Читать книгу Rheinabwärts - Rolf Obergfell - Страница 4
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ОглавлениеStrickmann fand die Flamingo ohne Probleme. Es war ein unauffälliger Frachter mit einem schwarzen Rumpf, einem weißen Streifen und ein paar Reibhölzern den Seiten entlang. Marit hatte eine Leiter an die Bordwand gestellt und hieß ihn willkommen, zusammen mit Luuk, ihrem Mann. Der erklärte ihm als erstes, dass an Bord jeder mit jedem per Du sei und das Deck vor allem bei Nässe ziemlich schlüpfrig. Anschließend führte er ihn zu einer freien Kammer im Bug – für einen Matrosen oder einen Lotsen, gab ihm seine Bettwäsche, zeigte ihm Bad und Küche:
"Zu Mittag kannst du mit dem essen, der gerade nicht fährt, sonst kannst du dich am Kühlschrank bedienen. Frisches Bettzeug habe ich dir gerichtet. Oben am Kaffeetisch ist ein Platz für dich. Du bist bei uns herzlich willkommen."
"Ich danke dir. Kann ich meine Tasche verstauen und dann sofort auf die Brücke gehen?"
"Klar. Du kannst dich an Bord frei bewegen. Bitte an der Technik nichts verändern und alles, was du hier mitbekommst, soll vertraulich bleiben."
"Selbstverständlich."
"Und wir nennen unseren Kommandostand Steuerhaus, nicht Brücke."
Luuk trug verwaschene Jeans und ein ausgeleiertes T-Shirt, an den Füßen schwarze Sicherheitsschuhe. Er war Mitte 40, blond und sehr schlank, fast schmächtig. Es war deutlich zu sehen, dass er körperlich weniger hart arbeiten musste als die Männer auf dem Wandgemälde des Restaurants Schiff, wenn er auch genauso braun war wie sie. Seine direkte Art würde die Kommunikation unkompliziert machen.
Strickmann packte das mitgebrachte Frischobst in den Kühlschrank und beeilte sich, in seine Kammer zu kommen. Auf dem Fenstersims sah er eine ganze Reihe von Blumentöpfen mit Orchideen. Da hatte jemand einen grünen Daumen. Aber er wollte sich jetzt nicht näher damit beschäftigen, wollte ins Steuerhaus hinauf, um zu sehen, wie das Schiff ablegte.
Neben dem Steuerstuhl im Zentrum – arrangiert wie ein Thron – befand sich ein Tisch, an dem die Besatzung ihre gemeinsamen Kaffeepausen zelebrierte. Jetzt, während der Anwesenheit Strickmanns, war das auch die Besucherecke.
Das Ablegemanöver – eine äußerst symbolträchtige Handlung – verlief seltsamerweise ganz unspektakulär. Luuk stand mit einem Walkie-Talkie auf dem Kai und wartete auf Marits Kommando. Als ihn ein Bahnarbeiter von einem Güterzug herunter ansprach, brachte er den Eisenbahner mit einer schroffen Handbewegung zum Schweigen, ganz auf das Rauschen in seinem Funkgerät konzentriert. Endlich kam das Kommando. Er nahm das Tau vom Poller und informierte Marit:
"Bug ist klar."
Fast gleichzeitig kam eine zweite Bestätigung. Ein freundliches Herauf mit euch! für Luuk und den Matrosen am Heck, noch ein paar Sekunden, damit sie an Bord kommen konnten und Marit schob zwei Hebel am Steuerstand ganz sachte nach vorne. Da heulte keine Maschine auf, es gab nicht einmal Vibrationen. Das Schiff bewegte sich kaum, aber es bewegte sich. Zur Kaimauer hin entstand eine Wasserrinne, die immer breiter wurde. Marit war hochkonzentriert, beobachtete die Bordkameras, suchte mit den Augen die Umgebung des Schiffes ab, schaute durch das Fernglas auf den Fluss, beschleunigte. Die Fahrt hatte begonnen.
Mit einem Schlag fühlte sich Strickmann im Zentrum der Welt. Alles um ihn herum bewegte sich – die Kaimauern, die Krane, die Lagerhäuser, der Pylon, der den Punkt symbolisiert, an dem die Grenzen von Frankreich, Deutschland und der Schweiz zusammentreffen, die Funkzentrale des Hafens, die ganze Stadt. Selbst der Fluss und die Landschaft jenseits der Hafeneinfahrt – sie kamen auf ihn zu, neugierig, wie um ihn willkommen zu heißen. Nur er selbst schien bewegungslos in der Mitte zu stehen. Die Wohnschiffe am französischen Ufer glänzten in der Sonne, die Leute an Bord grüßten mit einer lässigen Handbewegung herüber. Strickmann fuchtelte in der Luft herum und beobachtete heimlich Marit. Er würde ihre knappe Bewegung systematisch üben müssen oder eine ganze Weile auf einem Schiff verbringen, bis er sich so eins fühlte mit der Situation, sich so selbstverständlich verhalten konnte wie sie. Marit bemerkte seine Unsicherheit und erklärte ihm den Hintergrund:
"Diese Wohnschiffe sind meistens umgebaute Frachter. Das da drüben gehört einer älteren Dame aus Paris, einer ehemaligen Pianistin. Sie war jahrelang mit einer péniche auf dem Rhein und der Rhone unterwegs. Als sie mehr Platz wollte und ein größeres Schiff brauchte, musste sie sich entscheiden: Rhone oder Rhein. Sie entschied sich für das Dreiländereck, jetzt ist sie hier hängen geblieben. Nachdem sie in Basel ein paar Monate vertäut war, hat ihre Mannschaft gemeutert: zu langweilig, zu wenig los. Da hat sie sie bei halbem Lohn freigestellt. Wenn sie weiter will oder sie sonst braucht, müssen ihre Leute innerhalb von zwei Tagen an Bord sein. Aber ihr gefällt es hier, sie will gar nicht weg."
"Langweilt sie sich nicht?"
"Von wegen. Sie hat gemeint, das sei die beste Zeit ihres Lebens."
"Wie denn das?"
"Ihre Wochenendpartys sind legendär. Freitagabends gibt es ein Begrüßungsmenü – stundenlang. Während dieser Zeit trödeln die Leute ein9 und werden einander vorgestellt. Samstags geht es hoch her mit Bar, Buffet und Band, am Sonntag wird ausgeschlafen und wenn wir zu Mittag essen, gibt es bei denen ein Katerfrühstück. Danach verabschieden sich die Gäste allmählich, zuerst die aus Marseille, etwas später die aus Paris, zuletzt die Einheimischen. Mittlerweile will jeder eingeladen werden."
Zuerst wunderte sich Strickmann über Marits Verwendung des Wortes trödeln, bis ihm bewusst wurde, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache war. Ihre Sprachkompetenz war enorm, bis dahin war ihm kein Fehler aufgefallen.
