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Strickmann hatte sich einer Kurierzentrale angeschlossen und bekam von dort gegen eine Gebühr Aufträge vermittelt, die er auch ablehnen konnte. Dies war ihm wichtig gewesen, weil er sich nicht neue Sachzwänge aufbauen wollte. Zusätzlich hatte er in den letzten Wochen in Fachzeitschriften mehrere Inserate geschaltet und viele Firmen direkt angeschrieben, um seinen individuellen Kurierdienst bei der Zielgruppe bekannt zu machen. Ein großer Vorteil seines Angebotes bestand darin, dass er auch außerhalb der normalen Bürozeiten Aufträge annahm. Daneben arbeitete er auch an Feiertagen wie Ostern oder Neujahr und war es inzwischen gewohnt, dass zu jeder Tages- und Nachtzeit das Telefon läuten konnte. Deswegen war er nicht überrascht, als um 22.30 Uhr jemand anrief. Dieses Mal war es aber etwas anderes.

Nachdem die Anruferin sich als Christine Lentz vorgestellt hatte, kam sie direkt zur Sache:

"Sie fahren doch öfter nach Frankreich. Würden Sie nebenbei für mich in Paris ein paar Informationen besorgen?"

"Momentan habe ich leider keinen Kurierauftrag nach Paris und ich erledige Ermittlungsaufträge auch nicht nebenbei."

"So habe ich das nicht gemeint. Ich würde das Ganze gerne mit Ihnen besprechen. Könnten wir uns morgen früh sehen?"

"Woher kommen Sie denn?"

"Aus Baden-Baden."

"Dann schlage ich Ihnen die Raststätte am Ende der A 5 bei der Ausreise in die Schweiz vor. Es gibt eine auf der deutschen und eine auf der Schweizer Seite."

"Schweizer Seite. Wäre Ihnen acht Uhr recht?"

Strickmann war erstaunt, stimmte aber zu. Seine Gesprächspartnerin war offensichtlich erleichtert, dass dieses Treffen überhaupt zustande kam. Sie nannte ihm noch ihre Autonummer und verabschiedete sich.

Es war ihr schwer gefallen, sich selbst einzugestehen, wie wichtig ihr dieses Gespräch war. Sie wollte sich mit ihm auf Schweizer Gebiet treffen und sie war bereit, dafür um sechs Uhr morgens aufzustehen. Dass sie von seiner Tätigkeit als Kurier wusste, empfand Strickmann nicht als etwas Besonderes. Aber wie sie auf den Gedanken gekommen war, dass ein Kurier Ermittlungstätigkeiten ausführen würde, war ihm unverständlich. Es hatte den Anschein, dass sie über Mundpropaganda von ihm gehört hatte. Auf jeden Fall bezog sie sich nicht auf eine seiner Anzeigen. Er würde sie danach fragen. Was blieb war der Eindruck, dass sie genau wusste, was sie wollte, und es gewohnt war, die Initiative zu ergreifen. Diese Frau hatte einen Plan.

Sie wohnte in Baden-Baden. Strickmann wusste nicht viel über dieses Städtchen: dass vor 100 Jahren der europäische Hochadel gekommen war, um sich in den schon von den Römern benützten Quellen seine Zipperlein und seine Langeweile vertreiben zu lassen. Und dass es nirgendwo in Deutschland mehr Millionäre pro Einwohner gab als dort. Wahrscheinlich bestand zwischen diesen beiden Fakten ein Zusammenhang. Und natürlich das Casino. Das passte zusammen. Auch, dass jemand von dort für ein paar Informationen persönlich bis nach Basel fahren wollte. Aber er wusste nicht einmal, wie groß Baden-Baden war oder womit die Leute dort ihr Geld verdienten. Einen gewissen Sarkasmus konnte er sich bei diesem Gedanken allerdings nicht verkneifen: natürlich nur diejenigen, die noch Geld verdienen mussten.

Er fand das alles ein bisschen seltsam und ging innerlich auf Distanz zu dieser Situation. Am nächsten Morgen würde er einfach pünktlich am Treffpunkt sein.

Als er am Tag darauf um 7.58 Uhr ganz langsam auf den Parkplatz der Autobahnraststätte an der Schweizer Grenze rollte, sah er am Eingang eine Frau stehen. Aus der Distanz wirkte sie sehr gepflegt und zerbrechlich. Er fand einen freien Parkplatz neben ihrem Wagen, einem roten MR 2, nahm seinen Mantel und ging zur Tür des Restaurants.

Sie kam ihm ein paar Schritte entgegen und bot ihm eine kalte Hand und ein gekünsteltes Lächeln an:

"Mein Name ist Lentz. Sind Sie Herr Strickmann?"

"So ist es. Guten Morgen, Frau Lentz."

"Guten Morgen."

Eine Puppe, vielleicht sogar eine Marionette. Es würde ein Teil seiner Arbeit sein herauszufinden, wer an den Fäden zog. Sie war vielleicht Mitte 30 und versteckte ihre Verletztheit hinter einer elitären Fassade. Dazu trug sie schwarze Stiefel und einen langen roten Mantel mit einem schwarzen Schal. Ihr Make-up war farblich auf den Mantel abgestimmt und dezent. Sie mochte strenge Linien, die Konturen ihrer Lippen hatte sie schwarz nachgezogen. Ihr schwarzer Pagenkopf verlieh ihr etwas Leben, stand aber in schroffem Kontrast zum wächsernen Eindruck ihrer Gesichtszüge und zu ihrer anämischen Hautfarbe.

