Читать книгу Sixties West Germany - Rolf Platho - Страница 4
Ah, now I don’t hardly know her
ОглавлениеDabei wirkt sie gar nicht eitel. Einmal sind sie ganz nah an ihm vorbei gegangen und sie hat zu ihm gesehen.
Ah when she comes walking over
Natürlich hat sie ihn gar nicht bemerkt, aber er fühlte sich wie berührt.
but I think I could love her
Sie ist wohl auf der katholischen Schule. Da müssen sie im Winter über den Hosen Röcke tragen.
crimson and clover over and over
Ab und zu denkt er an sie.
Die höhere Schule als Bildungsanstalt für die Kinder beseelt die untere Mittelschicht. Wolfgang besucht das Gymnasium, für das Bestehen der Aufnahmeprüfung hatte er zwei – zwei! – der heißgeliebten Wiking-Automodelle bekommen. Sein Vater arbeitet im mittleren Dienst bei der Bundespost, aber eigentlich ist er immer noch Bataillonskommandeur. Die meisten Klassenkameraden kommen aus Familien von Beamten und Angestellten vergleichbarer Einkommensgruppen, zwei stammen aus Unternehmerhaushalten, einer ist Arztsohn und ein Vater ist Ministerialrat. Aber unter den Schülern ist das kein Thema.
Elternsprechstunde im Gymnasium. Elisabeth Peters schaut im Foyer auf die Tafel mit den Namen und Raumnummern. Sie muss in den 1. Stock. Sie klopft. Ein freundliches „Herein.“ Reinhard Evers gibt Englisch und Französisch und ist der Klassenlehrer. Frau Peters stellt sich vor und setzt sich ihm gegenüber an den niedrigen Tisch, der aus der mittleren Reihe der Klasse herausgerückt ist.
Lehrer: Frau Peters, Wolfgang ist ein guter Schüler. Und bei mir ist er besonders gut. Seine Leistungen sind also sicher nicht der Grund, dass Sie hier sind.
Mutter: Nein, nein, wir sind auch stolz auf ihn. Aber ich mache mir Sorgen, weil er so wenig mit Schulkameraden zusammen ist. Gerade zum Geburtstag, und sonst fast nie.
Lehrer: Gute Schüler sind selten die Beliebtesten in der Klasse. Und manchmal ist er vielleicht nicht besonders geschickt im Umgang mit seinen Klassenkameraden.
Mutter: Wie meinen Sie das?
Lehrer: Gelegentlich demonstriert er seine Überlegenheit ziemlich deutlich. Sowas ist nicht gern gesehen.
Mutter: Ja, ich weiß. Er hat eine Neigung zur … Aber es kommt auch daher, dass er seine Eigenbrötelei als Auszeichnung sieht. Er liest und liest und liest …
Lehrer: Das merkt man ihm an. Aber Sie müssen sich keine Gedanken machen. In der Klasse kommt er zurecht.
Mutter: Ich danke Ihnen, Herr Evers. Das beruhigt mich doch.
Verlassen wir die beschränkt-individuelle Ebene und wenden uns dem großen Ganzen zu. Die Beatmusik ist eine historische Kraft. Sie wirkt auf die Gesellschaft insgesamt, in ihrer konkreten Verfassung. Dazu gehört auch die ganz besondere geopolitische Situation, in der sich die Bundesrepublik befindet. Und die hat dazu beigetragen, dass Sender für die hier stationierten ausländischen Soldaten ganz wesentlich die neue Musik verbreiten konnten. Andererseits (im ganz wörtlichen Sinn): Wenn wir herauszoomen aus der Straße, dem Viertel, der Stadt, der Region, so dass wir nur noch ein vielfarbiges Patchworkmuster aus Äckern, Wäldern, ausgreifenden Agglomerationen, Flüssen und Autobahnen erkennen, stoßen wir irgendwann im Osten auf eine nicht normale Grenze.
