Читать книгу Die Zeitstufen des Florian Knet. - Rolf L. Tenk - Страница 3

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Kapitel 1

Manch einer seiner Zeit voraus,

das Zeitmaß „Presto“ ist gewollt.

Die Endzeit hat ihn jetzt - oh Graus -

zeitlich im Zeitfluss überrollt.

Die Zeit meinte es wahrlich nicht gut mit ihm, als er im April das Licht der Welt erblickte. Seine ersten Schreie im wahren Leben verhallten an den mit Eisblumen verzierten Fenstern des alten und schlecht beheizten Bauernhauses im noch tief verschneiten Thüringen. Die Behörden hatten Mutter Maria Knet mit ihrem Ungeborenen und anderen Verwandten dort einquartiert. Zu Beginn des 2. Weltkrieges evakuierte man die Bewohner der grenznahen Gebiete im Südwesten Deutschlands ins Landesinnere nach Hessen, Franken und wie schon erwähnt Thüringen.Frau Knet hatte dem kleinen Schreihals den Namen Florian gegeben. Diese Entscheidung musste sie alleine treffen. Ihr Gatte glänzte durch Abwesenheit, da er durch Wohnungswechsel Gestellungsbefehle der Nazis zuvorkommen wollte. Was nur kurzzeitig klappte.Aus Florian wurde bald ein „Flori“, viel später bediente man sich des Einsilbers „Flor“. Seinen Vater Leon sollte Flor nie richtig kennen lernen. Zehn Monate später hatte dieser im blühenden Alter von fünfundzwanzig Jahren das Zeitliche gesegnet.

Dies war der Anfang einer unseligen Serie: Mutter Maria war drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes Leon eine neue Ehe eingegangen. Aus dieser ging eine Tochter, genannt Ulla, hervor. Ihr zweiter Mann Erwin war zu jener Zeit mehr an der Kriegsfront als zu Hause. Er geriet irgendwann in Gefangenschaft und galt lange als verschollen. Frau Knet war nun mit zwei kleinen Kindern meist auf sich alleine gestellt. Sie musste psychische und physische Belastungen hinnehmen, die fast alle Grenzen des zumutbaren überschritten. Die Bombennächte im Keller oder Bunker taten ihr Übriges dazu. Für den kleinen Flor gehörte weinen, jammern und die psychische Instabilität der Mutter zur Normalität. Er kannte das Leben ja nicht anders. Gott sei Dank bekam die kleine Schwester von all diesem Elend noch nichts mit. Gegen Kriegsende erfolgte die zweite Evakuierung. Zunächst konnte Frau Knet mit ihren Kindern bei ihrer Schwägerin in einer Hessischen Kleinstadt unterkommen. Diese bewirtschaftete ein kleines Hotel in dem sich Maria nützlich machte. Mit dieser Tätigkeit konnte sie gut und sorgenfrei für die Unterhaltskosten ihrer Kleinen aufkommen. Doch sie kamen vom Regen in die Traufe. Hundert Meter entfernt lag der Bahnhof. Diesen hatte man fast jede Nacht bombardiert, da er vom Feind als Verkehrsknotenpunkt ausgemacht wurde.

Wagte man sich nach einem Luftangriff aus den Kellern und Bunker, sahen sie im weiten Rund die Häuser in Flammen stehen, oder in Schutt und Asche liegen. Zum Glück traf Mutter Knet eines Tages eine Bekannte aus ihrem Heimatort, die in der Stadt einige Besorgungen tätigte. Diese erzählte: „Wir sind mit der ganzen Familie in einem kleinen Bauernkaff, zwanzig Kilometer entfernt, einquartiert worden“. „Dort sind noch Wohneinheiten frei und vom Kriegsgeschehen ist nichts zu spüren“. Nach Ummeldung bei der Behörde bezogen sie zwei Zimmer in einem unbewohnten Bauernhaus. Man fühlte sich zunächst sehr wohl in dieser ländlichen Idylle. Später gesellten sich sogar noch Angela Meyer, die Mutter von Frau Knet, mit drei ihrer jüngsten Kinder dazu. Drei Söhne von ihr waren an der Front, keiner kehrte zurück. Sie wurden nur achtzehn, zwanzig und zweiundzwanzig Jahre alt. Oma Angela erhielt noch zusätzliche Belastung mit Diethelm, dem Sohn von Tante Liesel. Diese war „arbeitsdienstlich“ für eine Organisation unterwegs, genau wie Opa Franz Meyer für die T. N. (Technische Nothilfe). Flor und Diethelm waren vom gleichen Jahrgang. So hatten sich schnell zwei kleine Strolche gefunden, die von der Familie nur mit „Max und Moritz“ betitelt wurden. Die Anwesenheit der Großmutter sollte sich später als großer Glücksfall für Flor und Klein Ulla erweisen.

Manch einer ist im Stillen rein

und lässt es um sich wettern.

Je mehr er fühlt ein Mensch zu sein,

gleicht bald er auch den Göttern.

Die wenig befahrene Dorfstraße wurde von Flor und Diethelm zum Lieblingsspielplatz auserkoren. In jener Zeit benutzten höchstens zwei bis drei Autos täglich die Schotterstraße durch den Ort. Die Ortsmitte durchquerte ein Bach in den die Einwohner ihre Abwässer einleiteten. Das Rinnsal wurde von einer kleinen Brücke überspannt, neben der sich oft die Gänse des Nachbarn aufhielten. Nun machten sich die beiden Strolche einen Spaß daraus, mit Steinchen das Federvieh aufzuschrecken und unter die Brücke zu treiben. Schnell lief einer auf die andere Seite, um den Gänsen den Fluchtweg ab zu schneiden. So begann nun ein gemeines Spiel, indem man das arme Vieh von einer Brückenseite zur anderen scheuchte. Bis der Bauer irgendwann die Sache mitbekam und den beiden mit Schlägen drohte. Schnell flüchteten die Lausbuben ins „sichere Haus“. Fast harmonisch verlief der Alltag mittlerweile bei der„Großfamilie“. Mutter Maria sorgte als Helferin beim Bauern für die dringend benötigten Lebensmittel. Ohne Arbeit gab es bei diesen Leuten nichts zu erben. Die drei Kinder von Großmutter Angela besuchten vormittags die örtliche Volksschule. Am Nachmittag gingen sie ihrer Mutter zur Hand. So ließ sich der nicht geringe Haushaltsaufwand einigermaßen bewältigen. Mit noch drei Kleinkindern am Rockzipfel war Oma weit mehr als beschäftigt.

