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Kata – Dô oder Jutsu?

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Es ist bedauerlich, daß für viele Karateka die Kata letztendlich nichts weiter bedeutet als eine Abfolge von Techniken, die unter praktischen Gesichtspunkten, der Eignung für den Kampf, beurteilt werden, und dies unter dem Aspekt ihrer offenkundigen Anwendungsmöglichkeiten, der elementaren Bunkai. Solch eine formelle Herangehensweise wirkt sich verarmend auf die Welt der Kata aus. Darüber hinaus geschieht es oft, daß man die Techniken der Kata ausführt, ohne zu verstehen zu versuchen, wie man sie im realen Kampf anwenden kann. Das kann aus der Gewohnheit heraus geschehen oder aus Desinteresse, zumal es oft um nichts weiter geht, als durch das Ausführen der Kata höhere Graduierungen zu erhalten. Manch einer geht sogar so weit, daß er nach einem möglichen Nutzen der Kata gar nicht mehr fragt, überzeugt davon, daß Kata und Kumite sehr verschiedene Angelegenheiten sind. Wird die Kata aber nur noch als sportliche Übung betrachtet, als Krafttraining oder ästhetische Vorstellung, dann besteht die Gefahr, daß sie eines Tages verschwindet. Führt eine Gruppe von Karateka sie vor – mitunter gar zu Musik! –, so ist sie schön und spektakulär anzusehen … und doch nichts weiter als eine sinnentleerte Hülle, dazu bestimmt, von Außenstehenden beurteilt zu werden.

Im alten Okinawa wurde die Kata im Verborgenen geübt, denn sie mußte für die Vorbereitung auf den Kampf wirksam bleiben. Man sah sich entschlossenen Gegnern gegenüber, und es war von entscheidender Bedeutung, über Techniken zu verfügen, die der Gegner nicht bereits ausspioniert hatte. Man beschränkte sich auf das Wesentliche. Um das zu erreichen, wurden wenig spektakuläre, von allem Überflüssigen befreite Bewegungsabläufe und Haltungen geübt. Die Kata war vor allen Dingen Kampf. Sie war Waffe und innerer Weg, eine technische Grundlage, der eines Tages das Authentische entspringen würde.

Ginge es lediglich um technische Aspekte, den Kampf, oder um sportliche Aspekte, den Wettkampf im Karate, könnte man mit gutem Grund die traditionellen Kata links liegen lassen. Denn auf technischer Ebene waren diese Kata oft recht beschränkt. So gesehen, ist es gerechtfertigt, neue Kata zu schaffen, die technisch gesehen vollständiger sind, da sie neuartige Situationen berücksichtigen, wie z. B. den Straßenkampf mit in Kampfkünsten erfahrenen Gegnern. Solches geschieht vor allem in vielen in den USA praktizierten Stilrichtungen. Doch hierbei handelt es sich um Karatejutsu, technisches Karate. Für das Karatedô, d. h., dem Karate als Weg, als Lebensphilosophie, wäre ein solcher Kompromiß unmöglich. Hier zählt der Gehalt, der Geist. Es geht nicht an, dessen Gefäß, die Form, zu verändern. Das Ziel der Kata des Karatedô besteht darin, denjenigen, der sie praktiziert, in den gleichen Gefühls- und Geisteszustand zu versetzen wie den Meister, der die Kata einst geschaffen hat. Ein Zustand, den der Meister für wert erachtet hat, durch die »Gebärdensprache« der Kata weitervermittelt zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt kann das Akzeptieren einer modernen Kata nur eines bedeuten: daß man ihrem Schöpfer den Rang eines Meisters in der vollen Bedeutung des Wortes zuerkennt. Von diesem – durchaus möglichen – Ausnahmefall abgesehen, muß man sich strikt an die alten Formen halten. Die Kata muß so getreu wie möglich und mit einem Vertrauen, das schon an Naivität grenzt, geübt werden. Die Bedeutung dieser grundlegenden Einstellung für den Praktizierenden kann nicht genug betont werden. Was zählt, ist zu wissen, was man will und was man auf dem Weg dahin bereits erreicht hat.

