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1. Kapitel

Freitag, 15. März 2019

Detektiv Forrest Waterspoon hatte sich eine Woche Urlaub genommen, aber an Erholung war nicht zu denken. Ihm war es in den vergangenen Monaten vorgekommen, als ob sich Boston zum Hot Spot des Klimawandels und des Verbrechens in Form von Mord und Intrigen entwickelt hätte. Selbst in der Gegenwart, gab es nicht einen Tag, an dem in der Stadt kein Kapitalverbrechen verübt worden war. Zu Übel waren die Täter überwiegend keine polizeilich registrierten Kriminelle, sondern brave Hausfrauen und bis dahin unauffällige Ehemänner. So absurd es sich verhielt, fast siebzig Prozent aller Gewalttaten fanden in Wohnungen statt, in welchen unscheinbare Familien gelebt hatten. Die Straftaten besaßen einen nachgewiesenen Zusammenhang, der für Forrest keine Überraschung war. Bis auf eine Ausnahme wurden die Streitereien, die zu einem Blutbad geworden waren, von Lebensgefährten oder Eheleuten begangen, die über eine Störung ihrer Psyche gelitten hatten. Darüber war er von John Shaddock, dem Kommissar der Stadt und, Joshua Jason Calbott, dem Morddezernatsleiter, aufgeklärt worden. Er saß mit den Kollegen, die ihm übergeordnet waren, in einem Restaurant, bei einem Gespräch, zu dem der Polizeipräsident geladen hatte.

»Boston hat mit den Vororten mehr als viereinhalb Millionen Einwohner. Wir können unmöglich jeden depressiv erkrankten Menschen, dem irgendwelche Pillen verschrieben wurden, aus dem Verkehr ziehen, oder überwachen lassen«, sagte JJ, nachdem er von John um einen Vorschlag zur Vorgehensweise gebeten worden war.

Fragend sah der Kommissar den Detektiv an, wodurch der Ermittler um eine Stellungnahme gebeten wurde. »JJ hat recht«, erwiderte Forrest und wechselte das Thema: »Es wäre zwar ein enormer Aufwand, aber es müsste doch möglich sein, den Weg der verschriebenen Medikamente zu den Patienten nachzuverfolgen. Sämtliche Präparate mit dem Namen einzuziehen und sie gegen Pillen ohne verbotene Substanzen auszutauschen, könnte die Lösung sein.« Welche Mammutaufgabe sein Vorschlag sein würde, war klar, nur sah er andere Alternativen nicht gegeben und ergänzte: »Es wäre ein Eingriff in die Privatsphäre von unzähligen Familien und Lebensgemeinschaften, dessen bin ich mir bewusst. Nur sehe ich keine andere Möglichkeit, um Menschenleben zu retten.«

John Shaddock verzog die Lippen. »Ich werde es überschlafen, danach meine Entscheidung bekanntgeben.« Er musterte Forrest eindringlicher und fragte: »Wie geht es Ihnen? Erzählen Sie mir bitte keine Märchen, sondern schenken uns reinen Wein ein«, bat er den Ermittler, mit dem er bereits einiges durchgemacht hatte.

Waterspoon wich dem Blick des Polizeipräsidenten aus und sah zu JJ. »Konnten Sie wieder Ihren Mund nicht halten?«

Der Abteilungsleiter nippte an seinem Kaffee und antwortete: »Sie wissen genau, dass ich es gar nicht darf. Wenn ein Beamter, noch dazu einer ihres Kalibers, eindeutige Zeichen von Verschleiß und Berufsmüdigkeit an den Tag legt, bin ich verpflichtet, es zu melden.«

»Sind wir am Ende nur deswegen hier und nicht wegen der Zustände in der Stadt?«, fragte Forrest, da er den entsprechenden Eindruck gewonnen hatte.

»Nein, gewiss nicht«, sagte John. »Wir sitzen aus drei Gründen zusammen, einer davon sind Sie. Wir kennen uns schon lange, Forrest, deshalb bin ich bereit, Ihnen eine Auszeit zu geben, wenn Sie eine solche wollen. Das unser Job einen wahnsinnig machen und zermürben kann, darauf will ich gar nicht erst nicht eingehen. Wir drei, so wie wir hier sitzen, wissen, das Gesetz, Ordnung und Recht nicht immer auf einer Wellenlänge liegen. Es ist jedem hier am Tisch mindestens einmal widerfahren, dass Ermittlungen und Beweise vor Gericht zu keinem Schuldspruch geführt haben, oder ein viel zu mildes Urteil gefällt wurde. Umgekehrt ist es nicht oft vorgekommen, dass ein Ermittler während seiner Arbeit ein künftiges Familienmitglied verlor.« Waterspoon wollte etwas einwenden, aber John Shaddock hob die Hand und setzte seinen Monolog, ohne Unterbrechung fort. »Es ist nicht nur dieser Punkt, Forrest. Ich kenne Sie, weiß von daher, dass Sie sich bis heute die Schuld am Schicksal ihres Partners Jesse Owens geben, ebenso, wie sehr es Sie belastet, dass Sean Stockwell irgendwo ungestraft frei herumläuft. Dazu gesellen sich die Ereignisse um ihren ehemaligen Vorgesetzten, Buck Gilmore, und auf Ihre privaten Sorgen, in Bezug auf Ihre Adoptivtochter und ihrer Schwester, möchte ich nicht eingehen. Wenn ich das alles zusammenzähle, ist die Frage, ob Sie diensttauglich sind, nicht unberechtigt. Ich werde den Teufel tun und Sie auf die Straße schicken, wenn ich nicht sicher sein kann, dass Sie nicht andere und insbesondere sich gefährden. Sie sind von jeher ein Griesgram, schlucken alles, worüber Sie reden sollten. Ganz klar, dass Ihre Psyche durch das Schweigen in Mitleidenschaft gezogen wird.«

»Ich nehme keine Antidepressiva, meine Frau ist also keiner Gefahr ausgesetzt«, erwiderte Forrest ironisch.