Er hielt ihr die Tür auf. Sie ging voraus und wählte eine Sitzgruppe in einer Ecke, wo sie ungestört reden konnten. Als er ihr aus dem Mantel half, schenkte sie ihm noch einmal ein Plastiklächeln. Sie trug ein Jackett, eine hochgeschlossene Bluse und einen langen Rock. Nachdem er ihre beiden Mäntel an die Garderobe gehängt hatte, holten sie sich gemeinsam ihr Frühstück, wobei sie einen großen braunen Umschlag mitnahm und immer wieder zu ihrem Mantel blickte.

Den Small Talk, den Strickmann benützen wollte, um ihr den Einstieg in das Gespräch zu erleichtern, schnitt sie brüsk ab:

"Aber ich bitte Sie, kommen wir zur Sache."

"Sehr gerne. Und was ist die Sache?"

"Vor drei Tagen ist mein Mann verschwunden. Er ist von einer Geschäftsreise nicht zurückgekommen. Inzwischen habe ich erfahren, dass er in Paris sein soll. Finden Sie heraus, ob das stimmt und ob eine Frau dahintersteckt."

Mit diesen Worten schob sie ihm den Umschlag zu. Er enthielt einen Briefbogen mit einer Telefonnummer in Paris, ein Autokennzeichen und das Foto eines Mannes Mitte 50. Es war ein markanter Kopf, sehr schlank, mit kurzen, grau melierten Haaren, die leicht gelockt waren, und einer randlosen Designerbrille. Dazu trug er ein dunkles Jackett, ein helles Hemd, eine elegante Krawatte und ein strahlendes Lächeln mit makellos weißen Zähnen. Sein Gesicht war glatt rasiert, Strickmann konnte sein Aftershave förmlich riechen. Die Seriosität in Person.

"Warum fahren Sie nicht selbst nach Paris?"

"Ich muss schon sagen, Herr Strickmann, diese Frage habe ich nicht erwartet. Chantal Sélain sagte mir, dass Sie sehr zuverlässig arbeiten – und sehr professionell."

Er reagierte nicht auf den Namen und tat so, als habe er die Kritik an seiner Professionalität nicht gehört:

"Und warum wollen Sie, dass ausgerechnet ich für Sie nach Paris fahre?"

"Chantal ist eine sehr gute Bekannte von mir. Wir haben von Frau zu Frau über Sie gesprochen. Und ehrlich gesagt, was sie von Ihnen erzählt hat, hat mich beeindruckt. Sie sind integer, auch im Konfliktfall. Damit ist meine Wahl wohl ausreichend begründet. Und ein paar Komplimente habe ich Ihnen auch noch gemacht. Nehmen Sie den Auftrag an?"

"Ich weiß es noch nicht. Zuerst möchte ich jetzt noch einen Kaffee. Soll ich Ihnen auch einen mitbringen?"

An Stelle einer Antwort legte sie ihre Hand aus Glas auf seinen Arm:

"Es ist mir sehr wichtig, dass Sie für mich nach Paris fahren. Ich bezahle Ihnen mehr als den üblichen Tagessatz."

"Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment. Ich bin sofort wieder da."

Strickmann stand auf, um sich einen neuen Kaffee zu holen. Er hoffte, sie hatte nicht gesehen, dass seine Tasse noch mehr als halb voll war. Als er nach einigen Minuten zurückkam, brachte er außer dem Kaffee noch eine Tageszeitung mit. Er legte sie zusammen mit seinem Handy auf den Tisch vor sich:

"Es hat etwas länger gedauert, da war eine Schlange an der Kasse."

"Ihr Arm war ganz warm vorhin."

"Ich weiß. Im Winter ist mir noch nie eine Freundin davongelaufen."

Zum ersten Mal hatte ihr Lächeln eine Spur von Gefühl – von Schmerz:

"Und?"

"Ich würde gerne für Sie nach Paris fahren. Aber da Sie eine etwas andere Vorstellung von Professionalität haben als ich, muss ich Ihnen sagen, dass ich detaillierte Informationen von Ihnen benötige."

"Fragen Sie. Und sparen Sie unsere Intimsphäre aus."

"Wie heißt Ihr Ehemann?"

"Mein Mann heißt Robert Lange. Wir sind nicht verheiratet."

"Der Mann auf dem Foto?"

Sie nickte.

"Wie lange waren Sie zusammen?"

"Wir sind zehn Jahre zusammen."

"Fehlt sonst noch etwas?"

"Sein Wagen, ein roter Bentley. Den Typ weiß ich nicht, das Kennzeichen steht auf dem Briefbogen im Umschlag."

"Erzählen Sie mir alles über ihn, was ich für diese Erkundigung wissen muss."

"Er ist von Beruf Goldschmied und Teilhaber eines der besten Juweliergeschäfte in Baden-Baden. Die Tagesroutine interessiert ihn nur wenig. Seine Aufgabe ist es, internationale Kontakte zu pflegen. Er kommt dadurch zu ausgesuchten Stücken. Sein Freundeskreis ist exklusiv und er ist bei gesellschaftlichen Anlässen ein begehrter Gast. Das hängt auch mit seiner zuvorkommenden Art und seinem Charme zusammen. Manchmal fragen die Gastgeber zuerst bei ihm nach, wann er frei ist, bevor sie ein Fest terminieren. Er ist ein Gewinn für jede Gesellschaft. Außerdem ist er sehr kultiviert, besucht Konzerte und Museen. Rom liebt er wie keine andere Stadt. Es gibt Jahre, da ist er jeden Monat dort. In der letzten Zeit hat er seine ganze Kleidung dort gekauft."

