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Voraus

Freitag, 28. Juli 2006

Warum bin ich nicht dort, wo die Anderen sind? Franziska hat mir verständnisvoll zugenickt, als ich mich über einen Nebenweg aus dem Trott der Trauergemeinde davongeschlichen habe. Ich mied jede Begegnung, streifte über Wege und atmete im Duft der Bäume und Sträucher. Für Momente blieben die bedrängenden Bilder hinter mir. In der Stille des Friedhofs fand ich die Ruhe, die mir jetzt gut tat in meiner aus den Fugen geratenen Welt.

Was sollte ich auch sprachlos bei Kaffee und Kuchen im Belvedere? Wie eine Statue säße ich Pfarrer Kunz gegenüber, zwischen unseren Töchtern und deiner Schwester Maria mit Jens. Bedrückende Stille – selbst die Kellnerin flüsterte. Hie und da ein Satz über klappernde Tassen hinweg - mit scheuem Seitenblick zu mir. Einzelne zögen Familienbilder hervor. Leise Gespräche kämen auf. Manch einer sähe verstohlen auf die Uhr. Die Trauerstimmung bröckelte. Und immer wieder die Beteuerung, wie sehr man mit mir und den Töchtern fühlt, dass du uns allen fehlen wirst.

Trauerrituale, weitab von dem, was ich jetzt brauche. Ich hasse Klischees. Ich hasse Fragezeichen. Ich hasse mich. Man müsste mich hier sehen – besser nicht! Die Einzige, die mir begegnen dürfte, gibt es nicht mehr. Oder doch? …Rita, als ich deine Urne auf dem Brett absetzte - ich ließ es mir nicht nehmen, sie selbst zu tragen - und in das ausgehobene Erdloch schaute, war ich bereit, wieder vorauszudenken. Doch dann hallte der Klang jeder geworfenen Schaufel Erde wie ein entfernter Aufprall in mir nach. Mit den Rosen in Händen, die mir Anna gereicht hatte, harrte ich aus. Rosen, die du in allen Farben so sehr liebtest. Als Letzter ließ ich sie auf deine Urne gleiten und wartete, bis sich die Trauergemeinde auf dem Weg zum Belvedere zerstreute.

Zurück auf dem Vorplatz in die Geräusche der Stadt, wusste ich, dass mir einer fehlt: Pater Thomas, ein außergewöhnlicher Mensch und Freund seit meinen ersten Tagen in Bruchsal. Nie ein scheeler Blick, nie ein mahnendes Wort an mich oder Rita, als wir unverheiratet zusammenlebten. Gewiss hätte er mich auch jetzt begleitet, wenn er das könnte. Selbst sein Schweigen wäre mir Trost.

In meiner Klause angelangt, habe ich zur Whiskyflasche gegriffen, statt vor der Ansammlung in Schwarz Gefühle preiszugeben, zu hören, dass du nicht zu ersetzen seist. Das braucht mir keiner zu sagen. … Was ich jetzt brauche, ist Musik! Musik, die meine Stimmung trägt. Bach? – Als das Streichquartett in der Aussegnungshalle die Aria aus den Goldberg-Variationen spielte, hat mich das eher aufgewühlt als getröstet. Ich weiß doch, was dir Bach bedeutet hat! Nein, jetzt lieber Fado zum Whisky! – Dieser melancholische Gesang aus Portugal.

Du bei weichen Fadoklängen? Und ausgerechnet mit Whisky, den du nie angerührt hast?

Ich höre dich geradezu! Dann würdest du lauthals lachen. Dein Lachen täte mir gut!

Weshalb habe ich deine Asche nicht vom Boot in den Fluss, aus der Ballongondel auf Felder gestreut? Das wäre natürlich gewesen. Am Montag, dem ersten Montag im August - an unserem Tag! Aber ich hätte nicht zusehen können, wie sie aus der Urne rieselt und vom Wind mitgenommen in der Luft verwirbelt. Der Rest eines Menschen, den ich geliebt habe – ja, immer lieben werde!