„Detektiv, es ist mein Ernst. Fühlen Sie sich psychisch und physisch so stabil, um in einem Fall zu ermitteln, der Ihnen alles, absolut alles, abverlangen wird?«

Forrest hatte aufmerksam zugehört, nun wurde er hellhörig. Was war geschehen, wovon er keine Ahnung hatte. „Es geht mir gut«, sagte er. »Zu Hause ist nicht alles perfekt, aber insoweit in Ordnung. Molly und Claire verstehen sich blendend, meine Gattin nörgelt wie so oft an mir herum. So gesehen sind die Gegebenheiten wie immer. Der Schmerz über Adams Tod wird ewig bleiben und zu unserem Job gehören eben Verluste und Niederlagen. Dass wir das Recht nicht stets durchsetzen können, weiß ich, seit ich bei diesem Verein bin. Dass die Gerechtigkeit zu oft auf der Strecke bleibt, damit müssen wir leben. Was wollen Sie noch hören? Klären Sie mich lieber darüber auf, was passiert ist, wovon ich nichts gehört und gelesen habe?«

John Shaddock nickte und fing zu berichten an.

Es war vor wenigen Tagen geschehen.

Larry Beauford, der Inhaber einer psychiatrischen Klinik in New York, hatte aufgeregt die Polizei verständigt. Nach ihrem Eintreffen fanden die angeforderten Streifenpolizisten ein Blutbad vor, woraufhin den Vorschriften entsprechend vorangegangen wurde. Als Erstes trafen Detektive des Morddezernats am Tatort ein, danach die Gerichtsmedizin und die Spurensicherung. Der Klinikinhaber und die zur Tatzeit anwesenden Angestellten waren befragt worden und die Beamten vor Ort hatten versucht, den Hergang der Morde zu rekonstruieren. Ausgerechnet in der geschlossenen Abteilung der Nervenheilanstalt hatten drei Mitarbeiter ihr Leben auf bestialische Weise verloren. Wäre Forrest Waterspoon zugegen gewesen, hätte er es anders ausgedrückt: Die ermordeten Opfer hätten ebenso von einem Raubtier zerfetzt worden sein können, aber New York war nicht Boston, lag weit weg von seinem Aufgabengebiet und während des Kapitalverbrechens hatte er sich zudem in Urlaub befunden.

Die zuständigen New Yorker Ermittler waren jedoch keine Anfänger und Idioten. Von Anfang an hatten sie Zweifel an den Zeugenaussagen. Der Tatort war mit dem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses identisch, die Sicherheitsvorkehrungen dementsprechend hoch und die Auflagen für das Personal nicht minder streng. Nur erfahrene Mitarbeiter besaßen Zugang in die Geschlossene und selbst sie hatten die strikte Anweisung, den Trakt niemals allein zu betreten. Die Order galt immer, obwohl die Insassen der Abteilung in Einzelzellen untergebracht waren.

Was war wann passiert? Es war ein gewöhnlicher Arbeitstag in der Nervenklinik, auch wenn die Patienten der geschlossenen Abteilung durchaus als verrückt bezeichnet werden konnten.

Die Stunde der Medikamentenausgabe war angebrochen, alles lief wie gewohnt. Bis zur Zelle fünfzehn. Die vier Wände waren seit rund vierzehn Tagen die neue Heimat von Baby, der eigentlich Timothy hieß und vom persönlichen sozialen Umfeld nur Tim gerufen wurde. Spätfolgen der Schussverletzung an seinem Oberschenkel, die ihm von Forrest zugefügt worden war, um ein Menschenleben zu retten, hatte Baby nicht zu befürchten. Die Wunde hatten Ärzte professionell versorgt, obwohl sie wussten, dass ein Massenmörder unter ihrem Operationsbesteck gelegen hatte.

In der Klinik von Larry Beauford bekam Baby vom ersten Tag eine Sonderbehandlung. Für den Klinikbesitzer war das kein Akt einer Barmherzigkeit, sondern eine Pflichterfüllung gegenüber Roger Dovell. Er befand sich in der Hand des Unternehmers, war ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Der finanzielle Stand wäre nicht das Problem gewesen, stattdessen lag es an seiner unlauteren Vergangenheit, von der Roger wusste und für die der Geschäftsmann teilweise verantwortlich war. Schuld hatte Larry jedoch selbst, schließlich war er der Verlockung des Geldes erlegen. In Bezug auf Baby konnte sich der Klinikbesitzer von jeder Verantwortung freisprechen. Es war ihm nicht bekannt, warum Roger für ihn eine bevorzugte Behandlung verlangt hatte. Beschäftigen wollte er sich mit den Umständen ebenfalls nicht, es lag nicht in seinem Interesse, mit seinem Geldgeber im Unreinen zu liegen. Der Mann schien unantastbar und unangreifbar zu sein, selbst die Regierung hatte keine Möglichkeit gefunden, gegen ihn vorzugehen. Es gab weder Beweise noch Zeugen, die gegen ihn ausgesagt hätten. Unabhängig davon: Baby war offiziell ein Patient der Klinik, ein Massenmörder, über dessen Geisteszustand ein Gutachten erstellt werden sollte. Es lag im Ermessen von Larry Beauford, der in seinem Fach ein anerkannter Spezialist war, welche Prognose Baby, wann erhalten würde. Ob Morgen oder in ein paar Jahren lag jedoch nicht in der Hand des Psychologen, sondern in der von Roger Dovell.

