehmen.
Ein weißer Würfel.
Sie saß auf einer Pritsche mitten in einem klinisch weißen, fensterlosen Würfel.
Sie lachte leise. Toller Alptraum.
Die Farbe war so makellos und gleichmäßig, dass Ope nicht sagen konnte, wo der Boden aufhörte und die Wand begann.
Keine Höhe, kein Sarg. Sehr beruhigend.
Mehr gab es nicht zur Beruhigung.
Jetzt hatte sie den Mut sich zu bewegen.
Sie schob sich von der Pritsche und stand barfuss auf dem Boden.
Warm.
Langsam umrundete sie die Pritsche, ging vorsichtig zur Wand.
Der Übergang vom Boden zur Wand war fließend. Es gab nirgendwo eine Kante.
Mit einer Hand strich sie über die glatte Wand.
Mit einem weiteren lauten Knall stand sie innerhalb einer halben Sekunde im schwärzesten Schwarz.
„HEEEYYY! Licht an!“ Sie schrie.
Nichts.
Als ob sie niemand hören würde oder wollte.
Den Gedanken, dass sie hier sich selbst überlassen bliebe bis zum Ende wollte sie nicht aufnehmen.
Wenigstens kam nicht gleich die völlige Panik auf.
Um sie herum war selbst nach einiger Wartezeit rein gar nichts zu sehen. Nicht ein einziges Lichtquant war noch im Raum!
Wo waren sie alle hin?
Gerade noch strahlte der Raum weiß.
Plötzlich fiel ihr ein rettender Spruch ein.
Wenn man sich nicht sicher ist, ob man träumt, so sollte man sich selbst kneifen.
Spürt man es ist man wach, kein Schmerz bedeutet Traum.
Vorsichtig und verschämt schob sie das Nachthemd hoch.
Sie sehnte sich zurück ins Licht, aber nicht jetzt. Ope fuhr mit der rechten Hand unter das Hemd. Zuerst beabsichtigte sie, sich in den Bauch zu kneifen.
Aber sie wollte es genau wissen. Im zweiten Gedanken fürchtete sie, es aufgrund dessen Fülle vielleicht nicht genug zu spüren, deshalb kniff sie sich heftig in die Brustwarze.
Ein scheußlicher Schmerz durchlief ihren ganzen Körper.
Und wie sie das gespürt hatte.
Jetzt folgte sofort die zweite Schmerzwelle, ausgelöst von der Erkenntnis, dass dies alles offenbar kein Traum war.
Aber wo war sie dann?
„LICHT!“ Sie schrie aus Leibeskräften.
Nichts.
„bitte“ schickte sie ganz leise nach.
Nichts.
In derselben Sekunde fühlte sie sich auf dem Fußboden unwohl.
Was-Wenn-Panik.
‚Jetzt reiß’ dich zusammen!’ Verzweifelt versuchte sie Ruhe in sich zu bringen.
Aber ihr Herz hörte nicht auf sie. Es schlug wie es wollte und es schlug heftig.
Eine extreme Beklemmung bemächtigte sich ihres ganzen Oberkörpers.
Mit einer unendlichen Kraftanstrengung hob sie ihre einzige Orientierung an der Wand auf, streckte die Hand voller Angst ins Leere und tippelte hoffentlich zurück zur Pritsche.
Der mittlere Zeh des linken Fußes meldete die Ankunft zuerst. Ihn hatte sie an ein Bein der Pritsche gestoßen.
Sie fluchte laut, quälte sich auf die Liege und heulte.
Sie konnte nichts mehr selbst bestimmen.
Und nun kam eine weitere Erkenntnis dazu.
Sie spürte scheinbar einen Luftzug am Kopf.
Ein weiterer Schrei erfüllte den Würfel als sie sich an ihren kahlen Schädel fasste.
Wo waren ihre lockigen langen Haare?
Sie brach zusammen.
Heulend und schluchzend kauerte sie sich selbst umklammernd auf der Pritsche.
War sie verrückt geworden? NEIN!
Ein Knall riss sie aus ihren Gedanken und Schwarz wechselte zu Weiß.
Als ihre Augen wieder sehen konnten bemerkte sie in einer Ecke eine Dusche und eine Toilettenschüssel.
Ohne Abtrennung.
Das hatte sie bislang noch gar nicht wahrgenommen.