Am Vormittag strahlt das Fernsehen der BRD,
Problems, problems, problems
natürlich nur über die Sender an der Grenze
zum souveränen Arbeiter- und Bauernstaat,
all day long
Hetzprogramme
worries, worries pile up on my head
zur Untergrabung der sozialistischen Gesellschaftsordnung aus:
will my problems work out
Nachrichten, Sportschau, Haifischbar und das Aktuelle Magazin
right or wrong
In der Wochenschau mündet die Berichterstattung über bedeutende gesellschaftliche Ereignisse oft in Bildern eines Tanzparketts voll mit schwarz-weißen Pärchen in Zeitlupenbewegungen. Richtiges Benehmen im Umgang mit dem anderen Geschlecht und Vertrautheit mit den Tanzschritten der wichtigsten Standard- und Lateintänze gehören zur Grundausstattung einer gehobenen Position. Bei solchen Anlässen, deren Besuch beruflich geboten ist, sind langsamer Walzer und Unterhaltung auch mit der Frau des Chefs unfallfrei zu bewältigen. Deshalb ist die Tanzstunde eine gesellschaftliche Verpflichtung für Gymnasiasten, der anders als sonst in derartigen Fällen erwartungsvoll entgegen gesehen wird.
Der unverzichtbare dunkle Anzug und die Krawatte beglaubigen den Eintritt in die Welt der Erwachsenen, und wer 16 ist, darf endlich Zigaretten rauchen und Bier trinken. Die Tanzschule verlangt Förmlichkeit, aber sie bietet auch Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung. Tanztees am Wochenende geben reichlich Gelegenheit, neben langsamem Walzer auch Twist, Slop, Watussi, Mashed Potato und Hully Gully zu tanzen. Der Tanzunterricht ist eine Fähre zu der Insel der unbekannten Wonnen, das heißt, so ganz unbekannt sind sie nicht, allerdings haftet ihrer den Jungen bekannten Version der Ruch des gesundheitsschädlichen Lasters an.
Er muss unbedingt in die Tanzstunde.
Pretty Woman
Alle gehen in die Tanzstunde. Da kann er doch nicht ausgeschlossen sein!
the kind I like to meet
Der Kursus ist teuer, das weiß er. Aber nur so kann er mitreden,
what do I see
wenn sie über Mädchen sprechen.
Noone could look as good as you
Das ist eigentlich der Sinn der Tanzschule, dass man Mädchen anfassen
und ganz nah an sich heranziehen
pretty woman
und berühren darf
give your smile to me
und es ist nur wegen der Tanzfiguren.
In bildungsorientierten Familien der unteren Mittelschicht ist der Fernseher durchaus nicht unumstritten. Die Familie Peters zum Beispiel besitzt keinen Fernseher. Leisten könnte man ihn sich schon, die Ratenzahlungen würde man verkraften. Aber Herr und Frau Peters sind dagegen, dass so eine Flimmerkiste in der Wohnung steht, nicht in erster Linie, weil noch ungeklärt ist, ob die Strahlen wirklich unschädlich sind. Wolfgang wäre dann von der Schule abgelenkt und würde auch abends länger aufbleiben wollen. Das Radio erfüllt alle Anforderungen an Unterhaltung in ihrem Heim, die Gerhard und Elisabeth Peters stellen.
Es ist früher Abend. „Zwischen Rhein und Weser“ geht gerade zu Ende. Als Gerhard Peters den großen geriffelten Senderwahlknopf dreht, knackt, kratzt, jault und knistert es in atemlosen Wechsel, die grünen Pupillenhälften im magischen Auge, in einen Metallring in die Bespannung des Gehäuses eingelassen, ziehen sich unter der Glaskuppel zuckend zusammen, spreizen und schließen sich wie zwei Fächer in totaler Symmetrie, stoßen über ihren Halbkreis hinaus und vertiefen das Grün in überlappenden Dreiecken. Der senkrechte Strich der Senderanzeige schiebt sich über die Reihen schräg absteigender Namen: Helsinki, AFN München, Budapest I, Beromünster, Bayer. Rundfunk, N.W.D.R.
Er: Was ist denn heute abend?
Sie: Ich habe noch nicht nachgesehen. Wo hast Du die „Hör Zu“ hingelegt?
Er: Die muss im Zeitungsständer sein, wo sonst?
Sie: Stell Dir vor, heute Nachmittag war Vico Torriani im Radio: Plattenplauderei mit Prominenten.
Er: Ist das nicht dieser komische Schweizer, haben die keine anderen Leute, deutsche Künstler?
Sie: Sieh mal, hier steht: Stereo Sendung, für Spezialempfänger. Was ist das? Stand „Stereo“ nicht auch auf einer von diesen schrecklichen Schallplatten von Wolfgang?