Baby wurde nicht mit Tabletten vollgepumpt, untersucht oder durch Gespräche genervt. Seine Zelle war auf Anweisung von ganz oben vierundzwanzig Stunden offen und besaß jeden Komfort. Ein Umstand, der den New-Yorker-Beamten sofort ins Auge gestochen war. Wem das Vergnügen erspart wurde, den Serienkiller kennenzulernen, der konnte nicht wissen, dass er körperlich keine Schwierigkeiten hatte, um drei ebenbürtige Männer niederzuringen. Die Ermittler des Morddezernats aus Big Apple hatten es dennoch für merkwürdig gehalten, dass keiner der drei Opfer in der Lage war, während des Kampfes den Alarmknopf zu drücken. Den Angestellten, die Baby angeblich mit Medikamenten zu versorgen hatten, wurde die Kehle durchgeschnitten. Danach waren sie in einer Art aufgeschlitzt worden, als ob sie jemand wie ein Tier nach einer erfolgreichen Jagd hätte ausweiden wollen. Unmöglich erschien es den Ermittlern, dass ein einziger Mann imstande sein sollte, die Tat in der Art durchzuführen, noch dazu eindeutig in Unterzahl. Neben dem merkwürdigen Detail, dass kein Alarm ausgelöst worden war, kam ein Aspekt hinzu, der unerklärlich zu sein schien. Zwei der drei Opfer lagen nicht in der Zelle des Täters, sondern im Gang des Trakts. Kein Mensch wäre in der Lage gewesen, die Morde in einer so schnellen Abfolge zu begehen, ohne dass nicht eines der Opfer den Alarm hätte auslösen können. Somit wurde mindestens ein Mittäter in Betracht gezogen. Baby hatte anscheinend Hilfe bekommen und war aus der Nervenheilanstalt ausgebrochen.

Forrest hatte tief durchgeatmet, nachdem ihm die Ereignisse in der Klinik von John Shaddock erzählt worden waren. Zu präsent war das Bild, als er von der Schusswaffe gebrauch gemacht hatte. Baby hätte ansonsten Julian umgebracht, den er in seinem Wahn zu seiner Oma verwandelt hatte. Ein Wahnsinn und ein Fall, durch den der Detektiv den Glauben und die letzte Hoffnung an die Gerechtigkeit endgültig verloren hatte. Nicht aus der Sicht seines Berufes, sondern aus dem Blickwinkel der Justiz. Das sich ein Mann oder ein Unternehmen nur wegen des Geldes der Strafverfolgung entziehen konnte, wollte nicht in seinen Kopf. Vor dem Gesetz ist jeder gleich, wurde ihm täglich in der Polizeiakademie zu Beginn seiner Laufbahn eingetrichtert. Der Satz erschien ihm mittlerweile wie ein Selbstbetrug, der sich überall bezahlt zu machen schien, nur nicht auf seiner Lohnliste und der seiner Kollegen. Nachdenklich sah er JJ an, dann John Shaddock, vor dem er einen wesentlich größeren Respekt hatte als vor seinem Nachfolger im Morddezernat des Bostoner Police-Departments. »Okay, Timothy Walters ist mit oder ohne Hilfe aus der Nervenheilanstalt ausgebrochen, was geht es mich an? Erwarten Sie von mir, dass ich dem Scheißkerl durch die Staaten nachjage, wozu ich überhaupt keine Befugnis hätte. Klären Sie mich auf, warum sitze ich hier?«

»Wir haben berechtigten Grund zu der Annahme, dass Timothy nach Boston unterwegs ist«, sagte John Shaddock und fügte in einem besorgten Ton hinzu: »Es gibt keine Beweise, aber wenn alle Aspekte betrachtet werden, ergeben sich Schlussfolgerungen, die uns nicht gefallen. Punkt Eins wären die Umstände, die zu dem Ausbruch geführt haben. Timothy hatte Hilfe. Von wem ist unklar, doch wir alle können uns vorstellen, wer da seine Hände im Spiel hat.«

»Sie denken an Roger Dovell?«, fragte Forrest.

»Eine Vermutung ja, zu belegen ist sie nicht. Allerdings wäre es fatal, diese Möglichkeit nicht in Betracht zu ziehen. Sie und Ihre Familie stehen mit Sicherheit auf der Abschussliste dieses Mannes, vielleicht nicht Ihre Frau, aber bestimmt Ihre Adoptivtochter. Immerhin hat sie die Liste mit den sechzig Namen öffentlich gemacht und damit die Pläne des Unternehmers torpediert. Zusätzlich hat sie mit der Aktion einen bedingten Zusammenbruch des Imperiums von Roger Dovell herbeigeführt. Er wird das nicht ungesühnt lassen und eventuell ist Timothy nun eines seiner Werkzeuge.«

»Was sollte Roger Dovell und den Serienkiller verbinden?«

JJ ergriff das Wort: »Wie John gesagt hat, nichts von unseren Vermutungen kann nachgewiesen werden. Stattdessen sind wir gezwungen zu spekulieren und egal, wie wir es drehen, kein Resultat einer Überlegung gefällt uns. Es ist nicht bewiesen, dass Roger Dovell für die Durchsetzung seiner Zwecke Profikiller angeheuert hatte, allerdings halten Sie an dieser Meinung fest. Im Übrigen teilen wir Ihre Ansicht. Vielleicht wendet er sich nun an Serienkiller, die nicht minder gefährlich sind. Womöglich heuert er sie in ähnlichen Einrichtungen und Gefängnisse an und verspricht ihnen für Gefälligkeiten im Gegenzug die Freiheit. Dafür müssen Menschen wie Timothy Walters seine Bedingungen erfüllen. Klingt absurd, ist aber nicht unmöglich.«

Forrest überdachte das Gehörte und fand die Aussage seines Vorgesetzten im Morddezernat alles andere als abwegig. »Ich glaube nicht, dass es Roger Dovell um Rache an den Personen geht, denen es gelungen ist, seine Pläne zu vereiteln.«

»Stattdessen?«, fragte John.

