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1.

Ein unerwartetes Zusammentreffen

Als Johann Feldhof, Bewohner einer Großstadt und Schulleiter eines Gymnasiums, an einem Morgen aufwacht, kann er noch nicht ahnen, dass es für ihn ein ganz besonderer Tag werden sollte. Er hat sich wie gewohnt nach dem Aufstehen rasiert, geduscht und angezogen. Dann geht er nach unten zum Esszimmerbereich, wo seine Frau Roswitha schon das Frühstück vorbereitet hat. Er schaltet das Radio ein, um den Wetterbericht zu hören. Plötzlich sagt er zu seiner Frau: „Hoffentlich gibt es nicht noch mehr Schnee, denn ich will mich heute im Freien auf einer Wanderung noch sportlich betätigen.“ „Wo willst du denn wandern?“, fragt seine Frau interessiert. „Ich habe an das Neandertal gedacht“, antwortet er. Er blickt in das Gesicht seiner Frau. „Weißt du eigentlich, dass ich mir schon immer gewünscht habe, einem Neanderthaler zu begegnen? Ihre Lebensweise und ihre Fähigkeiten haben mich schon immer fasziniert.“ „Meinst du denn, dass du diesen Herausforderungen während der Eiszeit überhaupt gewachsen gewesen wärst?“, entgegnet Roswitha mit verschmitztem Lächeln. „Du bist doch froh darüber, dass du einer geregelten Berufstätigkeit nachgehen kannst.“ Die Reaktion ihres Mannes wartet sie gar nicht erst ab. „Wir frühstücken jetzt erst einmal gemeinsam“, äußert sie, „und dann kannst du im Schnee eine ausgiebige Wanderung unternehmen.“ Lachend fügt sie hinzu: „Vielleicht triffst du ja auf einen Sozialverband von Neanderthalern. Aber sei nicht zu aufdringlich. Halte dich zurück. Die ‚Jagdbeute’ und Getränke für deinen Rucksack stelle ich nach dem Frühstück zusammen.“ Dankbar wirft Johann ihr einen Blick zu.

Als der fünfundvierzigjährige Johann Feldhof an diesem Wintertag am späten Vormittag durch das verschneite Neandertal wandert, entdeckt er auf einmal vor einer Felswand eine alte Frau, die in Tierfelle eingehüllt ist und auf einem Baumstumpf sitzt. Ihre Füße sind mit Felllappen umwickelt, um sie gegen die Kälte zu schützen. Ihr langes, silbrig glänzendes Haar hat sie seitlich zu einem Zopf geflochten und mit Lederstreifen umwickelt. Vorsichtig nähert sich Johann Feldhof der Frau, deren Blick auf den Boden gerichtet ist. Vor ihr im Schnee sind die Umrisse eines Tierkörpers eingezeichnet worden. Es handelt sich um ein Mammut. Die Neugierde des Lehrers für Naturwissenschaften und Latein wird immer größer. Die Frau dreht langsam ihren Kopf in seine Richtung, fixiert dann sein Gesicht und lächelt ihn schließlich an, wobei ihre stark abgenutzten Zähne zum Vorschein kommen. Mit einer Handbewegung deutet sie an, dass er sich zu ihr setzen soll. Johann Feldhof spürt seine innere Anspannung. Er kommt aber ihrer Aufforderung nach und nimmt seinen Rucksack vom Rücken. Er entscheidet sich für einen Sitzplatz der Frau genau gegenüber auf dem Schneeboden. Um einer Unterkühlung vorzubeugen und seine Treckinghose zu schonen, benutzt er seinen Rucksack als Sitzunterlage.

Für einige Zeit sitzen sie sich stumm gegenüber und blicken sich nur an. Auffallend ist, dass in dem Gesicht der Frau keine Wangengruben erkennbar sind. Ungewöhnlich sind auch ihre starken Überaugenwülste, die großen Augäpfel und ihre breite Nase. Außerdem besitzt sie eine fliehende Stirn und kein nach vorn ausgerichtetes Kinn. Johann Feldhof schießt ein Gedanke durch den Kopf, wobei sein Pulsschlag spürbar ansteigt. „Sollte es sich bei diesem Menschen tatsächlich um eine Neanderthalerin handeln?“, fragt er sich. „Das wäre ja eine Sensation.“1

„Ich bin Gammla“, hört er plötzlich die Stimme der Frau. „Die Mitglieder meiner Großfamilie nennen mich ‚Die etwas voraussehen kann’, weil ich aus meinen Beobachtungen in der Natur Erkenntnisse gewinne. Schon seit vielen Wildwechseln lebt mein Clan größtenteils in einer offenen Landschaft, in der kurze, warme Sommer und kalte Winter herrschen. Das Leben für mich und meinen Clan ist sehr hart und entbehrungsreich. Um überleben zu können müssen wir jagen und sammeln. Immer wieder verändern sich für uns die Lebensbedingungen. Daher ist es wichtig, dass wir uns alle anstrengen und gemeinsam versuchen, die Herausforderungen in unserer Umgebung zu bewältigen.“ Sie unterbricht ihre Ausführung, um sich mit der linken Hand das Gesicht zu reiben.