Bei Wind und Wetter, in unzulänglicher Kleidung, ackerte ihre Tochter Maria im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Feld. Dies hat unwiderruflich Spätfolgen.

Großvater Franz Meyer, nach längerer Abwesenheit wieder zurück, beschäftigte sich tagsüber mit den Kleinsten. Bei gutem Wetter zog er mit ihnen in den nahen Wald. Wenn es der Zufall wollte, zeigte und erklärte der Opa ihnen die dort lebenden Wildtiere. Er erzählte auch, dass diese komischen blauen Perlen genießbar sind und man Heidelbeeren nennt. „In unserem Heimatdialekt bezeichnet man sie auch als „Wääle“, behauptete Opa Franz. Sein Spruch dazu klang noch viele Jahre später in ihren Ohren:

„Wääle, Wääle Heidelbeere,

wer will sich de Mund beschmiere“?

So genossen diese „Kids“ kurzzeitig auch mal die schöne und beschauliche Seite des Lebens. Doch die Idylle war trügerisch. Unerwartet veränderte sich eines Tages die Lage. Die Misere nahm ihren Lauf.

Manch einer wird im Leben

ganz selten mal beschenkt.

Ein anderer beim geben

an sich nur meistens denkt.

Vom Regen durchnässt, mit ihrer Kraft total am Ende, so kam Mutter Maria an einem Nachmittag von ihrer Arbeit auf dem Acker nach Hause. Sie erklärte Großmutter: „Ich fühle mich so krank, habe keinen Appetit und lege mich sofort in mein Bett“. Dieses Bett hatte sie in den kommenden Tagen und Wochen nur noch ganz selten verlassen. Besserung war kaum in Sicht. Die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung war zu jener Zeit fast auf dem Nullpunkt. Großmutter versuchte es mit den gebräuchlichen Hausmitteln: Wärmflasche, Tee, Wickel, Kräuter und heiße Kraftbrühe. Doch alles umsonst! Total rührend wie sich Neffe Diethelm um seine bettlägerige Tante bemühte. Stundenlang verharrte er an ihrem Bett, unterhielt und tröstete sie. Waren es nur die feinen Happen, die Tante immer übrig gelassen hatte? Sie machte kaum Gebrauch von ihren erlesenen Speisen. Oder war es ein stark ausgeprägtes Mitgefühl das ihn zu diesem Verhalten animierte? Man konnte es nicht genau einordnen. Zur erhofften schnelleren Genesung erhielt Maria Knet feine aufbauende Kost, im Gegensatz zu den Übrigen der Familie. Diese mussten sich mit der zeitgemäßen Nahrung Brot, Margarine, Rübensirup, Kartoffeln und Wurzelgemüse begnügen.

Die Essensteilung und der nahe Kontakt zur Tante sollten sehr viel später für Diethelm noch ernsthafte Konsequenzen mit sich bringen.

Für Flor wurde diese ungewohnte Situation zu einer Art Verunsicherung, die sich in einer spontanen Distanzhaltung zur Mutter äußerte. Er kannte sie doch bislang nur als umtriebige und resolute Frau. So wurde nach und nach Oma Angela die Hauptbezugsperson für den kleinen Flor. Klein-Ulla konnte noch nicht laufen und bekam von dem leidigen Geschehen kaum was mit. Großmutter kümmerte sich aufopfernd um die beiden und Cousin Diethelm.

Sehr störend wirkte in den Nächten eine Mäusepopulation, die sich im Untergrund und dem Dachgeschoss des alten Fachwerkhauses eingenistet hatte. Das tapsende huschen über den Fußboden und geräuschvolle nagen an den Dielen und Fußleisten wirkte nervend und störte oftmals die Nachtruhe.

Nach Tagen bedrückender Stimmung konnte man endlich einen älteren Landarzt konsultieren. Die Mehrheit der Ärzteschaft war für Militär und Kriegsopfer abgestellt. Der Arzt diagnostizierte eine akute Pneumonie mit Verdacht auf Tuberkulose. Er ordnete eine sofortige Einweissung in das Krankenhaus der Kreisstadt an. Dort hatte man kriegsbedingt nur noch beschränkte Behandlungsmöglichkeiten. Der Zustand von Maria Knet verschlechterte sich von Tag zu Tag. Um die Schwere des Krankheitsgrades zu bestimmen und gezielt zu therapieren, war das Personal offenbar überfordert. Man war wohl gewillt ihr das ableben so human wie möglich zu gestalten. Oma hatte nun noch mehr am Hals. Im Abstand von zwei Tagen besuchte sie regelmäßig ihre Tochter im fünfzehn Kilometer entfernten Krankenhaus. Dies zu Fuß hin und wieder nach Hause zurück!

Manchmal war ihr das Glück hold und Bauern nahmen Sie auf ihrem Fuhrwerk ein paar Kilometer mit. Was für eine Topleistung dieser Frau! So etwas mutet sich heute wohl niemand mehr zu.

Manch einer muss noch viel ertragen

bis schließlich er nun bei den Toten.

Ein Dasein nur mit schönen Tagen,

das scheint zu viel ihm angeboten.

Großmutter stand voll im Stress, wobei für die anderen langsam Normalität einkehrte. Die Tage zogen sich ohne besondere Ereignisse so dahin, bis irgendwann verängstigte Rufe durch den Ort schallten: „Die Amis kommen“!