"Jedes Wochenende Party?"
"Nicht jedes. Manchmal lädt sie sich nur einen Liebhaber ein, manchmal geht sie in die Vogesen wandern oder zum Skifahren in die Alpen. Als wir dabei waren, war es eigentlich keine richtige Party. Da hatte sie lauter Schriftsteller eingeladen. Kaum hatten die ihre Trinksprüche losgelassen und ihre Vorspeise zerdrückt10, ging es los mit den Diskussionen: Wann die epische Vergangenheit in der indirekten Rede angewendet werden müsse und wann die Zwergengegenwart notwendig sei, solcher Schreibkram eben. Es war ziemlich öde, bis jemand den Vorschlag machte, sie sollten doch ihre Standpunkte mit Beispielen aus ihren eigenen Texten belegen. Da haben sie vorgelesen – von den eitlen Gockeln hatte jeder seine Bücher dabei. Am Anfang gab es ziemlich viel Beifall, aber als der Alkoholpegel gestiegen war, kam die erste vorsichtige Kritik und schließlich endete das Ganze in wüsten Beschimpfungen. Einer aus Marseille lästerte über die redundanten Nullmorpheme eines Parisers – was immer das auch sein mag –, ein anderer bemängelte den Aufbau eines Textes bei einem superbekannten Autor aus der Provinz: Überall fehle bei dem der Plot, und zwar in allen seinen Texten – durchgängig. So wurde das Wort zum Schlager des Abends: Es wurde durchgängig gelästert und durchgängig gebechert, einer ging durchgängig an Deck, um immer wieder frische Luft zu schnappen, und einer, der die Austern nicht vertrug, saß durchgängig auf der Toilette. Als ein junger Schnösel einem älteren Goncourt-Preisträger vorwarf, er würde Tag für Tag die Sprache vergewaltigen, schüttete der ihm sofort ein Glas Rotwein ins Gesicht. Ein Verbrechen sei das, erwiderte der Junge, einen solchen Wein auf diese Art und Weise zu verschwenden. Aber das sehe diesem arrivierten Fuzzi ähnlich, einen 1978er vom Château Lafite-Rothschild nicht von einem Johannisbeersaft unterscheiden zu können."
Marit musste bei diesen Erinnerungen noch einmal schmunzeln:
"Luuk war sehr beeindruckt von solchen Weinkenntnissen. Dabei habe ich genau gesehen, wie der Junge einige Zeit vorher das Etikett gelesen hat. Ich habe mir die Flasche später etwas genauer angesehen und auf dem Boden noch ein Preisschild gefunden: 520 Euro – und es war weniger als ein Liter. Das Ganze endete damit, dass sich eine Dreiergruppe zu Siegern erklärte, weil sie die anderen locker unter den Tisch gesoffen hatte. Und das meine ich wörtlich: Sie saßen unter den Tischen auf dem Fußboden, lümmelten neben einer Couch in irgendeiner Ecke oder lagen in leeren Fächern der Bücherregale – es war schlicht niemand mehr in der Lage zu widersprechen. Beim Literarischen Frühschoppen im Fernsehen bekommt man so etwas nicht einmal ansatzweise geboten. Trotzdem reicht mir eine solche Party. Das waren alles ziemlich abgedrehte Leute, von richtiger Arbeit haben die keine Ahnung – und von Schiffen zweimal nicht. Von denen wusste keiner, dass ein Plot ein Schaubild ist mit allen äußeren Faktoren, die den Kurs eines Schiffes beeinflussen: Wind, Strömung, andere Schiffe, Hindernisse im Wasser. Und keiner von diesen Schreiberlingen stellte die Frage, wo eigentlich das Geld der Gastgeberin herkam. Jemand hat das ja irgendwann einmal verdienen müssen."
"Und was hat sie sich dabei gedacht, euch zu so einer Runde einzuladen?"
Strickmann sah, dass sich vorne die neue Fußgängerbrücke näherte, eine filigrane Konstruktion aus silberfarbenen Stahlträgern und dünnen Drahtseilen mit flatternden Fähnchen zum Schutz der Vögel. Sie war für die Anwohner inzwischen selbstverständlich und vereinfachte die Verbindung von Weil nach Huningue sehr.
"Es war das Wochenende nach der Basler Fasnacht. Am Mittwoch davor hatte sie einen ihrer berüchtigten Landgänge unternommen, sich von einem Chauffeur mit Rolls Royce abholen lassen und war durch die rappelvollen Basler Keller gezogen – Schnitzelbänke hören. Die Atmosphäre dort ist in der Tat etwas Besonderes, die Leute sitzen auf den Theken, auf Treppen oder zu zweit auf einem Stuhl, freie Stehplätze gibt es keine mehr, Sitzplätze zweimal nicht. Aber verstanden hat sie wahrscheinlich nicht viel. Das spielt sich alles im Basler Dialekt ab und die meisten Glossen drehen sich um die Lokalpolitik – von beidem hat sie keine Ahnung. Als sie kurz nach Mitternacht zurückkam, war sie ohne Begleitung, hatte ziemlich Schlagseite und fiel über Bord. Wir kamen gerade angedampft und ich suchte über Funk einen freien Platz zum Löschen am nächsten Tag. Luuk warf ihr einen Rettungsring zu und zog sie heraus, er musste dazu nicht einmal ins Wasser. Mit der Einladung hat sie sich bedankt."
"Und Luuk, wie fand der das?"
"Er kam sich vor wie im falschen Film, bis sie anbot, ihm das Schiff zu zeigen. Sie waren eine volle Stunde verschollen und ich weiß nicht, ob er viel gesehen hat von dem Kahn."
Strickmann schaute überrascht, hob aber nur eine Augenbraue. Marit fuhr fort:
"Mir soll es recht sein, wenn eine attraktive Französin abfährt auf ihn. Vielleicht bringt ihn das ein bisschen auf andere Gedanken."
"Wovon soll es ihn denn ablenken?"
"Er fühlt sich isoliert auf dem Schiff, ihm fehlen immer noch seine Kumpel von früher. Und das schlägt ihm aufs Gemüt."
"Fährt er schon lange?"
"Seit wir uns kennen – 15 Jahre."
15 Jahre Sehnsucht – eine lange Zeit. Vielleicht hatte er schon früher gar nicht gewusst, wie viel ihm seine Jugendfreunde bedeuteten: Sie waren selbstverständlich da und wann immer er einen von ihnen sehen wollte, konnte er das ohne großen Aufwand haben. Aber auch das würde nicht bleiben, wie es einmal gewesen war: Manche zogen weg, manche hatten kleine Kinder und keine Zeit mehr, jedes zweite Wochenende ins Stadion zu gehen und hinterher um die Häuser zu ziehen. War ihm das nicht bewusst? Oder sehnte er sich am Ende nach früher, nach seiner Jugend? Niemand würde ihm diese Zeit wieder zurückbringen können und je schneller er das begriff, desto besser für ihn. Strickmann erinnerte sich: Auch er kannte solche Phasen in seinem Leben.
