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Die Inkunabeln des Karatedô

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Mehrere Jahrzehnte leidenschaftlicher Praxis im Karatedô liegen heute hinter mir. Ich habe unzählige Dinge erlebt, gesehen und vernommen in der „Welt des Budô“, und ich bin auf meinem Weg nicht wenigen Menschen begegnet, deren Verhalten mir unbegreiflich ist. Von Zeit zu Zeit blicke ich zurück, um zu versuchen zu verstehen, um aus Fehlern zu lernen, und um mich erneut von der Leidenschaft ergreifen zu lassen.

Ich erinnere mich gut an das Ende der 50er Jahre, jene Zeit, in der in Frankreich als erstem europäischen Land Karate als neue Kampfkunst entdeckt wurde. In den wenigen Dôjô jener Zeit begann man, unermüdlich fünf oder sechs grundlegende Kata zu üben, in denen alle Lehren und Botschaften unserer Meister verborgen waren. Schicht um Schicht wurde dieses Wissen freigelegt. Niemand von uns wußte, daß noch weitere Kata existierten. Eine Leidenschaft für das Einfache war entfacht worden.

Zehn Jahre später und noch lange Zeit danach wurden die europäischen und amerikanischen Karatevereinigungen durch japanische Experten aller Stile geleitet. Angetrieben durch die beginnende Konkurrenz, begann eine Epoche, die durch einen wahren Heißhunger auf neue Kata gekennzeichnet war. Um im Rennen zu bleiben, mußte man so schnell und so viel wie nur möglich lernen. Was zählte, war, vor allen anderen eine bis dahin unbekannte Kata erlernt zu haben. Ich erinnere mich, wie ich an den Abenden nach den Lehrgängen fieberhaft und in den kleinsten Einzelheiten die Varianten dieser und jener Kata notierte, je nachdem, welcher Experte oder Meister sie gelehrt hatte. Man mußte damals ohne Videoaufzeichnungen zurechtkommen, und so erlernte ich das Zeichnen. Eine Leidenschaft für die Vielheit war entbrannt.

Schließlich, nach etlichen Jahren, hat dieser Durst nach immer mehr zu einem unglaublichen Wirrwarr geführt. Schnell wird man heute des Lernens überdrüssig, lieber entwickelt man eigene Interpretationen, führt kühne Neuerungen ein, entwirft persönliche, spektakuläre Kata. Das führt so weit, daß Kata zu Musik vorgeführt werden, und ein Publikum, das nicht die leiseste Ahnung von dem hat, was „echt“ ist, bejubelt die Show. Die Zeit der Blender, Menschen ohne Verantwortungsgefühl, war gekommen. Aber noch immer existierte eine Vielzahl Karateka, deren Leidenschaft für ihre Kampfkunst nicht erloschen war. Für das Karate-Business und seine Nutznießer spielten diese Praktiker keine Rolle, sie blieben gewissermaßen im Schatten verborgen. Zugunsten ihrer Liebe zur „echten“ Kata verzichteten diese Karateka auf allen äußeren Schein, wohl wissend, daß das, was am meisten glänzt, am stärksten (ver)blendet. Bescheiden und vorsichtig versuchten sie, zu den Quellen ihrer Kunst vorzudringen. Und so kam es dazu, daß parallel zur Entwicklung der Kampfsportverbände und ihrer „vereinheitlichten Kata“ eine Rückbesinnung auf die überlieferten (Koshiki) Kata erfolgte. Eine Rückkehr zu jener Epoche, in der man traditionell „eine Kata in drei Jahren“1 erlernte. Auf diese Weise ist genügend Zeit, daß die Magie der Kata sich entfalten kann, durch die sich dem Praktizierenden ihre physische und geistige Botschaft offenbart. Nur so vermochte sich die Kata in ein Instrument für seine innere Entwicklung zu verwandeln.

In all den Jahren meiner Karatepraxis habe ich mich niemals von einer Mode beeinflussen lassen, weder in den Grundlagen noch in der Form der Ausübung. In dem Weg, den die Kunst der „leeren Hand“ eröffnet, sah ich stets eine außergewöhnliche Möglichkeit, sich mit Hilfe einer Technik zu bilden. Ich entdeckte hier die Freiheit, die jeder Mensch genießen kann, wenn er nur lernt, seine Energie auf intelligente Weise einzusetzen, ohne daß er dadurch seinem Nächsten Schaden zufügen muß. Und das Wesen des Karatedô, seine Seele, das ist die Kata2. Sie stellt die greifbarste, wenn nicht gar die einzige Form dar, die die Ergründung des eigenen Inneren ermöglicht; sie ist ein Werkzeug zur Selbstgestaltung. Indem der Praktizierende langsam und beharrlich an sich arbeitet und dabei seine Neigung zu gewalttätigem Handeln beherrschen lernt, wird er mit ihrer Hilfe den Zugang zu seinem eigentlichen Selbst erlangen.

Ich habe bereits in anderen Büchern3 meine Auffassung über die Kata und den ihnen innewohnenden Reichtum dargelegt, der jenseits der vielleicht ästhetisch anzusehenden, aber gehaltlosen Bewegungsabläufe, wie sie uns heute häufig präsentiert werden, zu finden ist. An dieser Stelle will ich daher diese Überlegungen nur kurz zusammenfassen: Die Kata ist weit mehr als eine Choreographie des Kampfes, weit mehr als eine als Gedächtnisstütze dienende Abfolge von Techniken des Karate. Wird sie im Geiste ihres Schöpfers praktiziert, stellt die Kata eine Brücke dar, die durch die alten Meister der Kunst konstruiert wurde. Eine Brücke, deren Elemente aus einer Art Rätseln bestehen, welche diejenigen entmutigen sollen, denen es an Geduld und Urteilsvermögen mangelt. Tatsächlich führt sie aber durch jene Art des Tätigseins, wie sie in allen fernöstlichen Kampfkünsten hoch angesehen ist, zur vielgerühmten Einheit von Körper und Geist. Und dieses Tätigsein besteht gewiß nicht darin, das Ego wachsen zu lassen.