Eine militärische Einheit der US-Amerikaner rollte mit ihren Fahrzeugen von Westen her in den kleinen Ort. Auf der Dorfstraße kam der Konvoi zum Stillstand. Da weiter nichts geschah verließen nach einiger Zeit die verängstigten Einwohner zögernd ihre Keller und Häuser. Dort hatten sie zunächst Schutz und Zuflucht gesucht. Von ihren Anwesen aus taxierten sie argwöhnisch die fremden Soldaten. Dann wurden sie Zeugen wie man am Ortseingang einen Wehrmachtssoldaten überwältigte. Dieser war im Dorf vorher entwischt. Er lief den US-Soldaten an der Straßengabel geradezu in die Arme. Sie verfrachteten ihn mit erhobenen Händen auf die Motorhaube eines Jeeps und fuhren ihn weg. Die GIs gaben sich lässig und völlig harmlos. Das ermutigte die Bevölkerung näher an den Straßenrand zu rücken. Vereinzelt wurden Kinder mit Schokolade und Kaugummi beschenkt. Nur Flor und Diethelm zählten nicht zu den Glücklichen, da sie sich immer noch argwöhnisch hinter dem Gartenzaun aufhielten. Plötzlich tauchte ein Flugzeug in großer Höhe am Himmel auf. Der Panzer direkt vor ihrem Haus richtete sein Kanonenrohr etwas nach oben und feuerte mit donnerndem Knall eine Leerkartusche ab. Er wollte wohl seine Kameraden in der Höhe grüßen. Schlagartig brach Panik aus. Die Leute hetzten Hals über Kopf zurück in ihre Häuser. Nur Flor und Diethelm kauerten noch ganz erschrocken und verunsichert am Zaun. Erst im Haus bemerkte man ihr fehlen. Ein „mutiger“ Jugendlicher wagte sich noch einmal nach draußen und zerrte die beiden in die sichere Obhut der Familie. Nach etwa einer Stunde war der ganze Spuk vorbei. Die Panzereinheit zog weiter. Allmählich kehrte wieder Ruhe in der Gemeinde ein. Nur Diethelm trauerte der verpassten Gelegenheit nach und jammerte: „Ich will auch Schokolade von den schwarzen Onkels“!

In der Familie ging man zur Tagesordnung über. Man besprach die Aufgaben für den nächsten Tag. Oma Angela erteilte Aufträge an ihre anwesenden Kinder und erklärte: „Ich bin morgen für längere Zeit außer Haus, da ich erneut eure Schwester Maria im Krankenhaus besuche.“ Die Enkel Flor und Diethelm ermahnte sie: „Hört auf die Anweisungen der Großen und fügt euch“. Bei Hanne, Guntram und Wiegand waren sie gut aufgehoben. Es bestand kein Grund für irgendwelche Komplikationen. Die drei sind zwar Tante und Onkels der Kleinen, doch es bestand ein Zugehörigkeitsgefühl wie unter Geschwistern.

Der nächste Tag neigte sich dem Ende zu. Die Sonne verschwand langsam hinter den westlichen Hügeln. Flor stand voller Ungeduld am Vorgartentor um seine Großmutter zu begrüßen. Plötzlich sah er sie oben auf der Straße um die Ecke biegen, rannte los und blieb auf halber Strecke abrupt stehen. Oma hatte ein rotgeweintes Gesicht und eine schwere Niedergeschlagenheit war ihr anzumerken. Ganz erschrocken fragte Flor: „Oma warum weinst du denn“? „Deine Mama ist gestorben“, kam es schluchzend über ihre Lippen. Flor überlegte und antwortete fragend: „Gestorben“? Was weiß ein Fünfjähriger schon über den Tod. Großmutter klärte ihn so gut wie sie es konnte auf. Darauf kam die spontane Antwort, wie sie nur ein unbedarftes Kind geben wird: „Ist doch nicht so schlimm, ich habe ja noch dich“.

Bei den anderen löste die Nachricht spontane Bedrücktheit aus. Im Haus verbreitete sich eine Stille, die nur gelegentlich von einem flüstern oder schluchzen unterbrochen wurde. Nach Tagen kehrte langsam wieder Normalität ein. Oma vereinbarte mit dem Pfarrer der Kreisstadt ein anonymes Begräbnis in aller Stille.

In diesen Zeiten war eine Überführung der Leiche in die Heimat so gut wie unmöglich.Mutter Maria Knet ruht also bis heute unbekannt in fremder Erde.

Die Tage vergingen, der Krieg geht zu Ende und eines Tages kam eine Behördenaufforderung zum Aufbruch in die Heimat. Drei Tage später fand man sich am Bahnhof der Kleinstadt ein und fieberte der Heimfahrt entgegen. Viele Bekannte und andere Leute aus ihrer Grenzregion hatten sich hier versammelt. Diese warteten auf den zur Verfügung gestellten Zug. Von jenem war jedoch weit und breit nichts zu sehen und zu hören. Nur auf einem Abstellgleis standen wie verloren mehrere Güterwaggons, denen das schützende Dach fehlte. Irgendwann hörte man das Heranrollen einer Dampflok, die sich fauchend und quietschend vor die Waggons setzte und ankoppelte. Jetzt erst erfuhren die Wartenden durch den Bahnhofsvorsteher, dass dies der Zug in die Heimat ist. Laut protestierend und kopfschüttelnd bestieg man die „Viehwaggons“. Jeweils zwei bis drei befreundete Familien teilten sich einen Waggon. Zu allem Ungemach fing es nun an zu regnen. Mit wenigen Schirmen und ein paar Wolldecken versuchte man sich zu schützen. In den Schutzgenuss kamen nur wenige - ältere Frauen und Kinder. Für Flor und Diethelm war das Ganze jedoch ein spannendes Abenteuer. Nur um die Aussicht war es schlecht bestellt. Entweder mussten sie auf Hab und Gut der Familie steigen, um über den Waggon - Rand zu blicken oder die Erwachsenen bitten, sie hoch zu hieven. Nach ewig langer Standzeit setzte sich der Zug endlich in Bewegung. Normal benötigte ein fahrplanmäßiger Reisezug circa drei Stunden für die Strecke. Dieser „Flüchtlingstreck“ brachte es auf unglaubliche drei Tage. Mehrmals musste der Zug wegen zerstörter Brücken und defektem Gleisbett umgeleitet werden. Auch die zahlreichen Wechsel der Loks nahmen enorme Zeit in Anspruch. Dementsprechend waren die hygienischen Zustände an Bord. Bei den Aufenthalten hatte man jedoch Gelegenheit, in defekten Bahnhofstoiletten oder in der freien Natur, seine Notdurft zu verrichten und sich oberflächlich zu waschen. Nach gefühlt ewig langer Fahrtzeit erreichte man tatsächlich doch noch den Heimatbahnhof. In den Gesichtern der Leute war deutlich die Freude zu lesen, wieder daheim zu sein.

