Читать книгу Gestatten, mein Name ist Cox - Rolf A. Becker - Страница 5

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I.

AUS ERFAHRUNG WIRD MAN DUMM

Ein gebratenes Kind scheut die Pfanne, hat einmal ein kluger Mann gesagt. Wahrscheinlich hat errecht. Vielleicht gibt’s auch Leute, die sich danach richten, und ich wünsche allen dabei viel Spaß. Gewiss sparen sie sich ‘ne Menge Ärger. Ich für meinen Teil halte nichts von der Weisheit. Nicht viel jedenfalls. Dann dürfte ich nämlich Zeit meines Lebens auf jeglichen Damenverkehr verzichten. Und wenn das noch so vernünftig wäre - sagen Sie selbst, wer tut das schon? Bloß weil er mal ’ne hässliche Erfahrung mit ’ner hübschen Frau gemacht hat?

Naja, meine Freunde trösten mich: Es ist immer noch besser als ‘ne hübsche Erfahrung mit ’ner hässlichen Frau, meinen sie, aber das ist wohl Geschmacksache.

Aber im Ernst: Ich habe in meinem Leben schon manche schlechte Erfahrung gemacht, und eigentlich – so sagt ein anderes Sprichwort – wird man aus Erfahrung klug. Wenn also eine Frau, und mag sie noch so hübsch sein, zu nachtschlafender Zeit an der Tür eines Junggesellen klingelt, so ist das nicht in Ordnung, und ein braver Bürgersmann wird die Dame, ohne die Sicherheitskette zu lösen, mit höflichen Worten nach Hause schicken. Basta.

Ich bin kein braver Bürgersmann, und ich pfeife auf alle schlechten Erfahrungen. Wahrscheinlich deshalb, weil ich immer hoffe, mal eine gute Erfahrung zu machen. Im vorliegenden Falle wurde diese Hoffnung durch das Aussehen der Besucherin hochgradig angeheizt. Eine Dame von ganz besonderer Qualität. Was die so genannten weiblichen Reize betrifft, hatte sie einen Haupttreffer gezogen. Sie hatte soviel davon, dass sie damit mühelos einen Großhandel hätte eröffnen können. Sie war so super, dass vermutlich sogar der kluge Knabe, der das Sprüchlein vom gebratenen Kind ersonnen hatte, seine Lebensweisheit sausen gelassen hätte.

Es begann in der Badewanne - mitten in der Nacht. Ich strampelte gerade im Bad herum, freute mich auf ein paar Tage Urlaub, den ich am nächsten Tag antreten wollte, und spielte mit Schwamm und Seifennäpfchen Seeräuber.

Da also klingelte es.

Ruhig, Cox, keine bösen Worte gebrauchen! Um diese Zeit klingeln nur gute Freunde. Ich überließ Schwamm und Seifennäpfchen den Wogen und kletterte aus der Wanne.

Diesmal klingelte es heftiger, anhaltender. Das musste ein verdammt guter Freund sein!

Ich trocknete mir Füße und Beine ab, krauchte in die Hausschuhe, angelte nach dem Bademantel und sang einen fröhlichen Fluch vor mich hin. Und währenddessen bimmelte es, bimmelte ohne Unterlass.

Na, warte!

Ich schlurfte zur Tür und öffnete.

„Guten Abend, Mr. Cox“, sagte sie.

Sie war Ende 20, hatte kastanienbraunes Haar und sprach mit einem kleinen, pikanten Akzent. Aber sie sprach unfreundlich und machte dabei ein mürrisches Gesicht.

Das gefiel mir nicht. Ich betrachtete sie von Kopf bis Fuß, ließ mir aber nicht anmerken, dass ich sie ungewöhnlich attraktiv fand. Ich murrte raubauzig: „Und weil Sie zufällig ein bisschen hübsch sind, glauben Sie, mitten in der Nacht auf meiner Klingel Walzer spielen zu dürfen?“

Sie lächelte nicht. „Pardon! Es ist sehr dringend.“

Ich warf einen neuen Blick auf ihre Figur. Die war reizvoll genug, dass sie mich wieder halbwegs versöhnen könnte. „Kommen Sie rein!“

Ich führte sie ins Herrenzimmer. „Da ich nicht annehme, dass Sie mir beim Baden Gesellschaft leisten wollen, muss ich Sie bitten, sich einen Moment zu gedulden.“

„Oh, meinetwegen brauchen Sie sich nicht anzuziehen.“

„Hatte ich auch nicht vor. Ich will mir nur die Haare abtrocknen.“

Al sich fünf Minuten später wieder ins Zimmer kam, stand sie immer noch da, die Arme verschränkt, mit lauerndem Blick und eisiger Miene. Ich goss mir einen Whisky ein, reichte auch ihr ein Glas. Sie rührte es nicht an.

„Wenn Sie schon keinen Whisky annehmen wollen, nehmen Sie wenigstens Platz!“

Na, das tat sie nun, etwas zögerlich, aber immerhin. Die Beine schön parallel gestellt, ihre Handtasche brav auf dem Schoß, wie eine Internatsschülerin bei der Verteilung der Klassenarbeiten.

Ich ließ mich auch in einen Sessel fallen, trank einen Schluck, war gespannt, was nun kommen würde.

„Sie wollen morgen früh verreisen?“ fragte sie.

„Woher wollen Sie das denn wissen?“

Sie rümpfte ein bisschen die Nase. „Ist doch egal, ich hab’s eben erfahren. Also? Reisen Sie nun oder nicht?“

„Ganz recht, nach Bournemouth. Ein bisschen Wellenreiten, bisschen Tennis, bisschen Baccara, die haben dort eine hübsche Spielbank, kommen Sie mit?“

Ihr „nein“ kam so eisig, dass mich fröstelte.

„Na schön, dann seien Sie doch so liebenswert und sagen mir, was, zum Kuckuck, Sie mitten in der Nacht bei mir suchen!“

„Mr. Cox!“ Ihre Stimme klang tadelnd, wie die meines Lateinlehrers. „Ich habe vorhin erst von Ihrer Reise erfahren. Deswegen störe ich Sie zu so ungelegener Stunde.“ Sie schlug zwei makellos adrette Beine übereinander, und ich fand, dass die Stunde gar nicht so ungelegen war. Sie hätte sich nur ein bisschen umgänglicher benehmen sollen.