Mit anderen Worten, er verkehrte in diesen diskreten Hinterzimmern, deren wichtigster Einrichtungsgegenstand ein Tresor ist, stank vor Geld und ließ es alle wissen; er war beliebt und sie hatte sich ihn mit 25 geangelt, als er 45 war. Und wenn er Rom so liebte, musste es einen Grund geben, warum er jetzt in Paris lebte.

"Dann gab es keine finanziellen Probleme?"

"Unmöglich, er ist sehr vermögend. Und seine Geschäftskontakte reichen in Kreise hinein, die unabhängig sind von jeder Konjunktur. Finanzielle Probleme sind da undenkbar."

"Und Sie?"

"Ich habe mein Hobby zu meinem Beruf gemacht. Ich habe in Basel Kunstgeschichte studiert und seit dem Ende meines Studiums besitze ich in Baden-Baden eine Galerie."

"Schon lange?"

"Seit zehn Jahren. Robert hat mir das Anfangskapital geschenkt. Wir lieben uns sehr."

"Warum läuft er dann einfach weg?"

Ihr Blick wurde feucht:

"Ich weiß es nicht. Deswegen sollen Sie ja nach Paris fahren."

"Warum muss das denn ausgerechnet jetzt sein? Sie haben doch sicher von den Unruhen gehört?"

"Am Rande. Aber zum Glück sind wir davon nicht betroffen."

"Nun, Sie sind eben im Begriff, mich mitten in diese Unruhen hineinzuschicken."

Sie schwieg betreten. Nach einer peinlichen Pause meinte sie:

"Das war mir überhaupt nicht bewusst. Aber ich kann nicht warten. Ich weiß nicht, wie lange mein Mann sich an dieser Adresse aufhalten wird."

"Ich verstehe."

Strickmann dachte einen Moment lang nach und präsentierte ihr dann seine Lösung:

"Ich schlage Ihnen folgenden Kompromiss vor: Sie bezahlen mir mein Geld auch, falls ich durch diese Unruhen in irgendeiner Form an meinen Ermittlungen gehindert werde. Und wir nehmen eine Rücktrittsklausel in den Auftrag auf. Dann kann ich in Ruhe die neuesten Informationen auswerten und entscheiden, ob ich fahre oder nicht. Sie haben im Gegenzug nichts zu tun mit eventuellen Schäden an meinem Wagen."

"Einverstanden. Das ist fair."

"Schön. Dann können wir mit der Routine weitermachen. Spricht ihr Mann Französisch?"

"Fließend. Und Italienisch auch."

"Wie haben Sie einander denn kennen gelernt?"

"Ich habe mir mein Studium durch Auftritte in Clubs finanziert. Robert war Gast."

"Was für Auftritte waren das denn?"

Sie wurde wieder verlegen:

"Ich habe in Nachtclubs gesungen."

Strickmann verzichtete auf weitere Fragen in diese Richtung. Sie wusste, worauf er hinauswollte, und spielte trotzdem die Blauäugige. Das reichte ihm, um sich eine Vorstellung davon zu machen, welche Art Clubs Robert Lange vor zehn Jahren besucht hatte. Auf der deutschen Seite gibt es rheinaufwärts von Basel genügend davon, in jedem zweiten Dorf. Früher hat man dort Lachse gefischt, heute fischt man mit etwas anderen Netzen Schweizer Franken.

"Was ist Ihr Ziel? Was wollen Sie?"

"Ich will meinen Mann zurück."

"Wer würde denn von seinem Tod profitieren?"

"Robert ist nicht tot."

"Es ist immerhin eine theoretische Möglichkeit."

"Es ist keine Möglichkeit, nicht einmal eine theoretische. Gestern hat er mit einer guten Kundin Kontakt gehabt. Sie hat mich sofort angerufen und mir die Telefonnummer in dem Umschlag dort gegeben. Ich hatte ihn in Rom vermutet und werde ihr das nie vergessen."

Sie wischte sich verstohlen eine Träne aus einem Augenwinkel.

"Wie heißt sein Geschäftspartner?"

"Weber, Peter Weber."

"Wie lange kennen sich die beiden?"

"Sie sind miteinander zur Schule gegangen."

"Würden Sie mir bitte seine Telefonnummer aufschreiben und ihn informieren, dass ich ihn sprechen möchte?"

"Er hat viel zu tun jetzt, wo Robert nicht da ist."

"Es ist leider notwendig."

Widerstrebend schrieb sie verschiedene Nummern auf das Blatt Papier und gab es Strickmann. Ihre Handschrift war keineswegs so kindlich, wie er erwartet hatte. Dann legte er das Foto und die Zeitung vor sie auf den Tisch:

"Ich bräuchte auch noch die Schlagzeile der Zeitung auf der Rückseite des Fotos."

Sie fragte nicht nach dem Grund, vielleicht war er ihr verständlich: Er brauchte eine Legitimation, falls es zu einem Gespräch mit Robert Lange kommen sollte. Lange würde ihre Handschrift wiedererkennen und die Schlagzeile der Zeitung würde beweisen, dass sein Gespräch mit Christine Lentz noch nicht lange zurücklag. Während sie schrieb, drückte Strickmann ein paar Tasten seines Handys, las eine SMS und steckte es dann ein:

"Und nun brauche ich möglichst viele Details über Robert Lange. Auch Dinge, die Ihnen völlig unbedeutend erscheinen. Ich fürchte, Sie werden sich die nächsten eineinhalb Stunden vielleicht etwas langweilen."

"Es langweilt mich nicht, über Robert zu reden."

"Dann los."

Strickmann stellte sein Diktiergerät auf den Tisch und schaltete es ein:

"Autorisieren Sie bitte die Aufnahme."

"Wie macht man das?"

"Sagen Sie: Ich bin mit der Aufnahme einverstanden."