Manch einer möchte bleiben,

ein anderer nur fort.

Doch dieses stete Treiben

ist hier genau wie dort.

Für Flor und Diethelm schien dies eine fremde Welt, waren sie doch viel zu lange von zu Hause schon weg. Etwas kam ihnen aber bekannt vor: Die vielen in Schutt und Asche liegenden Häuser.

Noch lag der Öffentliche Nahverkehr am Boden und es stellte sich die Frage: „Wie schaffen wir nun die restlichen zehn Kilometer zu unserem Heimatort“? „Leider per pedes“, ist der einhellige Kommentar.

Die gesamten Habseligkeiten auf einen Handwagen gepackt, die Kleinsten obendrauf und ab ging die Post. Endlich! Nach ungefähr drei Stunden war man wieder Zuhause. Ein lautes Hallo schallte ihnen entgegen. Nachbarn, die schon früher eingetroffen waren, begrüßten sie ganz herzlich. Doch wie sahen manche Häuser aus: Haustüren zertrümmert oder fehlten ganz, leere Fensternischen, eingeschlagene Scheiben und oft zerschlagenes Mobiliar. War dies das Werk der sich zurückziehenden Wehrmacht oder der Alliierten bei ihrem Vormarsch? Das konnte nicht mehr geklärt werden. Einige der Einwohner waren verbotener Weise dem Aufruf zur Evakuierung nicht gefolgt. Diese hatten sich die ganze Zeit unbehelligt in ihren Häusern aufgehalten. An ihren Gebäuden waren keine Schäden zu erkennen. Mancher Rückkehrer stellte erstaunt fest, dass die Haustür des Daheimgebliebenen genau so aussah wie seine fehlende und die Fenster ähnlich erschienen wie seine verschwundenen. Beweiskraft jedoch dürftig!

Mit dem dankbaren Gefühl einem Desaster entronnen zu sein und der Aussicht auf eine bessere Zukunft, rückten diese Ungereimtheiten ganz schnell in den Hintergrund. Man hatte wichtigere Dinge zu tun und zu klären.

Ein Moment wie im Paradies für Flor und Diethelm, erblickten sie doch gleich einen großen Obstgarten, der spontan zum spielen eingeladen hatte. Anziehungspunkt war ein Apfelbaum, der mit vielen grünen Äpfeln behangen war. Sie stopften sich die Taschen voll und packten in jede Hand noch einen. So rannten sie voller Stolz zur Oma, um ihr den tollen Fund zu präsentieren. Entsetzt rief Großmutter: „Wagt euch nur nicht davon zu essen, ihr wollt wohl die Ruhr und Durchfall bekommen“! Sie konnten mit diesen Begriffen nichts anfangen, merkten aber instinktiv, dass dieses Obst ihnen nicht bekommt. „Also ab damit auf den Komposthaufen, die Äpfel am Baum brauchen noch drei Wochen bis zur Reife“, sprach Oma Angela. Die Familie fühlte sich wieder wohl in ihrem gewohnten Lebensraum. Für die beiden Strolche waren es Tage voller Unbeschwertheit. Inzwischen wurde aus „Max und Moritz“, Flor wirkte groß und schlank, Diethelm etwas klein und gedrungen, nun „Pat und Patachon“. Beide unzertrennlich und zu jedem Streich aufgelegt. So sorgten sie für manche Aufregung in ihrem Umfeld. Diethelm ganz ungeniert, lädt sich oft selbst bei den Nachbarn zum Mittagessen ein, wo er immer den ersten Stuhl am Tisch beanspruchte. Flor war in dieser Beziehung etwas zurückhaltender, was vielleicht auf Erlebnisse in der Vergangenheit beruhte

Eines Tages wurde er zum Lebensretter für Diethelm. Beide spielten fröhlich im Hof an einem mit Wasser gefüllten Holzbottich. Ein 500 Liter-Behälter von Opa Franz zur Bewässerung der Blumen und Pflanzen dort deponiert. Da der Bottich für die beiden zu hoch war, bediente man sich eines Schemels. Sofort saßen sie schwankend auf dem oberen Rand des Regenspeichers. Plötzlich kippte Diethelm nach vorn und sein Gesicht berührte schon den Wasserspiegel, Flor ergriff blitzschnell Diethelms Hosenträger und versuchte ihn mit aller Kraft zurück zu ziehen. Das gelang aber nicht. Er konnte nur verhindern, dass der Körper seines Freundes weiter abrutschte. Zwei kleine Kerle schreien wie am Spieß. Der eine vor Todesangst – der andere weil ihm die Kraft schwindet.Aufgeschreckt durch dieses infernalische Geschrei stürzten Hanne, Guntram und Wiegand gemeinsam in den Hof. Dort bot sich ihnen ein Bild, dass sie sich erst vor Lachen wegschmeißen wollten, ehe man zur Hilfe eilte. Flor und Diethelm konnten dieser Szene keineswegs ein Lachen abringen. Um den Bottich machten sie in Zukunft einen großen Bogen.

Mittlerweile konnte Klein-Ulla laufen und bereitete allen sehr viel Freude. Der Papa von ihr, der Stiefvater Flors, kam aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Er lebte noch einige Zeit mit in der Gemeinschaft. Dass seine Frau Maria verstorben war, erfährt er erst nach seiner Rückkehr von Oma Angela. Diese traurige Nachricht war wie ein Schlag für ihn. Seine Betroffenheit war ihm deutlich anzusehen. Eines Tages eröffnete er Großmutter: „Ich gehe wieder zurück in meine Heimat und nehme Ulla mit“. Der Abschied von ihr war für alle ein bewegender Moment. Tante Liesel begleitete beide bis zum Bahnsteig und Klein-Ulla flehte am geöffneten Zugfenster in ihrer kindlichen Sprache: „Liesel mit“! Die Tante wendete sich schnell ab, damit niemand ihre feuchten Augen sah.