Vom Korridor höre ich deine Schritte, als wärst du soeben zurückgekehrt, im Schrank hängen deine Kleider, dein Bett ist frisch bezogen. Ich glaube nicht an Übersinnliches und spüre doch deine Gegenwart.

Das Telefon läutet. Ich bin nicht da und öffne das Fenster im Schlafzimmer.

Ich werde wieder unter Menschen gehen - ins Theater, ins Kino nach Karlsruhe und zwei Karten kaufen. Der leere Platz neben mir ist nicht frei, entgegne ich dem, der mich fragt.

Sage nicht, das fändest du unnatürlich! Aber was ist schon natürlich? Nicht ein hinter der Kurve liegengebliebener Sattelschlepper und erst recht nicht dein Tod im brennenden Auto.

Als ich dich noch einmal sehen wollte, nahm mich der Bestatter in die Arme, ließ mich nicht zu dir, … nicht zu dem, was es von dir noch gab. So bleibe mir dein Bild erhalten, meinte er, und seine Augen waren feucht.

Wie recht er hatte! Rita, du bist gegangen und doch so nah.

Zu nichts entschlossen stehe ich vor dem Schreibtisch und nippe am Whisky, schalte aus Gewohnheit den Computer ein: Wellen schäumen über felsigen Strand in eintönig wiederholten Sequenzen.

Worauf warte ich?

Vom Bildschirm halb verdeckt, die verblichene, an zwei Klammern aufgestellte Postkarte der Nanna - Feuerbachs Gemälde aus der Karlsruher Kunsthalle.

Und schon ist die Erinnerung wieder da!

Am Samstag unserer ersten Woche sind wir dort gewesen. Nach der Hektik der Ereignisse hatte ich eine Auszeit vorgeschlagen. Eine spontane Idee, um die Angst zu verdrängen, unser ‚Kartenhaus‘ könne einfallen. So hattest du am Morgen deinen Zustand beschrieben. Dann standen wir lange vor der Nanna. Ich kaufte sie mir anschließend als Postkarte. So hätte ich am Schreibtisch immer auch dich vor Augen, sagte ich. Lachend hast du gemeint: Wozu das Bildchen? Du hast mich doch ganz real!

Schaue ich mir die Karte heute an - vierzig Jahren danach, Rita! - und vergleiche die Nanna mit dem Bild, das mir von dir geblieben ist, hat sie wenig bis nichts mit dir gemein: Zu groß die Nase in einem flächenhaften Gesicht, das kaum eine Spur von Leben zeigt. Auch ihre Hand ist nicht feingliedrig wie deine Hände, und abschreckend hell ihr Teint. Zu Feuerbachs Zeiten vielleicht ein Schönheitsideal, für mich nicht mehr vorstellbar, dass ich mich dem Leib eines solch fahlen Weibes hingegeben hätte.

So früh schon eine Gedenkecke für mich in deiner Klause? Ja, du warst es, die das Wort „Klause“ gebraucht hatte, als du zum ersten Mal vom Hof aus am Haus hinaufschautest. Ich war mir nicht sicher, wie du das meintest. War das schmucklose, graue Gebäude dir zu einfach – dir, der Tochter aus gutem Haus? Verunsichert war ich auch, wenn du mich später ironisch „Bürgerschreck“ genannt hast, sobald ich mich den üblichen Auftritten in Anzug und Krawatte entzog, und ließen die sich nicht vermeiden, mich abseits hielt.

Lappalien!

Es gab Wesentlicheres, was uns unterschied. Gewiss erinnerst du dich an unser nervendes Debattieren in jener Zeit des Aufbruchs aus einer verkrusteten Nachkriegsgesellschaft. Ging es um Reformen, bist du wenig aufgeschlossen gewesen. Hinter so manchen meiner Ansichten wittertest du den Einfluss meiner Studienfreunde in Heidelberg. Die waren dir zu links-ideologisch. Du befürchtetest sogar, ich könne dich verlassen, um mich der Protestbewegung anzuschließen.