"Christine Lentz. Ich bin mit der Aufnahme einverstanden."

"Danke. Haben Sie mit Robert Lange zusammengewohnt?"

Sie zögerte mit der Antwort:

"Eigentlich schon."

Dann nannte sie ihre Adresse in Baden-Baden.

"Und wie soll ich diese Antwort verstehen?"

"Ich denke, Sie wollen mit dieser Frage die Intensität oder die Verbindlichkeit unserer Beziehung erfahren. Sie ist sehr verbindlich und sehr intensiv. Aber formal gesehen wohnen wir nicht zusammen. Jeder von uns bewohnt ein Haus, die beiden Häuser stehen nebeneinander."

Sie nannte eine zweite Hausnummer. Wie bei armen Leuten eben so üblich, schoss es Strickmann durch den Kopf.

"An welcher Hand trug Ihr Mann die Handschelle seines Schmuckkoffers, wenn er unterwegs war?"

"Warum stellen Sie diese Frage?"

"Weil ich wissen möchte, ob er Links- oder Rechtshänder ist. Wenn ich Ihnen aber jede Frage einzeln begründen muss, sitzen wir heute Abend noch hier."

"Robert ist Linkshänder."

"Wie waren seine Gesundheit, sein Blutdruck, seine Brillenstärke? Welche Vorlieben hatte er in Bezug auf Essen, Gerüche, Kleidung, Gewohnheiten, Filme, Bücher, Wetter, Urlaub? Wie verbrachte er seine Freizeit? Bei welchen Banken hatte er Konten? Es gibt nichts, was nicht wichtig werden könnte."

Christine Lentz seufzte. Strickmann wollte ihr deutlich machen, was auf sie zukam:

"Keine Sorge. Wenn wir mit den Vorlieben fertig sind, kommen die Abneigungen."

Sie arbeiteten konzentriert. Auf jedes Stichwort erhielt Strickmann präzise Informationen und allmählich konnte er die Umrisse von Robert Lange erkennen. Sie sprach aber immer in der Gegenwart von ihm, wollte nicht zur Kenntnis nehmen, dass sein Verschwinden einen großen Einschnitt in seinem und in ihrem Leben bedeutete. Nur über ihre Beziehung und ihre Bankkonten wollte sie nicht reden. Strickmann war erst zufrieden, als er die Antworten auf die meisten verbleibenden Fragen erraten konnte.

Als sie fertig waren, überraschte sie ihn mit einer Entschuldigung:

"Ich bedauere meine Bemerkung über Ihre Professionalität. Sie war voreilig."

"Danke. Haben Ihr Mann und sein Partner eigene Stempel?"5

"Natürlich. Ihre stilisierten Initialen."

Sie skizzierte sie auf den Briefbogen.

"Könnten wir das Geschäftliche noch regeln?"

"Ich bitte Sie darum."

"Ihr Auftrag an mich besteht aus zwei Fragen: ob Robert Lange zurzeit unter der angegebenen Telefonnummer in Paris zu erreichen ist und ob eine Frau etwas mit seinem Verschwinden aus Baden-Baden zu tun hat. Dazu haben Sie mir verschiedene Informationen gegeben. Ist das so richtig?"

"Ja."

"Die Adresse, die zu dieser Telefonnummer gehört, habe ich geklärt. Ich würde noch heute losfahren, spätestens morgen."

"Wie meinen Sie das, Sie haben die Adresse geklärt?"

"Die Telefonnummer, die Sie mir gegeben haben, steht nicht auf der Roten Liste. Man kann die dazugehörige Adresse bei einer speziellen Auskunft in Frankreich erfahren. Von dort habe ich die Adresse. Es würde keinen Sinn machen loszufahren, ohne zu wissen wohin."

"Sie wissen jetzt schon die genaue Adresse in Paris?"

"Sehr wahrscheinlich."

"Mir hat jemand gesagt, man könne die französische Auskunft aus dem Ausland nicht anwählen."

"Das stimmt. Als ich vorhin Kaffee holte, habe ich eine Freundin angerufen, die gerade in Paris ist. Sie hat für mich bei der französischen Auskunft nachgefragt und mir dann eine SMS geschickt."

Christine Lentz schwieg überrascht. Sie fragte nicht einmal danach, ob der Anschluss auf einen Mann oder eine Frau eingetragen war. Und dass diese Freundin Chantal Sélain war und mit ihrem Ex-Mann und ihrem gemeinsamen Kind in Paris gerade eine Woche traute Familie spielte, ging sie nichts an. Im Übrigen kam es ihm seltsam vor, dass Chantal nie eine Galeristin erwähnt hatte.

"Wünschen Sie Beweise, die Sie einem Gericht präsentieren können?"

"Nein, das ist nicht nötig."

"Was akzeptieren Sie denn als Beweis dafür, dass keine Frau in die Sache verwickelt ist?"

Jetzt fand Christine Lentz ihre Selbstsicherheit wieder und lächelte nachsichtig-überlegen. Diese Schwierigkeit war ihr also bewusst gewesen.

Wie soll man unter diesen Umständen beweisen, dass etwas nicht der Fall ist? Selbst falls er kein einziges Indiz für die Beteiligung einer Frau fände, könnte doch irgendwo eine auf Lange warten.

"Das wäre das Ergebnis, das ich mir wünsche, Herr Strickmann. Und weil man das nicht beweisen kann, möchte ich, dass Sie für mich nach Paris fahren. Was Chantal mir über Sie erzählt hat, macht Sie über jeden Zweifel erhaben. Ich würde Ihnen einfach glauben."