Marit machte weiter kein Aufheben von der Situation. Vor dem Abendessen habe die Gastgeberin ihr unfreiwilliges Bad im Fluss zum Besten gegeben, die ganze Gesellschaft habe das Paar vom bateau hochleben lassen – das war's. Über ihre Sprachkenntnisse verlor Marit kein Wort.
Auf dem Radarschirm kam jetzt eine Gabelung ins Bild, sie waren schon am Beginn des Grand Canal d'Alsace. Strickmann hatte davon nur gehört, war selbst aber noch nie dort gewesen. Natürlich benutzt niemand diesen ellenlangen offiziellen Namen – die Anlieger sprechen vom Kanal und jeder weiß, was gemeint ist. 1970 sei der Bau fertig geworden, seitdem laufe es mit dem Warentransport wie geschmiert. Der rechte Arm der Verzweigung war der Beginn des Altrheins, auf dem schon nach wenigen Metern das Stauwehr Märkt zu sehen war.
Marit veränderte die Verstärkung des Radars:
"Weißt du zufällig, was das hier ist, diese Struktur?"
Sie deutete auf ein paar senkrecht verbundene Verstrebungen im Altrheinarm.
"Das sind Trägerteile des alten Kraftwerks in Märkt. Im 2. Weltkrieg ist es von den Briten bombardiert worden. Ein paar große Eisenteile liegen heute noch im Flussbett und ragen wie Gerippe aus dem Wasser."
"Das konnte mir noch niemand sagen. Woher weißt du das?"
"Das wissen die Alten hier. Ich war damals natürlich nicht dabei."
Da wurde Strickmann bewusst, dass sie die neue Fußgängerbrücke schon längst passiert hatten. Als sie unter ihr durchkamen, hatte er nicht auf sie geachtet, war zu sehr konzentriert auf Marits Erzählung. Dabei war er an Bord gekommen, um die Welt vom Wasser aus zu sehen – und nun ließ er sich so leicht ablenken.
Marits Mann kam mit einem Tablett aus der Küche, brachte die Kaffeeutensilien. Noch bevor er sie abstellte, zog er ein Paar Hausschuhe an, das bei der Garderobe stand. Erst da fiel Strickmann auf, dass auch Marit besondere Schlappen trug. Er zog seine Schuhe auch aus, stellte sie vor die Tür. An der Garderobe bemerkte er mehrere Schwimmwesten.
Luuk machte Marit eine Tasse mit Milch und Zucker, stellte sie in Reichweite ihres Steuerstuhls. Dann schob er die Thermoskanne zu Strickmann hinüber und setzte sich zu ihm an den Tisch:
"Bei uns gibt es zwischen drei und vier Uhr Kaffee, wenn es das Schiff erlaubt. Heute ist es ein bisschen später. Wie trinkst du deinen Kaffee?"
"Ist das frische Milch?"
"Yep, fast so gut wie in Holland."
"Bitte auch mit Milch."
Und zu Marit gewandt:
"Ist Vali informiert?"
Marit nickte, Vali würde gleich kommen. Für sich selbst übergoss Luuk ein paar grüne Blätter mit heißem Wasser und wappnete sich mit Geduld:
"Marokkanischer Minztee mit viel Zucker – das Größte."
"Gehst du nach deinem Tee schlafen?"
"Ich glaube schon."
"Versuchst du es mal ohne Schlafmittel? Vielleicht habe ich Lust, dich zu wecken, wenn ich festgemacht habe."
"Das sind ja hervorragende Aussichten. Aber ich möchte eigentlich, dass du mich auf jeden Fall weckst, kurz vor dem Hafen in Kehl."
"Warum das denn?"
"Ich habe das Ding eingefädelt, also möchte ich auch dabei sein, wenn genäht wird."
Strickmann verstand nicht, wovon die Rede war, und keiner von beiden machte irgendwelche Anstalten, ihn aufzuklären. Er getraute sich nicht zu fragen, bediente sich aus der Thermoskanne mit Kaffee, goss viel Milch dazu und hing seinen Gedanken nach.
Nun kam Vali, der dritte Mann der Besatzung. Strickmann hatte ihn überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen. Vali betrat das Steuerhaus völlig geräuschlos. Er hatte strahlend blaue Augen und ein offenes Gesicht. Leider war er nicht besonders gesprächig, sein deutscher Wortschatz war ziemlich beschränkt. Er war Rumäne und wenn er nicht auf dem Schiff war, lebte er bei Teneswar in einer 20.000-Einwohner-Stadt. Sein Freund Zenon habe ihm vom Westen vorgeschwärmt, da sei er mitgegangen. Er habe Hypotheken auf seinem Haus. – Wo denn dieser Zenon arbeite? – Auch hier auf der Flamingo, zurzeit sei er allerdings krank. Das mache die Situation etwas einsam für ihn, er habe niemanden, mit dem er sich auf Rumänisch unterhalten könne.
Nach dem Kaffee ging Strickmann mit ihm nach vorne in den Bug und ließ sich seine Arbeit erklären: Im Sommer arbeitete er im Freien, war zuständig für die Reinigungsarbeiten und strich alle Metallteile. Jetzt war er gerade mit der Reling an Backbord beschäftigt. Im Winter war er unter Deck, renovierte einzelne Kammern. – Und die Arbeitsbedingungen? – Er würde in Rumänien 300 Euro im Monat verdienen, hier 1.200 netto. Das sei das Vierfache. Damit könne er die Hypotheken auf seinem Haus abbezahlen. Außerdem sei er nach zwei Wochen auf dem Schiff zwei Wochen zu Hause und bekomme die An- und Abreise mit dem Bus bezahlt. Alles in allem sei das nicht schlecht. Nur die Filipinos machten ihm Angst. – Welche Filipinos? – Es arbeiteten immer mehr Filipinos in Europa und die bekämen nur Lohn, wenn sie auch auf dem Schiff seien. Die würden damit für das halbe Geld arbeiten und auch keine Buskosten verursachen. Dazu machte er eine sorgenvolle Miene: Hoffentlich könne er noch recht lange bei Luuk und Marit bleiben.
Das Gespräch war langwierig und mühsam. Sie verständigten sich hauptsächlich durch Gesten und Stichwörter, Strickmann musste viel umschreiben. Aber ab und zu ging ein Lächeln über Valis Gesicht, er fühlte sich verstanden und nickte heftig.
