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1. Sozialgeschichtliche Einordnung der deutschen Novelle

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Die Novelle und das bürgerliche Publikum

Bei der Betrachtung einer Gattung reicht die Analyse prägender formaler Eigenschaften nicht aus. Um die Funktion einer Gattung wie der Novelle zu verstehen, muss auch das Lesepublikum, auf das sie zielt, analysiert werden. Je nachdem, wie die Interessen eines solchen Publikums gelagert sind, haben diese Einfluss nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form einer Gattung. Dass Friedrich Schiller in Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786) einen Kriminalfall schildert, zielt auf ein bestimmtes Publikum, auf dessen Informationsbedürfnis über juristische Sachverhalte und sein Sensationsbedürfnis. Wenn Schiller überdies in Eine großmütige Handlung. Aus der neuesten Geschichte (1782) ein halb anekdotisches, halb novellistisches Beispiel für Bruderliebe und Entsagung präsentiert, dann soll diese Handlung die Erbauung einer zeittypischen Bürgerschicht befördern. Mehr als die Tragödie an den Hoftheatern der deutschen Duodezfürsten, die erst zum Bürgerlichen Trauerspiel umgeformt werden musste, ist die Novelle – im deutschen Sprachraum und anderswo – eine genuin bürgerliche Gattung. Bürger sind ihre Rezipienten schon in Spätmittelalter und Renaissance, während der Adel das vorgetragene Epos und den späten Minnesang bevorzugte, Bürger sind oft genug, aber nicht immer auch die handelnden Personen der Novelle. Diese soziale Verortung liegt schon in ihren Ursprüngen begründet.

Novelle und bürgerliche Zeitknappheit

Der Romanist Werner Krauss sieht diesen sozialen Aspekt der Gattung in Verbindung mit den im marxistischen Sinn frühbürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnissen der Renaissance, in der ein Lebensgefühl des stetigen zeitlichen Wechsels seinen Ursprung hat. Die Erzählzeit der Novelle ist für Krauss ein Produkt der neuen Zeitökonomie des aufblühenden Geschäftslebens:

„Dagegen bekundet der novellistische Ablauf die neue Erfahrung der wachsenden Zeitverknappung. Der Kampf ums Dasein wird nur durch die Zeitbeherrschung gewonnen. Der Lebenswert der Novelle liegt in der Neuheit, in der die Spitze des Zeiterlebens hervortritt. Die novellistische Handlung wird vom Zeitbewusstsein getragen. Das zeitliche Maß ergibt den Maßstab der Menschen zur Herrschaft über die Dinge. Die beginnende Ära des Kapitalismus wird in der Tat im Wert der Zeit den Lebenswert erfassen; die Zeit wird zum letzten Maßstab über jeglichen Wert erhoben.“ (Krauss 1965, 116)

Eilige Leute brauchen kurze Lektüren. Das Lesen haben sie gelernt, um sich im Geschäftsleben zurecht zu finden. Ihre Lektüre wählen sie ebenso nutzorientiert aus – sie soll belehren und unterhalten; adlige Selbstbestätigung im langatmigen Ritterepos, die heroische Identifikation mit Artus- oder Nibelungenstoffen, interessiert da weniger, Ehebruch- und Mordgeschichten schon mehr. Philippe Ariès verweist im Zusammenhang mit der frühbürgerlichen Gesellschaft auf Jacques Le Goffs Begriff der „,Zeit des Händlers‘, die zugleich die ,Zeit der Arbeit‘ war, eine Zeit, die sich ihre Glocke von der Kirche borgen musste …“ (Ariès 1994, 152f.). „Die vielschichtige Welt“ der Neuzeit – so Rolf Kramer – „lässt die Zeit knapper werden.“ (Kramer 2000, 200) Auch im 18. und 19. Jahrhundert gibt es wie im Florenz Boccaccios einen Zusammenhang zwischen der bürgerlichen Zeitökonomie und der Novellenform bzw. -länge. Frohe Stunden vor dem Schlafen gehen heißt beispielsweise eine 1811 erschienene Novellensammlung, die unter anderem Novellen von August von Kotzebue (1761 – 1819) und August Lafontaine (1758 – 1831) enthält und deren Titel anzeigt, wo in der bürgerlichen Zeitökonomie des Tagesablaufs eine Zeitspanne für kurze Geschichten verbleibt (vgl. Wehle 1984, 240).