"Ich kann nicht zaubern. Ich weiß nicht einmal, ob ich nach meinen Erkundigungen Ihre beiden Fragen beantworten kann. Mein Honorar beträgt 450 Euro für jeden angefangenen Arbeitstag. Dazu kommen meine Auslagen."

"Das wäre der normale Tagessatz, nicht wahr? Ich hatte Ihnen mehr angeboten. Würden Sie 550 Euro pro Tag und den Ersatz der Spesen akzeptieren, wenn ich den Auftrag auf eine Woche innerhalb von Paris begrenzte?"

"Gut, ich akzeptiere das. Sie erhalten von mir ab und zu einen Telefonanruf und dann einen Abschlussbericht. Sagen Sie mir bitte noch, wie ich Sie erreichen kann: Telefon, Handy, Fax, E-Mail."

Als sie alles aufgesprochen hatte, schaltete er das Diktiergerät aus. Sie war erleichtert und bot ihm einen Handschlag an. Er ging darauf ein und empfand einen Augenblick so etwas wie Nähe zu dieser Frau. Dann sah er ihr in die Augen. Da war viel Angst:

"Was befürchten Sie denn?"

Aber der Augenblick der Nähe war schon vorbei:

"Wenn ich irgendwelche Ängste hätte, Herr Strickmann, dann würden sie zu meiner Intimsphäre gehören."

"Selbstverständlich."

Nach einer kurzen Pause brachte er das Gespräch zu Ende:

"Würden Sie mich dann bitte bei Roberts Partner ankündigen?"

Sie nickte. Er stand auf und nahm Diktiergerät, Mantel, Zeitung und Umschlag:

"Auf Wiedersehen, Frau Lentz."

Er wandte sich um und wollte gehen. Aber sie fühlte sich etwas hilflos:

"Und wie komme ich jetzt auf die Autobahn Richtung Norden? Ich möchte nicht durch ganz Basel fahren müssen."

"Noch vor der Stadt kann man die Richtung wechseln. Aber es ist eine sehr unscheinbare Stelle. Sie ist nicht beschildert und man übersieht sie leicht. Ich fahre auch so. Sie können mir gerne folgen."

"Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen."

Er griff nach seinem Tablett, brachte es zurück und sie gingen getrennt zu ihren Wagen.

Auf dem Weg nach Hause hörte er sich die Kassette mit den Informationen von Christine Lentz an. Er wollte möglichst viele Aspekte der Persönlichkeit Robert Langes verinnerlichen. Dabei wurde er allerdings das Gefühl nicht los, dass eigentlich nur wenig zusammenpasste.

Es war für ihn immer gut zu wissen, wie er zu Menschen stand. Dadurch konnte er verhindern, dass er auf Grund seiner Sympathie oder Antipathie handelte. Lange war ihm einfach nicht sympathisch. Er konnte ihn nicht als Person wahrnehmen. Wohin er auch blickte: Er sah nur gesellschaftliche Funktionen. Robert Lange tat, was man tat. Was immer er auch anzog, kaufte oder verschenkte, wohin auch immer er ging, es hatte eine gesellschaftliche Bedeutung. Wen auch immer er traf, wofür auch immer er sich interessierte, es festigte seine Position als Mann von Welt, konnte ihm später vielleicht einmal nützlich sein. Und ein solcher Mensch sollte sein Juweliergeschäft im Stich lassen und plötzlich verschwinden? Was hatte er zu gewinnen? Falls die Geschichte von Christine Lentz stimmte, wo war dann das Motiv von Robert Lange? Worin bestand überhaupt seine Identität? Was war da noch anderes als die Rolle des Juweliers?

Strickmann fuhr in die Stadt und ging schwimmen. Außer einem ungewöhnlich großen Becken hat das Hallenbad in Lörrach eine breite Fensterfront und ist sehr hell. Der Blick geht in die Natur: im Sommer sieht man draußen nur Grün und Blau. Jetzt, im Herbst, konnte man Birken mit mächtigen weißen Stämmen sehen und zwischen einzelnen Nadelbäumen – Lärchen und Fichten – Bürgerhäuser aus den 30er Jahren. Diese Szenerie und die Bewegung im Wasser brachten ihn zunächst auf andere Gedanken. Es waren nicht viele Besucher da und er empfand die Situation als sehr angenehm.

Dann wurde ihm aber bewusst, dass seine Gedanken sich mit der bevorstehenden Fahrt nach Paris beschäftigten. Er wehrte sich nicht dagegen. Im Gegenteil, er ging mit seinen Assoziationen mit. Nach zehn Minuten war die Vorfreude auf Paris da und eine konkrete Vorstellung davon, was er dort in welcher Reihenfolge tun würde.

Und Christine Lentz?

Sie war zweifellos eine interessante Frau – wie eben die meisten Menschen mit Geld zunächst interessant sind. Sie verfügen über viele Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten. Im Detail sah das für Strickmann allerdings meistens sehr schnell ganz anders aus. Er hatte oft das Gefühl, dass diese Leute nur ihre Statussymbole zur Schau stellten und aus ihren objektiven Möglichkeiten viel zu wenig machten. Dann langweilten sie ihn. Solche Leute waren ihm keine zweite Begegnung wert. Aber diese Galeristin hatte einen Plan und wie wenig originell der auch immer sein mochte, das Geld, über das sie verfügte, gab ihm eine Bedeutung