„Okay, Mademoiselle, und was darf’s denn nun sein? Whisky? Einen Martini? Gläschen Champagner?“

„Nichts dergleichen, ich habe mit Ihnen zu reden.“

„Dann mal zu! Niemand hindert Sie.“

Sie schaute mich aus traurigen Augen an. „Ich vermute, Sie wissen nicht, wer ich bin. Sonst wüssten Sie auch, warum ich komme.“

Ich nickte. „Na fein, ich weiß nicht, weshalb Sie kommen, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber vielleicht verraten Sie’s mir mal.“

„Ich bin Anette Dumont“, sagte sie mit solchem Nachdruck, als gäbe sie damit die Eroberung der südlichen Hemisphäre durch die Flotte ihrer britischen Majestät bekannt. Sie schaute mich an, als erwarte sie mich tief beeindruckt.

„Nun, Mr. Cox?“

„Nun, Miss Dumont?“

Sie klappte ihre Handtasche auf und suchte, unsicher geworden, nach einer Zigarette. Ich schob ihr die Box zu. Sie missachtete es, angelte eine Zigarette aus ihrem Täschchen. Ich gab ihr Feuer.

„Wie Sie soeben scharfsinnig kombiniert haben, weiß ich noch immer nicht, was Sie wollen.“

Sie blies den Rauch ihrer Zigarette langsam und bedächtig aus. Genau so langsam und bedächtig sagte sie: „Die Papiere, die Sie von mir - sagen wir -‘ausgeliehen’ haben, brachten Ihnen bis heute einen Reingewinn von 12.300 Pfund. Über die Papiere reden wir später, aber das Geld möchte ich haben, bevor Sie nach Bournemouth fahren.“

Hm. - ?? - Hm.

„Mein Name ist Cox, Gnädigste. Sie verwechseln mich.“

Sie lächelte impertinent. „Keinesfalls, ich verwechsle Sie nicht. Haben Sie das Geld?“

„Leider, leider“, grinste ich. „Ich habe gestern meine Milchrechnung bezahlt.“

Sie stand auf, strich sich den Rock glatt. „Gut. Ich gebe Ihnen sechs Stunden Zeit.“ Sie tötete die gerade angezündete Zigarette im Aschbecher und stöckelte auf ihren hohen Absätzen zur Tür. „Sie hören wieder von mir.“

Allmählich hörte der Spaß auf, lustig zu sein. Ich vertrat ihr den Weg. „Sie haben offenbar nicht alle Töne auf der Zither, mein Täubchen...“

Ihre Augen blitzten böse. „Damit Sie sich keinen Illusionen hingeben, Mr. Cox: Ich bestehe auf sofortiger Zahlung, ich gehe auf keinerlei Handel ein. Wenn Sie nicht zahlen, geht Ihr Erholungsurlaub strictement ins Gefängnis. “

Ich gab ihr den Weg zur Tür frei, lächelte verbindlich. „Ich kenne Sie erst ein paar Minuten, Verehrteste, und da wäre es nicht übermäßig galant, Ihnen frei heraus zu sagen, was ich von Ihnen denke. Aber entnehmen Sie dieser versteckten Andeutung, dass es nicht viel Gutes ist. Ich lasse mich nur ungern auf den Arm nehmen. Wenn Sie Männerbekanntschaften machen wollen, suchen Sie sich einen besseren Trick aus. Und nun rauschen Sie ab, Engelchen! “ Ich öffnete ihr die Tür.

Sie rümpfte die Nase. „Gerne. Aber das nächste Mal komme nicht ich, sondern die Polizei - falls Sie es sich nicht doch noch anders überlegen. Sie kennen Purley?“

Holla! Ich kannte Purley. Ein kleiner Ort südlich von London. Ich hatte dort allerlei unliebsame Erfahrungen gemacht. Und mir war, als hätte ich soeben ein Wetterleuchten gesehen.

„Purley? Wieso?“

„Uphill Road Nr. sechs.“

Alle Achtung! Das Wetter kam schnell näher. Es war schon ein Blitz.

„Ein abgelegenes Haus“, fuhr sie fort.

„Ich weiß.“

„Es ist zur Zeit unbewohnt. Dort erwartet Sie ein Bote von mir, morgen früh um sechs Uhr. Falls Sie nicht erscheinen - mit dem Geld! - werden Sie um sieben verhaftet. “

Damit wollte sie gehen. Ich erwischte sie am Ärmel. „Moment, meine Beste! Nicht so husch husch!“

„Lassen Sie mich los!“

Ich ließ sie nicht los. „Was ist in Purley? Wer steckt dahinter? Wer schickt Sie zu mir?“

Weiß der Teufel, woher er gekommen war, jedenfalls trat er jetzt durch die Tür, untersetzt, schmalschultrig, stiernackig, muffelgesichtig, zum Kotzen. Er schob einen Revolver vor sich her, ein mächtiges Exemplar, wie es eigentlich nur in Wild-West-Filmen vorkommen dürfte, aber er hielt das Ding leibhaftig in der Hand und richtete den Lauf direkt auf mein Herz.

„Nehmen Sie die Hände hoch, Cox!“ sagte er mit merkwürdig heller Stimme.

So lächerlich die Situation auch war, ich tat ihm den Gefallen. Dem munteren Herrn war zuzutrauen, dass er tatsächlich abdrückte.

„Oh, Madame kommen mit Bodyguard“, knurrte ich.

Und jetzt lächelte sie ein bisschen. „Wenn ich vorstellen darf: Das ist Mr. Alfons Kraczyk. Er wird Sie morgen in Purley erwarten. Er ist bevollmächtigt, das Geld in Empfang zu nehmen. Adieu!“

Stolz wie eine Königin, drei Minuten nach der Krönung, rauschte sie an ihrem Leibwächter vorbei. Ergab ihr fünf Sekunden Geleitschutz, dann zog auch er ab.

Krrrums, machte die Tür, und der Spuk war vorbei.