Novelle und bürgerliches Journal

In seiner Abhandlung Novelle und Journal weist Reinhart Meyer für den Beginn des 19. Jahrhunderts als einer Blütezeit der Novelle nach, dass die meisten Novellen nicht nur in Zeitungen veröffentlicht wurden, sondern der Novellenbegriff oftmals synonym mit dem Begriff Zeitung verwendet wurde (vgl. Meyer 1987, Bd. 1, 114f.). Für die sozialgeschichtliche Einordnung der deutschen Novelle, auch und vor allem, was das bürgerliche Lesepublikum betrifft, ist also der Umstand bedeutsam, dass die Lektüre der Novelle mit der Zeitungslektüre identisch war. Demnach ist es nicht verwunderlich, wenn Meyer seine These „Kürzere Erzählprosa ist in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich Journalprosa“ (ebd., 40) mit vielen Belegen stützen kann. Die zeitkritischen Novellen eines Zeitschriftenmachers wie Johann Heinrich Zschokke (1771 – 1848) – laut Meyer einer der „bedeutendsten Journal-Herausgeber der Zeit“ (ebd., 209) – sind Belege für die Symbiose von Novelle und Journal. Diese Verbindung belegt aber auch die Tatsache, dass E. T. A. Hoffmann „unter dem Titel Die Serapions-Brüder nochmals völlig unverändert vierundzwanzig bereits in Zeitschriften erschienene Beiträge, denen nur zwei neue beigegeben wurden“ (ebd., 46f.), publizierte. Die bürgerliche Presse und die Novelle bedingen einander im bürgerlichen Zeitalter.

Novelle und bürgerliches Publikum

Die knappe Erzähl- und Lesezeit des deutschen Bürgers des 18. und 19. Jahrhunderts, zwischen seinem behaglichen Heim einerseits, dem Kontor oder der Manufaktur bzw. Fabrik andererseits, verlangt auch bei der knappen, konzentrierten Feierabendlektüre nach leichter Verständlichkeit. Diese kann bei der Novelle inhaltlich gewährleistet werden durch prägnante Motive und eingängige Symbole, denen „ein besonderer Gehalt, der seine Verwendung in bestimmten Gattungen begünstigt“ (Kayser 1960, 61), zukommt. Das bürgerliche Lesepublikum verlangt darüber hinaus nach immer neuem preiswerten Lesestoff und auch heutige Klassiker wie Friedrich Schiller mit seinen Horen oder Heinrich von Kleist mit seinem Phöbus beteiligten sich folglich an der Herausgabe des bürgerlichen Mediums Zeitschrift (und gedachten, damit ihren Verdienst aufzubessern).

Im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, soll die Novellenlektüre zunächst in den ,moralischen Wochenschriften‘, wie sie der Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) herausgab, erbaulich und belehrend sein. Die in diesem Kontext veröffentlichten Novellen hatten entsprechend eher eine didaktische Zielrichtung. Seit der Romantik steht dann das Schauerliche, aber auch der ästhetische Eigenwert der Novelle, die immer mehr theoretische Betrachtung und somit Rechtfertigung erfährt, im Mittelpunkt.

Bürger als Novellengestalten

Doch nicht nur das Lesepublikum der Novellen ist von bürgerlichen Interessen geleitet, in der Novelle treten auch oft bürgerliche Gestalten auf: Skurrile kunstsinnige Juristen wie Hoffmanns Rat Krespel in der gleichnamigen Novelle oder grotesk-gefährliche Kanzleiräte wie Schnüpselpold in Die Irrungen sind da zu beobachten; ein Aufsteiger wie Hauke Haien in Theodor Storms Schimmelreiter dient als (problematische) Identifikationsfigur, ein Absteiger wie Aschenbach in Thomas Manns Tod in Venedig kann mit innerer Anteilnahme und Bestätigung betrachtet werden. Die bürgerlichen Gestalten sind schon seit dem 14. Jahrhundert gattungstypisch. Man trifft sie in der Anfangszeit der Novelle als betrogene Kauf- und Ehemänner, verirrte Künstler und gerissene Advokaten.