Aus seinem Tagebuch geht hervor, dass er bei Christine Lentz die verschiedenen Aspekte ihrer Persönlichkeit zunächst nicht zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen konnte. Er war beeindruckt von der Differenziertheit ihres Denkens und ihrer Wahrnehmung. Ihm gefiel auch, dass sie eine starke Frau war, dass sie die Initiative ergreifen konnte. Ihre Kenntnisse der Kunstgeschichte und ihre Arbeit als Galeristin sah er als Kompetenzen an, die sie neben ihrem zierlichen Körperbau attraktiv machten. Aber ihre Fixierung auf Geld stieß ihn ab, ihre Bindung an Robert Lange empfand er beinahe schon als zwanghaft und ihre existenziellen Ängste waren offensichtlich. Die psychische Dynamik, die sich dahinter verbarg, interessierte ihn unabhängig von seinem Auftrag. Das war einer der Gründe gewesen, warum er seine Arbeit als Architekt aufgegeben hatte: Er wollte es nicht mehr mit totem Material zu tun haben sondern mit Menschen und er wollte ihre Gedanken und Empfindungen verstehen. Das gab ihm das Gefühl, am Leben zu sein. Aber er verbot sich in diesem Stadium der Bekanntschaft jeglichen steifen Gedanken an sie, weil er dachte, dass ihn das bei der Erledigung seines Auftrages nur stören würde. Er wollte beim Masturbieren gelegentlich bewusst erotische Phantasien in Bezug auf sie entwickeln und beobachten, wie sich das auf seinen Orgasmus auswirkte. Dann wäre sehr schnell klar, was sein Unterbewusstsein von dieser Frau hielt.

Die Formulierung was mein Unterbewusstsein davon hält ist ein wörtliches Zitat aus seinem Tagebuch. Strickmann betrachtete sein Unterbewusstsein als einen Teil seiner Psyche, der nicht seinem Willen unterworfen war und unabhängig arbeitete. Dabei war es keineswegs so, dass ihn diese Unabhängigkeit ängstigte. Es war bisher noch immer gut gewesen, wenn er darauf gehört hatte. Dadurch erklärte er sich übrigens auch das, was man Intuition nennt. Das Gedächtnis hat verschiedene Informationen gespeichert, die es selbständig zu neuen Zusammenhängen kombiniert. Manchmal finden sich fast identische Muster. Die Ergebnisse äußern sich dann in denselben Gefühlen, Empfindungen oder Assoziationen wie in der Ursprungssituation. Strickmann behandelte sie wie Fakten und integrierte sie in sein Leben.

Seine Ausrüstung war ein Schwachpunkt, weil er über keinerlei Erfahrung verfügte. Aber am Anfang ist das immer so. Er erinnerte sich an seine ersten Wandertouren, bei denen er im Wald übernachtet hatte. Zuerst hatte er nur die Erfahrungen anderer aus Büchern und seine eigene aus der ersten Situation. Bei günstigen Witterungsbedingungen hatte er es einfach ausprobiert. Mit jeder Tour kamen dann neue Einzelheiten dazu, die zu Veränderungen in seinem Kopf und in seinem Rucksack geführt hatten. Manches war überflüssig oder falsch gewesen, das hatte er korrigiert.

So wollte er es auch hier halten. In Gedanken hatte er sich schon oft mit einem solchen Auftrag beschäftigt. Es war eine Arbeit, die ihn interessierte. Er hatte viele Situationen durchgespielt und sich eine ausführliche Checkliste angelegt. Seine Ausrüstung war noch um ein paar Kleinigkeiten zu ergänzen – ein paar Lebensmittel aus seinem Kühlschrank, etwas Erde, Klebeband und falsche Visitenkarten – und die Akkus der verschiedenen Geräte mussten noch überprüft werden. Alles andere war bereits im Wagen oder zumindest griffbereit in Reisetaschen gepackt.

Danach musste er noch auf einem Stadtplan nachschauen, wo sich die angegebene Adresse in Paris befand, eine Route festlegen, ein paar Informationen über Baden-Baden recherchieren und die Angaben seiner Auftraggeberin überprüfen. Zu guter Letzt wollte er noch in seinem Altpapier wühlen und in den Zeitungen der letzten Tage die Artikel über Frankreich nachlesen. Wenn er das alles sofort erledigte, wäre vielleicht noch Zeit, in den Wald zu fahren und eine Runde zu joggen. Er wollte ausgeglichen sein, wenn er losfuhr.

In seiner Wohnung, einer umgebauten Schreinerwerkstatt in der Nähe des Krankenhauses, blinkte der Anrufbeantworter um Beachtung. Er hatte ihm drei Anfragen für seinen Kurierdienst gesammelt. Eine davon erwies sich als interessant. Die anderen beiden sagte er ab, übernahm die Firmenadressen aber in seine Kartei. Die telefonische Rückfrage ergab, dass eine Klinik in Freiburg eine Gewebeprobe in Paris analysieren lassen wollte. Etwa um 17.00 Uhr musste die Probe frisch aus dem OP übernommen werden. Da das in seinen Zeitplan passte, klärte er die Einzelheiten und übernahm den Auftrag. Für sich gesehen waren die Konditionen nicht schlecht, aber ihn interessierten vor allem die Folgeaufträge, die sich daraus entwickeln konnten. Und ausgerechnet jetzt einen Kurierauftrag nach Paris zu bekommen, das passte natürlich hervorragend.

Aber allmählich wurde die Zeit für seinen Ausgleichssport knapp, und als er Langes Partner in Baden-Baden erst nach einiger Verzögerung an den Apparat bekam, musste er endgültig darauf verzichten. Immerhin erwies sich Weber als kooperativ. Er hatte natürlich ein Interesse an Informationen über das Verschwinden seines Partners. Andererseits war es aber auch möglich, dass er von Christine Lentz schon instruiert war.