Zurück im Steuerhaus, fragte Strickmann ohne jegliche Einleitung:
"Warum ist denn das Ablegemanöver so ritualisiert: Mach los! – Bug ist frei, Heck ist frei? Das ist doch keine Sache, ein Tau von einem Poller zu nehmen."
Luuk bekam einen herablassenden Gesichtsausdruck, Marit erklärte:
"So denken alle Landratten und bis zu einem gewissen Punkt haben sie ja auch recht. Nichts ist eine große Sache auf einem Binnenschiff – solange alles funktioniert, wie es soll. Die Kunst ist, alles zu können und zu erkennen, wann was notwendig ist."
Diesen Standpunkt kannte Strickmann nur von absoluten Könnern. Solche Leute haben es nicht nötig, überall Gefahren zu sehen und dadurch ihre Fähigkeiten größer erscheinen zu lassen. Sie lösen ihre Aufgaben, wie sie auftauchen, machen darum kein großes Getue. Es konnte eine interessante Fahrt werden.
Marit war aber noch nicht zu Ende:
"Was meinst du, was hier los ist, wenn wir zum Beispiel durch starken Seitenwind abgetrieben werden? Oder wenn sich irgendwo im Fluss eine neue Sandbank gebildet hat und wir auf Grund laufen? Die Kosten und der Verdienstausfall, die damit verbunden sind, können dir finanziell das Genick brechen. Hier muss alles optimal laufen. Als ich noch Matrosin war, habe ich einmal eine richtige Katastrophe erlebt: Während eines Ablegemanövers unterhielt sich ein Kollege am Poller mit einer Frau, die sich gerade von ihm verabschiedete. Als er auf das Kommando des Schiffsführers nicht reagierte, kam die Frage, ob das Heck frei sei. Der Matrose nickte und der Schiffsführer gab Gas. Hinterher stellte sich heraus, dass das Nicken keine Antwort auf die Frage des Schiffsführers sein sollte, sondern auf eine Frage dieser Frau. Bei einem richtig einbetonierten Poller ist in so einer Situation das Drahtseil das schwächste Glied: Bei mehr als 16 Tonnen Belastung reißt es. Die beiden Teile peitschen mit einer solchen Gewalt durch die Luft, dass alles niedergemäht wird, was ihnen im Weg steht. In diesem Fall stand der Kollege im Weg und es traf ihn am Bauch. Als die Sanitäter endlich da waren, haben sie als Erstes die herausgequollenen Därme eingesammelt. Nach einer Stunde war er tot. Wie du ja festgestellt hast, wäre es keine große Sache gewesen, das wird tausendmal gemacht jeden Tag ..."
Marit wurde von ihren Erinnerungen übermannt, hatte plötzlich eine belegte Stimme. Luuk suchte in einer Schublade nach einer Packung Papiertaschentücher und reichte sie wortlos hinüber. Dazu legte er ihr eine Hand auf eine Schulter.
"Danke, du bist ein Schatz."
Als er nach einer Weile immer noch so dastand, meinte sie:
"Es ist schon gut. Du kannst ruhig schlafen gehen."
Luuk leerte seine Tasse mit dem Wundertee aus der Wüste und machte sich auf den Weg in sein Bett. Strickmann folgte ihm mit den Augen und war beruhigt, als er sah, dass selbst der Schiffsführer die Treppe zum Deck rückwärts hinunterging – sie war ihm extrem steil vorgekommen. Er würde es genauso machen.
"Und warum verwendet ihr nicht Leggo! als Kommando?"
"Das ist seit etwa 20 Jahren groß in Mode, man hört es überall. Wegen der großen Personalprobleme hat man in Holland Mitte der 90er Jahre angefangen, Leute aus Tschechien einzustellen. Die sind gut ausgebildet und haben eine Menge Erfahrung durch ihre Arbeit auf der Elbe. Angeblich haben die das Kommando mitgebracht und seitdem gilt es als schick. Wir hatten einmal einen Matrosen aus Tschechien, den habe ich danach gefragt. Und siehe da: Im Tschechischen gibt es das Wort gar nicht. Ein alter Lotse aus Duisburg, mit dem ich auch darüber gesprochen habe, hat nur nachdenklich den Kopf geschüttelt: Das Kommando gab es schon zehn Jahre, bevor die ersten Tschechen in Holland ankamen. Wir auf der Flamingo verwenden meistens Mach los! und jeder weiß, wie er darauf antworten muss."
Nach wenigen Kilometern, wenn der Kanal den Reiz des Neuen verloren hat, kommt Langeweile auf. Die Landschaft wird eintönig und zerschnitten von den schnurgeraden Begrenzungslinien des künstlich angelegten Flussbettes. Die kahlen grauen Betonplatten, mit denen es eingefasst ist, wirken zunehmend öde und tot, signalisieren die Eindimensionalität dieser Wasserstraße. Es ging den Erbauern um den Profit durch einen rationellen Transport, um nichts anderes. Dafür haben sie die Landschaft zugemauert und den Tieren ihren natürlichen Lebensraum genommen. Da ist kein Buschwerk mehr, in dem Vögel ihre Nester bauen oder Mäuse Schutz vor Räuber finden könnten, nirgendwo Schilf oder ins Wasser hängende Pflanzen, die den Fischen Unterstände böten. Kein Wunder, jagen hier keine Graureiher, sind nirgendwo eine Ente oder auch nur ein einziger Schwan zu sehen.
Selbst das Wasser erscheint künstlich: keine Wirbel, keine Wellen, nichts, was seinen Sauerstoffgehalt erhöhen würde. Es fließt träge, mühsam, als ob es nichts zu tun hätte mit der künstlich angelegten Landschaft, die es durchquert. Das ist kein Fluss mehr, das ist nur Wasser in einer betonierten Bahn. Es fällt schwer sich vorzustellen, dass hier unter dem Pflaster ein Strand liegen soll, dass in diesem Wasser vielleicht sogar Fische schwimmen. Da verwundert es nicht, dass eine alte Frau auf den Treppen sitzt und sich die letzten Strahlen der untergehenden Sonne ins Gesicht scheinen lässt – mutterseelenallein.
Das Gegenstück dazu kannte Strickmann aus dem Kunstmuseum in Basel. Es ist ein Gemälde von Peter Birmann, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Verlauf des Rheins gemalt hat – das Wasser ist übersät mit so vielen kleinen Inseln, mit so viel überquellendem Grün, dass eine Fahrrinne kaum zu erkennen ist. Und überall wuchernder Wald, Sandbänke und Ufer mit Pflanzenbewuchs – Natur pur.
