Читать книгу Gesichtserkennung - Roland Meyer - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеIm Januar 2020 machte eine bis dahin unbekannte amerikanische Firma namens Clearview AI weltweit Schlagzeilen: Laut einem Bericht der New York Times hatte das Unternehmen rund drei Milliarden Bilder von Plattformen wie Facebook, Instagram und YouTube abgezogen und ohne Einwilligung derjenigen, die die Bilder hochgeladen hatten, in ihren eigenen Datenbanken gespeichert. Mithilfe dieses gewaltigen Datenschatzes sowie avancierter Gesichtserkennungsalgorithmen verspricht die Firma ihren Kunden, darunter Sicherheitsbehörden wie Privatunternehmen, praktisch jedes beliebige Gesicht in Sekundenschnelle identifizieren zu können.1 Oft reicht ein einziges Foto, um den Namen einer unbekannten Person und deren Online-Profile im Netz zu finden – was die Investor*innen von Clearview AI schon begeistert auf Partys ausprobiert haben sollen.2 Dass die Firma nicht nur systematisch gegen die Nutzungsbedingungen der Plattformen verstößt, deren Datenbestände sie plündert, sondern auch massiv in Bürgerrechte eingreift, hat ihrem Erfolg bislang wenig geschadet: Hunderte von Polizeibehörden in den USA setzen die Software bereits ein. Das amerikanische Unternehmen ist auch nicht das einzige, das das Netz nach Gesichtern durchforstet. Nur wenige Monate nach den Enthüllungen der New York Times sorgte die polnische Firma PimEyes mit einem vergleichbaren Geschäftsmodell für Aufsehen. Auf ihrer Website kann buchstäblich jede*r ein Foto hochladen und mit einer Datenbank von über 900 Millionen Gesichtern abgleichen – angeblich nur, um herauszufinden, auf welchen Websites das eigene Gesicht ungewollt auftaucht. Doch das ist kaum mehr als eine Schutzbehauptung: PimEyes kontrolliert nicht, ob man Bilder eines fremden Gesichts hochlädt, und zahlenden Kund*innen erlaubt die Firma bis zu 100 Millionen Suchabfragen im Monat. Wohl kaum jemand sucht so häufig nach sich selbst.3
Während die einen beim Stichwort »Gesichtserkennung« Orwell’sche Bilder staatlicher Totalüberwachung vor Augen haben, denken die anderen an das bequeme Entsperren des Smartphones oder die Sortierung ihres digitalen Fotoalbums. Doch Beispiele wie PimEyes oder Clearview AI zeigen, dass beides die tägliche Realität der Gesichtserkennung nur unzureichend erfasst. Die Freude über praktische neue Gadgets lässt vergessen, dass Gesichtserkennung ein mächtiges Instrument der Überwachung ist, und die Warnung vor dem allmächtigen Big Brother droht nicht nur leicht in Fatalismus umzuschlagen, sie verkennt auch, dass längst nicht mehr bloß Staaten und große Konzerne die Technologie verwenden. Gesichtserkennung ist vielmehr dabei, zur Alltagstechnologie zu werden, die von diversen Akteuren zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt wird – bisweilen auch gegen staatliche Interessen. So arbeiten derzeit weltweit Aktivist*innen daran, sie für den Kampf gegen Polizeigewalt zu nutzen: In Portland etwa begann nach den brutalen Polizeieinsätzen im Sommer 2020 ein lokaler Programmierer mit dem Aufbau einer Gesichterdatenbank. In Hong Kong wurde bereits ein Jahr zuvor ein Aktivist verhaftet, weil er ein Tool zur Identifizierung von Sicherheitskräften programmiert hatte. Und in Frankreich musste im Herbst 2020 der Künstler Paolo Cirio auf Geheiß des Innenministers eine Ausstellung absagen, in der er über 4000 per Gesichtserkennung ausgewertete Bilder von Polizeibeamt*innen präsentieren wollte. Das hat Cirio allerdings nicht davon abgehalten, die Bilder auf seiner Website zu zeigen und im Straßenraum zu plakatieren.4 (# 1)
#1 Paolo Cirio, Capture, Aktion, Paris, 2020
Was ist Gesichtserkennung überhaupt? Viele würden sagen: eine Technik der »biometrischen« Identifizierung. Allerdings ist eine solche Definition, die für die Anfänge der Technologie noch zutraf, mittlerweile irreführend. Denn »Biometrie« im Sinne einer Vermessung stabiler körperlicher Merkmale spielt bei vielen heute üblichen Verfahren keine zentrale Rolle mehr. Als Facebook 2015 in den USA verklagt wurde, unzulässig »biometrische« Daten seiner User*innen gespeichert und verarbeitet zu haben, argumentierte der Konzern, bei seiner automatisierten Gesichtserkennung würden gerade keine Körpermerkmale erfasst, sondern bloß Helligkeitsverteilungen in Bildern verglichen.5 Das war einerseits ein letztlich erfolgloser juristischer Winkelzug, anderseits aber eine bildtheoretisch scharfe Unterscheidung. Von Ausnahmen wie Apples FaceID abgesehen, das zur Entsperrung des iPhones tatsächlich die dreidimensionale Geometrie des Gesichts vermisst, ist Gesichtserkennung in ihrer heutigen Form meist keine Körpervermessung, sondern ein automatisierter Bildvergleich, der Ähnlichkeiten statistisch auswertet. Spezialisierte Algorithmen gleichen dazu Muster in Bilddateien ab, um Übereinstimmungsraten zu errechnen: Wie wahrscheinlich ist es, dass das Gesicht auf diesem Selfie mit dem auf jenem Profilbild übereinstimmt? Wie für jeden Bildvergleich ist dabei auch für die Gesichtserkennung die entscheidende Voraussetzung die Verfügbarkeit von Vergleichsbildern – und die ist mit allgegenwärtigen Smartphone-Kameras und den Netzwerken der Sozialen Medien in den letzten zwei Jahrzehnten explodiert.