Und es gefiel ihr auch nicht. Das sah nach der Möglichkeit eines längeren Aufenthaltes aus. Und keine Chance, den Würfel für eine Pinkelpause zu verlassen.
Trotz der Blendung tat das Licht gut.
Sie dachte nach. Suchte. Spulte zurück. Brauchte einen Anker.
Was war ihre letzte Erinnerung? Das musste doch möglich sein.
Wie wenn jemand verhindern wollte, dass sie nachdachte gab es ein leichtes Surren und in der makellosen Wand entstand eine kleine Öffnung.
Aus dem dahinterliegenden Schwarz fuhr ein Tablett mit Essen heraus. Und Trinken.
Bevor sie die Chance überhaupt erkannt hatte, nach jemandem zu rufen war die Öffnung wieder verschwunden.
Ihren Hunger und Durst hatte sie bislang noch gar nicht realisiert. Wütend rannte sie zu dem Tablett, warf das Essen in den Raum und die Trinkflasche hinterher.
„Ende! Schluss! Ich will hier raus!“
Sie schrie was die Stimmbänder hergaben, weil sie langsam das Gefühl bekam, hier nicht mehr wegzukommen.
Sie fühlte sich behandelt wie eine Irre.
Nachthemd – kahlgeschoren – Gummizelle.
Alles sprach dafür.
Vielleicht war es aber genau der Plan? Mach’ sie irre!
War sie irre? War sie krank?
Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden war Nachdenken.
Wie kam sie hierher?
Nein.
Sie musste versuchen, viel weiter zurückzudenken.
Allein der mit einem ständigen Knall begleitete Lichtwechsel machte sie verrückt. An Schlaf war gar nicht zu denken.
Sollte sie gar nicht nachdenken?
Sie musste es versuchen. Ope zwang sich nachzudenken, fand aber nichts.
War sie lebenslos?
Hatte sie kein anderes Leben gehabt als das hier im Würfel?
War sie eben erst aus einem Jahre andauernden Koma erwacht?
Schwachsinn.
Sie wurde müde, zwang sich aber unentwegt zum Nachdenken.
Ebenso hätte sie in einem leeren Bassin nach Wasser suchen können.
Sie war so müde.
Ope wollte und sollte schlafen, aber sie hatte kein Vertrauen.
Und ohne Vertrauen gab es keinen Schlaf.
Sie misstraute nicht nur dem Licht, sie misstraute inzwischen auch sich selbst.
Und sie misstraute auch dem Schlaf.
Was, wenn es mit dem nächsten Aufwachen noch schlimmer wurde?
Wenn sie dann tatsächlich in einer Schlangengrube saß. Oder in luftiger Höhe?
Da war dieser dämliche Würfel noch gut.
Also durfte sie nicht schlafen.
Aber vielleicht bedeutete der Schlaf auch ihre Entlassung?
Was, wenn sie richtig aufwacht?
Da wo sie hingehört.
Ope, wohin gehörst du denn?
Über diesen zweifelnden Gedanken schlief sie ein.
Keine Ahnung, ob sie zwei Minuten oder zwei Tage geschlafen hatte, der laute Knall und das Verschwinden des Lichtes weckte sie.
Jetzt saß sie im Dunkeln, wach.
Aber sie registrierte eine kleine Veränderung. Das gab ihr trotz aller Schwärze Mut.
Sie erinnerte sich. An ihre Mutter. Warum ausgerechnet an sie wusste sie nicht, aber das spielte auch keine Rolle. Es tat gut.
Und sie baute dieses Bild im Dunkeln aus.
Mit einem Knall saß sie im Weiß und das Bild war weg.
Man hatte ihr das Bild weggeblendet.
Wütend und schreiend rannte sie durch den Würfel, trommelte gegen die Wände, trat gegen die Pritsche, aber es schien einfach niemanden zu interessieren.
Als Beruhigung eintrat stellte sie fest, dass sie dringend auf die Toilette musste.
Aber sie traute sich nicht.
Ope fühlte sich beobachtet.
Jetzt wäre dunkel nicht schlecht.
Es war wirklich zum verrückt werden.
Die Blase und der Darm drückten, aber das Licht blieb.
Immer schneller lief sie auf und ab. Ope wusste nicht wie lange, sie spürte nur den permanent steigenden Druck. Mit der Zeit hatte sie das Gefühl, ihr würde der Bauch nach vorn und der Po nach hinten sichtbar hinausgedrückt, so extrem war der verspürte Druck.