Tja, und nun wäre es wirklich an der Zeit gewesen, an das kluge Wort vom gebratenen Kind zu denken. Um ehrlich zu sein, ich habe auch daran gedacht, so dumm war ich nun wieder nicht. Aber ich habe nicht danach gehandelt. Freilich, wenn ich gescheit gewesen wäre, hätte ich unverzüglich einen Koffer gepackt, ein Fischerboot gechartert und Leine gezogen – weit weg, nach Neu-Guinea vielleicht, zu den Affen, dorthin, wo der Urwald am dichtesten ist.

Aber mein alter Fehler: Ich bin neugierig. Und, meine Herren, wenn Sie die Frau gesehen hätten, Sie wären auch neugierig geworden, ich wette darauf. Ein süßes Kätzchen, diese Dame! Eine schillernde Persönlichkeit, wie es in Romanen immer so schön heißt. Eine Klassefrau - wie die Venus von Milo, bloß mit Armen. Und wenn sie sich auch aufführte wie die böse Stiefmutter aus dem deutschen Märchenschatz, sie sah aus wie’s Dornröschen im amerikanischen Farbfilm.

Aber da war noch was: Die Adresse in Purley. Ich kannte das Grundstück Uphill Road sechs. Es gehörte einer gewissen Alora Crawfield, und mir zittert die Hand, wenn ich den Namen schreibe. Die Dame hatte nämlich einen Charakter wie ‘ne Klapperschlange, nur nicht so friedfertig. Und dass ihr Haus unbewohnt war, wunderte mich gar nicht. Die gute Alora hatte sich nämlich für ein gutes Dutzend Jahre woanders eingemietet, kärglich aber sauber, in einem Frauengefängnis, und da gehörte sie auch hin. Man hatte sie nämlich für schuldig befunden, mit ihrem Partner einen in die Bredouille geratenen Rechtsanwalt namens Wallings umgebracht zu haben.

Tja, und ausgerechnet in ihrem Nest, sollte ich mich mit dem wackeren Scharfschützen treffen.

Teufel, das interessierte mich! Da steckte mehr dahinter als ein dummer Fastnachtsscherz, und ich wollte rauskriegen, was für ein Spiel da angepfiffen worden war.

Was dem einen recht, ist dem anderen billig, dachte ich und deponierte meinen Zeigefinger auf dem Klingelknopf.

Es war fünf Uhr früh.

Ich stand vor der Wohnung von Thomas Charles Richardson. Das jedenfalls war sein voller Name. Ich nannte ihn meistens Richy. Er ist Privatdetektiv - und zwar einer von den guten, einer, der nicht viel Gewese um seinen Beruf macht sondern seiner Arbeit nachgeht, still, schlicht, aber mit dem Nachdruck eines Dampfhammers. Außerdem war er mein Freund, und in dieser Eigenschaft war er genau so zuverlässig und stur wie in seinem Beruf. Im Ernst, was ich ihm schon zugemutet hatte, was er meinetwegen durchgemacht hatte, wäre für jeden anderen Grund genug gewesen, mir die Freundschaft aufzukündigen und aufs Land zu ziehen. Richy nicht. Er machte zwar meist ein verdrossenes Gesicht, wenn er mich sah, aber dann war er zur Stelle. Still, schlicht und mit Nachdruck ..... aber das habe ich ja schon gesagt.

Er band mir einen Girlandenkranz von Schimpfwörtern, als er mich sah. Ich hütete mich zu widersprechen, denn ich gönnte ihm sein Vergnügen. Was soll ein Mensch auch anderes tun als schimpfen, wenn er morgens früh um fünf aus dem Schlaf geholt wird.

Er gähnte wie ein Nilpferd. Zwischen Schimpfen und Gähnen brummte er: „Was, zum Teufel, denken Sie, wer Sie sind, dass Sie mich zu nachtschlafender Zeit wecken?“

„Gestatten, mein Name ist Cox.“

„Ha?“

„Sie haben gefragt, wer ich bin. Und zu nachtschlafender Zeit wecke ich Sie, weil wir um sechs in Purley sein müssen. Jetzt ist’s fünf, eine dreiviertel Stunde Fahrzeit, eine Viertelstunde für Sie zum Anziehen.“

Er sah mich an, mit nachdenklich verhangenem Blick. Er kratzte sich am Hinterkopf. „Sitzen Sie in der Klemme? “

„Ja, so könnte man sagen.“

„Kommen Sie rein!“

Er ging vor, ich folgte ihm. Unter dem Zähneputzen fragte er mich: „Sagten Sie Purley?“

„Ja.“

„Doch nicht etwa Uphill Road?“

„Doch.“

Er kannte Purley, er kannte Alora Crawfield. „Ach, du große Scheiße!“

Während er sich anzog, erzählte ich ihm von dem seltsamen Besuch dieser Anette Dumont, erzählte von ihrer dubiosen Forderung und ihrem schmuddeligen Leibwächter.

Richardson band sich die Krawatte. Jawohl, er gehörte nicht zu den Typen mit schmutzigem T-Shirt über dem Unterhemd und zerfransten Jeans, er kleidete sich manierlich. „Und Sie haben diese Anette Dumont nie vorher gesehen? “ fragte er.

„Nie.“

„Auch kein Geld von ihr gepumpt?“

„Aber Richardson! Dann hätte ich sie doch gesehen, nicht?“

Er zog sich die Krawatte fest. „Lassen Sie die Finger davon, Cox, die Sache stinkt!“

„Und wonach, wenn man fragen darf?“

„Drohung... Erpressung.“

Ich schüttelte den Kopf. „Wenn die Tante eine Erpresserin ist, pilgere ich barfuss in die Sümpfe. Sie ist nicht der Typ dafür. Und ich weiß auch nicht, womit mich jemand erpressen könnte.“

„Aber was soll das? Treffpunkt in Purley?“

„Genau das will ich ja herausfinden.“

Richardson zog sich das Sakko an. „Sie werden noch mal an Ihrer Neugier ersticken. Haben Sie denn das Geld überhaupt bei sich?“

„12.300 Pfund? Spinnen Sie?“

„Na, was wollen Sie dann von diesem Kraczyk?“

„Das werden wir schon sehen. Auf jeden Fall werde ich ihm ’ne Handvoll Fragen stellen - und er wird antworten, darauf können Sie Gift verspeisen.“

Er setzte sich auf die Bettkante. „Lassen Sie’s, Cox! Fahren Sie nach Hause, legen Sie sich in die Falle, träumen Sie was Schönes!“

Ich tätschelte ihm die Schulter. „Klemmen Sie sich Ihre Ratschläge unter die Achseln, Richy, ich fahre.“

Er seufzte. „Sie geben keine Ruhe, bis Sie mit dem blanken Hintern im Kuhfladen sitzen. Gut, okay, tun Sie, was Sie wollen. Aber bitte allein! Ich fahre nicht mit.“

Wir fuhren natürlich zusammen. Wir nahmen seinen Wagen. Meinen Jaguar ließ ich vor seiner Haustür stehen.

