Читать книгу Immanuel Kants transzendentaler Kritizismus und die Frage nach Gott - Roland Mugerauer - Страница 7

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1 Einleitung: Kants transzendentaler Kritizismus, die Metaphysik und die Gottesthematik

1.1 Der Kritizismus Kants – seine Bedeutung

Die kritische Transzendental-Philosophie Kants mit ihrer ‚Revolution der Denkart‘2 und der ‚kopernikanischen Wende‘ zum transzendentalen Subjekt sowie zur transzendentalen Vernunftkritik ist in herausragender Weise epochal und prägend für die Philosophie der Neuzeit.3 Das neuzeitliche Denken wird durch Immanuel Kant (*1724; †1804) in höchst fruchtbarer Weise nachhaltig verwandelt und zentrale Problemstellungen werden auf eine neue Reflexionsebene gehoben. Kants Denken stellt noch heute und auch für die Zukunft die Herausforderung dar, das philosophische Reflexionsniveau, das sein Schrifttum dokumentiert, näherhin sein weitgreifendes und ausdifferenziertes philosophisches Problembewusstsein und die begrifflich-argumentative Schärfe seiner Gedanken, nicht zu unterbieten. Dies bleibt eine Aufgabe selbst dort, wo einzelne Aspekte seiner Ergebnisse nicht mehr uneingeschränkt anschlussfähig sein mögen und wo man nicht bereit ist, Kant seinen Grundlegungsanspruch als berechtigt zuzugestehen. Wer mit dem Anspruch philosophiert, nicht hinter bereits erreichte philosophische Sachstände zurückzufallen, kommt seit Kants kritischen Werken an einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem, was Kant gedacht und dargelegt hat, nicht vorbei. Dies zeigt sich noch zu Lebzeiten Kants und es gilt bis heute. Entsprechend beziehen sich (auch) sehr viele heutige philosophische Ansätze, Richtungen und Strömungen auf Kant, und sei es in Abgrenzung.4

Mit Blick auf die Gegenwart ist zudem zu konstatieren: Kants Philosophieren hat einen ‚kosmopolitischen Zug‘, der gerade im sog. ‚Zeitalter der Globalisierung‘ vielfältig anknüpfungsfähig ist oder jedenfalls sein oder künftig (noch mehr) werden kann. Dies, auch wenn Kants Philosophie in mancherlei Hinsicht unzeitgemäß erscheint. Denn sie kann Irrwege oder Einseitigkeiten gegenwärtigen Philosophierens aufweisen, lässt auf solche aufmerken und achtsam werden. Gerade als unzeitgemäße ist diese Philosophie daher vielversprechend und insofern ‚an der Zeit‘.

Mit seinem transzendentalphilosophischen Kritizismus hat Kant die Philosophie in gewisser Hinsicht geradezu revolutioniert. Insbesondere hat er auch die tradierte philosophische Theologie mit ihren affirmativen Lehren von Gott einer scharfen und grundsätzlichen Kritik unterzogen und deren Unhaltbarkeit dargetan. Faktisch ist der Kritizismus Kants von großer Bedeutung für das Unternehmen ‚Metaphysische Gotteserkenntnis‘ oder ‚Philosophische Theologie‘.

Philosophische Gotteserkenntnis ist dann (auch) eines der Grundanliegen der Denker des deutschen Idealismus.5 Angesichts von Kants transzendentalphilosophischer Kritik der philosophischen Theologie mag es zunächst paradox erscheinen, dass im deutschen Idealismus dann wieder ein Gipfelpunkt philosophischer Theologie erreicht wird6, und zwar gerade vor dem Hintergrund von Kants Kritizismus. Ohne hier bereits näher darauf einzugehen, lässt sich konstatieren, dass das spezifische Bemühen der Idealisten um philosophische Gotteserkenntnis (als Erkenntnis des absoluten Einheitsgrundes) tatsächlich nur vor dem Hintergrund von Kants Kritizismus zu verstehen ist. Bereits solch schlichtes Faktum indiziert Kants Bedeutung für das philosophische Gottesdenken und es allein würde bereits eine nähere Auseinandersetzung rechtfertigen mit Kants Kritik der affirmativen rationalen Theologie und insbesondere mit der Grundanlage seiner Transzendental-Philosophie als solcher.