Das Gespräch mit ihm war insofern erfolgreich, als er alle Angaben von Frau Lentz bestätigen konnte. Er war sehr erstaunt über die Abwesenheit seines Geschäftspartners und konnte sich nicht im Entferntesten ein Motiv dafür vorstellen. Als Strickmann ihn auf Unregelmäßigkeiten in seinem Geschäft ansprach, verstand er die Frage zunächst gar nicht. Dann versicherte er, dass Robert Lange weder Bargeld mitgenommen noch eines der Konten geplündert hatte. Auf die Frage nach der schwarzen Kasse bestritt er eine Spur zu heftig, dass es eine solche überhaupt gäbe. Schmuck fehlte auch nicht, Weber hatte das sofort nach Langes Verschwinden überprüft. Die Firma steckte in keinerlei finanziellen Schwierigkeiten, im Gegenteil. Das Tagesgeschäft lief gut und die Rosinen, die Robert Lange international zusammengesammelt hatte, waren beträchtlich. Und selbst für den Fall, dass er nicht zurückkäme, bräuchte Weber sich keine Sorgen zu machen. Lange und Lentz bewohnten zwei eigene Villen in einem der besten Wohngebiete Baden-Badens. Die Galerie Lentz befand sich in zentraler Lage, direkt am Leopoldsplatz. Sie hatte in der letzten Zeit zwar einen leichten Umsatzrückgang hinnehmen müssen, war aber immer noch ein sehr profitables Unternehmen mit internationalen Beziehungen. Das Haus hatte fünf Etagen und gehörte Frau Lentz. Weber gab ihm die Adresse. Er bestätigte auch die Dauer der Beziehung zwischen den beiden. Über ihre Qualität wollte er sich jedoch nicht äußern, zumal er überhaupt nicht verstehen konnte, warum sie getrennt wohnten. Strickmann konnte ihm schließlich die Feststellung entlocken, dass Robert Lange kein Kind von Traurigkeit sei. Ob Frau Lentz davon etwas wusste, konnte er allerdings nicht sagen. Leibliche Verwandte des Verschwundenen waren Peter Weber nicht bekannt. Die Frage, ob es ein Testament gäbe, stellte Strickmann nicht, um ihn nicht zu beunruhigen. Das war beim aktuellen Stand der Dinge auch nicht notwendig.

Die Informationen klangen glaubwürdig und passten widerspruchslos in das bisherige Bild. Allerdings blieb die Beziehung zwischen den beiden unklar. Christine Lentz hatte offensichtlich ein großes Interesse daran, sie Strickmann gegenüber als eng und intakt darzustellen. Und was konnte Paris Robert Lange bieten, mit dem Rom nicht mithalten konnte? Er fand, dass es nicht gut aussah für Christine Lentz.

Was ihm Sorgen machte waren die Unruhen in Frankreich. Sie dauerten jetzt schon zwölf Nächte lang an. Die Anzahl der angezündeten Autos war in der Nacht zuvor zwar zum ersten Mal gesunken, aber sie war immer noch hoch. Es war keineswegs sicher, dass sie den Höhepunkt schon überschritten hatte, auch wenn sich niemand mit den Jugendlichen solidarisierte und keine politische Zielsetzung zu erkennen war. Die Tatsache, dass die Autobahnen von den Verkehrsstörungen anscheinend nicht betroffen waren, beruhigte ihn etwas. Andererseits konnte man natürlich nicht davon ausgehen, dass die Medien objektiv berichteten. Die offiziellen Stellen hatten sicher das Bestreben, die Probleme zu bagatellisieren. Trotzdem spielte dieser Aspekt eine wesentliche Rolle für seine Entscheidung zu fahren.

Im Anschluss an das Telefongespräch mit Weber belud Strickmann sein Wohnmobil mit der fehlenden Ausrüstung und fuhr los Richtung Freiburg. Da es unterwegs auf der Autobahn keine Verzögerungen gab, kam er sehr früh an der Klinik an und die Dame am Empfang bat ihn, noch etwas Platz zu nehmen. Er ging ins Patientencafé.

Dort verschmähte er die ausliegende Regenbogenpresse. Seiner Meinung nach war diese Art Lektüre eine Beleidigung für jemanden, der auch nur halbwegs lesen und schreiben konnte. Er schaute sich lieber das Leben an, das sich um ihn herum abspielte, wenn er auch die Atmosphäre nicht mochte. Schon vom Geruch bekam er ein seltsames Gefühl im Magen und die Krankenschwestern und -pfleger in ihrer weißen Kleidung verstärkten diese negative Empfindung. Zu Ärzten hatte er trotzdem kein schlechtes Verhältnis. Es war ihm bewusst, dass er ohne sie nicht mehr am Leben wäre; sie hatten ihn wiederholt dem Tod von der Schippe geholt. Deswegen war er froh, wenn er ohne sie auskam: Weiße Kittel signalisierten Gefahr.