Nach Abfahrt des Zuges brach dieser unselige Mann alle Kontakte zur Familie für immer ab. Er ging eine neue Ehe ein und präsentierte dem Töchterchen seine zweite Frau als ihre leibliche Mutter. Nie hatte dieser Feigling ein klärendes Wort an Ulla über ihre wahren Verwandten übrig. Erst viele Jahre später wurde sie von der Behörde aufgeklärt. Dort war die junge Frau vorstellig, um eine Geburtsurkunde für ihre geplante Eheschließung zu erhalten. Die Beamten eröffneten ihr, dass sie woanders geboren ist und dort noch Großmutter, Bruder und Verwandte hat.

Manch einer nimmt das Wahre

ganz selten so genau,

treibt es so über Jahre

und fühlt sich super schlau.

Bei Familie Meyer - Knet hatte eine Zeit lang alles seinen geregelten Gang, bis die nächste Hiobsbotschaft alle aufschreckte. Diethelm wurde plötzlich sehr krank und musste ins Krankenhaus. Nach wenigen Tagen schon ist er dort verstorben, nicht mal sechs Jahre alt. Großmutter Angela sagte was alle vermuteten: „Er hat sich bestimmt bei Flors Mutter angesteckt“. Diesmal war auch Flor sehr bedrückt als man seinen Freund zu Grabe trug. Nur einige Monate später erkrankte Opa Franz und ward nach wenigen Wochen von einer Tbc vereint mit Ösophagus - Blutungen hingerafft. Oma Angela kam in einem Zeitraum von circa zehn Jahren kaum aus ihrer Trauerkleidung raus. Erst war es Schwiegersohn Leon, dann Tochter Maria, Enkel Diethelm, ihr Gatte Franz und nicht zuletzt ihre drei gefallenen Söhne Hagen, Friedrich und Willibald.

Mit Großmutter lebten jetzt nur noch die Töchter Liesel und Hanne, die Söhne Guntram und Wiegand und Enkel Flor im Haus. Liesel war in einer Fabrik beschäftigt, Hanne, Guntram und Wiegand in der Berufsausbildung. Flor wurde eingeschult. Die beiden ältesten Kinder von Frau Meyer, Albert und Annemarie, schon verheiratet und lebten mit ihren Familien woanders.

Weniger als bedürftig was Flor an seinem ersten Schultag in den Händen mit sich trug: Ein abgebrochener Bleistift und ein Blatt Papier.Schultüten kannte man in dieser Zeit nicht. Schreibtafel und Bücher wurden später erworben und natürlich nur gebrauchte. Karge Zeiten, aber man hatte schon schlechtere erlebt. Dank seines überdurchschnittlich guten Gedächtnisses kam er in der Schule ziemlich gut zurecht. So konnte der Junge meistens körperlicher Züchtigungen entgehen, wegen nicht gemachter Hausaufgaben oder versäumtes auswendiglernen. Seine „Festplatte“ ermöglichte ihm trotz Lernfaulheit den abgefragten Stoff runter zu stottern. Der Lehrer meinte oft: „Viel war es ja nicht aber ich will es mal gelten lassen“. Zeitweise zeigte Flor ein stärkeres Engagement beim Lernen. Dies hatte den Vorteil, dass er sich so dauerhaft bei seinen Lehrern gut in Szene setzen konnte. Er erlangte hierdurch einen erheblichen Bonus, der ihn oft vor dem Rohrstock bewahrte. So konnte der Schüler dem beliebten „Hilfsmittel“ einiger Lehrer meist aus dem Wege gehen.

Es verging kein Tag wo ein „Pädagoge“ nicht mindestens drei bis vier seiner Schüler durchprügelte. Hier fand so mancher Sadist vom Lehrpersonal seine Erfüllung. Zu Hause konnte man auch keinen Beistand erwarten, da hieß es nur: „Der Lehrer hatte bestimmt seinen Grund“. Logisch - denn Großeltern und Eltern waren nicht anders schulisch erzogen worden. Gott sei Dank sind bei fast allen Kindern kaum psychische Schäden zurück geblieben! Flor konnte sich somit die gesamte Schulzeit, dank seines Talentes für die Hauptfächer, erfolgreich gut durchmogeln.

Einem Intermezzo gleich war seine Mitgliedschaft bei den Messdienern. Viel Spaß bereiteten ihm die Aktivitäten in dieser Gemeinschaft. Doch hatte er neben der geforderten Ernsthaftigkeit sehr viel Sinn für Unfug. Flor war für jeden Schabernack zu haben. Beispiele: Er war mit dabei, als man den anderen an ihren so genannten Kitteln die Ärmel zunähte, mit an erster Stelle als man dem gestrengen Kirchenschweizer das Barett mit Wasser füllte, oder seine Hellebarde verschwinden lies. Das Fass zum überlaufen brachte ein Vorfall vor einer Beerdigung: Um Vorbereitungen zu treffen waren die Messdiener immer früher als Kaplan oder Pastor in der Sakristei. Unter anderem wurde ein Weihrauchfass mit glühender Kohle und Harz gefüllt. In der Regel genügten höchstens zwei Kohletabletten und ein schwach gehäufter Teelöffel Harz. Flor beauftragte einen unerfahrenen Neuling die doppelte Menge zu nehmen und das Gefäß kräftig hin und her zu schwenken.Es kam wie es kommen musste, nach kurzer Zeit sah man kaum noch die Hand vor den Augen. Der Raum war total vernebelt. Plötzlich wurde die Außentür aufgerissen. Der Kaplan erschien viel früher als sonst und ein Gebrüll ging los. Zuerst riss er alle Fenster auf, griff sich den kleinen Neuling und schrie ihn wutentbrannt an: „Was erlaubst du dir die Sakristei so zu vernebeln“! Der arme Kerl antwortete mit weinerlicher Stimme: „Flor hat mich dazu beauftragt und genau so habe ich es gemacht“. Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, da schlug eine flache Hand auf Flors linker Backe ein, dass ihm fast der Kopf weggerissen wurde. Da hatte er genug vom „Dienen“ und meinte später zu einem Schulkameraden: „Der Kaplan kann mich am Arsch lecken, ich lasse mich dort nicht mehr blicken“. Diese Aussage übermittelte spontan der Schüler. Der Kaplan meinte nur: „In Ordnung dann bin ich froh“. Das Negative an der ganzen Sache jedoch, der Kaplan war auch Religionslehrer an Flors Schule. Hatte er bisher immer ein „gut“ bis „sehr gut“ in Religion, musste der Schlingel sich ab diesem Tag mit „genügend“ zufrieden geben.