Blicke ich zurück, meine ich, du hattest keinen Grund, mich in die linke Ecke zu stellen - mich, den ängstlichen Menschen, der nach Sicherheit strebte.

Rita, du doch auch nach deiner gescheiterten Beziehung!

War ich dir mit der Zeit nicht sogar zu angepasst, zu wenig Held? Mit den Jahren habe ich das jedenfalls befürchtet. Oh ja, meine Anpassung war nicht aufzuhalten: die Töchter, der Haushalt, dein zeitfressender Job, als freiberufliche Photographin ständig unterwegs. So entstanden Notwendigkeiten.

Schaben Sie den Teig über den Rand des Brettes in kleinen Strängen in das kochende Wasser. Bei mittlerer Hitze lassen Sie die Spätzle garen, bis sie aufsteigen. Schöpfen Sie diese nach und nach mit einem Schaumlöffel ab und geben sie in eine vorgewärmte Schüssel.

Ich köchelte sozusagen auf mittlerer Flamme, während der Nachklang der Protestjahre im Entsetzen über den RAF-Terror erstickte.

Das hat dich aber nicht davon abgehalten, die Nacht zum Tag zu machen. Ich hatte zunehmend Sorgen um deine Gesundheit.

Ich ahne, worauf du anspielst, auf meine Gewohnheit bis Mitternacht am Schreibtisch auszuharren, bei leiser Radiomusik, womöglich noch mit Kaffee, während du bereits eingeschlafen warst. Ab zehn brauchtest du das Bett. Unsere biologischen Uhren tickten eben unterschiedlich. Zugegeben, zuweilen hattest du es nicht leicht mit mir. Wurde aber nachts eines der Kinder unruhig, war nicht selten ich an ihren Bettchen.

Müßige Gedanken! - Im Moment ist mir die Erde eine Scheibe und dreht sich nach dem zweiten Whisky auf dem Plattenteller der Schöpfung. Irgendwann werde auch ich abspringen.

Vergiss deine Töchter nicht, sie werden dich brauchen.

Meinst du? Ihre Ablösung geschah unentwegt. Sie haben Berufe, Familie, Kinder. Ich bin derjenige, der an der Vergangenheit klebt - ein Klotz an ihren Beinen. Eltern gehen irgendwann - der unumkehrbare Gang des Lebens. Den Partner, dein anderes Ich, verlierst du. So ist das doch!

Und auf dem Bildschirm schäumen immer noch die Wellen.

Computer, mein Leidensgefährte, mein Antreiber aus einem gefüllten Speicher – ich hasse dich, wie mich! Sind wir nicht aufeinander angewiesen? Wer sonst in diesem entseelten Haus, wenn nicht wir beide. Du wirst mich zu ertragen haben, denn trotz aller Zweifel am Sinn meines Tuns werde ich zu meinen Texten zurückkehren, aus erzwungener Ruhe unsere Spuren suchend auf dem Weg bleiben, Rita - dem Weg, den du mir so nachdrücklich gewiesen hast.

Freilich, die Fantasie wird mich verleiten die Grenzen des bloßen Erinnerns zu überschreiten. Und wenn schon, habe ich nur dieses eine Leben? Das eines Witwers, der sein Haus in Ordnung hält, den man ab und zu besucht? Hinter der Fassade täglicher Gewohnheiten bliebe eine andere Realität unentdeckt.

Jetzt spüre ich geradezu deine Hand auf meiner Schulter.

Bei allen Differenzen, wir haben doch stets zusammengefunden – wir beide, die wir aus Erfahrung wussten, dass Liebe über die schönen Stunden hinaus im Alltäglichen gelebt und in kritischen Phasen – auch über den eigenen Trotz hinweg - errungen sein will.

Ach Gott, was rede ich so klug daher?