Da die Pappelreihen rechts und links ihn nicht mehr interessierten, schaute er sich die Ladung genauer an. Wie im Hafen auch hier die genormten Metallkisten, die überall zu sehen sind, wo Waren transportiert werden: Vom Bug bis zum Heck stapeln sich im Laderaum zwei Lagen 40-Fuß-Container in allen Farben. Für den Transport auf der Straße wird für jeden einzelnen ein eigener LKW benötigt. Trotzdem – seit Strickmann sie beim Laden hatte durch die Luft schweben sehen, kamen sie ihm vor wie aneinandergereihte Streichholzschachteln, mit einer Containerbrücke einzeln aufgestapelt, im Ladeplan registriert und jederzeit auffindbar. Manche waren so neu, dass ihre Lackierung in der Sonne glänzte, andere mit stumpfer Oberfläche und großen Rostflecken.
An fast allen waren Drähte zu sehen, wie wenn es notwendig gewesen wäre, die Ladung gegen Verrutschen zu sichern. Aber bei einem Gewicht von 27 Tonnen ist das durch einen dünnen Draht natürlich nicht möglich.
"Was sind denn das für Drähte, die da überall zu sehen sind?"
"Das sind keine Drähte, das sind Stromkabel. Unsere Ladung besteht aus Medikamenten und Schokolade und muss deswegen gekühlt werden, heute hatten wir 31 Grad Lufttemperatur. Aus diesem Grund haben wir die Ladeluken geöffnet, der Fahrtwind kühlt auch. Schokolade darf nicht wärmer werden als 15 Grad, für Medikamente liegt die Grenze bei 20. Wenn das überschritten wird, haben wir ein Problem – ein ziemlich großes sogar. Die Temperaturregelung funktioniert über Kühlaggregate an jedem einzelnen Container und dazu braucht es Strom."
"Jeder einzelne Container hängt am Strom und kann individuell geregelt werden?"
"Ja."
"Ist das nicht ein bisschen umständlich?"
"Mit der Regelung der Temperatur haben wir nichts zu tun, das machen sie im Hafen mit dem Computer. Wir müssen nur für die Stromzufuhr sorgen."
"Und was ist über Nacht, wenn die Maschine gar nicht läuft?"
"Unser Strom kommt nicht von der Hauptmaschine, dafür ist der Verbrauch zu groß. Für die Stromproduktion haben wir einen eigenen Generator, der auch nachts läuft, den Jokel. Ich zeige ihn dir, wenn wir im Maschinenraum sind."
"Das Verladen und Löschen solcher Container ist demnach ziemlich mühsam?"
"Würde ich nicht sagen. Luuk muss nur einen Stecker einstecken, aber er ist ja sowieso dabei, wenn die Container bewegt werden."
"Macht das nur er?"
"Meistens jedenfalls. Mir macht das Laden keinen Spaß, ich fahre lieber. Luuk geht da auf mich ein."
"Und warum habt ihr nur so wenig Container geladen? Die reichen ja nicht einmal bis zur Bordkante."
"Wir sind ein Mehrzweckfrachter, ein multi purpose carrier. Da wir keine Stabilitätsberechnung haben, sind uns nur zwei Lagen erlaubt."
"Heißt das, ihr transportiert vor allem andere Güter – Kohle, Getreide, Schrott?"
"Genau, wir fahren, was gerade kommt. Für dazwischen gibt es Reinigungsvorschriften, das ist ziemlich streng geregelt."
"Irgendwie bin ich beeindruckt. Das ist alles viel komplizierter als es aussieht."
"So geht es den meisten Leuten. Viele meinen, wir würden mal eben ein paar Blechkisten hin und her transportieren."
Strickmann schwieg. Diese Marit beherrschte nicht nur alles, was mit ihrem Schiff zusammenhing, sie wusste auch genau, was den Leuten durch den Kopf ging, die an Schleusen oder Brücken so freundlich herunterwinkten – oder an Bord kamen, um ein Stück mitzufahren.
An Steuerbord tauchte hinter dem Wald der Isteiner Klotz auf, ein gewaltiger Brocken aus Kalkstein. Auf Grund von eingeschlossenen Ammoniten konnten die verschiedenen Schichten einzelnen erdgeschichtlichen Perioden zugeordnet werden. Grob gerechnet ist er 160 Millionen Jahre alt und gehört in die Periode des Jura, die man Oxfordium nennt.
Das Gebiet des heutigen Süddeutschland war damals vom Jurameer bedeckt, dessen Grund etwa 1.000 Meter höher lag als heute der Feldberg, die höchste Erhebung des Schwarzwaldes. Dieses Meer trocknete aus und es entwickelte sich eine Landschaft, die der heutigen Tundra ähnlich war. Während der Grabenbrüche und der Erosion, die im Laufe der letzten 30 Millionen Jahre stattfanden, wurde das Kalkstück, das heute Isteiner Klotz heißt, unterspült. Es rutschte als Ganzes ab und versperrte dem Wasser den Weg nach Norden, so dass der Rhein durch das Rhonetal ins Mittelmeer abfließen musste. Das war vor 3,5 Millionen Jahren und daran kann sich niemand mehr so richtig erinnern. Trotzdem gab es im Gebiet des heutigen Deutschland auch damals einen Rhein. Dieser Ur-Rhein entsprang südlich des Kaiserstuhls und mündete dort ins Meer, wo heute Köln liegt. Das Land von dort bis zur Nordsee ist seitdem angeschwemmt worden. Das ist eine Menge Material, aber der Fluss hat auch lange Zeit gehabt dafür. Von der Stelle des heutigen Bodensees mit einer Tiefe bis 250 Meter fließt der Rhein seit 800.000 Jahren nach Westen, vorher mündete er nordöstlich in die Donau. An den Bodensee, die Grenze zwischen Alpenrhein und Hochrhein, hat damals allerdings noch niemand gedacht, der ist erst 17.000 Jahre alt.