Endlich in der Abschlussklasse und es hieß: „Welchen Beruf sollen die Sprösslinge jetzt erlernen“? Damals hatten diese Kinder - man war es bis mindestens 21 Jahre - nicht die geringste Ahnung vom Berufsleben. Großmutter Angela Meyer, der Vormund Flors, war in Sachen Berufswahl offensichtlich überfordert. Obwohl sie sich immer sehr fürsorglich und aufopfernd als seine Ersatzmutter präsentierte. Doch in solchen Situationen machte sich für Waisenkind Flor das Fehlen seiner Eltern Leon- und Maria Knet bemerkbar.

Manch einer, der so vieles wollte

hat manches nicht gekannt.

Weiß nicht wie man es nennen sollte,

drum hat er`s nie genannt.

Oma Angela hoffte, dass ihr der Klassenlehrer hilfreich beistehen würde und bat deshalb um einen Gesprächstermin. Der Pädagoge konnte jedoch nur mit Vorschlägen dienen, denn mehr als Ratschläge waren nicht die Aufgabe eines Lehrers. Er gab Großmutter die Empfehlung: „Versuchen sie Flor bei einem größeren Unternehmen in der Verwaltung unterzubringen“. Dabei zählte jener einige Namen von bekannten Konzernen auf. Eine schwierige fast unlösbare Aufgabe für Frau Meyer, so ganz ohne Beziehungen und Unterstützung.

Die andere Seite - die Familie von Flors verstorbenem Vater- hatte nur hochtrabende Worte und Vorschläge anzubieten. Von großem Engagement des Knet-Clans keine Spur, trotz ihrer soliden finanziellen Basis und den besten Beziehungen zur Gesellschaft. Großvater Josef Knet war auf Grund seines fortgeschrittenen Alters da weniger kompetent als seine Söhne Wladimir und Igor. Wladimir, der Pate Flors, hatte hierbei weniger Möglichkeiten als der besser gestellte Onkel Igor. „Du musst was aus dir machen, vielleicht Architekt oder Ähnliches“, waren seine schwülstigen Worte an Flor. Doch statt zu agieren und mit seiner Kompetenz Flor die Plattform zu ebnen, war nur Zurückhaltung angesagt. Einen kläglichen Versuch hatten sie unternommen, indem man Flor an ein kinderloses Ehepaar aus der engeren Verwandtschaft verschachern wollte. Dieses Paar besaß einen kleinen Möbelherstellungs-Betrieb und Jung Flor sollte als möglicher Erbe den Firmennamen aufrechterhalten.Trotz seines jugendlichen Alters hatte Flor gleich das Gespür, dass er mit diesem Mann nicht auf gleicher Wellenlänge lag. Er sträubte sich ganz energisch gegen dieses Ansinnen der Familie, zumal der Junge später feststellte: „Dieser Kerl ist ein Alkoholiker und braucht mich wohl nur als Arbeitstier“.

Oma Angela nach ihrer Meinung gefragt sagte nur: „Ich lasse Flor die Entscheidung, wie er sich erklärt so soll es sein“. Merklich war aus ihrem Tonfall zu erkennen, dass eine mögliche Trennung von dem Enkel sie schwer treffen würde. Nun warteten alle gespannt auf Flors Antwort. „Ich bleibe bei meiner Oma“, war seine bestimmende und resolute Aussage.

Diese Reaktion hat ihm der Knet-Clan nie verziehen.

Mittlerweile waren Hanne und Guntram verheiratet und ausgezogen. Tante Liesel wohnte jetzt in Bonn. Einzige Mitbewohner waren nur noch Wiegand mit seiner Gattin Elke und ihrem kleinen Horst-Paul. Somit war Großmutter Angela mit Entscheidungen, die ihr Mündel Flor betrafen, oftmals alleine gelassen. Irgendwann informierte der Lehrer die Klasse mit den Worten: „In drei Tagen besucht ein Berufsberater vom Arbeitsamt unsere Schule. Alle die noch keine Lehrstelle in Aussicht haben, können sich Informationen einholen und bei Interesse von diesem Herrn vermitteln lassen“. Großmutter hatte mit Flor diesen Termin wahrgenommen. Auf die Frage an Flor welche Berufswünsche er habe, zählte dieser dem Berater eine Litanei von Berufen auf, die vom Stahlbauschlosser bis zum Notargehilfen reichte. Sogleich wurde dem Mitarbeiter vom Arbeitsamt klar, dass die Beiden ahnungslos und unschlüssig sind. Das war nun die Chance für ihn, aus einer mitgebrachten Liste der verschmähten Berufe, eine Lehrstelle an den Mann beziehungsweise an Oma und Enkel zu bringen. Mit hochtrabenden Worte begann er: „Wie wäre es denn in der Chemie? Chemie hat eine ganz große Zukunft“. Der zweite Satz entsprach der Realität, aber was er ihnen anbot war doch weit entfernt von der Chemie. Die einzige Verbindung zu ihr waren die Chemikalien, welche man als Hilfsmittel in jenem Textilbehandlungs-Betrieb benutzte. Flor war zunächst sehr enttäuscht, hatte er sich doch eine Tätigkeit im Labor vorgestellt. Großmutter dagegen war zufrieden. Man hörte sie erleichtert sagen: „Er hat jetzt eine Lehrstelle, egal in welchem Beruf und eine gesicherte Zukunft“. Viele Monate brauchte Flor um sich einigermaßen mit seiner beruflichen Tätigkeit anzufreunden. Doch lernte er schnell, wurde von den Vorgesetzten oft gelobt und war auch in der Berufsschule erfolgreich. Im ersten Jahr wurde er in Textiler Rohstoff- und Warenkunde unterrichtet.