Du warst einfach die Frau, auf die meine Liebe flog: auf deine tiefblauen, großen Augen, auf deine mädchenhafte Figur, das dunkle Haar zum wippenden Zopf gebunden im Hörsaal vor mir, schließlich dein promptes intelligentes Reagieren auf meine gewöhnungsbedürftig krausen Gedankengänge. Meine Eigenheiten hast du angenommen, als gehörten sie ganz selbstverständlich zu unserer Nähe.

Über vierzig Jahre, Rita – und für mich kein Ende!

Computer, du verbliebener Gefährte, vier Buchstaben werde ich in deine Tastatur hämmern - R I T A - in Großbuchstaben gesperrt oder eng und kursiv, wie um mich danebenzulegen, in allen Schriften, derer deine Programme mächtig sind, die Ausdrucke als endlose Schleife über den Spiegelrahmen im Korridor hängen – deinen Empire-Spiegel, Rita, den ich nach einem unsinnigen Streit bei Paul für dich erworben habe.

Welch kitschverklebter Unsinn geht mir durch den Kopf!

Ja, ich weine und schäme mich nicht. Ich weine wie damals, an dem nasskalten Novemberabend, als ich dir sagen wollte: Zu spät, ich bin der Erniedrigungen leid und werde mir eine Zwei-Zimmer-Wohnung nehmen! … eben nach jenem unnötigen Streit.

Rita, wo bist du?

Ich weiß nicht weiter! Alle Gedanken über Diesseits und Jenseits verschwimmen in einem Brei aus Verzweiflung und Unsicherheit. Sie verdrücken sich in Kirchenwinkeln und lauern hinter Heiligenstatuen – Vorstellungen aus Kindheit und schwachen Momenten … und ich fülle mein Glas auf.

HERR, ich lästere und bleibe bei Whisky, weil mir keine Vorstellung hilfreich sein will. Weshalb lässt Du nicht die kleine Pietà eine einzige Träne weinen? Als ob ich geahnt hätte, was kommen wird, habe ich sie letztes Jahr von einem Flohmarkt mitgebracht.

Gott ist tot! Mit dem Ausrufezeichen ist nichts bewiesen. Nietzsche, hinter dem man sich mit diesem losgelösten Satz versteckt, war meines Wissens ein Suchender, wie auch ich einer bin. Suchende sind zur Freiheit des Fragens verurteilt, Zitierende oftmals Darsteller in zu großen Mänteln.

Doch! Trotz aller Zweifel werde ich nach Paris fahren! In der Kirche Saint-Germain-des-Prés gebe es eine Statue der Heiligen Rita, sagte man mir. Sie wird mich verstehen, wenn ich die Kerze anzünde und eine Rose ablege. Keine rote, vielleicht eine weiße oder eine gelbe - du mochtest sie alle!

Gegenüber im Café de Flore saß Sartre, wartete im angestammten Winkel auf Simone und schrieb, der Gewohnheit folgend, in ein Heft. Wartete er nicht auf Madame de Beauvoir? Angeblich siezten sie sich bis zum Ende. Weshalb haben wir das nicht getan?

Welch ein Nonsens!

Ich werde einen café noir bestellen und darüber nachdenken, in welcher Weise ich an einen Gott glauben kann. Für Sartre existierte er nicht. Wollte er das Zweifelhafte an einem Jenseits außerhalb des Spiels belassen, des zufälligen Spiels, das Leben heißt? Oder hatte er sich aus Enttäuschung über das Sichtbare das Wort HERR verboten?

Was gehen mich heute seine Gründe an? Die Zeit ist längst verstrichen, als ich seinen Zeilen mit dem Bleistift folgte, mich vergeblich bemühte, Das Sein und das Nichts zu verstehen und meinte, mich auf diese Weise aus der Menge der Gestrigen hervorzuheben. Wie auch immer, ich werde alleine vor meinem Kaffee sitzen. Meine Welt ist enger geworden.

Auf die Stelle, Rita, an der sie Erde über deine Urne gehäuft haben, lasse ich eine Sandsteinplatte legen, darauf dein Name - sonst nichts …


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