Die Gegend um den Isteiner Klotz ist aber nicht nur für uns heute interessant, sie war es auch schon für die Menschen der Mittleren Steinzeit, deren geologische Kenntnisse noch nicht ganz so differenziert waren. Für sie standen Aspekte der unmittelbaren Nützlichkeit im Vordergrund: Sie siedelten an Flüssen und bevorzugten dabei aus einem Schutzbedürfnis heraus erhöhte Punkte in der Landschaft. Dadurch hatten sie sowohl einen fantastischen Ausblick und die damit verbundene Vorwarnzeit als auch Geländevorteile, falls es tatsächlich zu einem Angriff kam. Außerdem waren sie so bei Überschwemmungen vor dem Hochwasser sicher. Der Basler und der Breisacher Münsterhügel waren solche Orte oder eben der Isteiner Klotz. 1939 wurde in der Nähe beim Bau der Eisenbahnlinie eine Höhle entdeckt. Archäologische Grabungen ergaben, dass die Menschen der Steinzeit dort systematisch Jaspis abgebaut hatten – der Stoff, aus dem ihre Werkzeuge und ihre Träume waren. Zum Glück fanden sie heraus, dass der Kalk, in den die faustgroßen Knollen eingebettet waren, durch Feuer und Wasser aufgelockert werden kann. Sie entzündeten also vor den Kalkwänden Holzfeuer, löschten mit Wasser ab und brauchten nur noch den weichen Kalk zu entfernen und die Jaspisknollen einzusammeln. Damit machten sie sowohl sich selbst glücklich als auch die heutigen Archäologen, denen es mit den übrig gebliebenen Holzkohleresten und der C14-Methode gelang, diesen Jaspisbergbau zeitlich zu bestimmen: Er fand um 4200 v. Chr. statt. Die Menschen am Rhein verfügten damit über den klassischen Rohstoff ihrer Epoche, aus dem sie Spitzen für Pfeile, Lanzen und Speere herstellen konnten, dazu Schaber, Kratzer und Messer. Die Schneiden dieser Werkzeuge waren so scharf wie unsere heutigen Rasierklingen und machten aus ihren Distanzwaffen tödliche Geschosse, mit denen sie selbst Großwild und Raubtiere der damaligen Zeit erlegen konnten: wollhaarige Nashörner, Mammute, Steppenwisente und Höhlenbären.
Im kleinen Museum des Nachbarstädtchens sind Baggerfahrer, Landschaftspfleger oder Tiefbauarbeiter willkommene Gäste. Und sie kommen gerne. In Milchkannen, Obstschalen oder eingewickelt in Zeitungspapier bringen sie, was sie so gefunden haben bei ihrer Arbeit: Stücke steinerner Beilklingen oder Pfeilspitzen, Tonscherben von irdenen Krügen, römische Ziegel oder Fibeln aus Bronze und Eisen. Das alles ist wissenschaftlich belanglos, denn es ist schon tausendfach vorhanden, aber es bestätigt immer wieder aufs Neue: Alle waren sie da in der Rheinebene – alle.
Unmittelbar neben dem Kanal, jenseits einer künstlichen Insel zum Wald hin, fließt der alte Rhein, umgeben von einer variantenreichen Vegetation. Dichtes Buschwerk wechselt ab mit Teppichen von gelben Sumpfdotterblumen, im flachen Wasser liegen große Steine, an denen sich die Strömung bricht. Die Biologen unterscheiden in diesem Wald acht verschiedene Stockwerke. Wo es abgestorbenes Gehölz gibt, kann man Spechte hämmern hören und manchmal ruft ein Kuckuck. An einer Stelle fließt der Fluss durch ein Gewirr von Felsen, hat sie unterhöhlt oder Gräben hineingefressen, hat den Kalk ausgewaschen und Löcher gebildet wie in einem Schweizer Käse.
Diese Schwellen sind erst um 1904 aufgetaucht, weil der Wasserspiegel als Folge der Rheinbegradigung durch Tulla allmählich gefallen ist. Im Dorf Istein gibt es einen Felsen, an dem die erodierende Kraft des Wassers deutlich zu sehen ist – er liegt acht Meter höher als der heutige Wasserstand des Flusses. Im Bericht über die erste Fahrt eines Schleppzuges von Straßburg nach Basel werden diese Schwellen in der Literatur zum ersten Mal erwähnt11. Solche Schleppzüge sind heute nur noch flussaufwärts der Mittleren Brücke in Basel zu sehen.
Nur die geschicktesten Paddler schaffen es durch diese Stromschnelle, wo das Wasser aus weißem Schaum zu bestehen scheint, in Wirklichkeit aber mit den Booten spielt wie mit abgefallenen Blättern im Herbst. Diejenigen, die um ihre Grenzen wissen, steigen aus, tragen ihre Boote um die Felsen herum und setzen sie flussabwärts wieder ein. Das Gelände ist günstig dafür, das Ufer flach, denn der Fluss hat Sand angeschwemmt.
Im Sommer findet schon frühmorgens eine regelrechte Invasion durch Großfamilien statt. Sie schleppen alles ans Wasser, was sie brauchen für einen erholsamen Tag: Getränkekisten, Kühlboxen, Gummiboote und Sonnenschirme, obwohl es mächtige Baumkronen gibt, die Schatten spenden. Manche bringen Holzkohle mit, andere ganze Campingausrüstungen. Hier kann man türkische Paschas sehen und italienische Matronen, die gemeinsam mit Einheimischen versuchen, ein Feuer in Gang zu setzen und überhaupt nicht verstehen können, warum das so schwierig ist. Ihre Kinder haben keinerlei Verständigungsschwierigkeiten, bilden Gruppen und können stundenlang ungestört spielen. Sie bauen Staudämme oder haben alte Vorhänge dabei, mit denen sie Jungfische fangen, die nicht länger sind als ein Fingernagel. Die älteren bauen Wasserräder oder sogar eigene Angelruten. Mit schier endloser Geduld biegen und schleifen sie Draht zu Haken oder entwirren ganze Knäuel von Plastikschnüren, die sie auf dem Rheinuferweg entlang des Flusses gefunden haben. Sie empfinden es als Zuwendung, wenn ein Erwachsener aus ihrer Familie sie zurückruft zum Ufer oder ihnen aufträgt, sich eine Weile in die Sonne zu setzen und aufzuwärmen. Sie fühlen sich behütet. Die richtig großen sammeln Brennholz für ein Lagerfeuer und um die Mittagszeit ist die Luft geschwängert von Bratenduft. Die kleinen allerdings wollen nichts wissen von halben Hähnchen oder Lammkoteletts. Sie haben Interessanteres zu tun, entdecken andauernd eine neue Welt und erscheinen erst am Feuer, wenn sie richtig Hunger haben. Aber kaum haben sie ein paar Bissen gegessen, verschwinden sie wieder Richtung Wasser.
In der Nachbarschaft, wo das Gras höher steht und das Unterholz dichter, haben Liebespärchen und FKK-Anhänger ihre Plätze, flussaufwärts die Heteros, flussabwärts nach einer Kiesbank die Homos und ab und zu ragt irgendwo ein sich auf und ab bewegender Kopf über das Gras hinaus. Nicht alle wissen um diese Gebietsaufteilung, aber niemand fühlt sich gestört. Manchmal steigt eine Gruppe Wanderer für einen Badetag aus dem Schwarzwald herunter oder ein paar europabegeisterte Japaner unterbrechen ihre Tour entlang des Rheins und bauen ein Zelt auf. Sie wollen es sich ein paar Tage lang gut gehen lassen, bevor sie ihren geplanten Aufstieg in die Alpen in Angriff nehmen. Wenn dann abends die Gitarren oder Saxophone ausgepackt werden und der französische Rotwein um das Feuer kreist, werden sie eingeladen und sind völlig erstaunt: Was sie gerade erleben entspricht so gar nicht ihrem bisherigen Bild von Sauerkraut und Lederhosen in Deutschland.