Die Patienten allerdings, die mit ihren Infusionsständern, Rollstühlen oder Insulinpumpen das Café aufsuchten, fand er interessant. Mit jedem Zug an einer Zigarette, mit jedem Schluck Kaffee und mit jedem Spruch, den sie klopften, drückten sie ihren Lebenswillen aus. Immer war irgendwo ein Handy in Betrieb, mit dem man Kontakt aufnehmen konnte zur normalen Welt zu Hause. Hier war es auch nicht so wie in den Wirtschaften draußen, wo sich jeder an einen Einzeltisch setzt. Die Kranken suchten die Nähe der anderen. Viele konnten sich nur langsam vorwärtsbewegen und es war schon von weitem deutlich, welchen Tisch sie ansteuerten. Es geschah oft, dass jemand in ein Gespräch verwickelt war, noch bevor er Platz genommen hatte. Ein unerschöpfliches Thema waren ihnen ihre Krankheiten, die Termine der bevorstehenden Operationen und erst recht die geplanten Entlassungen nach Hause. Das, was sie emotional bewegte, musste auch versprachlicht werden: Man bewertete die Qualität der Ärzte und vor allem die des Essens. Die Unzufriedenen hatten an allem etwas auszusetzen und es gab nur Einzelne, die darauf hinwiesen, dass sie nicht wegen des Essens im Krankenhaus seien. Diejenigen, die nichts essen durften, machten ihrem Ärger dadurch Luft, dass sie die Höhe des Tagessatzes in Frage stellten. Wie konnte der so hoch sein, wo sie doch nicht einmal etwas zum Beißen bekamen? Jeder konnte einen Vortrag halten über seine spezielle Krankheit und vergaß am Ende nicht die Bemerkung, dass er sich damit viel besser auskenne als sein Arzt, denn der müsse im Unterschied zu ihm über viele verschiedene Krankheiten Bescheid wissen. Außerdem würde im Internet etwas ganz anderes stehen über die Behandlungsmöglichkeiten als das, was sie hier mit den Patienten anstellten. Andere dagegen schienen bereit, für ihren Arzt durchs Feuer zu gehen. Sie sangen Loblieder auf ihn und es fehlte nur noch, dass er auch Tote wieder lebendig machen konnte. Nur über ihre Ängste sprachen sie nicht: die schien es nicht zu geben. Aber sie waren betroffen, wenn sie draußen den Leichenwagen vorfahren sahen. Dann war zum Glück gerade die Infusionsflasche leer und sie mussten zurück auf ihre Station, sich eine neue anhängen lassen. Oder man musste zur Krankengymnastik oder man bekam ein Bad verpasst – es gab viele Gründe, warum man ausgerechnet dann nicht bleiben konnte. Letztlich waren sie alle froh darüber, zu denjenigen Patienten zu gehören, die ihr Bett verlassen und sich selbständig ins Café begeben konnten. Aber das Eis, auf dem sie gingen, war dünn. Sie wussten, dass oben auf den Zimmern ganz andere Patienten lagen – hinter sich ihr hoffnungsvolles Leben und vor sich das schwarze Nichts. Und eines Tages würden sie dort dazugehören, auch wenn sie jetzt eine ganz andere Perspektive hatten.

Strickmann hatte auch schon dazugehört. Von diesen Erfahrungen rührte sein Bewusstsein von der Kostbarkeit der Zeit und dass sich sein Leben innerhalb von Sekunden grundlegend ändern konnte: eine ungünstige Diagnose eines Arztes, eine vereiste Stelle auf der Straße oder eine kleine technische Panne an seinem Wagen, und nichts würde mehr so sein, wie es gewesen war. Daher rührte seine Abneigung gegen Partys, gegen Small Talk und gegen repräsentative Verpflichtungen. Das alles hielt ihn nur von den Dingen ab, die er für wichtig hielt: ein Gespräch mit einem Freund, eine Nacht mit einer interessanten Frau, die Lektüre eines Buches oder einen Spaziergang am Rhein. Zumindest vorläufig machte das für ihn sein Leben aus und damit wollte er möglichst viel seiner knappen Zeit verbringen.

Seine Gedanken wurden durch eine Krankenschwester unterbrochen, die ihm die Gewebeprobe brachte. Er las das Auftragsformular durch und bemerkte, dass er die Probe nur einem bestimmten Professor aushändigen durfte:

"Das war am Telefon nicht ausgemacht. Was ist denn, falls er nicht da ist?"

"Es ist ausgemacht, dass er da ist."

"Auch Professoren haben Verkehrsunfälle oder werden krank. Oder es gab einen Notfall und er steht im OP."

Die Schwester wurde unsicher, Notfall-OPs kannte sie.

"Ich kann bis 10.00 Uhr warten. Soll ich die Probe dann einfach abgeben oder wieder mit zurückbringen?"

"Einen Moment bitte, ich hole jemanden."

Nach ein paar Minuten erschien ein jovialer älterer Herr in Weiß. Sein Namensschildchen wies ihn als Professor aus. Strickmann stellte sich vor und erklärte ihm das Problem.

"Man muss nicht immer vom Schlimmsten ausgehen, junger Mann. Es ist natürlich undenkbar, dass Sie die Probe wieder mit zurückbringen. Ich rufe bei meinem Kollegen in Paris an. Sie sagten der Schwester, sie könnten bis 10.00 Uhr zu warten? Das würde reichen. Im schlimmsten Fall geben Sie es jemandem im Haus. Ich schreibe es so in Ihren Auftrag."

Wieder einmal bestätigte sich Strickmanns Erfahrung, dass am oberen Ende der Karriereleiter eine gewisse Großzügigkeit möglich ist. Haarspaltereien kommen dort viel seltener vor. Vielleicht kommt die innere Distanz, die dazu Voraussetzung ist, erst mit einer gewissen Erfahrung. Oder man weiß erst dann, wie hoch der Preis für Engstirnigkeit ist. Oder man steht nicht so sehr unter Druck.

Sie unterschrieben beide, Strickmann überflog die beiliegenden Informationen und machte sich auf den Weg nach Hause. Wäre es nicht doch besser gewesen, von Freiburg aus direkt nach Paris zu fahren? Er hätte viel Zeit gespart und unterwegs schlafen können. Das nächste Mal vielleicht. Jetzt freute er sich auf eine Dusche und sein Bett zu Hause; auf die Fahrt durch den Sundgau mit seinen carpes frites und seinen ockerfarbenen Maispflanzen auf den Feldern bis zum Horizont.

Im Dreiländereck: Einsamkeiten

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