Philosophiehistorisch wie systematisch ist die für Kants Transzendental-Philosophie grundlegende transzendentale Haupterkenntnis von besonderer Bedeutung, dass nicht das Objekt das Subjekt, sondern dass das Subjekt sein Objekt bestimmt. Nicht unsere Erkenntnis muss „sich nach den Gegenständen richten“, sondern „die Gegenstände müssen sich nach dem Erkenntnis richten“ (KrV B XVI) – so eine zentrale Formulierung der ‚kopernikanischen Wende‘ durch Kant selbst. Daher ist es unabdingbar, zu verstehen, wie Kant im Rahmen der Grundfrage: „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?“ in ‚transzendentaler Inblicknahme‘ die ‚kopernikanische Wende‘ vollzieht vom Objekt zum Subjekt, und zwar zu den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis sowie zu den Grenzen möglicher Erkenntnis. Dies gilt gerade für die Erkenntnisgrenzen, die der menschlichen Vernunft im Blick auf philosophisch-metaphysische Gotteserkenntnis gesetzt sind.

Während Kant die Endlichkeit und Begrenztheit der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten akzentuiert, näherhin ihre Beschränkung auf mögliche Erfahrung und bloße Erscheinung, geht es dem an Kant anschließenden deutschen Idealismus darum, die kantischen Geltungsbeschränkungen ‚aufzuheben‘ und unbedingte Gültigkeit für die Erkenntnis zurückzuerlangen. Es geht den Denkern des Idealismus um ‚absolutes Wissen‘. Die kantische Selbstbescheidung der metaphysischen Vernunft wird im Philosophieren des deutschen Idealismus gewissermaßen aufgegeben. In Sonderheit Hegel erhebt den höchstansprüchlichen metaphysikrestitutiven Versuch, sich in einer konstruktiven Metaphysik mittels einer spekulativen Dialektik zum Standpunkt Gottes selbst oder zum absoluten Wissen zu erheben. Bei Kant hingegen ist die unvermeidbare Dialektik der menschlichen Vernunft Ausdruck ihrer konstitutiven Endlichkeit und Begrenztheit. Will man Hegel beurteilen, muss man Kant verstanden haben. Dies gilt für die Denker und die Philosophien des deutschen Idealismus überhaupt.

Kants Philosophie kann als ‚Philosophie der menschlichen Endlichkeit‘ tituliert werden. Sein transzendentalkritisches Unternehmen, das die Möglichkeiten der (herkömmlichen ontologischen) Metaphysik und der ‚spekulativen‘7 Vernunfterkenntnis (selbst)kritisch prüft, kann mahnen zu metaphysischer und epistemischer Selbstbescheidung. Um die Möglichkeiten von – kantianisierend gesprochen – „Metaphysik als Wissenschaft“ und näherhin einer philosophischen Theologie überhaupt angemessen ausloten zu können, ist eine Auseinandersetzung mit Kants Transzendental-Philosophie unverzichtbar, selbst wenn sie noch nicht ‚das letzte Wort‘ ist oder sein kann.

Von besonderer Bedeutung ist Kants Philosophie auch deshalb, weil seine transzendentale Vernunftkritik zumindest nahe legt, dass, entgegen Ansprüchen auf Überwindung ‚der‘ Metaphysik und von ‚Metaphysik-Verabschiedung‘ in der Gegenwartsphilosophie, der philosophierende Mensch bei aller Metaphysikkritik der Metaphysik als ernstes philosophisches Problem (und nicht nur als beliebiges Verlangen) nicht ‚entkommt‘ – und mit ihr gewissermaßen auch nicht der philosophischen Frage nach Gott. Dies schon aus Gründen der strukturellen Verfasstheit der menschlichen Vernunft. Gerade Kant, von Moses Mendelssohn (*1729; †1786) als ‚Alleszermalmer‘ der Metaphysik bezeichnet, begründet dann, nachdem er in der Kritik der reinen Vernunft die herkömmliche Metaphysica specialis als unmöglich erwiesen hat (als Wissenschaft), über die reine praktische Vernunft eine Art ‚Ethico-Metaphysik‘, in der auf dem Felde des Praktischen die altbekannten und zentralen metaphysischen Themen wieder auftauchen: Gott, Seele, Unsterblichkeit.8