Nach wenigen Kilometern erscheint die erste von zehn Schleusen auf dem Weg zum Meer. Aus Strickmanns Tagebuch geht deutlich hervor, dass sie für ihn einen Rest von Magie bedeutete in einer technisch durchrationalisierten Welt:
"Die Schleuse Kembs, meine erste. Bei unserer Ankunft ist sie offen, wir können sofort einfahren. Der Schleusenwärter schließt das dicke Tor und eigentlich könnte es gleich losgehen. Im Prinzip ist es nichts Dramatisches: Das Wasser wird abgelassen, wir fallen und wenn wir das untere Flussniveau erreicht haben, fahren wir weiter. Aber irgendwie geschieht nichts und ich weiß nicht, worauf wir warten, schaue immer wieder nach dem Poller, den ich mir als Fixpunkt für unseren Abstieg gewählt habe. Als ich mich nach oben orientieren will, erschrecke ich: Die Wände der Schleuse ragen schon über zwei Meter in die Luft und ich fühle mich eingesperrt. Das Wasser sinkt weiter und die Betonwände der Schleuse wachsen in den Himmel, langsam, unaufhaltsam. Mein Fixpunkt ist nicht fix. Es ist ein Schwimmpoller, der an einer vertikalen Stange entlangläuft und mit dem Wasser fällt.
Die Wände der Schleusenkammer sind mit Moos und Flechten überzogen, die Eisenleitern, die im Wasser enden, verrostet und glitschig. Es sieht eklig aus und es wird düster. Ich fühle mich wie in einer Schlucht im Gebirge, die senkrecht abfallenden Wände erdrücken mich fast. Das Wasser ist dunkel, drohend. Marit bemerkt meine Beklemmung:
'Keine Angst, wir haben es gleich geschafft. Ist es dein erstes Mal?'
Ich nicke.
'Das geht allen so. Und manche Schleusen haben sogar noch einen größeren Höhenunterschied. Aber bis es soweit ist, hast du dich daran gewöhnt.'
Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen will. Die Sonne kann ich jedenfalls nicht mehr sehen, dazu ist mein Blickfeld zu eng geworden. Ich bin froh, als es nicht mehr weiter abwärts geht, aber vorwärts geht es leider auch nicht. Wieder eine Erklärung: In der Binnenschifffahrt gehe alles langsam und es würde immer eines nach dem anderen erledigt, weil selbst der kleinste Fehler verheerende Folgen haben könne. Der Schleusenwärter müsse noch etwas mit einem Tanker klären, der zu Tal vor der Schleuse warte. Auch wenn es kein Problem wäre, auf einen Knopf zu drücken und das Hubtor in Bewegung zu setzen, zuerst werde die Kommunikation mit dem anderen Schiff beendet. Das sei auch richtig so, er müsse mit dem Kopf bei der Sache sein, um im Fall der Fälle schnell reagieren zu können. Obwohl es meine Kapitänin eilig hat, zeigt sie keinerlei Anzeichen von Ungeduld. Sie findet dieses Warten richtig und deshalb unvermeidlich.
Irgendwann gehen über Funk ein paar unverständliche Wortfetzen hin und her. Das Tor vor dem Bug beginnt sich zu heben und gibt ein glänzendes Band frei, das immer schmaler wird und am Horizont in den Himmel fließt.
'Mach los!'
Die Videokamera im Bug zeigt, wie Luuk das Tau vom Poller nimmt. Über Funk kommt die Bestätigung:
'Bug ist frei.'
Marit rennt nach draußen und löst das Tau am Heck. Ich fühle mich verlassen im Steuerhaus und habe ein seltsames Gefühl. Wenn jetzt eine unerwartete Strömung aufkäme, wüsste ich nicht, was zu tun wäre. Hilflosigkeit macht sich breit. Aber Marit ist sofort zurück und lächelt mir beruhigend zu. Ich habe den Eindruck, sie kann in meinem Kopf lesen wie in einem offenen Buch. Dann gibt sie vorsichtig Gas. Noch ein Dankeschön an den Schleusenwärter und es geht weiter. Mir ist, wie wenn uns diese Gebirgsschlucht als unverdaulich ausspuckte, notgedrungen wieder freigeben müsste in eine Welt, in der es klares Wasser und grüne Bäume unter einem blauen Himmel gibt, mit weißen Möwen und Schwänen, beschienen vom hellen Licht der Sonne. Hier ist nichts mehr zu spüren von der Enge der Schleuse: Die Grenze ist erst der Horizont und der wandert mit uns in die Zukunft. Es ist ein gutes Gefühl, meine Brust entkrampft sich.
Tief im Wasser liegende Frachter kämpfen sich flussaufwärts, jeder grüßt und wird gegrüßt. Marit und Luuk befahren diese Strecke seit über zehn Jahren, kennen viele ihrer Kollegen persönlich. Sie wissen, dass einer eine schwerkranke Tochter hat zu Hause und den Tag herbeisehnt, an dem er von Bord gehen kann. In der Klinik wird die Zahl der Patienten mit ihrer Krankheit immer geringer. Sein ganzer Lebenswille konzentriert sich in dem Wunsch, die Kleine noch einmal lebend anzutreffen. Ein anderer kämpft mit dem Alkohol, weil seine Frau zu Hause die Einsamkeit nicht mehr ertragen hat. Vor ein paar Wochen fand er einen Zettel auf dem Küchentisch: Es war zu viel. Wenn er jetzt den Kampf gegen den Alkohol verliert, ist er auch noch seine Arbeit los. Viele auf dem Fluss wissen darum und lösen einander am Funkgerät ab, reichen ihn weiter wie einen Stab beim Staffellauf: Er soll nie das Gefühl haben, mit seinen Problemen allein gelassen zu sein. Und beim nächsten Landgang hat er ein Date, das sie für ihn organisiert haben. Selbst wenn nichts daraus werden sollte, schon die Aussicht darauf hilft ihm, gut in seinen Zielhafen zu kommen.
Aber letztlich seien diese Kontakte unter Schiffern unverbindlich, ähnlich denen mit flüchtigen Bekannten bei einer zufälligen Begegnung in der Stadt. Sobald jemand nicht mehr an Bord sei, verschwänden alle seine persönlichen Bezüge und das ganze Netz breche zusammen. Umgekehrt sei es nicht anders. Die Freunde an Land würden immer weniger, es dauere nur etwas länger. Dies, so erklärt mir Marit, sei der Grund für die Nachwuchsprobleme in der Binnenschifffahrt: Viele junge Leute sind nicht bereit, ein Berufsleben lang auf einen Großteil ihrer Kontakte zu verzichten.