Das war ein grober Fehler, wie sich später herausstellen sollte.

Das Haus Uphill Road Nummer sechs lag am Rande von Purley, in einem riesigen Garten - wenn man das noch Garten nennen konnte. Jetzt war er total verwildert. Von den Bäumen abgebrochene Äste lagen über dem Unkraut, das den Rasen überwuchert hatte. Die Umrisse von einigen Blumenbeeten waren noch zu sehen, aber auch sie waren von Unkraut bedeckt. Hinter zwei verkrüppelten Kirschbäumen stand eine jämmerliche Holzbude, wahrscheinlich früher ein Geräteschuppen, jetzt nur noch das Skelett davon. Die Holzwände vermodert, die Fenster zerbrochen, die Tür hing in den Angeln. Der Garten war ein einziger Schandfleck. Klar, Alora Crawfield saß seit Jahren im Knast; wer sollte sich um den Garten kümmern?

Das Haus selbst, Aloras Behausung, bot einen fast noch erbärmlicheren Anblick. Die Ziegel lagen noch auf dem Dach, das war aber auch alles, was noch in Ordnung war. Der Putz bröckelte von dem, was einmal eine stattliche Villa aus der Gründerzeit war, die Regenrinnen waren durchgerostet, die Fensterläden klapperten lose in den Scharnieren.

Wir hatten den Wagen ein paar Meter hinter dem Haus geparkt und näherten uns nun langsam der Villa. Die Sonne kroch gerade über den Horizont, Äste, Unkraut, Gräser waren noch feucht vom Nachttau. Ein paar Vögel flatterten aus dem Geäst der Bäume, als wir herankamen. Langsam und leise, Schritt für Schritt. Wir hätten es gerne, wenn wir diesen Mr. Kraczyk überraschen könnten und nicht umgekehrt.

Die Villa stand im Dämmerlicht. Nirgendwo brannte Licht.

„Der wartet nicht in der Villa“, flüsterte Richardson, „der hängt irgendwo im Garten herum. Das ist weit sicherer für ihn.“

„Aber wo?“

„Hinter einem Strauch, im Schatten einer Hausecke, vielleicht sitzt er auch in einer Baumkrone, wer weiß.“

Ich schaute mich um. Es war nirgendwo etwas zu sehen. Keine Bewegung. Nur ein paar Zweige schaukelten im Wind. Ein paar Vögel begannen zaghaft, ihr Morgenlied an zu trällern. Aus der Ferne heulte ein Hund. Sonst Stille.

„Verdammt mulmig“, murmelte ich.

„Angst?“ murmelte Richardson zurück.

„Quatsch! Kommen Sie!“

Der Kies knirschte unter unseren Füßen, während wir langsam auf den Eingang der Villa zugingen.

Jetzt wurde es mir zu dumm. „Hallo!“ rief ich. „Hallo, Kraczyk!“

Keine Antwort.

Noch einmal: „Kraczyk, wo sind Sie?“

Nichts rührte sich.

Wir kamen zum Eingang. Seltsam, die Tür war nur angelehnt.

„Dann wartet er doch in der Villa“, meinte Richardson.

„Hm.“ Ich war mir nicht schlüssig.

„Was bleibt uns anderes übrig? Wir müssen hineingehen. Kommen Sie, Cox!“

Ich war mir immer noch nicht schlüssig. „Das kann eine Falle sein. Einer bleibt draußen. Warten Sie hier, Richy! Passen Sie gut auf.“

„Haben Sie ‘nie Kanone?“

„Nein.“

„Hier, nehmen Sie meine!“ Er drückte mir eine 38er Luger in die Hand. „Und sehen Sie sich vor, ja?“

„Meinen Verbindlichsten! Bis gleich.“

Ich ging ins Haus, wiederum langsam, Schritt vor Schritt. Die Tür knarrte, als wolle sie mich vor irgend etwas warnen. Sanft, als traute es sich nicht so recht, fiel das Morgenlicht durch die schmutzigen Fensterscheiben. Ich versuchte, mich zurechtzufinden. Ich stand im Vorraum. Nichts Besonderes. Eine Truhe, eine Flurgarderobe, zwei Stühle, alles bis zur Unkenntlichkeit verstaubt, eine Tür zu den weiteren Räumen, ein Aufgang zu der oberen Etage, eine Kellertür.

Ich ging weiter, in den Wohnraum. Er musste einmal recht elegant gewesen sein. Jetzt gähnte er Erbärmlichkeit. Die Möbel waren mit Bettlaken oder ähnlichen Stoffen bedeckt, auf denen sich millimeterstark der Staub angesammelt hatte. Spinnweben spannten sich von brüchigen Samtvorhängen zu den Möbelstücken, und es roch nach Moder.

Ich versuchte noch einmal mein Glück: „Kraczyk, sind Sie hier irgendwo?“

Quasi als Antwort hörte ich nur laut rasselnd das Schlagen einer Uhr

Nanu!

Ich fuhr herum, sah in der hinteren Ecke des Zimmers eine große, altmodische Standuhr.

Das Haus ist unbewohnt, hieß es. Die Uhr hatte wohl der Weihnachtsmann aufgezogen?

Noch einmal rief ich: „Hallo, Kundschaft!“

Aber außer dem Ticken der Uhr war nichts zu hören.

Was war hier los?

Ich ging zurück zum Flur, und weiter zur Kellertür. Stieß sie auf. Auch sie knarrte erbärmlich. Ich tastete mich zum Lichtschalter. Und welch Wunder! Das Licht brannte.