Dann landete der Auszubildende für zwei Jahre in der Klasse für Chemielaboranten. Diese absolvierte der Jugendliche mit einem Entlassungszeugnis, das nur von „gut“ und „sehr gut“ Noten geprägt war. Ein Sonnyboy, der eine unbeschwerte Jugend erlebte und geradezu prädestiniert für eine erfolgreiche berufliche Karriere schien. Doch sollte alles anders kommen!

Manch einer mit Talent zur Kunst

hat stets vor seinen Augen:

„Ganz ohne Glück und ohne Gunst

wird das Talent nichts taugen“.

Mit Ankündigung der Pubertät begann das Interesse am weiblichen Geschlecht. Flor war in dieser Hinsicht aktiver als ihm seine Unerfahrenheit und Kindlichkeit erlauben durfte. Aufklärung war in jener Zeit ein Fremdwort. Einige „Doktorspielchen“ mit gleichaltrigen Mädchen in der Schulzeit waren die einzige Theorie und Praxis. Aber „wie“, „warum“, „weshalb“, „wofür“ und „wann“ - null Ahnung! Als Fünfzehnjähriger den ersten versuchten Koitus mit einer erfahrenen Achtzehnjährigen namens Lolita. Erfahrung nur deshalb, weil ihre Defloration schon länger zurück lag. Sonst nur mit dem einzigen Wissen: „Das Runde muss in das Ovale“. Sie versuchten es an vielen Plätzen: Im Keller eines Neubaus, auf der Wiese, in Wald und Gebüsch. Durch den Coitus - Interruption jedes Mal kam zwar Flor zu seiner Sache, doch sie immer zu kurz. Wegen ihrer Unerfahrenheit stellte sie keine Ansprüche und vermisste auch nichts. Beide fühlten sich danach mächtig erwachsen. Die wenigen Kenntnisse in dieser Richtung erwarb man nur, wenn man heimlich diverse Gespräche Erwachsener zu Hause, auf der Straße und am Arbeitsplatz belauschte.Irgendwann erlosch das Interesse füreinander und sie beendeten das Verhältnis. Sie ehelichte später einen Alkoholiker und bekam fünf Kinder.

Eine Zeit lang folgten für Flor nur belanglose Aktivitäten in femininer Hinsicht, die sich meist nur auf knutschen und befingern beschränkten. In diesem Lebensabschnitt war es ein erregender Moment die Finger auf Wanderschaft gehen zu lassen. Besonders im abgedunkelten Saal des Kinos, wenn die Hand langsam am Jungfrauenbein nach oben glitt. Strumpfhosen kannte man noch nicht. Die Perlonstrümpfe wurden ganz, ganz oben mit dem Strumpfband gehalten. Hatte die Hand es bis dorthin geschafft, wurde sie in Form eines tollen Gefühls belohnt: Strammes, warmes Oberschenkelfleisch einer jungen Frau. Flors Körper begann jedes Mal leicht zu beben, was sich auch auf die Mädchen übertrug. Das Strumpfband jedoch war meist die Grenze und nach oben begann die Tabuzone. Für Flor und die jungen Damen jedoch immer wieder ein erregendes Erlebnis. Der Film war meistens nur noch Nebensache.

Flor, mittlerweile schon sechzehn Jahre alt, lernte bald eine Neunzehnjährige kennen und lieben. Diese sehr intensive Beziehung existierte etwas über ein Jahr. Margot hieß seine Eroberung. Trotz dem schon länger zurückliegenden Verlust ihres Hymens hatte sie so viel Erfahrung wie Flor - nämlich wenig. Nach Anfangsschwierigkeiten konnte man später von fast erfülltem Sexleben reden. Der eine lernte vom anderen und sie schwor ihm fast täglich wie sehr sie ihn liebt. Für Flor mit seiner jungenhaften Naivität waren ihre Worte Gesetz.Da gab es aber ein großes Hindernis für eine Beziehung von Dauer: Sie die heranreifende Frau, er der heranwachsende Junge. Ein fataler Alters - und Reife – Unterschied!

Als Großmutter Angela von Flors Beziehung erfuhr, legte sie lautstark ihr Veto ein. Polternd rief sie: „Ein junger Rotzbengel geht mit einer alten Kuh von „Neunzehn“. Du treibst dich ab heute nicht mehr dort herum und bist immer pünktlich Zuhause“! Früher durften es oft etliche Minuten später sein.

Wenn Margot an den Wochenenden mit der Clique zum Tanz gehen konnte, musste Flor auf Grund seines Alters um 22 Uhr zu Hause sein. So blieb nicht aus, dass sie sich irgendwann mit einem Gleichaltrigen näher gekommen ist. Näher als es Flor recht sein konnte und schockartig musste er seine „Platzhirschrolle“ abgeben. Was für ein schrecklicher Tag, als Margot ihm die Trennung verkündete. Flor wurde aus allen Träumen gerissen. Er hatte eine unbeschreibliche Wut auf seinen Rivalen, der ihm doch sein Eigentum raubte. Mit stark angekratztem Selbstbewusstsein stellte sich der Ausgebootete die Frage: „Was sind Worte und Liebesschwüre einer Frau schon wert“?

Ein schwerer Schicksalsschlag, der sich tief in seine Seele einbrannte. Zeit heilt bekanntlich Wunden. Jahre später konnte Flor ein gewisses Verständnis für Margots Verhalten aufbringen. Um zu verdrängen konzentrierte er sich verstärkt auf seine Ausbildung. Er zeigte wieder sportliche Aktivitäten, wie Fußball und Leichtathletik.

Manch einer hat ganz schwer zu kauen,

bis endlich hold das Glück ihm sei.

Er muss so manches noch verdauen,

selbst seinen angerührten Brei.