Francesco Boncianis Novellenpoetik (1574)

Schon der erste Verfasser einer in sich geschlossenen Novellenpoetik, Francesco Bonciani (1552 – 1619), betont das Bürgerliche der Gattung. Dieser humanistische italienische Gelehrte versuchte, die noch relativ neue Gattung der Novelle in das überlieferte poetologische Regelsystem einzubinden und so gültig zu definieren. Dies geschah in der Lezione sopra il comporre delle novelle (Florenz, 1574). Bonciani war nicht nur Gelehrter und Geistlicher (ab 1613 Erzbischof von Pisa), sondern auch Diplomat, unter anderem im Auftrag Cosimos II. Er wirkte durch seine Beteiligung an den Untersuchungen gegen Galilei sogar mit am Ende der Renaissanceepoche, die sein Werk prägte.

Die bürgerliche Gattung Novelle seit der Renaissance

Die altitalienische Novelle, auf die sich die Theoretiker der deutschen Novelle stets berufen, ist bereits nach Boncianis Theoriebildung eine bürgerliche Gattung. Ihr Personal ist die frühbürgerliche Mittelschicht der italienischen Stadtrepubliken, die bereits die gemütlichen Züge der Leute aus Gottfried Kellers Seldwyla, einem erfundenen Novellenort in der behaglichen Schweiz, tragen. Im 16. Jahrhundert ist das aber durchaus ungewöhnlich: Zwischen Göttern und Königen einerseits und Hirten und Bauern andererseits ist im poetischen Regelsystem eigentlich kaum noch Platz für die Mittelschichten. Dass sie trotzdem in der Novelle ihren angestammten Platz haben, hat einen durchaus regelpoetischen Grund. Die Novelle ist für ihren frühen Theoretiker nämlich in erster Linie eine komische Gattung. Und in der „können“ nach Bonciani „zwar auch wichtige und unbedeutende Menschen derart handeln, dass wir mit Recht über ihre Handlungen zum Lachen bewegt werden können“ (Bonciani Typoskript, 17). Respekt vor hohem Rang und göttlicher Weltordnung lassen dem Publikum bei jenen Gesellschaftsschichten jedoch das Lachen im Hals stecken. Dies geschieht im Fall der höheren Stände „entweder weil, da das Lachen einen Tadel oder Spott des Verlachten enthält, das ein übler Gebrauch der Mächtigen wäre, die gewissermaßen von Gott an so ansehnliche Stelle gesetzt sind; oder weil sie von sich selber aus den Tadel nicht wünschen und deshalb durch ihre Macht uns zwingen, diesen natürlichen Affekt zu zügeln; oder aus beiden Gründen zusammen“ (Bonciani Typoskript, 17). Die mächtige Zensur ist überdies auch im 16. Jahrhundert wie im Jahrhundert eines Fürsten Metternich ein Aspekt literarischer Tradition: „Deshalb wird der Novellist sich auch scheuen, solche Personen nachzubilden.“ Moralische Selbstzensur ist demgegenüber bei „den ganz Elenden“ geboten, „welche eher Mitleiden als Gelächter erregen. So sind also die Menschen von mittlerem Stande die für uns geeigneten“ (Bonciani Typoskript, 17). Bonciani nennt als Beispiele für bürgerliche Novellenfiguren „etwa de[n] dicke[n] Bildschnitzer, der sich einreden lässt, er sei ein anderer, oder Ferondo, dem man glauben macht, er sei tot und befinde sich im Jenseits. [Dekameron III.8] Bei dieser Art von Menschen muss man dann also nicht ihre gewöhnlichen Handlungen nachbilden, auch wenn sie dumm sind, sondern ihre außergewöhnlichen“ (Bonciani Typoskript, 18). In der Tradition des europäischen Novellenmusters ist vom Außergewöhnlichen zum Unerhörten im Sinne Goethes der Schritt dann nicht weit. Die Novelle zeigt folglich, dass auch Bürger Unerhörtes erleben können. Dieses Außergewöhnliche, bisweilen Surreale, wird auf komödiantischem Niveau in der Novelle auch den mittleren Ständen zugestanden. Bürger können im späteren Verlauf der Gattungsgeschichte tragisch an der Liebe zugrunde gehen wie der Magister Zerbin in der nach ihm benannten Novelle von Jakob Michael Reinhold Lenz, Bürger können fantastische Dinge mitten in Berlin erleben, wie der Flaneur in E. T. A. Hoffmanns Das öde Haus (1817). Der mittlere Stand ihres Personals zu Beginn der Novellengeschichte hängt im poetologischen Regelsystem Boncianis ursprünglich unter anderem mit dem „Stil“ der Novelle zusammen: „Nur können wir im Allgemeinen feststellen, dass für die Novellen am besten der Stil passt, welchen […] wir einfach und niedrig [nennen]; denn da sie in Prosa geschrieben sind […], so wäre hier jene Erhabenheit nicht am Platze, welche Tragödie und Epos verlangen.“ (Bonciani Typoskript, 19)