Der Keller brachte mir keine Erleuchtung - wenn auch das Licht brannte. Allerlei Gerätschaften waren unter einer dicken Staubschicht verborgen, ein Weinregal, doch hier bemerkte ich wiederum etwas Seltsames: Eine von den wenigen Weinflaschen, die auf dem Regal lagen, hatte keine Staubschicht. Was hatte das zu bedeuten?

Hinter dem Regal aber entdeckte ich eine schmale Ritze in der Wand. Ich schob das Regal etwas beiseite. Die Ritze gehörte zu einer schmalen Schiebetür. Ich stemmte mich dagegen, sie öffnete sich - merkwürdigerweise geräuschlos, und gab den Weg frei zu einem weiteren Keller. Erwar klein, natürlich staubig wie alle anderen Räume dieses Hauses, oben ließ ein kleines Kellerfenster ein bisschen Licht in den Raum fallen, und unten standen zwei etwa hüfthohe Kisten herum.

Als ich gerade anfangen wollte, mich zu wundern, hörte ich von draußen Richardsons Stimme. Nur ein kurzer Ausruf, eine Art Stöhnen oder so etwas.

Mir kam die Sache nicht geheuer vor. Ich hastete die Treppe hinauf, ging vors Haus, rief nach Richardson.

Es verging eine Weile, dann kam er.

„Machen Sie nicht so’n Krach, Cox!“

Ich war froh, dass er da war. „Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen hier warten.“

„Hier bin ich ja. Haben Sie den Boten von Frau Dumont gefunden?“

„Nein.“

Richardson knurrte: „Aber ich.“

„Wo, um Gottes Willen?“

„Kommen Sie!“

Er führte mich durch den Garten, zu dem baufälligen Geräteschuppen. Da sah ich ihn dann, Alfons Kraczyk, hingestreckt, aus einer Kopfwunde Blutgerinnsel, die Augen starrten hilflos ins Leere. Kein Zweifel, er war mausetot. Kopfschuss.

Tja und spätestens jetzt wünschte ich mir, ich hätte doch das Sprüchlein vom gebratenen Kind beherzigt, das die Pfanne scheut. Denn eines war mir klar: Es kam noch allerhand auf mich zu. Mein kleines Abenteuer in Purley war nur eine harmlose Vorspeise zu einem gepfefferten Schlangenfraß, den mir die Zukunft servieren sollte.

Da standen wir nun mit dummen Gesichtern und wunderten uns. Warum hatte man den kleinen, schmutzigen Mr. Kraczyk außer Kurs gesetzt? Und wer? Wer hatte sich in dem unbewohnten Haus eingenistet, die Tür offen gelassen, die Uhr aufgezogen, die Lichtrechnung bezahlt?

Wir fanden keinen Reim darauf.

„Ein Haufen Rätsel“, murmelte Richy, „und nicht die Spur einer Lösung.“

„Ich habe noch ein Rätsel für Sie.“

„Ja? Welches?“

„Kommen Sie mit, ich zeig’s Ihnen.“

Ich führte ihn ins Haus und dann zu dem kleinen geheimen Kellerraum. Die Tür stand noch offen. Ich war noch nicht dazu gekommen, mich hier richtig umzusehen. Das taten wir jetzt. Und obgleich der Raum bis auf die zwei Kisten leer war, fanden wir doch einige beachtliche Dinge. Das erste stach förmlich ins unbewaffnete Auge: Ein Wandtresor an der rechten Seitenwand. Er war ziemlich groß, fast wie ein Bank-Safe, und durch ein Chiffre-Schloss gesichert. Aber die Tresortür stand offen, an ihr fanden wir keine Spur von Staub. Der Safe aber war leer.

Das zweite war ein Zigarettenstummel, der in einer Ecke lag.

„Er ist knochentrocken“, bemerkte Richardson, als gäbe er damit eine wichtige Beobachtung bekannt.

„Na und?“ fragte ich.

Er sah mich mitleidig an. „Aber Cox, das merken Sie doch selbst: Der Keller ist feucht. Wenn der Stummel längere Zeit hier gelegen hätte, wäre er auch feucht geworden. “

„Ah ja“, nickte ich. „Ein neuer Beweis, dass sich noch vor kurzem jemand in dem Haus aufgehalten hat, während die Besitzerin im Kittchen schmort.“

„Hm, hm.“ Richardson befeuchtete die Kuppe seines Zeigefingers, führte ihn auf die größere der beiden Kisten, leckte erneut daran. „Er hat hier unten Kaffee getrunken“, stellte er fest.

„Nanu?“

„Sehen Sie her: Auf der Kiste befinden sich Spuren von Pulverkaffee. Der heimliche Besucher hat sich also längere Zeit hier aufgehalten.“

„Oder er wurde aufgehalten. Das Fenster ist verschlossen, die Tür nur von außen zu öffnen.“

Richy schüttelte gereizt den Kopf. „Da haben Sie sich was Sauberes eingebrockt, Cox! Eine unfreundliche Schöne, die einen Haufen Geld von Ihnen verlangt, eine geheime Gefängniszelle in einer verlassenen Villa und dazu die Leiche im Geräteschuppen. Na, das nenne ich einen deftigen Spaß.“

„Zum Totlachen! Was machen wir jetzt?“

„Verduften. So schnell wie möglich.“

„Aber warum denn?“ widersprach ich. „Wir haben mit dem Mord nichts zu tun, und ...“

„Können Sie zwei und zwei zusammenzählen?“ unterbrach er mich.

„Ja.“

„Dann tun Sie’s mal! Da kommt eine wildfremde Person in Ihre Wohnung und bestellt Sie unter einem saudummen Vorwand hier heraus. Es brüllt förmlich zum Himmel, dass die Sache faul ist. Aber die Dame spekuliert mit Ihrer Neugierde, und da hat sie richtig spekuliert. Eine Falle kann ja nicht offensichtlich genug sein, dass Sie nicht hineintappen! Sie mussten ja hierher kommen, weil Sie partout wissen wollten, was dieses fremde Schönchen von Ihnen will. Na, jetzt wissen Sie’s!“

„Tatsächlich? Was weiß ich?“

„Sonnenklar! Sie will Ihnen einen Mord anhängen.“

„Sie sehen Gespenster!“

„Mensch, Cox!“ eiferte er. „Sie stehen mit der Polizei sowieso nicht auf du und du. Der gute Inspektor Carter hat einen Tick auf Sie. Wenn er nur Ihren Namen hört, sieht er rot. Und so, wie ich Ihre hübsche Unbekannte einschätze, macht die keine halben Sachen. Ich prophezeie Ihnen, ehe die Maus ihr Loch findet, rauscht die Polizei hier an und nimmt Sie hopp. Also los, hauen wir ab!“

Es war schon fast zu spät. Plötzlich packte mich Richardson am Arm. „Da! Lauschen Sie!“

Es war wirklich nicht zu überhören: Ein Polizeiauto. Deutlich war das rasselnde Bimmeln des Alarm-Signals zu hören.