Er: Er hat sich ja sogar so ein Sammelalbum für seine Platten gekauft, hast Du das gesehen, mit so amerikanischen Sachen drauf, Mädchen in Petticoats, Motorroller, Straßenkreuzer und so. Aber so lange er seinen Plattenspieler nicht zu laut stellt …
Sie: „Nach dem Tagebuch aus der Katholischen Kirche diskutieren Arbeitgeber und Arbeitnehmer die von Vertretern beider Kirchen vorgelegten Empfehlungen zur Eigentumspolitik: „Eigentum für alle – aber wie?“ (Leitung Heinz Zahrnt).“
Er: Die Katholische Kirche versteht ja was vom Eigentum.
Sie: Kleines Ständchen. Alte und neue Heimat. Jatz vor dannzing. Was ist das denn? Das war aber schon alles heute Nachmittag. Frohe Klänge. Schwung nach Noten. Aber hier, schau mal, „Melodienreigen“, nach den Nachrichten, das können wir doch mal anhören.
Er: Gib‘ mal her, gibt es denn nichts Vernünftiges? - Bloß immer Willi Schneider! - Operetten bringen sie fast nie! Oder Musik aus Ufa-Filmen!
Die Tanzschule kann ihren Namen nicht vollständig verleugnen, es gibt Zeiten von Unterweisung, Vorführung und Herumsitzen. Die Einübung von Praktiken für die Welt der Erwachsenen, unverzichtbar für die Einordnung in die Gesellschaft, fordert Opfer von denen, die sich den Initiationsriten unterziehen. Immerhin ist, anders als im Klassenzimmer, der Blick nach vorn nicht uninteressant. Man schaut auf eine Reihe von Kleidern, Frisuren und Gesichtern, die die Gedanken mit einer Fülle von Anregungen überfluten.
Die Jungen sitzen auf der einen Seite des großen Saales mit dem Parkettfußboden, die Mädchen auf der anderen.
I saw her standing there
Er hat sie schon gesehen. Er fühlt sich fremd mit Schlips und Anzug. So viele Mädchen, und gleich wird er eine davon anfassen. Alle wissen, was kommt
one two three four
und nehmen die Gegenseite ins Visier. Zwei Mädchen tuscheln gebeugt miteinander, ein Junge stößt seinen Nachbarn mit dem Ellenbogen an
the way she looked was way beyond compare
und zeigt mit dem Kinn hinüber zu dem am weitesten entwickelten Mädchen.
you know what I mean
Der soignierte Herr hat mit seiner jungen Assistentin eine Drehung vorgeführt, erst komplett, dass ihr Rock ausschwang, dann in Abschnitten. Er erklärt. Er redet immer noch.
I saw her standing there
Noch eine Drehung. „Meine Herren, bitte auffordern“. Ein Schwarm dunkler Anzüge setzt sich in Bewegung, wird schneller, läuft schräg durcheinander
my heart went ‚boom’ when I crossed the room
stolpert, drängelt, sucht. - verdammt, hier irgendwo muss es gewesen sein - und findet. Die Verbeugung:
she wouldn’t dance with another
Er hat sie tatsächlich erwischt.
Wir bleiben jetzt noch ein wenig bei Wolfgang und Birgit. Das erotische Moment wird leicht beeinträchtigt durch die unvermeidliche Konzentration auf die Technik. Man muss an so vieles gleichzeitig denken, Oberkörper, Arme und Hände, von den Beinen gar nicht zu reden. Aber dennoch …
Er hält sie im Arm
Yeah, you got that something
Ellenbogen gerade, Hand locker auf dem linken Schulterblatt
I think you’ll understand
Seine linke Hand umfasst ihre rechte Hand
And when I touch you
Vier Finger ruhen auf ihrem Handrücken, Daumen über Kreuz
I feel happy inside
Sie legt ihren linken Arm ohne Gewicht auf seinen rechten Arm
And please say to me
Die Partner müssen Tuchfühlung haben
I want to hold your hand
BRAVO:„ Knutschen’ macht eine Party nicht lustiger und wird auch gar nicht von allen Mädchen geschätzt. Verzieht sich dennoch ein frühreifer Jüngling mit einem Mädchen in eine Ecke, geht die Gastgeberin diplomatisch vor, indem sie fragt: „Mit mir willst Du wohl heute gar nicht tanzen?“ (Ohne Kommentar)