Der Detektiv fuhr sich mit der Fingerspitze seines Zeigefingers über die Nase. »Ich bin überzeugt, dass der Geschäftsmann nach wie vor seine Ziele verfolgt und erneut bereit ist, über Leichen zu gehen, um sie zu erreichen.«

»Welche Ziele sollen das sein?«, erkundigte sich JJ.

»Ganz genau wurde es nie geklärt«, antwortete Forrest, dachte kurz nach und fuhr fort: »Oberflächlich gesehen ging es um ein Medikament in Form von Antidepressiva, welches den Markt dominieren sollte. Theorien gibt es dazu viele, wie es in der Praxis aussehen sollte, weiß niemand. Eine der Thesen besagt das die Pillen das Gegenteil, von dem erreicht hatten, was Rogers Pläne waren. Als ziemlich sicher wird angesehen, dass depressive Menschen als Versuchskaninchen von ihm, den Mitwissern und seinen Handlangern missbraucht wurden. Die Frage ist, wozu? Egal welche, die Absichten des verantwortlichen Zirkels besaßen bestimmt keine humanitären Züge.«

John Shaddock gab Joshua Jason Calbott ein Zeichen mit der nächsten Frage zu warten und ergriff das Wort: »Es kann trotzdem nicht ausgeschlossen werden, dass der Mistkerl alles unternehmen wird, um Vergeltung zu üben. Dazu kommt das Vorleben von Timothy Walters, der unverständlicherweise Baby gerufen wird. Für einen Sadisten und Mörder wie ihn finde ich den Spitznamen sehr unpassend. Es muss nicht sein, doch ist nicht unmöglich, dass er ebenfalls Rachegelüste hegt. Eventuell will er seine Frau, Kinder und Schwiegereltern zur Rechenschaft ziehen.«

»Priorität hätte für mich die Frage, ob, und wenn, warum Roger Dovell dem Serienkiller die Flucht ermöglicht hat. Ich denke, es liegt auf der Hand, dass sich die Frau, Kinder, Schwiegereltern des Mörders in Gefahr befinden. Das gleiche gilt aufgrund der Ereignisse für die Familie Waterspoon, insbesondere für Molly.«

Forrest wurde ungeduldig, die Unterhaltung begann ihn zu nerven. »Ich weiß immer noch nicht, was Sie von mir wollen«, stellte er fest. »Übertragen Sie einem Detektiv des Bostoner Morddezernats eine Funktion als Bodyguard? Soll ich Jennifer, ihren Kindern und Eltern sowie meiner Adoptivtochter zu ihrem Schutz Tag und Nacht auf den Fersen bleiben? Das ist doch alles Blödsinn!«, sagte er laut und ließ die anwesenden Parteien nicht zu Wort kommen: »Es steht mir kein Urteil über Baby zu, so oft hatte ich es mit ihm nicht zu tun. Mir ist besonders die letzte Begegnung mit ihm in Erinnerung geblieben. Der Mann war irre, unmittelbar davor einen weiteren Menschen zu töten, den er als seine Oma bezeichnet hatte. Hätte ich nicht geschossen, wäre der Gefangene tot. Um es kurz zu machen: Timothy Walters war zu diesem Zeitpunkt nicht bei Sinnen und ich glaube nicht, dass er in der kurzen Zeit seinen Verstand wiedergefunden hat«, erläuterte Forrest und wandte sich an den Kommissar der Stadt. »John! Sie waren in der Klinik in News York dabei, haben die Ausführungen des Anstaltsleiters gehört. Wenn Baby zur Flucht verholfen wurde, dann aus Gründen, die wir nicht kennen, niemals um ihn als Werkzeug gegen irgendjemanden einzusetzen. Ich glaube, der geistige Zustand ließe letzteres gar nicht zu, außer es hätte sich bei ihm eine Wunderheilung vollzogen.«

Der in Boston als Polizeipräsident fungierende nickte und sah zu in die Runde. »Vielleicht wurden wir von dem Leiter der Klinik belogen, wenn nicht, muss ich dem Detektiv zustimmen. Insofern hätte JJ recht und es gilt herauszufinden, warum dem Serienkiller die Flucht ermöglicht wurde. Haben wir ein Detail übersehen? Könnte zum Beispiel ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den beiden bestehen?«

»Ausgeschlossen«, erwiderte Forrest. »Ich habe mir die Akten über Timothy Walters angesehen, die Detektiv Jermain Wrexley zusammengestellt hatte. Das waren hervorragende Recherchen des Kollegen und es gibt keine Verbindungen zwischen dem Killer und dem Mann, der Auftragsmörder anheuert, um sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Es muss einen Zusammenhang unter ihnen geben.«

»Die Frage ist welchen«, warf JJ ein.

»Jesse wird es herausfinden, davon bin ich überzeugt«, sagte Forrest und ergänzte: »Ich weiß immer noch nicht, warum ich hier bin.«

Die Miene des Kommissars der Stadt wurde dunkler. »Ich hatte eine Unterredung mit dem Leiter des FBI. Die Bundespolizei nimmt an, dass der CIA und Roger Dovell kooperiert hatten. Der Unternehmer ist nach Peru geflohen, aber inzwischen wieder in den Staaten. Niemand kann ihm etwas anhaben und der CIA scheint an seiner Person ohnehin kein Interesse zu haben. Im Inland wären der Behörde sowieso die Hände gebunden, doch sie haben ihn auch während seines kurzen Auslandaufenthalts nicht behelligt. Es wird deshalb vermutet, dass eine riesige Schweinerei am Laufen ist und Roger Dovell von unserem Geheimdienst unterstützt wird. Dem FBI ist zu Ohren gekommen, dass Sie und Ihre Adoptivtochter Beweismaterial unterschlagen haben, mit dem es möglich gewesen wäre, Roger Dovell dingfest zu machen. Wenn es stimmt, sitzen Sie gewaltig in der Klemme. Meine Frage: Ist der Vorwurf gerechtfertigt?«

»Wenn es so wäre?«, wich der Detektiv einer Antwort aus.