1.2 Kant und das Problem der Möglichkeit von Metaphysik und affirmativer Theologie

Kant, der den metaphysischen Ansprüchen kritisch gegenübersteht, behauptet selbst nie einfachhin den ‚Tod‘ der Metaphysik, wie sie ihm insbesondere als ontologische Metaphysik (metaphysica generalis) und als affirmative Theologie (metaphysica specialis) aus der Leibniz-Wolffschen Schulmetaphysik vertraut ist, (als Wissenschaft). Angesichts des beeindruckenden Fortschritts der neuzeitlichen Naturwissenschaft erscheinen ihm aber die dauernden Streitigkeiten der Philosophen ‚in metaphysicis‘ als Skandal. Es geht ihm deshalb darum, dieses Ärgernis mit seinen die Philosophie diskreditierenden Folgen zu beseitigen durch transzendentalkritische Prüfung der Frage, ob es Metaphysik überhaupt als Wissenschaft geben kann (und nicht nur als Naturanlage). Vor Augen hat er dabei die Ansprüche der herkömmlichen Metaphysica specialis als reine ‚spekulative‘ Wissenschaft.

Hinter Kants Auffassung und dann auch seiner ‚Architektonik‘ der Kritik der reinen Vernunft mit ihrer Zuordnung der Metaphysica specialis und ihrer Ein- und Zuordnung der Gottesfrage (rationale Theologie) steht die Leibniz-Wolffsche Schulmetaphysik mit ihrer philosophisch-systematischen Unterscheidung von Metaphysica universalis (oder generalis) und Metaphysica specialis – oder genauer: dreier ‚spezieller‘ Metaphysiken (rationale Psychologie, rationale Kosmologie, rationale oder natürliche Theologie). Denn in der neuzeitlichen Metaphysik wird die spezifisch aristotelische Einheit von Ontologie und Theologie9 gelöst im Sinne einer sehr weitgehenden Selbstständigkeit der (allgemeinen) Ontologie oder ‚allgemeinen Metaphysik‘ (metaphysica generalis (ens qua ens)), deren Untersuchungsgegenstand die allgemeinen Bestimmungen der Seienden und deren Systematik sind. Die Gottesfrage wird zugewiesen einem Bereich der ‚speziellen‘ Metaphysik (metaphysica specialis, näherhin: theologia naturalis (Gott als ens perfectissimum)). Während die metaphysica universalis (oder generalis) bei Kant zur Analytik des reinen Verstandes wird, werden die traditionellen Gegenstände der ‚speziellen Metaphysiken‘ zu den Untersuchungsgegenständen der ‚transzendentalen Dialektik‘ (s. dazu später). Bei Aristoteles gehört hingegen beides noch zusammen, insofern die Metaphysik in eins Metaphysica generalis und Metaphysica specialis ist.

Es geht Kant gerade darum, die Metaphysik, wenn möglich, in den ‚sicheren Gang einer Wissenschaft‘ zu versetzen. Das (Ideal-)Modell von Wissenschaft sind für Kant dabei Mathematik, näherhin Arithmetik und Geometrie, sowie Naturwissenschaft, näherhin Physik (seinerzeit als klassische Mechanik). Wenn Metaphysik als Wissenschaft möglich ist, so hat sie für Kant dieses normative Ideal strenger Wissenschaftlichkeit zu erfüllen, wie es Mathematik und Naturwissenschaft ihm repräsentieren. Im Sinn hat Kant hier vor allem die Erkenntnis dessen, was allgemein und notwendig gültig ist. Ist ‚Metaphysik‘ als Wissenschaft möglich, so hat sie, transzendentalkritisch verstanden und ‚gewendet‘, zum Inhalt Erkenntnis oder Wissen von allgemeiner sowie notwendiger Gültigkeit, und zwar Wissen, das a priori gilt. An der Beantwortung der Frage, ob und inwiefern es eine derartige Erkenntnis oder ein derartiges Wissen in metaphysicis gibt, entscheidet sich, ob und inwiefern Metaphysik aus transzendentalkritischer Perspektive als Wissenschaft möglich ist.

Die transzendentalkritische Prüfung Kants ergibt, dass Metaphysik im Sinne der tradierten affirmativen Metaphysica specialis nicht möglich ist, nicht zuletzt nicht möglich ist als Theologia naturalis, die den höchsten und ehrwürdigsten Gegenstand der Metaphysica specialis, Gott, behandelt. Gleichwohl aber restituiert Kant im Felde der praktischen reinen Vernunft dann gewissermaßen eine neue Form von Metaphysica specialis, nämlich eine ‚Metaphysica practica‘, die in ihren drei zentralen Themen: Gott, Seele, Unsterblichkeit, der überkommenen Metaphysica specialis entspricht, die er in ihren Ansprüchen destruiert und als unberechtigt erwiesen hat.