Die bürgerlichrevolutionäre Novelle im 19. Jahrhundert

Auch die deutsche Novellenpoetik des 19. Jahrhunderts kennt eine Konzentration auf die Mittelschichten – als handelnde Figuren wie als Rezipienten. Die soziale und literaturtheoretische Lage der Gattung ist in dieser Epoche freilich eine völlig andere. Für Theodor Mundt nistet sich in der Vormärzzeit vor der Revolution von 1848 die Novelle geradezu als „Haustier“ in der biedermeierlich-bürgerlichen Idylle ein,

„sitzt mit zu Tische und belauscht das Abendgespräch, und man kann da dem Herrn Papa zur guten Stunde etwas unter die Nachtmütze schieben oder dem Herrn Sohn bei gemächlicher Pfeife eine Richtung einflüstern, die vielleicht einmal für die ganze Nation Folgen haben mag. Die Novelle ist ein herrliches Ährenfeld für die politische Allegorie […]. Draußen vor dem Schauspielhause sind auch Gendarmerie und Polizei aufgestellt und behüten das Drama. Die Novelle steht sich mit der Polizei besser, und sie flüchtet sich auf die gute Stube, wo es keine Gendarmerie gibt. In seiner Stube ist der Deutsche auch ein ganz anderer Mensch, […] er glaubt an die Freiheit.“ (Mundt, in: Polheim 1970, 70)

Die Stoßrichtung des Bürgerlichen ist hier gegenläufig zu Bonciani: Es gärt nämlich in der humoristischen Kleinwelt des Bürgertums. Unter der Zipfelmütze lauert die Revolte, deren Geist auch durch die zeitkritische Novelle dorthin gelangte. Im bürgerlichen Zeitalter zwingen keine Ständeklausel und keine göttliche Weltordnung die Novelle in die Bürgerlichkeit; sie ist im Gegenteil bisweilen – etwa in den sozialkritischen Novellen Heinrich Zschokkes und Heinrich Laubes oder in Gottfried Kellers Das Fähnlein der sieben Aufrechten (1860 / 61) geradezu bürgerlich-revolutionär. Nicht nur bürgerliche Zeitschriften oder der Bürgerfleiß, der wenig Zeit zu Lektüre lässt, bestimmen also die sozialgeschichtliche Einordnung der Novelle. Auch die Zensur hat diese Gattung begünstigt. In novellistischer Verpackung konnte sich bürgerliches Bewusstsein, das oft durchaus nicht bieder, sondern vielmehr demokratisch-revolutionär war, einfacher in die bürgerliche Stube einschleichen. Das Beispiel der Novellentheorie Theodor Mundts zeigt aber auch, dass die Novelle vom 16. bis ins 19. Jahrhundert unter völlig unterschiedlichen historischen Voraussetzungen eine erstaunlich stabile Gattung darstellt.

Einführung in die Novelle

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