Na, das fehlte gerade noch!

„Kommen Sie, Cox! Bloß weg hier!“

Wir hetzten die Treppe hinauf und rannten schnur und stracks zum Wagen, Richy drückte auf die Tube, und schon waren wir unterwegs.

Schon bei der ersten Straßengabel bog Richardson in die falsche Richtung ab. Das konnte ja was werden!

„Wo fahren Sie denn hin, Richy? So kommen wir doch nie nach London!“

Er grinste behäbig. „Oh doch“, meinte er. „Wir fahren über Croydon, Bromley, Eltham und Ilford.“

„Das ist doch ein Riesen-Umweg!“

Er nickte. „Er kostet uns fast zwei Stunden.“

„Bei Ihnen zwitschert’s wohl!“

Richardson warf mir einen fast beleidigenden Seitenblick zu. „Na, überlegen Sie mal, Cox! Was würden Sie denn tun, wenn Sie Polizist wären und in Purley einen Mord entdeckt hätten?“

Wo er recht hatte, hatte er recht. „Ich würde die Hauptstraße nach London sperren lassen“, gab ich zu.

„Sehen Sie!“

Während wir in gemütlichem Tempo auf den Nebenstraßen London entgegenzockelten, fuhr das Polizeiauto vor Alora Crawfields Villa vor, in ähnlich gemütlichem Tempo übrigens, was nicht an dem Wagen sondern an dem Fahrer lag, Corporal French, 28 Jahre alt, voller störrischer Lethargie.

„Ehe ich einen Unfall baue, fahre ich lieber gemächlich“, sagte er und öffnete seinem Vorgesetzten, Sergeant Plumber die Tür. Um den zu erwartenden Einwand abzufangen, fügte er hinzu: „Außerdem ist der Mord längst geschehen, Sergeant, wir können ohnehin nichts mehr ändern, es ist also keinerlei Eile vonnöten.“

„Reden Sie nicht so’n Blödsinn, French!“ brummte der Sergeant, und während er aus dem Wagen stieg: „Sie gehen mir auf die Nerven, Mann! Natürlich ist Eile geboten, wenn die Polizei alarmiert ist!“

„Wie Sie meinen, Sergeant“, erwiderte French dienstbeflissen.

Die beiden Polizisten, kräftig gebaut, wie für den Elitedienst vorgesehen, rannten spornstreichs auf die Holzbude zu.

„Das dürfte der Schuppen sein“, sagte Corporal French.

„Taschenlampe!“ befahl der Sergeant.

French spurtete zum Wagen zurück und kam mit einer Taschenlampe zurück. Vorsichtig, als beträten sie die Grabkammer eines Pharaos, begaben sich die Polizisten in den Geräteschuppen.

Nach einer knappen Minute kamen sie wieder heraus. Was sie dort gesehen hatten, stachelte offenbar ihre Dienstbeflissenheit gehörig an.

„Corporal French“, sagte Plumber in strammem Befehlston.

„Ja, Sergeant?“

„Wir lassen alles unberührt.“

„Jawohl, Sergeant.“

„Ich sichere den Tatort, und Sie rufen unverzüglich Scotland Yard an, Mordkommission.“

„Sofort, Sergeant.“

Der junge Corporal wollte losrennen, als sich eine Stimme meldete: „Eine Telefonzelle befindet sich an der nächsten Straßenecke, meine Herren.“ Die Stimme passte gut in die Umgebung. Sie klang misstönend und heiser wie das Krächzen junger Krähen.

Der Sergeant drehte sich überrascht um. Aus dem Buschwerk neben der Hütte trat ihm ein kleiner, ausgemergelter Mann entgegen. Ertrug eine Art Uniform, wenn sie auch wesentlich schäbiger wirkte und bei weitem nicht so stramm saß wie die Polizeimontur.

„Unser Dienstapparat im Streifenwagen genügt uns,“ knurrte der Sergeant und musterte die dünne Gestalt vor ihm. „Aber wer sind Sie? Wo kommen Sie her?“

„Sie haben mich wohl nicht bemerkt“, krächzte er mit süßlicher Höflichkeit. „Ich stehe schon eine ganze Weile hier. Ja, ja, die Dämmerung... man sieht nicht so... aber ich wollte Sie nicht erschrecken, Herr Wachtmeister.“

„Wer sind Sie?“ bellte der Sergeant.

„Mein Name ist Campbell. Alistair Campbell, Angestellter der Wach- und Schließgesellschaft in Purley. Ich habe die Leiche entdeckt. Ich bin auch derjenige, der Sie alarmiert hat, meine Herren.“

Der Sergeant schien sich an den Namen zu erinnern. „Ach so, Mr. Campbell, ja, ja. Wie lange sind Sie denn schon hier?“

„Na, so eine Viertelstunde vielleicht... es mögen auch zwölf Minuten sein. Das war vielleicht ein Schreck, meine Herren, als ich in den Schuppen hineingeschaut habe, und da lag er. Ich habe auch nichts angerührt, falls Sie das fragen wollen. Bin gleich zur Telefonzelle....“

„Haben Sie sonst noch etwas gesehen“, unterbrach ihn der Sergeant, „irgend eine Person vielleicht?“

Der schmalbrüstige Wachmann nickte heftig mit dem Kopf. „Ja“, krächzte er, „als ich vom Telefonieren zurückkam. Zwei Männer. Die Mörder! Der eine hatte noch eine Pistole in der Hand.“

„Wo sind sie jetzt?“ wollte der Sergeant wissen. „Was haben die Männer gemacht?“

„Weggelaufen sind Sie. Ums Haus herum. Ich bin ihnen nachgegangen. Langsam und vorsichtig natürlich. Ich bin ja nicht bewaffnet.“