Über diese ‚Metaphysica practica‘ Kants geht, wie erwähnt, der deutsche Idealismus dann hinaus und unternimmt es, in gewisser und bestimmter Weise, die ‚alte‘ Metaphysik mit ihrem Gottesthema zu restituieren, indem er, seinem Selbstverständnis nach, ‚Kant über Kant hinausführt‘ und einen unbedingten Geltungshorizont wiedergewinnt. In gewisser Weise werden damit die alten Erkenntnisansprüche der Metaphysik und der philosophischen Theologie in der Behandlung der Frage nach dem Absoluten ‚reetabliert‘ – mit welchem Recht auch immer dies geschieht.

In der folgenden Skizze der Transzendental-Philosophie Kants ist jedenfalls auch auf die Grundzüge von Kants Etablierung einer ‚Metaphysik‘ auf dem Felde des Praktischen (‚Ethico-Metaphysik‘) einzugehen und auf seine ‚Ethico-Theologie‘. Diese aber sind nur zu verstehen von seinem transzendentalkritischen Ansatz her und im Kontext seines transzendentalphilosophischen Anliegens.

2 Vgl. zum Ausdruck bes. KrV B XI und B XIII.

3 Vgl. für die nachfolgenden Ausführungen: Höffe, O.: Immanuel Kant. München 9. überarb. Aufl. 2020. S. diese Publikation auch für einen ausführlicheren Überblick über die Philosophie Kants, der auch dessen vorkritische Schriften berücksichtigt, und für einen orientierenden Überblick zur Aufnahme, Weiterentwicklung und Kritik Kants. Höffes Darstellung ist dem Verfasser insgesamt von nicht geringem Nutzen gewesen.

4 Oftmals ist es so, dass die Abgrenzung gegen Kant dessen Grundanliegen einer transzendentalen Prinzipienreflexion verfehlt und daher unangemessen ist oder die Ablehnungsgründe nicht in der Weise gegen Kant sprechen, dass die Ebene transzendentaler Prinzipienreflexion, um die es Kant philosophisch geht, davon überhaupt tangiert wird. Auch die explizite Abgrenzung unterstreicht (aber) Kants Bedeutung. Dies betont u. a. Höffe (s. o.).

5 Philosophische Gotteserkenntnis zielt hier auf Erkenntnis des absoluten Einheitsgrundes aller Wirklichkeit.

6 Bei dessen Hauptvertretern Johann Gottlieb Fichte (*1762; †1814), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (*1775; †1854) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (*1770; †1831). Wie gegen Ende unserer Skizze näher ausgeführt wird, kommt es bei diesen Denkern dann auf der von Kant geschaffenen subjektivitätstheoretischen ‚Grundlage‘ zu nichttheistischen philosophischen Theologien des Absoluten durchaus unterschiedlicher Ausprägung.

7 Um zu indizieren, dass ‚spekulativ‘ hier nicht im Sinne des unbescheidenen Gebrauches dieses Terminus‘ im deutschen Idealismus zu verstehen ist, werden im Folgenden in der Regel distanzierende Anführungszeichen verwendet.

8 Auch im begrenzten Rahmen der vorliegenden Skizze ist dies jedenfalls zu umreißen. Allerdings können die diesbezüglichen Forschungskontroversen nicht ausdrücklich genannt, geschweige denn diskutiert und gewürdigt werden. Stattdessen muss die Darstellung sich beschränken auf die Darlegung einer (zwar) verbreiteten und gut begründbaren, (aber) doch nicht allseits geteilten und akzeptierten Auffassung des Einschlägigen. Hierauf seien die Lesenden eigens hingewiesen und besonders an dieser Stelle zu eigenem Kantstudium aufgefordert. S. für eine diesbezüglich vertiefte Auseinandersetzung die am Ende genannte Forschungsliteratur als Einstieg oder als Problematisierung. Weitere ausgewählte, nützliche und weiterführende Literatur findet sich im Literaturverzeichnis.

9 S. bes. Aristoteles Metaphysik Buch Lambda.

Immanuel Kants transzendentaler Kritizismus und die Frage nach Gott

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