Die Tatsache, daß die Kata zwei unterschiedliche Aspekte vereint, gestattet vielen Lehrenden, sich nicht für die eine oder andere Seite entscheiden zu müssen. Aber sie führt auch zur Verwirrung bei den Lernenden, und das schon oft auf dem Niveau der Weißgurte. So gesehen wäre es wünschenswert, wenn in Zukunft in jedem Dôjô klar festgelegt würde, welcher grundlegenden Art die Kata, die hier praktiziert werden, angehören. Hierbei darf natürlich nicht aus dem Auge verloren werden, daß ein jeder im Laufe seiner persönlichen Entwicklung eines Tages seine Vorliebe ändern kann. Dies zu akzeptieren, ohne den Betreffenden deshalb zu ächten, verlangt dem Lehrenden eine Toleranz ab, die auf guter Kenntnis der kulturellen Hintergründe dessen, was er lehrt, beruht, selbst wenn er diese vielleicht nicht in vollem Umfang akzeptiert.

Im folgenden sollen die drei Stufen erläutert werden, die den Fortschritt beim Praktizieren der Kata charakterisieren. Diese gelten gleichermaßen für das Karatedô als Ganzes.

Erste Stufe: Man konzentriert sich ausschließlich und gewissenhaft auf die Technik. Man handelt. Schnell bemerkt man, daß man vorankommt, was dem eigenen Ego schmeichelt. Dies ist die Stufe des Shu, der äußeren Imitation. Es ist die verbreitetste Stufe, selbst für höhergraduierte Karateka.

Zweite Stufe: Man konzentriert sich auf die Technik, indem das Handeln zurückgesetzt wird und indem die den Techniken innewohnenden Möglichkeiten erweitert werden. Äußerlich ist kein Fortschritt mehr sichtbar. Die Form der Kata erscheint sehr gelungen, wenn nicht sogar vollendet. Was die innere Entwicklung angeht, so beginnt man tatsächlich, sein Ego zu vergessen. Dies stellt den Beginn der Entkopplung von Körper und Geist dar, die uns einen neuen Eindruck der Freiheit in der codierten Handlungsfolge vermittelt. Die Form wird nicht länger als »Zwangsjacke« empfunden. Dies ist die Stufe des Ha, der inneren Schöpfung, die höchste Stufe auf technischem Gebiet. Man hat seinen Meister erreicht, denn man hat nun Zugang zu allem, was dieser an Äußerem in die Kata gelegt hat. Die geistige Arbeit, die das Erreichen dieser Stufe voraussetzt, ist ermüdend und belebend zugleich. Das erzielte Ergebnis läßt sich nicht quantifizieren, es ist tatsächlich nicht sichtbar. Nur der Praktizierende selbst weiß, wo er sich nun befindet.

Dritte Stufe: Hierhin gelangt man nur ganz allein. Man denkt überhaupt nicht mehr an die Technik und doch wird sie mit größter Ernsthaftigkeit ausgeübt. Körper und Geist sind voneinander abgekoppelt. Paradoxerweise sagt man auch, daß nun eine Art Vereinigung von Körper und Geist erreicht wird. Man handelt, ohne etwas zu denken. Allenfalls denkt man vielleicht an irgend etwas anderes als an die Handlung. Eine Muskelkontraktion verlangt keine »Kontraktion« im Geist mehr. Man macht eine kraftvolle Bewegung, doch zugleich ist der Geist vollkommen ruhig. Jetzt wird die echte innere Arbeit möglich, die im Satori gipfeln kann, dem Erwachen, der »Rückkehr zur kosmischen Einheit« des Zen. Der Kampf ist etwas geworden, was sich außerhalb abspielt. Dies ist die Stufe des Ri.

Die Stufe des Ri zu erreichen bedeutet, die innere Entwicklung abzuschließen, ihren Höhepunkt zu erreichen. Das wirkliche Selbst ist erwacht. Man erlebt die Kata auf eine neue und sehr persönliche Weise. Die Freiheit ist wiedergefunden worden, und dies geschah durch codierte Bewegungen, was ein Paradoxon zu sein scheint. Die Kata wird gemäß den eigenen Vorstellungen »von innen« neu geschaffen, nachdem es zu einer Art wechselseitiger Durchdringung mit der auferlegten Form gekommen ist. Die Kata beginnt wieder zu leben. Auch wenn es nach außen hin nicht so scheint, hat die Kata nur noch sehr wenig mit dem zu tun, was man in der ersten Stufe praktizierte. Und erst jetzt ist man in der Lage, seine eigene Kata zu schaffen, wie dies einst mit dem Einverständnis und unter Berücksichtigung der Ratschläge des Meisters geschah.