»Forrest, keine Spielchen! Ist es wahr? Haben Sie uns und der Bundespolizei Dokumente vorenthalten?« Der Detektiv nickte, denn John hatte es nicht verdient, angelogen zu werden. »Sind Sie noch bei Sinnen?«, platzte dem Kommissar der Kragen. »Das kann Sie und Ihre Adoptivtochter für Jahrzehnte in den Knast bringen!«, wurde er noch lauter und schwieg plötzlich. Die Gelassenheit des Ermittlers hatte ihn von einer Standpauke abgehalten, stattdessen hatte ihn das Verhalten zunächst irritiert und prompt neugierig werden lassen. »Raus mit der Sprache! Ich sehe doch, dass es Ihnen schwerfällt, den Mund zu halten.«

»Wissen Sie John, wir haben gewusst, was wir taten, deswegen haben wir es gemacht. Nachdem Molly die sechzig Namen aus Trauer und Zorn in den Nachrichten veröffentlicht hatte war klar, dass sie und ihre Familie fortan auf der Abschussliste des Dreckskerls stehen. Die Unterlagen waren die beste Lebensversicherung. Der Deal zwischen dem Sender AM-Channel und Roger Dovell besteht aus einer Vereinbarung, die uns alle schützt. Wenn einem Familienmitglied der Waterspoons irgendetwas unnatürliches zustoßen sollte, wandern die Papiere umgehend zum FBI.«

»Sind Sie wahnsinnig?«, fragte JJ konstatiert.

»Vielleicht ein bisschen, allerdings bin ich nicht lebensmüde«, konterte Forrest. »Es kotzt mich an wie die Dinge liegen, viel lieber sähe ich Dovell im Knast, noch besser, auf dem elektrischen Stuhl. Egal, wie es gedreht wird, sollte Roger im Gefängnis landen, besäße er immer noch genug Zeit und reichlich Kontakte, um uns liquidieren zu lassen. Solange die Dokumente nicht öffentlich werden, ist meine Familie sicher. Ich gebe zu, es gefällt mir nicht, allerdings ist es die einzige Alternative, die uns zur Verfügung steht. Aus dieser Perspektive kann mich das FBI am Arsch lecken und in Beugehaft nehmen. Sie können mich hier und jetzt suspendieren oder entlassen, es ändert nichts. Die von Molly und mir gefundenen Unterlagen bleiben dort, wo sie sind. Es sind Papiere, die rechtmäßig uns gehören. Ordnungsgemäß habe ich sämtliche Dokumente zurück ins Präsidium gebracht, die im Haus von Marvin gefunden wurden. Die Kartons mit den Akten und Videos aus Arthur Sedons Haus waren nie das Eigentum irgendeiner Behörde.«

»Das ist Unsinn und das wissen Sie!«, legte John Protest ein.

Forrest zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, es ist Haarspalterei meinerseits, ändert jedoch nichts an den Tatsachen. Um die Besitzverhältnisse der Unterlagen zu klären, müsste ein Gericht eingeschaltet werden. Ein Prozess zwischen dem Staat und AM-News, einem landesweit bekannten Nachrichtensender, könnte Jahre dauern. Freiwillig bekommt die Bundespolizei die Papiere nicht, schließlich geht es um das Wohlergehen meiner Familie.«

»Sie sind ein sturer Hund!«, fauchte JJ den Detektiv an.

»Aber einer, der am Leben ist und bellt«, erwiderte Forrest.

John Shaddock zog die Aufmerksamkeit auf sich, indem er mit der flachen Hand gemäßigt auf die Tischplatte schlug. »Kommen wir zu dem Punkt, weshalb ich um die Unterredung gebeten hatte. Wie gesagt, ich wurde vom FBI aufgesucht und natürlich wussten die durch die Einsicht in Ihre Akten über Sie Bescheid. Wollen Sie die Meinung eines Profilers über Ihre Person hören?«

»Legen Sie los«, sagte Forrest.

»Im Grunde hat JJ mit seiner Aussage von eben Ihre Beurteilung perfekt beschrieben. Sie werden als Einzelgänger eingestuft, sind selten kooperativ, kein Freund von schönen Worten und verfügen über den Teamgeist eines Tennisspielers. Grob gesagt: Ginge es nach dem FBI, wären Sie längst Sheriff in irgendeinem Kaff, dass noch nicht einmal auf einer Landkarte verzeichnet ist. Allerdings vertraten die zwei Herren der Bundespolizei keineswegs die arroganten Kollegen ihrer Behörde. Sie waren besser im Bilde als ich und haben nichts gefordert, sondern um eine Zusammenarbeit gebeten um Sie nicht in Verlegenheit bringen zu müssen. Ihr Ruf eilt Ihnen sozusagen voraus, außerdem ist die Bundespolizei nicht daran interessiert, einen Kollegen zu schnappen, also Sie. Die Agenten haben mir deutlich zu verstehen gegeben, Roger Dovell und seine Hintermänner beim CIA verhaften zu wollen, dazu brauchen sie Hilfe. Die FBI-Leute hatten im Gegensatz zu JJ und meiner Person den richtigen Verdacht, wir wussten ja nichts von den unerlaubt entwendeten Dokumenten.«

»Die Unterlagen sind nicht auf strafbare Weise entwendet worden. Wir haben sie an uns genommen, nachdem wir sie entdeckt hatten«, widersprach Forrest.

»Jedenfalls wurde beim FBI angenommen, dass die Papiere eben eine Lebensversicherung für ihre Familie darstellen. Deshalb ist man gewillt, die Sache unter den Tisch fallen zu lassen. Dafür wird eine Gegenleistung erwartet.«

»In welcher Form?«, fragte Forrest.