An diesem Flussabschnitt gibt es immer wieder Leute, die mit ihrem PKW bis direkt ans Wasser fahren, eine Decke auspacken und sich einen gemütlichen Nachmittag machen mit etwas zu trinken, einem Radio oder einem Buch. Die mit Erfahrung haben außerdem noch einen Sonnenschirm dabei, einen Picknickkorb und einen Grill. Seltsamerweise ist niemand im Wasser.
Wir nähern uns der Stelle, wo am linken Ufer der Rhein-Rhone-Kanal abzweigt, gut erkennbar an seinen pinkfarbenen Eisenverkleidungen und den durch eine Insel getrennten Fahrrinnen. Im Fernglas sehe ich am Ufer schon von Weitem eines dieser Hausboote, auf denen die Franzosen so gerne ihren Urlaub verbringen. An Bord sind nur zwei Männer zu sehen. Einer hat eine Bierflasche vor sich auf dem Tisch stehen, der andere kurbelt wie wild, um eine Angel einzuholen. Wir fahren näher heran und ich frage, ob sie die Rhone hinunterfahren. Da entspannt sich der Angler, befestigt einen neuen Köder am Haken und wirft seinen Schwimmer flussaufwärts, exakt dorthin, wo an einer ruhigen Stelle fast keine Strömung zu sehen ist. Für die Antwort ist der andere zuständig: Ja, ja, sie wollten nach Avignon, danach würden sie weitersehen. Und gute Fahrt auch.
'Dieser Kanal ist aber nicht sehr breit.'
'Das stimmt. Mit der Flamingo können wir ihn nicht befahren. Deswegen sind die péniches so klein. Der springende Punkt ist die Breite.'
Kurz vor Ottmarsheim meldet sich Marit auf Funkkanal 10 beim Schleusenwärter. Auf der Schleusenmole sitzt eine Gruppe Kormorane mit ausgebreitetem Gefieder und wärmt sich auf. Die Vögel fühlen sich behaglich, genießen die Situation. Als die Flamingo ankommt, ist das Tor offen, die Ampel steht auf Grün – wir müssen nicht warten. Ich bekomme das Gefühl, dass das bei jeder Schleuse so ist. Marit steuert das Schiff zentimetergenau.
Wie sie das macht, weiß ich noch nicht, glaube aber, es hat viel mit Erfahrung zu tun. Wenn es genau an der Stelle ist, an der sie es haben will, springt sie schnell ins Heck und vertäut es an einem Poller. Der Schleusenwärter schließt das obere Tor und den Rest kenne ich schon. Auch hier gibt es schmale Eisenleitern mit Flacheisen als Holmen und Rundstäben als Sprossen, alles glitschig und verrostet.
Luuk möchte, dass ich zu ihm in den Bug komme. Er zeigt mir, wie man ein Tau an einem Poller befestigt. Ich will mir den Knoten einprägen, aber das reicht ihm nicht. Es sei die praktische Erfahrung, die wichtig sei, ich solle das Tau vom Poller nehmen und sofort wieder festbinden. Er ist mit dem Ergebnis nicht zufrieden und ich muss das Ganze auf Tempo wiederholen. Gerade als er anerkennend nickt und mir den Namen des Knoten verrät – es ist ein Kopfschlag –, beginnt sich das Tor vor dem Bug zu heben. Vor uns liegt auch hier eine schmale Straße, die glitzert und zum Horizont weist. Rechts und links verlaufen Schwarzwald und Vogesen parallel zum Fluss und das wird noch eine ganze Weile so bleiben.
Marits Kommando Mach los! gilt dieses Mal mir. Ich nehme das Tau vom Poller, als ob ich nie in meinem Leben etwas anderes gemacht hätte:
'Bug ist frei.'
'Sehr gut. Jetzt noch das Heck, bitte.'
Wir gehen nach achtern. Luuk steht scheinbar teilnahmslos herum und ich widme mich dem Tau. Als ich soweit bin, melde ich mit breiter Brust:
'Heck ist frei.'
Zurück im Steuerhaus, sehe ich Marit vorsichtig Gas geben. Die Maschine arbeitet ganz leise. Mir ist, als ob diese Schlucht uns resigniert wieder loslassen müsste, zu schwach wäre, um uns festhalten zu können. Wir gehören nicht in diese Schleuse, wollen nicht festgehalten werden. Wir gehören auf den Fluss, müssen uns bewegen können, wollen vorwärtskommen. Und wir sind stark genug, unsere Freiheit zu erzwingen. Nachdem wir das dicke Tor passiert haben, ist nichts mehr zu spüren von der Enge der Schleuse – wir lassen sie einfach hinter uns. Es ist ein gutes Gefühl und ich spüre, wie ich ruhig werde.
Luuk verabschiedet sich:
'Ich gehe jetzt in die Koje.'
Sie sehen mich beide fragend an. Ich nicke und Luuk verschwindet. Damit habe ich einen Job an Bord. Solange er schläft, werde ich mich um den Kaffee kümmern und in den Schleusen vielleicht auch im Bug stehen, um das Schiff zu vertäuen."
Bei Kilometer 198 kommen sie unter der zweitniedrigsten Brücke am ganzen Fluss durch, nur die Mittlere Brücke in Basel ist niedriger. Marit muss den Mast im Bug umlegen und das Steuerhaus herunterfahren. Strickmann legte sich auf eine Sitzbank und beobachtete, wie sie mit einem Rundumblick kontrolliert, ob nicht irgendwelche Gegenstände im Weg sind. Dann fährt sie den oberen Teil des Aufbaus herunter und es wird eng. Als sie an der Brücke vorbei waren und er sich wieder entspannen konnte, erinnerte sie sich an eine Geschichte von der MS Gavialis: Der Schiffsführer war einen Moment unaufmerksam und versäumte es an einer Brücke, das Steuerhaus rechtzeitig abzusenken. Es wurde regelrecht abrasiert, das Schiff musste für drei Monate in die Werft. Auch das sei ein gutes Beispiel für die Folgen eines kleinen Fehlers: drei Monate Verdienstausfall, Reparaturkosten, Verlust der Geschäftsverbindungen. Die finanziellen Schäden deckt die Versicherung, aber wenn es Personenschäden gibt …
Strickmann war erstaunt, dass die Schiffe für spezielle Anforderungen des Flusses gebaut werden und bekam gleich noch ein Beispiel zu hören: Ab der Mittleren Rheinbrücke in Basel muss man
sich rheinaufwärts schleppen lassen, es sei denn, man hat zwei Maschinen – die Strömung ist zu gefährlich. Nicht auszudenken, wenn ein einzelner Motor ausfiele und der mächtige Kahn steuerlos den Fluss hinuntertriebe … Die Partikuliere müssen also schon vor dem Kauf des Schiffes wissen, wo sie damit fahren wollen.