All das ist der Grund, weshalb es nicht möglich ist, auf gerechte Weise eine Kata, die durch einen unbekannten Karateka vorgeführt wird, dessen Entwicklung man nicht mitverfolgen konnte, einzuschätzen. Dies gilt vor allem für Gürtelprüfungen. Natürlich gibt es immer irgendwelche Kriterien für die Einschätzung, aber diese sind sehr schwierig durch eine Jury zu erfassen, der es ausschließlich darum geht (und die oft leider auch ausschließlich dazu in der Lage ist), den dynamischen und ästhetischen Wert zu beurteilen, also die äußeren Aspekte einer Kata. Eine Kata durch jemanden beurteilen zu lassen, der den Ausführenden nicht seit längerem kennt, ist nur sehr eingeschränkt möglich. Genaugenommen nur dann, wenn sich der Ausführende auf der ersten Stufe, der Stufe des Shu befindet. Auf diesem Niveau ist es jedoch wenig bedeutsam, daß man beim Ausführen der Kata beobachtet und beurteilt wird. Man hat in jedem Fall das Gefühl, daß man die Kata je nach erreichtem Übungsgrad recht gut beherrscht.

Einige Jahre später wird man sich dessen vielleicht nicht mehr so sicher sein. Zwar ist man dann in der Lage, sie vollendet auszuführen, aber man ist sich möglicher Fehler sehr bewußt und auch der Relativität dessen, was man tut. Noch später, wenn man bereits höhere Graduierungen erreicht hat, wird man keinen Sinn mehr darin sehen, eine Kata vorzuführen, um sich dabei beobachten und beurteilen zu lassen. Die Kata ist inzwischen zu einer persönlichen Angelegenheit geworden. Entscheidet man sich, sie auszuführen, wird man dies mit absoluter Ernsthaftigkeit tun, ohne damit imponieren oder irgend etwas beweisen zu wollen. Die Kata ist nun die Verkörperung von etwas, das man im Innern trägt, und darum wird man sich nur wenig um den Eindruck, den sie auf andere macht, kümmern. Solch eine Kata kann vielleicht betrachtet, aber ganz gewiß nicht beurteilt werden, wenn man völlig ehrlich ist. Auf diesem Niveau wirkt die Kata befreiend, und ihre Lehren beginnen Früchte zu tragen.

Das Problem besteht nun darin, daß man nur selbst in der Lage ist, diese Entwicklung zu spüren, vor allem, wenn es um die Stufen des Ha und des Ri geht. Fehlt es einem an Bescheidenheit, so wird dies zu unwiderruflichen Irrtümern bei der Einschätzung der persönlichen Entwicklung führen. Es ist in jedem Fall besser, nichts zu überstürzen. Danach, was die Alten uns durch die Kata vermitteln wollten, sollte man in aller Bescheidenheit forschen. Ein solches Erbe vergeudet man nur ein einziges Mal.

All das bedeutet, daß das Forschungsgebiet der Kata tatsächlich unendlich ist. Man studiert die Kata sein ganzes Leben lang, wobei sich die Art und Weise mit dem Alter und dem Gesundheitszustand des Praktizierenden wandelt. Doch das wirkliche Studium beginnt erst dann, wenn man den Rausch des Kampfes oder des Sportwettkampfes weit hinter sich gelassen hat.