„Und?“

„Gar nichts. Als ich um die Hausecke bog, waren sie schon verschwunden. Sie müssen aasig schnell gelaufen sein. Wird schon so sein, dass sie auf der Straße nach links geflohen sind. Denn wären sie nach rechts gelaufen, hätte ich sie noch sehen müssen.“

„Wann war das?“

Das Männlein wiegte den Kopf hin und her. „Vor drei Minuten, würde ich sagen. Es können natürlich auch vier gewesen sein.“

Der Sergeant klopfe seinem Untergebenen auf die Schulter. „Los, French, Sie rufen Scotland Yard an, ich nehme die Verfolgung auf!“ Und zum Wachmann sagte er: „Und Sie bleiben hier! Rühren Sie sich nicht von der Stelle“

Plumber hatte sich ein bisschen viel zugetraut. Errannte, so schnell seine Füße den massigen Körper trugen, in die Richtung, die ihm der Wachmann angegeben hatte. Aber er rannte ins Leere. Nirgendwo eine Spur von den flüchtigen Männern. Missmutig machte er sich auf den Rückweg. Als er schon fast bei der Haustür angekommen war, sah er vor sich, aus der anderen Richtung kommend, in der Dämmerung zwei Gestalten auftauchen. Er riss seine Dienstwaffe aus der Halterung und belferte aufgeregt: „Halt! Halt! Stehenbleiben! Bleiben Sie auf der Stelle stehen!“

„Sie sind von der Bezirkspolizei, nicht wahr?“ war die ruhige Antwort.

„Ganz recht“, eiferte der Sergeant, „und ich möchte wissen, was Sie hier wollen! Wer sind Sie?“

„Detektivinspektor Carter, Scotland Yard. Und Sie?“

„Sergeant Plumber, Bezirkspolizei Purley.“

„Na fein.“ Carter war ein smarter Polizeibeamter, im Dienst schon ein bisschen ergraut, aber von spritzigem, hellwachem Geist. Er sprach selten laut, nie aufgeregt, aber schneidend wie eine Rasierklinge.

Plumber war über alle Maßen verblüfft. „Ich habe Sie für einen der Männer gehalten, die wir suchen. Die sind nämlich flüchtig. Aber ... aber ... aber“, stotterte er weiter, „das ist doch gar nicht möglich! Ich habe Sie ja noch gar nicht... ich meine, ich wollte Sie eben erst anrufen ... in dieser Minute! Wieso sind Sie schon da?“

„Hokus pokus fidibus.“

„Bitte?“

„Für Scotland Yard ist bekanntlich nichts unmöglich“, schmunzelte Carter, dann sagte er ernst werdend: „Wir sind schon vor einer Dreiviertelstunde verständigt worden.“

Jetzt meldete sich auch wieder der Wachmann mit seiner knarrenden Stimme: „Verzeihen Sie vielmals, Herr Inspektor! “

„Und wer sind Sie?“

„Ich bin Alistair Campbell von der Wach- und Schließgesellschaft Purley. Entschuldigen Sie, wenn ich mich in Ihre Unterhaltung einmische, aber ich halte es für außerordentlich sachdienlich. Herr Inspektor, wenn Sie mir, bitte sehr, verraten könnten, weshalb man Sie hierher gerufen hat.“

„Hier soll ein Mord verübt worden sein.“

„Das trifft leider zu. Darf ich mir die Frage erlauben, wer Sie verständigt hat?“

„Ein Tatzeuge, nehme ich an. Den Namen hat er nicht genannt.“

Campbell hüstelte. „Das ist aber verwunderlich. Ich vermeine, ich sei der einzige Zeuge. Wirklich verwunderlich. Und vor einer Dreiviertelstunde, sagten Sie, haben Sie den Anrufbekommen?“

Carter schaute sich zu seinem Assistenten um, Sergeant Collins, der diensteifrig aufblickte „Ich würde sagen, auf die Minute genau. Was meinen Sie, Collins?“

Collins nickte heftig. „Genau vor einer Dreiviertelstunde, Sir.“

„Das scheint mir nun noch verwunderlicher. Vorn ‵ ner Dreiviertelstunde war der Tote nämlich noch gar nicht tot.“

„Na fein“, knurrte Carter gewohnheitsgemäß. Dann plötzlich bellte er: „Was sagen Sie da?!“

„Das wäre nämlich eine halbe Stunde, bevor der Mord verübt wurde.“

„Hä?“

„Ich habe doch den Schuss gehört, Sir. Und einer alten Gewohnheit gemäß habe ich sofort auf die Uhr gesehen. Es war 5 Uhr 54.“

„Kein Irrtum?“

„Kein Irrtum, Sir.“

„Hm, das ist tatsächlich verwunderlich.“ Carter strich sich nachdenklich über die Augenbrauen. „Naja, gehen wir erst mal zum Tatort!“

„Gleich hier rechts, Herr Inspektor“, sagte Plumber. „Der Schuppen hier. Die Tür ist nicht abgeschlossen.“

„Na fein.“

Carter öffnete die Tür des Holzschuppens, trat ein.

„Wo ist der Tote?“ wollte er wissen.

„Wenn Sie reinkommen, gleich rechts ... ach so, Sie können nichts sehen.“ Sergeant Plumber gab dem Inspektor seine Taschenlampe.

Doch der konnte immer noch nichts sehen. „Wo, verdammt noch mal, ist der Tote?“ fragte er ziemlich ungehalten noch einmal.

Plumber drängte sich neben Carter durch die Tür. Er hatte das Gefühl, als fielen ihm die Augen aus dem Kopf. „Bestimmt, Herr Inspektor“, beteuerte er und fuchtelte mit beiden Armen, „ich habe die Leiche doch selbst gesehen. Mit eigenen Augen. Das nehme ich auf meinen Diensteid!“

„Ich auch!“ beteuerte Corporal French, „der tote Mann lag da und rührte sich nicht.“

„Und jetzt ist er weg!“ schimpfte Carter.

„Erlag in der Ecke“, bekräftigte Campbell, der kleine Wachmann, „neben der Tischtennisplatte. Tot. Kopfschuss.“

„Na, na, na, na!“ machte Carter.