Trotzdem er kein Kostverächter geworden war, sind die nächsten Mädchen-Bekanntschaften von unverbindlicher Art. Wobei es über Komplimente und etwas Knutscherei nicht hinausging. Mit dem Gefühl eines Betrogenen war er Frauen und Mädchen gegenüber verunsichert und ein von Misstrauen geprägtes Verhalten nahm Besitz von ihm. Sein Ausbildungsbetrieb wäre ein dankbares Pflaster für den „Praktikanten“ geworden. Doch auf Grund seiner Unerfahrenheit und Jugend verpasste er so manche gute Gelegenheit. In einer Firma mit 60 Frauen und 7 und ein halber Mann (halb = Flor), gab es ein herrliches Betätigungsfeld für den richtigen Mann. Flor wurde oft Zeuge wenn sich in einer Ecke, Nebenraum oder dem Firmenwagen Mann und Frau sehr nahe kamen. Dann wurde nach Feierabend zielstrebig das nächste, für diesen Zweck geeignete, Etablissement angesteuert. Wegen seiner Unerfahrenheit übersah Flor oft manches Signal der jungen Damen. Er wusste ihre Körpersprache und Lockrufe nicht zu deuten. Der Jüngling war eigentlich „Hahn im Korb“ und wie schon gesagt ein Sonnyboy. Rock’ n Roll wurde seine Leidenschaft und bei Firmenfeten war er ein gefragter Tanzpartner zu diesen neuen Rhythmen. Das war es aber schon mit tanzen. Bei langsamen Tänzen stolperte Flor meist über die eigenen Füße oder die der jeweiligen Partnerin.

Die Ausbildungszeit ging zu Ende, die Prüfung wurde mit der Note „gut“ abgeschlossen. Nun stellte sich die Frage: „Wie geht es jetzt weiter, als Facharbeiter oder weiterführende Schule“? Für die Schule fehlte das nötige Geld. Oma Angela war da überfordert mit ihrer kärglichen Witwen- und Waisenrente. Der gut betuchte Onkel Igor, immer noch verschnupft wegen der abgelehnten Möbelerben-Sache, hielt sich bedeckt und tauchte ab. Da machte der Lehrmeister Flors, ein ehemaliger Ostpreußischer Offizier und „Gutsbesitzer“, den Vorschlag: „Geh doch zum Militär, da kannst du Karriere machen“. Dies klang gar nicht schlecht in Flors Ohren, denn das roch nach Abenteuer. Eine gewisse Abenteuerlust war schon immer Bestandteil seines jungen Lebens. Mit noch nicht achtzehn Jahren bewarb er sich bei der Bundeswehr und wurde alsbald nach Wiesbaden zur Musterung beordert.

Vorher musste er sich noch um die Abschlusszeugnisse seiner Schulen und der Ausbildungsstelle bemühen. Sein ehemaliger Berufsschullehrer reagierte fast euphorisch, als Flor ihm von seinem Vorhaben berichtete. Der Pädagoge hatte offensichtlich seiner Militärzeit bei der Wehrmacht sehr nachgetrauert.

Das registrierten ganz schnell seine Schüler. Hatten sie wenig Lust zum Lernen, entwarfen diese vor Unterrichtsbeginn einen raffinierten Plan: Einer sollte anfangs der Stunde plötzlich aufstehen und ihm über die ehemalige Luftwaffe eine Frage stellen. Der Lehrer war im Krieg Luftwaffen-Offizier auf Kreta. Ein Thema darüber dehnte sich fast immer bis zum Pausenklingel-Zeichen aus. Erschrocken registrierte dann der spätere Studienrat das Ende der Stunde und rief anklagend: „Da habt ihr mich wieder ganz schön reingelegt“!

Jetzt begleitete er Flor mit dem ausgestellten Zeugnis zum Rektorat, damit der Chef noch seinen „Kaiser Wilhelm“ unter das Dokument setzt. Der Rektor war jedoch nicht anwesend und seine Sekretärin meinte: „Der Chef ist zur Klärung einer Sache unterwegs, doch wird es bestimmt nur eine Minutensache“. Der Lehrer meinte an Flor gewandt: „Ich muss zurück in die Klasse, erzähle dem Rektor wofür du das Zeugnis brauchst und komme danach wieder zu mir“.

Die Sekretärin, nach einem Blick auf das Dokument: „Das ist aber ein tolles Zeugnis“. Da klopfte der „Mentor“ Flor auf die Schulter und erwiderte: „Er ist ja auch ein toller Kerl“. Im gleichen Augenblick wuchs Flor um einige Zentimeter. Als der Rektor wieder auftauchte kam sofort die Frage: „Besuchen Sie eine weiterführende Schule“? Was Flor verneinte und sich auch weiter nicht äußerte. Der Chef verabschiedete sich von dem jungen Mann per Handschlag, wünschte ihm alles Gute und viel Erfolg in seinem zukünftigen Berufsleben. Zurück beim ehemaligen Klassenlehrer fragte dieser gespannt: „Hast du den Rektor informiert wozu das Zeugnis gebraucht wird“? Nach der Verneinung brauste der Pädagoge regelrecht auf und meinte grollend: „Unser Chef hätte sich auch sehr gefreut über dein Vorhaben“! „Heut zu tags sind nur wenige Bürger begeistert über eine Zugehörigkeit zur Bundeswehr, dreizehn Jahre nach dem Weltkrieg“, erwiderte Flor und ergänzte: „Deshalb bin ich in dieser Sache besser schweigsam und zurückhaltend“. Der Oberlehrer gab sich mit dieser Antwort zufrieden und sagte beim Abschied: „Sende mir mal eine Ansichtskarte und berichte wie es dir gefällt“. Was Flor dann auch später zweimal tat.

Zur damaligen Zeit lag die so genannte Volljährigkeit noch bei 21 Jahren und Großmutter musste als sein Vormund ihre Einwilligung geben. Erst nach langem Drängen gab sie schweren Herzens ihre Zustimmung. Beim Abschied spürte Flor wie sehr Oma litt und gelobte fast jedes Wochenende nach Hause zu kommen. Nun begann ein relativ kurzer Lebensabschnitt, den Flor als die schönste Zeit seines Daseins bezeichnet. Die schönen, doch auch sehr wehmütigen, Erinnerungen sollten noch viele Jahre ihm gegenwärtig bleiben.

Manch einer gestern noch nicht offen,

wirkt heute ziemlich frei.

Er will bestimmt auf morgen hoffen,

wo besser es dann sei.

Die Zeitstufen des Florian Knet.

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