Jeder Karateka kann eines Tages ein bestimmtes Niveau der Praxis erreichen, auf dem er das Bedürfnis verspürt, der einen oder anderen Kata den letzten Schliff zu geben, die er von allen am meisten bevorzugt, die ihm besonders ans Herz wächst. Sie »fühlt« sich für ihn besser an als andere, da ihm die in ihr enthaltenen Techniken besonders geeignet für sich erscheinen. Dies ist die Tokui kata, die Lieblingskata des Karateka. Welche Kata dies sein wird, hängt u. a. von seinem Körperbau, seinen geistigen Anlagen, seinem Verständnis seiner Kunst und der Richtung seiner Suche ab. Sein Geschmack kann sich wandeln, wie auch seine Gesamtsicht auf das Karatedô, und auch sein Körper wird sich verändern. Zudem erweitert sich während seiner Entwicklung natürlich die Auswahl an Kata. Aus all diesen Gründen muß die Tokui kata nicht unbedingt zeitlebens die gleiche bleiben.

Diese bevorzugte Kata wird man intensiver und leidenschaftlicher ergründen als alle anderen. Besonderes Augenmerk wird man auf die Erforschung der Empfindungen, die durch sie hervorgerufen werden, richten. Die ersten Schritte bestehen darin, die Techniken und den Rhythmus der Kata korrekt auszuführen. Man wird sie häufiger als alle anderen Kata, intensiver, unter verschiedenen Witterungsbedingungen und an unterschiedlichen Orten üben. Man wird die Form der Ausübung variieren, indem man sie in umgekehrter Reihenfolge, mit geschlossenen Augen, mit umgekehrtem Atemrhythmus usw. ausführt.

Man wird zunächst sämtliche offenkundigen, formellen Anwendungen (Bunkai) kennenlernen. Doch dabei wird man es nicht belassen. Mit der Zeit wird man auch eine Menge weniger offensichtlicher Bunkai aus ihr entwickeln, weit über das elementare Niveau des Verständnisses hinaus. Dies sind die verborgenen Anwendungen der Kata, das heißt, Extrapolationen auf Grundlage der vorgegebenen, strengen Form, intuitive Verlängerungen von Techniken oder die Entschlüsselung von symbolischen Bewegungen.

Der Karateka, der dieses Niveau erreicht hat, wird nun verschiedene höchst subtile Gefühle empfinden, wie sie auch die alten Meister, die Väter des heutigen Karate, empfanden. Aus dieser höchsten Subtilität heraus bauten diese Meister absichtlich einige Fehler in den Ablauf der Kata ein, wie z. B. überflüssige oder unvollständige Bewegungen, Techniken oder Schritte, die unmöglich in die codierte Form paßten, oder invertierte Rhythmen. Der Zweck dieser Verfälschungen bestand darin zu vereiteln, daß unsichere Schüler oder gar Spione die echten Geheimnisse der Effektivität mißbrauchten. Der Karateka, der diese Verinnerlichungsarbeit, diese Neuerschaffung der Kata aus einem starren Schema vollbracht hat, befindet sich nun auf der höchsten Stufe der Vollendung. Nun muß er auch in der Lage sein, jene Fallstricke für die »Unbefugten« zu erkennen.

Am Ende dieser inneren Entwicklung wird die Kata zu einer Tat ohne jede Zweckbestimmung. Sie repräsentiert keine Stufe mehr, sondern einen Zustand. Dies stellt das Ende einer Welt des Scheinbaren dar. Die Kata, wie auch die Gesamtheit des Karatedô, von dem sie nur ein Teil ist, hat nun ihre höchstmögliche Vollendung und Effizienz erreicht. Jedoch erfüllt sie nun keinen Zweck mehr. Dies erinnert an die alte Weisheit aus der japanischen Schwertkampfkunst, die besagt: »Das Schwert ist in seiner Scheide ein Schatz.« Dies ist das höchste »Geheimnis« der Kata, des Schmelztiegels der »Nicht-Form«, die letzte Pforte der »Kampfkunst mit der bloßen Hand«.

Das sogenannte moderne Karate benötigt Ausbilder, Pädagogen, Techniker, Kämpfer, selbst Wettkämpfer. Aber noch mehr benötigt es Karateka, die ein hohes technisches Niveau erreicht haben und zugleich geistig in der Lage sind, die höheren Kenntnisse des Karate sorgsam zu bewahren. Denn wenn erst einmal die Gußform zerbrochen ist, wer könnte sie neu erschaffen?

39 Karate-Kata

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