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2. Kapitel

Staniolstreifen, Granatsplitter und Flugblätter

Zum „Führergeburtstag“ von Hitler am 20. April musste geflaggt werden. Meine Mutter jedoch hat nie eine Fahne aus dem Fenster gehalten. Erst auf Druck des Hauswarts in unserem Block, der ein eingefleischter Nazi war, ist das schließlich doch erfolgt. Der Krieg rückte immer weiter heran. Im Keller unseres Hauses wurden Betonstützen eingebaut und die Kellerfenster zugemauert. Nur ein Luftloch blieb. Ein frisch angelegter Durchbruch zum Nachbarhaus sollte im Falle eines Hauseinsturzes eine Fluchtmöglichkeit bieten.

In dieser Zeit bekam ich eine Einladung zum Deutschen Jungvolk, der Vorläuferorganisation der Hitlerjugend. Meine Mutter und ich gingen auf Bezugsschein ein sogenanntes Braunhemd kaufen, dazu ein schwarzes Halstuch mit Knoten und eine kurze schwarze Cordhose. Nur die zur Ausstattung gehörenden Fahrtenmesser, auf die wir als Jungs sehr scharf waren, gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Wahrscheinlich wurde der Stahl für „kriegswichtigere“ Zwecke benötigt. Wir waren damals sehr stolz – die Nachmittage vergingen viel zu schnell mit Räuber und Gendarm spielen. Aus Kindersicht brachte die Kriegszeit für uns so manches Abenteuer mit sich. Fasziniert beobachteten wir am nächtlichen Abendhimmel, wenn Flugzeuge im Scheinwerferlicht der Flak ihre Kreise zogen und versuchten, aus dem Licht zu entfliehen. Wir Jungen fühlten uns dann geborgen und beschützt. Aber eigentlich bin ich durch den Krieg schon als Zehnjähriger erwachsen gewesen.

Nun gab es immer öfter Fliegeralarm. Der 4. Dezember 1941 rückte näher, der erste Großangriff auf Leipzig stand bevor. In dieser Nacht schliefen meine Mutter und ich so fest, dass wir den Fliegeralarm überhörten. Die Nachbarn waren bereits alle im Keller, als jemand klopfte und uns aufweckte. Der Strom war längst abgeschaltet. Uns bot sich ein schauriger Anblick: Der Himmel war blutrot vom Flakfeuer, von den Bombeneinschlägen und Bränden in der Ferne. Die Männer wachten auf dem Dachboden, um bei Einschlägen von Stabbrandbomben sofort löschen zu können. Glücklicherweise traf uns keine Bombe. Am nächsten Tag sahen wir jedoch etliche Einschläge auf der Straße und in den Vorgärten. Die Hitlerjungen und wir machten uns einen Spaß daraus, die zur Hälfte abgebrannten Bomben auseinander zu schrauben, um an das begehrte Rotfeuer heranzukommen. Was wir so nannten, war wahrscheinlich eine Magnesiumlegierung, die wunderbar rotleuchtend abbrannte.

Am nächsten Tag sind wir Kinder zum Bahnhof Paunsdorf gelaufen. Die Züge fuhren nun von dort ab, der Hauptbahnhof lag in Trümmern. Endlose Kolonnen ausgebombter, rußgeschwärzter Menschen mit Handwagen und Kinderwagen versuchten, ihre letzte Habe in Sicherheit auf das Land zu bringen. Eine Gulaschkanone war aufgefahren worden, Nudelsuppe wurde verteilt. In dieser Nacht starben in Leipzig mehrere tausend Menschen, und geschätzte 100.000 Menschen waren obdachlos geworden. Die ganze Innenstadt stand in Flammen und noch Tage später war es nicht möglich, mit der Straßenbahn von Ost nach West zu fahren. Die Straßenbahnzüge wendeten über sogenannte Kletterweichen, auf die Schienen gelegte Weichen, die über das Straßenplenum auf die Gegenseite wechselten.

Von diesem Dezembertag an mussten wir uns an den nächtlichen Fliegeralarm gewöhnen. Er erfolgte meistens gegen 22: 30 Uhr. Im Laufe des Jahres kam der tägliche Vormittagsalarm dazu. Pünktlich um 8: 00 Uhr gingen wir zur Schule und hatten Unterricht, bis zum Voralarm. Der ließ nicht lange auf sich warten. Wenn der Alarm vor 11: 00 Uhr beendet war, konnten wir zurück in die Schule – bis zum nächsten Alarm, der gewöhnlich nachmittags kam.

Bei klarem Wetter konnten wir die Bomberpulks am Himmel beobachten. Die einzelnen Flugzeuge waren klar zu erkennen, meistens waren es zwischen 15 und 20 Maschinen. Von unten flogen Flakgeschosse dazwischen und trafen ab und zu. Wenn keine Flakabwehr schoss, war es für uns Kinder ein besonderes Schauspiel, die Luftkämpfe zwischen den Jägern und Bombern am Himmel zu beobachten. Wir sahen mehrere Male, wie die mit Fliegerbomben bestückten Kampfflugzeuge oder auch Jagdflugzeuge bei der Bekämpfung gegnerischer Flugzeuge getroffen wurden und die Besatzung mit Fallschirmen absprang. Nach dem Alarm sammelten wir die Stanniolstreifen auf, die von den Bombern abgeworfen worden waren. Wir suchten Granatsplitter und Flugblätter, die von den Flugzeugen verteilt vom Himmel fielen. Das Aufsammeln und Lesen war verboten. Dennoch habe ich eines gelesen, auf dem der Tod von Roosevelt (1) bekannt gegeben wurde.


Anmerkungen zu Kapitel 2:

(1) Theodore „Ted“ Roosevelt junior, ältester Sohn des 26.

Präsidenten der Vereinigten Staaten, Theodore Roosevelt, und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs einer der höchst-dekorierten der US-Armee, starb in der Nacht zum 12. Juli 1944 in der Normandie an einem Herzinfarkt.

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