John sagte: »Detektiv! Sie haben keine Wahl, entweder, oder.«

»Schön, trotzdem will ich wissen wie mein Beitrag aussehen soll.«

»Sie werden eine Zeitlang inkognito für das FBI arbeiten und sich an Roger Dovell heranmachen.«

»Bitte?«

»Das ist der Plan, von dem ich keine Ahnung habe, wie er genau aussieht. Hören Sie sich das Angebot des FBI an, danach sagen Sie zu oder ab. Nur eines: Passen Sie um Gotteswillen auf sich auf!«

»Wegen Baby?«

Der Polizeipräsident nickte. »Vor allem wegen ihm. Eine der Theorien über seine Befreiung sagt, dass der Psychiater seine Hände mit im Spiel haben könnte.«

Forrest wurde stutzig. »Wie das?«

JJ nahm John Shaddock die Antwort ab: »Er ist über Nacht spurlos verschwunden, hat seine sämtlichen Konten leergeräumt und aufgelöst. Es geschah in einer Weise, die vermuten lässt, dass er in Richtung Boston unterwegs ist, was ihn umso verdächtiger macht. Das FBI ist überzeugt, dass er dem Serienkiller zur Flucht verholfen hat. Bei näherer Betrachtung der Umstände ist es auch wahrscheinlich, dass der Psychiater inzwischen selbst Irre geworden ist.«

Ein paar Minuten später saß Forrest allein am Tisch. Er hatte das Gefühl von einem Lastwagen überrollt worden zu sein, ohne sich auf einer Straße befunden zu haben. Er mochte das FBI nicht, ihm waren sämtliche Umstände zuwider, doch der Polizeipräsident hatte wahre Worte gesprochen. Alternativen besaß er keine. Seine Gedanken flogen fast eine Stunde wie ein Blatt im Wind umher. Danach war er zu der Überzeugung gelangt, dass seine Person für das FBI nur als Kanonenfutter wertvoll sein konnte. Wie früher und schon so oft, wurde Forrest von seinem Bauchgefühl nicht betrogen.

Es war der Deal mit AM-Channel, der Roger Dovell in die Staaten zurückkehren ließ. Wären die Papiere in die Hände des FBI gelangt, hätte der Unternehmer erhebliche Schwierigkeiten mit der Justiz bekommen. Mit der Vereinbarung gab es gegen ihn ausschließlich Verdachtsmomente, die nicht zu beweisen waren. Das Abkommen zwischen dem Sender und dem Geschäftsmann war von ihm und Molly Waterspoon in Anwesenheit von Notaren und Rechtsanwälten unterschrieben worden.

Molly war es, die sich über dunkle Kanäle an den Unternehmer gewandt hatte, der alle lebensnotwendigen Industrien zum Teil in seiner Hand hielt. Sie hatte eingesehen, dass die Veröffentlichung der sechzig korrupten Namen ein Fehler war. Ihre Familie wurde durch den emotionalen Schritt ungewollt in Gefahr gebracht und vermutlich auf eine Abschussliste gesetzt. Erst Tage später hatte sie die Gefahrenlage begriffen und alle Hebel in Bewegung gebracht, um mit Roger Dovell ein Treffen zu organisieren. Selbst Forrest wusste zunächst nicht, dass seine Adoptivtochter zu Beginn des Monats in Perus Hauptstadt Lima war. Erst danach hatte sie ihm davon berichtet und Entwarnung für die Familie gegeben. Es war einer der wenigen Tage im Leben des Detektivs, der ihn vollends zum Schweigen gebracht hatte. Er war unfähig sich über die Nachricht zu freuen, ebenso nicht in der Lage, der Journalistin die Leviten zu lesen. Am Ende besaß ihre Botschaft den Effekt einer gewaltigen Erleichterung. Wegen eines Stücks Papiers die Familie in Sicherheit zu wissen, war allemal besser als sich ständig Sorgen machen zu müssen.

Aus dem Blickwinkel der Justiz hatte sich Molly in gewisser Weise strafbar gemacht. Roger Dovell war ahnungslos von der Existenz der Unterlagen, die von Arthur Sedon in all den Jahrzehnten angefertigt und gesammelt wurden. Dem Apotheker war es gelungen, Gespräche aufzuzeichnen, in denen auch der Name des Unternehmers erwähnt worden war. Dazu kamen Videos und Belege von Geldübergaben und auch die geäußerten Drohungen, die ihn zu der unfreiwilligen Mitarbeit gezwungen hatten. Molly ließ dem Unternehmer über Boten einige Auszüge aus den Dokumenten zukommen und wurde daraufhin von ihm empfangen. Für sie war es in doppelter Hinsicht ein furchtbarer Tag. Zu einem stand sie einem Mann gegenüber, der mitschuldig am Tod ihres Verlobten Adam Kean war. Zum anderen ging es um die Sicherheit ihrer Familie, wodurch der Hass auf Roger in ihrem Seelenleben zu ruhen hatte und in ihrer Mimik unsichtbar bleiben musste. Bereits bei der Begrüßung hätte sie den glatten und damit schleimigen Geschäftsmann umbringen können. Mit forschen Schritten war er am Flughafen auf sie zugekommen und hatte sie mit „Meine liebe Missis Waterspoon“ begrüßt. Prompt waren Adams Berührungen, seine Stimme und sein Lächeln bei ihr präsent, überall, nur nicht im Kopf. Ihr Verstand begann sich das Gesicht des selbstverliebten Mannes einzuprägen und dachte nur an ihre Verwandten: Forrest, Betty, ihre Stiefschwestern, ihren Männer und Kinder sowie Claire, ihrer Zwillingsschwester, von der sie lange nicht wusste, dass es sie gab. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie ohne Forrest längst tot wäre, ihren Adam nie kennengelernt hätte und dementsprechend konnte sie reagieren.