Die Schöpfer der Kata haben die darin enthaltenen Bewegungen als Code zusammengestellt, durch den der Geist der Kata vermittelt wird. Im Laufe der Zeit verarmten die Kata, verblaßte ihr Sinngehalt. Dies lag nicht zuletzt an der mangelnden Sorgfalt jener, die mit ihrer Weitergabe betraut waren. Um den ursprünglichen Geist erhalten bzw. wiederentdecken zu können, ist es nötig, respektvoll auf das zurückzugreifen, was vor dem Prozeß der Verarmung bestanden hat. Dies stellt keine leichte Aufgabe dar. Der Forscher sieht sich heute mit geradezu archäologischen Aufgaben konfrontiert, und was er mit viel Geduld zutage fördert, sind oftmals nichts als brüchige Fragmente, angenagt vom Zahn der Zeit. Die Aufgabe, die Gesamtheit des Aufgefundenen zu rekonstruieren, verlangt ein hohes Maß an Vorstellungskraft und Interpretationsvermögen. Was aber zählt, ist die Tatsache, daß die Arbeit, das Puzzle wieder zusammenzusetzen, voranschreitet und daß mehr und mehr Karateka dies zu schätzen wissen.4 Diese Karateka sind zu der Einsicht gelangt, daß das Bindeglied nicht verloren gehen darf, welches sie mit der Vergangenheit und mit dem tatsächlichen Daseinsgrund eines Kriegerweges (Budô) verbindet, der eben nicht im sportlichen Wettstreit liegt. Ihr Anspruch auf diesem Gebiet hat sich im übrigen derart deutlich gezeigt, daß heute selbst die Vereinigungen des Sportkarate sowie die Stilrichtungsverbände darauf mit „Kata-Wettkämpfen“ reagieren – eine weitere Verirrung im sogenannten modernen Karate.5 Denjenigen, der den Inhalt vom Behältnis zu unterscheiden weiß, wird dies kaum beeindrucken. Aber natürlich ist selbst solch ein Spektakel, das für ein Publikum von Praktizierenden und Nichtpraktizierenden aufgeführt wird, besser als nichts. Auch wenn es nur den untersten Grad der Wahrnehmung einer Kata darstellt, so bedeutet es doch auch ein Überleben, ein Nichtvergessen dieser „Mutterformen“ der Kunst der „leeren Hand“. Dies gilt in jedem Fall, selbst heute, wo wir im Multimedia-Zeitalter leben, in dem jedermann sich der Illusion hingeben kann, mit Hilfe von Videoaufzeichnungen seine „Kenntnisse“ über okinawanische oder japanische Kata oder über chinesische Tao aufzustocken. Die Überfülle solchen Materials, mit dem der Markt überschwemmt wird, wirkt sich im Endeffekt sehr nachteilig hinsichtlich des Echten und Gelebten aus, das hierdurch weiter in den Hintergrund gedrängt wird.

„Eine Kata in drei Jahren“ … Sollte der moderne Karateka etwa nicht über die Mittel und Möglichkeiten verfügen, die es ihm erlauben, schneller die Abschnitte der traditionellen Entwicklung durchlaufen zu können? Die wenigen alten Meister, die heute noch auf Okinawa oder in Japan leben, pflegen über solche Ansichten höflich zu lächeln, sie lassen die Leute in ihrem Glauben. Was sollte es nutzen, dagegen anzukämpfen? Die größeren Optimisten glauben, daß die Zeit für das Traditionelle wiederkommen wird. Auch ich glaube daran. Aber der Zugang zu den Quellen wird immer schwieriger.

Die klassische Kata verhält sich zum modernen Karate wie der Wiegendruck, die Inkunabeln6, zum modernen Buch. Die Inkunabeln stellten die ersten, mit größter Sorgfalt gedruckten Texte dar. Jene seltenen jahrhundertealten Exemplare, die den Stürmen der Zeit widerstanden haben, werden heute als Schätze in Museen oder Spezialsammlungen gehütet. Wie groß auch immer die Reize, die Vorteile, die Ästhetik eines modernen Druckerzeugnisses sein mögen, nichts kann die unvergleichliche Ausstrahlung, die Tiefe und die Absicht, kostbares Wissen zu vermitteln, die diesen uralten Dokumenten anhaftet, ersetzen. Man könnte auch von einer besonderen Art des „Qi“7, das von den Inkunabeln ausgeht, sprechen.

Die klassische Kata enthält für denjenigen, der versteht und willens ist, dies zu erkennen, den tiefen Sinn der Dinge und des Lebens. Sie ist ein Weg für den Menschen, der unaufhörlich danach strebt, sich zu entwikkeln, zu werden. Es ist sehr wichtig, den Suchenden die Möglichkeit zu eröffnen, die „Inkunabeln“ des Karatedô zu studieren. Dies ist der wesentliche Grund für die langwierige und umfangreiche Arbeit, die schließlich in diesem Buch mündete. Ich wünsche dem Leser, daß die Lektüre seine Leidenschaft als Karateka neu zu entfachen vermöge, und daß ihm diese Leidenschaft sein Leben lang erhalten bleibe.

Koshiki Kata

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