Als ihr Leiden groß genug war zog sie das Nachthemd hoch und setzte sich verschämt auf die Schüssel. Sie versuchte leise zu sein, aber erstens war jedes fallende Staubkorn hier zu hören und zweitens verlor sie die Kontrolle.
Mit peinlichen Geräuschen begleitet leerten sich ihr Darm und ihre Blase.
Sie wusste gar nicht vor wem sie sich schämte, aber sie tat es.
Gerade als sie sich abwischen wollte kam der Knall und sie stand in der Schwärze.
Erneut quittierte sie den Lichtwechsel mit einem urtiefen Schrei.
Mit dem nächsten Lichtwechsel wurde sie auch wieder mit Essen versorgt.
Namenlos.
Aber es gab eine für sie entscheidende Veränderung. Als der Geruch des Essens in ihre Nase drang erkannte sie ihre Lieblingsspeisen.
Voller Freude und Euphorie hüpfte sie durch den Würfel, verschlag das Essen.
Ope ließ den Gedanken nicht mehr los.
WO?
Wo hatte sie dies das letzte Mal gegessen?
Sie bemerkte, dass das Puzzle sich ganz allmählich zusammenfügte.
Das machte ihr Hoffnung. Wenn es komplett wäre, dann wäre dieser Alptraum auch zu Ende.
Dass das fertige Puzzle eventuell auch ihr Ende sein könnte, auf diese Variante verwendete sie keine Zeit.
Inzwischen saß sie auch ungeniert auf der Toilette, egal ob hell oder dunkel.
Und gelegentlich legte sie sogar ihr Nachthemd ab und duschte ausführlich.
Nachdem ihre Haut begonnen hatte zu jucken blieb ihr nichts anderes übrig.
Sie hatte die Scham verloren.
Oder sie sah keinen Sinn darin, sie aufrecht zu erhalten. Seit sie hier war hatte sie niemanden gesehen oder gesprochen.
Und in ihrem Kopf spielten sich zwei Dinge ab.
Ganz langsam kam die Erinnerung zurück, aber das nützte ihr nichts mehr.
Sie wurde verrückt.
Nur in den Momenten der Erinnerung schien sie klar im Kopf.
Die Freude über die Erinnerung blieb aus, sie war völlig am Ende, hatte keine Kraft mehr und auch keinen Willen mehr.
Von einem Schlaf- und Wachrhythmus ganz zu schweigen.
Oft saß sie stunden- oder tagelang nur in einer Ecke und nagte an ihrem verschmutzen Nachthemd.
Sie hatte die Orientierung für Raum und Zeit völlig eingebüßt.
‚Waton’ schoss ihr ein Begriff durch den Kopf.
‚Waton, waton, waton?’
WATSON! Ja, Watson, so hieß der Typ, mit dem sie zum Essen verabredet war.
Er bestellte ihr Lieblingsessen.
Die Erinnerung kam, aber statt sie zu stärken schwächte es sie inzwischen noch mehr.
Sie heulte ohne Unterlass, weil sie spürte, dass sie nie mehr dorthin zurückkehren könnte.
Selbst wenn, sie würde dort verhungern, weil sie vermutete, dieses Treffen, dieses gemeinsame Essen hatte sie in diese Lage gebracht.
Ja, sie erinnerte sich. Sie wollte etwas riskieren, experimentieren. Das Experiment. JA!
Watson hatte ihr davon erzählt.
Man könne daran teilnehmen, es aber auch jederzeit beenden mit dem Passwort.
Woher kam diese plötzliche Erinnerung?
Es fiel ihr geradezu leicht, daran zu denken. Und sie bekam Angst vor dem Rest der Erinnerung. Sie spürte, es würde nicht gut gehen.
War sie schon zu lange hier?
Wenn sie sich über den Kopf fuhr spürte sie die Stoppeln. Ihre Haare wuchsen wieder.
‚Freiheit’ sie heulte wie ein Schlosshund.
„FREIHEIT“ schrie sie hinaus in den Würfel, dass es fast die Stimmbänder zerriss.
Das war das Passwort, das ihr Watson gegeben hatte.
Ob sie es doch besser für sich behalten hätte?
Ein leises Knacken war zu hören.
Die ersten Worte seit einer Ewigkeit.
„Ope, jetzt geht es los.“