„Ich schwöre, Herr Inspektor! Ich schwöre!“

Hat der Mensch Töne? Da war doch tatsächlich die Leiche verschwunden. So was versetzt naturgemäß jeden Polizisten in Panik. Carter wäre am liebsten die Bäume hochgestiegen, so wütend war er. Die beiden Polizisten ließen die Köpfe hängen, dass sie fast am Boden geschleift hätten. Über ihnen entlud sich Carters geballtes Donnerwetter, denn sie hätten den Tatort nicht unbeaufsichtigt lassen dürfen.

Nachdem er sich ausgetobt hatte, schickte Carter sie zu ihrem Dienstwagen. „Es müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, die verschwundene Leiche wieder aufzutreiben. Sehr weit kann man sie ja noch nicht verschleppt haben!“ herrschte er sie an. „Die Straßen müssen gesperrt werden, wir müssen Suchtrupps organisieren. Los, telefonieren Sie mit Ihrer Dienststelle! Wir brauchen so viel Leute wie möglich. Avanti, hauen Sie ab, Sie Unglückswürmer! “

Der Sergeant und sein Corporal flitzten los und ließen Carter in seinem Groll mit Campbell allein.

Carter fixierte den kleinen Wachmann. „Und nun zu Ihnen: Was haben Sie hier auf dem Grundstück gemacht?“

„Ich war auf meiner normalen Ronde. Da hörte ich den Schuss. Ich ging der Schussrichtung nach und fand den Toten. Das ist alles.“

„Sie wollen aber auch die Täter gesehen haben?“

„Ja, das war nachher. Es waren zwei Männer.“

„Können Sie die beiden beschreiben?“

„Ärch“, räusperte sich Campbell, „ja, es war noch dämmerig... so genau .. also, wissen Sie ... ja, der eine war ziemlich groß ... der andere auch ... ja, es ist wirklich zu dumm ... beide hatten Mäntel an, ja, das habe ich gesehen ... aber...“

„Würden Sie die Männer wiedererkennen?“ fragte Carter.

„Kaum, Sir, kaum. Zu dunkel... und zu weit weg, und meine Augen sind auch nicht mehr die besten. Wirklich, schade.“

Carter stampfte wütend mit dem Fuß auf, tat sich dabei offenbar weh und fluchte leise vor sich hin.

Der kleine Mann ließ sich von Carters Nervosität nicht anstecken. Er kratzte sich bedächtig im Nacken und starrte dabei Löcher in die Luft.

„Zu dumm ... zu dumm aber auch“, knarrte er. „Wenn ich mich doch an den Namen erinnern könnte!“

„An welchen Namen?“

„Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach. Es war ein einsilbiger Name. Der eine hat den anderen nämlich angeredet. Es war so etwas wie Crow oder Copp oder...“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht mehr.“

„Na prima“, stöhnte Carter. „Da sind wir ja fein raus. Zwei ziemlich große Männer mit Mänteln. Wenn das keine exakte Personenbeschreibung ist!“ Und noch einmal stöhnte er. Dann versank er in Nachsinnen. „Vielleicht sind sie ja gar nicht weggelaufen, als Sie kamen. Vielleicht haben sie sich irgendwo versteckt, haben abgewartet. Und als wir uns vor dem Haus unterhielten, sind sie zum Tatort zurückgeschlichen und haben die Leiche weggeschleppt.“

Campbell nickte nachdenklich mit dem Kopf. „Ja, jawohl, ja, ja, so könnte es ... das kommt eben davon, wenn man den Tatort unbeaufsichtigt ...“ Weiter kam er nicht.

„Halten Sie den Mund!“ schnaubte Carter. Die alte Wut stieg wieder in ihm hoch. Er schnappte ein paar mal nach Luft und fuhr dann, wieder ruhig geworden, fort: „In die Villa können sie den Toten nicht verschleppt haben, sonst wären wir ihnen ja begegnet.“ Wieder überlegte er eine Weile, sah den kleinen Mann scharf an: „Woher wissen Sie überhaupt, dass die beiden die Täter sind?“

„Der eine hatte die Pistole noch in der Hand.“

„Ich dachte, es war zu dunkel.“

Campbell wiegte den Kopf hin und her. „Naja, das habe ich sehen können.“

„Ihre Angaben sind ein bisschen unpräzise, mein Lieber! “

Der Mann zuckte die Achseln. „Das tut mir leid. Aber ich kann doch nur sagen, was ich...“

„Na fein“, unterbrach Carter. „Und weiter?“

„Als die Polizei kam, sind die beiden geflohen. Ich glaube mit einem Auto. Ich habe nämlich gehört, wie etwas entfernt ein Motor angelassen wurde.“

„Auch das stimmt nicht, Mr. Campbell! Die Täter sind hier geblieben. Als die Polizeibeamten mit Scotland Yard telefonierten, haben sie die Leiche aus dem Schuppen geholt, und ich würde mich nicht wundern, wenn sie den Toten in unmittelbarer Nähe versteckt haben.“

Carter kam nicht dazu, seine Gedanken weiter zu spinnen. Eine tutende Stimme unterbrach ihn. „Herr Inspektor!“ schrie sie. Es war Sergeant Collins, der Mann mit dem großen Mund und dem kleinen Gehirn. Er kam aus dem Schuppen heraus, blinzelte ins Licht und schwenkte triumphierend ein Stück Papier in der Hand.

„Habe mich auftragsgemäß noch mal am Tatort umgesehen“, rief er mit jauchzend überschnappender Stimme, „und das hier habe ich gefunden, einen Zettel. Er lag zwischen den Torfballen. Eine Quittung. Sie trägt die Unterschrift von einem gewissen Alfons Kraczyk. Darf ich vorlesen?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an!“ brummte Carter.

„Ich bescheinige hiermit, die Summe von 12.300 Pfund von Mr. Paul Cox empfangen zu haben.“

Es war, als hätte man den Wach- und Schließ-Wichtelmann an eine Starkstromleitung angeschlossen. Mit einer weit ausholenden Bewegung schlug er sich vor die Stirn. „Das ist es!“ rief er. „Cox! Das ist der Name, den ich gehört habe! Jawohl, Herr Inspektor, das ist der Name: Cox!“

Gestatten, mein Name ist Cox

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