»Mister Dovell, lassen wir gelogene Höflichkeiten und erledigen schnellstmöglich die Angelegenheit, wegen der ich hier bin.«

Das Lächeln des Unternehmers erstarb. »Wie Sie wünschen. Ich habe hier am Airport eine Lounge reservieren lassen, damit Sie Ihren Rückflug nicht verpassen.«

Die Unterschriften waren eine Formsache und schnell erledigt, aber was waren sie wert? Roger Dovell besaß bei jedem Geschäft einen Hintergedanken, auch wenn die Familie Waterspoon laut seinen Worten von der Abschussliste genommen worden war. Der Deal hatte selbstverständlich nur für die Zeit eine Gültigkeit, in der keine weiteren Veröffentlichungen von Details aus den Akten von Arthur Sedon erfolgen würden.

Umgekehrt hatte Molly zugesagt, auf solches Vorgehen zu verzichten, solange es in ihrem Familienkreis keine rätselhaften Todesfälle geben sollte. Es war aus dieser Hinsicht in einem unlauteren Wettbewerb ein faires Geschäft, doch ein Gefühl besaß einen Unsicherheitsfaktor, der einem brodelnden Vulkan ähnlich zu sein schien. Es war der Hass gegen den Unternehmer, der die Reporterin gefangen genommen hatte. Beim Anblick von Roger Dovell war in Molly ein Strang gerissen, der im Volksmund als Nächstenliebe bezeichnet wird. Sie hatte ihren Vater gehasst, der angeblich ihre Mutter und ihren Bruder getötet hatte. Es war eine falsche Behauptung und erst vor wenigen Wochen wurde sie von Forrest davon in Kenntnis gesetzt, dass ihr totgeglaubter Vater noch am Leben und kein Mörder war. Kurzzeitig nahm sie ihm die verspätete Information übel, aber daraus war ihm gegenüber keine Feindseligkeit entstanden. Zugegeben: Ihre ermordete Kollegin Lucille Proud konnte sie nie leiden, doch die Abneigung hielt sich in Grenzen, trotz der erlittenen Erniedrigungen durch die einstmalige Nachrichtensprecherin. Unausstehlich war auch ihr ehemaliger und ebenfalls umgebrachter Arbeitgeber Richard Steve Bakster. Nur waren es Gefühle, die nichts mit einem rigorosen Hass zu tun hatten. Gegen all diese Personen wurden von ihr Antipathien gehegt, die menschliche Züge trugen, ohne wirklich zu hassen.

Bei Roger Dovell verhielt es sich anders: Dem Drecksack hätte sie am liebsten auf der Stelle die Augen ausgekratzt und die Eier abgeschnitten. Dabei wäre sie fähig gewesen zu lachen um zugleich wegen Adam zu weinen. Mollys Hass beinhaltete ein gefährliches Potenzial: Entweder sie oder er, einer von ihnen würde sterben.

Forrest war ein ausgesprochen fähiger Detektiv, nur wurde seine berufliche Karriere von Fällen überschattet, die ihn beinahe zu einer Lachnummer gemacht hätten. Umgekehrt wäre keiner seiner Kollegen fähig gewesen, die richtigen Schlüsse zu ziehen, um weitere Verbrechen und Morde zu verhindern. Teilweise war ihm bei den Ermittlungen das Glück zur Hilfe geeilt, zudem hatte er in Jesse Owens einen Partner, der ein Weltmeister am PC und im Recherchieren war. Unabhängig von Pech, Glück, Zufall und Schicksal, hellsehen konnte er trotz seiner Erfahrung und des verlässlichen Bauchgefühls nicht. Die Gefühle von Molly waren ihm ebenso unbekannt wie die Hintergedanken von Roger Dovell. Außerdem wurde er von der gegenwärtigen Situation in Atem gehalten, obwohl er wegen ihr keinen Meter zu Fuß zurückgelegt hatte. Gedanklich allerdings befand er sich in einer Lage, die er nur seinem ärgsten Feind gewünscht hätte. Vielleicht noch nicht einmal ihm, denn auch der grimmige Hutträger hatte nur eine harte Schale und einen weichen Kern. Der Unterschied zu anderen Menschen mit ähnlichen Wesenszügen war, dass er stets versucht hatte, seine Prioritäten nicht zu verändern. Der Kampf gegen Ungerechtigkeiten, Verbrechen und Morde waren für ihn zu oft wichtiger geworden als das Leben im Kreis seiner Familie. Er hatte den Beruf häufig mit nach Hause genommen, damit die Harmonie zunichte gemacht. Mitunter, wenn er zuhause war, befanden sich seine Gedanken an einem Tatort oder bei einem Opfer, wofür niemand auf Dauer Verständnis gehabt hätte. Für seine Frau und Kinder war die Tätigkeit bei der Polizei und im Morddezernat eine immense Belastung, die ab und zu in schwere Ehekrisen ausgeartet waren. Solche Tage hatten sein Leben zu einer Achterbahn werden lassen. Wie den Job ohne Befangenheit zu aller Zufriedenheit erledigen, wenn die Gefühle brach liegen, lautete eine der Fragen, die er sich in solchen Momenten gestellt hatte. Im Augenblick stand er nicht vor einem ähnlichen Problem, sondern dem alles entscheidenden Ultimatum: Unabhängig was war, wie sollte es in Zukunft weitergehen?