Dies gibt Johann Feldhof die Möglichkeit, sich gegenüber der frühzeitlichen Mitmenschin bekannt zu machen. Er richtet seinen Oberkörper auf und verbeugt sich leicht: „Mein Name ist Johann Feldhof. Aber du kannst mich Johann nennen.“, beginnt er etwas unbeholfen in seiner Art. „Vom Beruf her bin ich Lehrer und Leiter eines Gymnasiums in einer Großstadt, in der ich auch mit meiner Familie in einem Eigenheim wohne. Um zu meiner Arbeitsstelle zu kommen, kann ich mich mit meinem Auto stellenweise nur im Schritttempo im täglichen Verkehrsstau dorthin bewegen. Das kostet Zeit und Nerven.“

Gammla schaut ihn verständnislos an. In diesem Augenblick wird dem Großstadtmenschen bewusst, wie unüberlegt er sich gegenüber Gammla geäußert hat. Wie soll die Neanderthalerin die Ausführungen von ihm begreifen können. Gammla ist ja in einer ganz anderen Erlebniswelt groß geworden. Dass aber die Frühzeitfrau sprechen kann, ist für ihn ein Glücksfall. Denn nun bietet sich die Gelegenheit, durch gezielte Fragen an Gammla mehr aus dem Leben der Neander­thaler zu erfahren. Und das war doch schon immer sein großer Wunsch gewesen.

Johann spürt die Kälte, die an seinen Beinen hoch kriecht. Er steht auf, um einige Bewegungsübungen auszuführen. Während er zwei Tas­sen von heißem Tee zu sich nimmt, denkt er mit Schrecken daran, dass er zu Hause noch Klausuren zu korrigieren hat. Er versucht diesen Gedanken zu verdrängen. Für ihn ist es im Moment wichtiger, mit Gammla im Gespräch zu bleiben. Johann geht im Schnee unruhig auf und ab. Die Neanderthalerin sitzt derweil regungslos auf dem Baumstumpf.

Als Johann sich wieder zu Gammla gesetzt hat, blickt sie ihn auf einmal herausfordernd an. Dann erhebt sie sich und sagt: „Du musst mit mir kommen, um meine Großfamilie kennen zu lernen.“ Diese Aufforderung kommt für den Großstadtmenschen völlig überraschend. Er sieht Gammla ungläubig an. Aber auf einmal wird ihm bewusst, dass er die einmalige Chance hat das zu erleben, wovon er schon immer geträumt hatte, nämlich am Leben der Neanderthaler teilnehmen zu können. Wenn auch nur für eine kurze Zeit. Johann signalisiert der Gesprächspartnerin seine Bereitschaft, mit ihr die Zeitreise in die Vergangenheit zu unternehmen. Über mögliche Risiken macht er sich in diesem Moment keine Gedanken. „Ich finde es aufregend und spannend, deinen Clan kennen zu lernen“, äußert er sich gut gelaunt. „Auch ich möchte dir meine Familie vorstellen und zeigen, in welcher Umgebung wir leben. Du sollst Gast in meinem Haus sein.“ Dabei untermauert Johann seine Ausführung durch Mimik und Gestik. Gammla scheint ihn verstanden zu haben, denn sie nickt ihm zustimmend zu. Johann fährt in seiner Ausführung fort: „ Ich schlage daher vor, dass wir nach unserem Aufenthalt in deiner Großfamilie eine Zeitreise in die Zukunft unternehmen.“ Dann sagt er zu sich selbst: „Eiszeitalter versus Informationszeitalter.“ Ein Schmunzeln zeigt sich in seinem Gesicht.

Ohne dass Gammla ihm groß Beachtung schenkt, hat Johann sein Smartphone aus der Jackentasche herausgeholt und sendet Roswitha eine SMS: „Mein Liebes, ich werde heute etwas später nach Hause kommen. Gruß, Jo“

Begegnung mit Gammla

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