Die Bilder, mit denen wir unser Leben festhalten, lagern schon lange nicht mehr in Schuhkartons und Fotoalben, sondern auf Servern und Datenbanken. Sie zirkulieren in weltweiten Netzen, lassen sich jederzeit und überall in unterschiedlichen Formaten abrufen und in immer neuen Konstellationen auf unseren Screens versammeln. Unter den Bedingungen digitaler Vernetzung und algorithmischer Auswertung existiert kein Bild mehr für sich allein. Ob als Instagram-Feed, virtuelles »Album« oder personalisiertes Profil – digitale Bilder sind immer schon mit anderen Bildern verknüpft.6 Und Gesichtserkennung, darin liegt ihr vielfältig einsetzbares Potenzial, schafft neue Verknüpfungen zwischen zuvor unverbundenen Bildern: Dasselbe Gesichtsmuster auf verschiedenen Bildern, an unterschiedlichen Orten aufgenommen und auf diversen Plattformen verteilt, wird so demselben Individuum zurechenbar. Gesichtserkennung macht das lebendige Gesicht zum digitalen Anker, der es erlaubt, verstreute Datenspuren miteinander in Beziehungen zu setzen. Mehr noch: Da unsere Gesichter online wie offline verfügbar sind, werden sie zum Interface zwischen der physischen Welt, die wir mit unseren Körpern bewohnen, und den Plattformen, die unsere digitalen Identitäten verwalten. Schließlich ist es dasselbe Gesicht, das von einer Überwachungskamera im Fußballstadion erfasst wird und das auf unseren Instagram-Accounts abrufbar ist.
Das digitale Gesicht ist jedoch ein instabiler Anker und ein wenig verlässliches Interface. Trotz Jahrzehnten der Forschung ist Gesichtserkennung eine fehlerbehaftete Technologie – was ihren kommerziellen Siegeszug bislang allerdings kaum aufgehalten hat (Kap. 1). Ihre Unzuverlässigkeit ist auch nicht bloß ein technischer Mangel, sondern hat strukturelle Gründe. Denn Gesichtserkennung kann immer nur Wahrscheinlichkeiten ermitteln, keine Sicherheiten schaffen. Und sie behandelt nicht alle Gesichter gleich, sondern verschärft bestehende rassistische und sexistische Diskriminierungen (Kap. 2). Insbesondere dort, wo die Technik eingesetzt wird, um Gesichter nicht bloß zu identifizieren, sondern in Hinblick auf Alter, Geschlecht, Stimmung oder gar Charakter zu analysieren, verfestigt sie nicht allein kulturelle Stereotype, sondern verändert unseren Umgang mit dem Gesicht und nötigt uns neue mimische Normen auf (Kap. 3). Gesichtserkennung produziert so digitale Masken – je nachdem, ob wir in einer bestimmten Situation erkannt werden wollen oder nicht, sind wir gezwungen, unsere Gesichter herrschenden Standards zu unterwerfen oder sie gezielt unkenntlich zu machen (Kap. 4). Gesichtserkennung lässt sich damit letztlich nicht mehr von Gesichtsproduktion trennen: Dieselben Technologien, die uns identifizieren sollen, werden dazu eingesetzt, um digitale Gesichter zu manipulieren und ästhetischen wie sozialen Normen anzupassen (Kap. 5). Digital »optimierte« Gesichter zirkulieren so als körperlose Masken in vernetzten Bilderströmen, für die unsere lebendigen Gesichter nur noch den algorithmisch verarbeitbaren Rohstoff liefern. Von dieser scheinbar grenzenlosen digitalen Verfügbarkeit des Gesichts und ihren Konsequenzen handelt dieses Buch. Eines scheint dabei sicher: »Private« Bilder werden nie wieder sein, was sie einmal waren.