Sich vom FBI benutzen zu lassen, um Roger Dovell hinter Gitter zu bringen, war eine Option, die ihm Unbehagen bereitet hatte. Der Unternehmer war kein Idiot, zu allem fähig. In diesem Punkt gaben der Reichtum und das Geld den Ton an. Niemand war imstande sich ein verlängertes Leben erkaufen zu können, wenn die biologische Uhr abgelaufen war. Andererseits konnte der Tod durch das Überreichen von ein paar Scheinen einen ungeliebten Menschen oder Konkurrenten plötzlich ereilen. Früher als es vom Ticker der Biologie in der Aufenthaltsdauer auf und nicht unter der Erde möglich gewesen wäre. Forrest wurde das Gefühl nicht los, dass die Leute vom FBI bereit waren, ihn zu opfern. Irgendwie kam es ihm vor als ob sie sein Ticket ins Jenseits bezahlt hätten. Er selbst musste kurzfristig entscheiden, ob er gewillt war, das Risiko einzugehen. Zwangsläufig hatte sich ihm die Frage aufgedrängt, was wäre, wenn es ihn nicht mehr geben würde. Betty war auf der sicheren Seite, sie war versorgt. Seine Töchter waren verheiratet, er ihr Vater, aber schon lange gehörte er nicht zu ihrem Leben. Der Kontakt war schon wegen den Entfernungen spärlich, dazu kamen die Zeitunterschiede zwischen Kalifornien, Massachusetts und Texas, letztlich sein Beruf. Auch um sie musste er sich keine Sorgen machen. Das Verhältnis zwischen ihm und seinen zu schnell groß gewordenen Töchtern war intakt, nur eben selten. So war das Leben eben, also ziemlich uneben, erst recht, wenn eine Familie durch Distanzen getrennt worden war, die nicht spontan bewältigt werden konnten.

All die Gedanken, die den Detektiv bewegt und berührt hatten, zudem nicht einschlafen ließen, führten ihn in einen Zustand der Selbstzweifel. Irgendwie kam sich Forrest ungebraucht vor, sah sich im Gegenteil als Ballast, weswegen er dem FBI eine Zusage gegeben hatte, bevor er dann doch eingeschlafen und wieder wach geworden war.

Baby hatte im ersten Moment keine Ahnung, wo er war und zudem das Gefühl allein zu sein, so einsam wie niemals zuvor. Ob im Elternhaus oder in der Obhut seiner Oma, deren Willkür er ertragen musste, die gegenwärtige Einsamkeit besaß völlig andere Dimension. Die Geister in seinem Kopf hatten ihn verlassen, waren scheinbar böse auf ihn. Sie sprachen kein Wort, schrien und riefen ihm nicht hinterher, versuchten ihn noch nicht einmal zu überreden, um irgendeine Dummheit anzustellen. Dass er seine Frau und Kinder verloren hatte wurde dadurch nebensächlich. Unerträglich war der Verlust der Gespenster und Dämonen, ohne sie hatte er die Bestimmung ein Niemand zu sein und ein Nichtsnutz bleiben zu müssen. Was war überhaupt in den vergangenen Stunden und Tagen geschehen? Er fing an, sich zu konzentrieren, und war bemüht, die Ereignisse aus den letzten Tagen wach werden zu lassen. Da war seine Oma, die mit seiner Großmutter bis auf das Haar keine Ähnlichkeit gehabt hatte. Ein junger Mann wurde von ihm gezwungen, ihre Rolle einzunehmen, nachdem er von ihr wieder einmal brüskiert worden war. Er wollte seine Oma über Wochen leiden und dahinvegetieren sehen, doch sie hatte den bis dahin erlittenen Torturen Tribut zollen müssen und zu Atmen aufgehört. Der menschliche Verlust war ihm egal, der Verzicht sie nicht mehr peinigen zu können hatte ihn rasend gemacht. Soweit er sich erinnern konnte, waren die Gespenster in seinem Kopf schuld daran, dass er einen homosexuellen Mann namens Julian überwältigt hatte. Vielleicht lag es an der sexuellen Neigung, warum er von Baby in der Folge für seine Großmutter gehalten und genauso behandelt wurde. Die Erinnerungen an die unmittelbare Zeit danach begannen zu schwinden. Dafür wusste er, wie er an den unbekannten Ort gekommen und was in den Stunden und Tagen zuvor passiert war. Sein Gedächtnisverlust bezog sich auf die Zeitspanne, in der er von Forrest angeschossen worden war, bis zu seiner Ankunft in der psychiatrischen Klinik. Vage besaß er in seinem Kopf noch Bruchstücke von den Gesprächen mit Larry Beauford, der ihm versichert hatte, dass er sich in seiner Obhut in Sicherheit befinden würde. Zunächst war Baby wie ein unheilbarer Irrer und Häftling behandelt worden, besonders dann, wenn andere Leute bei den Unterhaltungen mit dem Psychiater zugegen waren. Schließlich fingen die Therapiestunden an, sich zu vernebeln. In seinem Verstand war eine Leere entstanden als ob es die Unterhaltungen mit dem Arzt nie gegeben hätte. Eines jedoch war bei Timothy alias Baby im Unterbewusstsein nicht verloren gegangen: Nach jedem Gedankenaustausch mit dem Anstaltsleiter ging es ihm besser. Nicht nur seelisch, sondern auch körperlich und zudem in Bezug auf seine Unterbringung. Zunächst war ihm die Zwangsjacke abgenommen worden, dass Essen wurde reichlicher und schmackhafter und zuletzt hatte er eine Bewegungsfreiheit erhalten, die mit einer Sonderbehandlung gleichzusetzen war. Die Gründe dafür blieben ihm verborgen, ebenso der Umstand, warum ihn fremde Leute aus der Klinik geholt hatten. Wie es genau vonstattengegangen war, konnte er nicht sagen. Plötzlich wurde er von einem Schrei aus dem Schlaf gerissen und noch bevor er reagieren konnte, hatten ihn mehrere Männer aus seinem offenen Haftraum und dem Gebäude gezerrt. Er wurde in den Innenraum eines abfahrbereiten Kastenwagens gedrängt, indem merkwürdigerweise auch Larry Beauford saß, der beruhigend auf ihn einzureden begann. Die Worte konnte sich Baby nicht mehr ins Gedächtnis rufen, allerdings hatten sie ihn auf der Stelle ruhiggestellt. Für einen Mann seiner Statur war das bemerkenswert.

Baby bleibt Böse - Tatort Boston

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