Читать книгу 80 Jahre danach in der schönen neuen Welt - Ron Palmer - Страница 5

Kapitel 1 – Ich bin stolz ein Zweier zu sein

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Die schwarze Flaschenreihe klimperte auf der Förderanlage. Putina erinnerte das entfernt an die Geräusche, die sie vor sechs Monaten in den oberen Stockwerken der Schule gehört hatte. Statt in den Pausengarten zu gehen, stieg sie damals die Treppe hinauf bis in die Etage, wo nur die Einser-Kinder der Grundschule unterrichtet wurden. Eine Tür stand offen. Das interessante Klimpern zog Putina unwiderstehlich an, sie ging ihm entgegen und bliebt im Türrahmen stehen. Sie sah einen etwa gleich alten Jungen vor einem hölzernen Kasten sitzen. Er drückte am Kasten auf eine Reihe schwarzer und weißer Tasten und entlockte ihm so die faszinierend klingenden Töne. Am Türrahmen entzifferte sie K-L-A-V-I-E-R-Z-I-M-M-E-R und wollte eintreten. Bohrend durchfuhr sie plötzlich ein automatischer Elektroschock aus ihrem Erziehungshalsband. Das hatte sie noch nie gefühlt, wusste aber sofort, dass dieser Bereich für Zweierinnen wie sie tabu war. Weinend rannte sie in den Pausengarten hinunter. Sie wischte ihre Tränen weg. Niemand hatte ihren Fehltritt bemerkt und sie ging danach nie wieder in die oberen Stockwerke der Schule.

Noch mehr schwarze Flaschen zogen auf dem weißen Förderband an Putina vorbei, während der uniformierte Mann erklärte, dass darin kleine Kinder heranwuchsen. Sie kippte ihren Kopf auf die rechte Schulter. Jetzt sah sie plötzlich vor sich eine endlose Klaviertastatur in der Weite der Bruthalle verschwinden. Das Klimpern war nicht so schön wie das Klimpern, das der Junge mit den Tasten am Klavier gemacht hatte. Sie hielt den Kopf wieder aufrecht und sah erneut die schwarz getönten Brutflaschen mit den zehnwöchigen Embryos darin. Man konnte sie nur gegen das Licht als erdbeergroße Schatten erkennen. Langsamer als eine Schnecke krochen die Brutflaschen auf der Förderanlage vorwärts. Klaviertastatur - Brutflaschen - Klaviertastatur - Brutflaschen, das erkannte Putina vor sich, je nachdem, wie sie ihren Kopf hielt. Die Lehrerin stieß sie unwirsch an: "He, was soll das? Du sollst zuhören, was uns der stellvertretende Klon- und Prägungsdirektor zu sagen hat."

Das Mädchen lief rot an. Noch nie zuvor wurde die unauffällige Putina von ihrer Lehrerin zurechtgewiesen. Sie wusste nicht, ob sie vielleicht gegen das Traumverbot verstoßen hatte und spürte Panik. Ihr hatte vorher niemand gesagt, dass sie die Brutflaschen nicht schräg betrachten durfte, und sie hatte dabei doch gleichzeitig dem stellvertretenden Klon- und Prägungsdirektor gehorsam zugehört, wie es von ihr verlangt wurde. An dieser Stelle der Förderanlage wurden die Hormone zugesetzt, mit denen die Körpergröße der späteren Erwachsenen bestimmt wurde.

Bild: Flaschenreihe-b2-b490.jpg

Obwohl sie gut zugehört hatte, widersprach Putina der Lehrerin nicht. Sie wollte nicht noch mehr auffallen. Seitdem wusste sie, dass sie die Dinge anders wahrnahm, als sie wahrgenommen werden sollten, und mit jedem Monat, den sie älter wurde, spürte sie einen inneren Widerstand dagegen in sich heranwachsen. Das machte ihr Angst.

Vor noch nicht einmal einem Jahr hatte sie erlebt, wie der siebenjährige Slobodan aus ihrer Klasse abgeholt wurde. Wegen abweichender Prägung, so versuchte es die Lehrerin zu erklären. Putina konnte sich noch daran erinnern, wie er nur einen Tag davor zunächst dem Sport-Lehrer und in der nächsten Stunde auch noch der Einheitskunde-Lehrerin widersprochen hatte. Ziemlich höflich hatte er seine Lehrer auf einen Widerspruch in ihrem Unterricht hingewiesen und ihn sogar als Frage formuliert. Doch Putina hatte Slobodan seitdem nie wieder gesehen.

Sie glaubte jetzt krank zu werden, wenigstens ein wenig. Sie hoffte, dass es nicht so schlimm wie bei Slobodan werden würde und es mit der Zeit von alleine wieder verschwinden werde. So verhielt sie sich weiter unauffällig.

Arnold Wankel goss sich ein großes Glas kaltes Leitungswasser ein, um Klarheit in seinen noch immer dröhnenden Kopf zu bekommen. Er hätte nur ein Gramm Isodol-Zwei nehmen müssen und keine zehn Minuten später wäre er gut gelaunt und voller Elan an seine Arbeit gegangen. Aber Arnold hatte keine Lust auf das neue, aufputschende, schmerzstillende und stimmungsaufhellende Kügelchen. Isodol-Zwei - alle schworen jetzt auf Isodol-Zwei. Und die Psychologen verordneten Isodol-Drei, das medizische Isodol, wenn nichts mehr half. Gaga-Isodol nannten es viele hinter vorgehaltener Hand. Arnold überzeugten auch die neuen Isodol-Sorten nur wenig und mit jedem Tag immer weniger. Wenn er Isodol-Vier nahm, litt er meistens unter dem Gefühl, dass es irgend einen wichtigen Teil seines Gehirns einschläferte statt ihn aufzuwecken. Aber Isodol-Vier sollte doch glücklich und wach machen und nicht glücklich und entspannt wie Isodol-Drei. Vielleicht war das bisher nur ihm aufgefallen, denn er hatte nie jemanden darüber reden hören. Viel angenehmer als Isodol-Vier fand er es, nach einer lauwarmen Dusche einen Spaziergang zu machen und zu spüren, wie sich der Kater des Vortages von allein verzog. Dieser Kater war nicht wirklich schmerzhaft, lediglich ein leichtes Rauschen zwischen den Ohren mit einem leichten Schwindel und keine Folge des Alkohols. Dieser hatte schon lange keine Nebenwirkungen mehr. Es war heute vielmehr ein gestörter Flüssigkeitshaushalt, Muskelverspannungen und der Schlafmangel der langen Neujahrsfeier, die ganze zwanzig Stunden gedauert hatte. Er konnte sich nicht mehr an alles erinnern.

Immerhin wusste er noch, dass nun die Sechzigerjahre begonnen hatten, das Jahr 760 nach Chicago. So hieß die neue Zeitrechnung. Chicaco war für Arnold ein sehr abstrakter Begriff. Er wusste natürlich aus der Nachtschule, dass die Fließbandarbeit damals in den Chicagoer Schlachthöfen erfunden wurde. Es war eben nicht jener Herr Ford, wie dies die Anhänger der Geschichtsfälschung noch viele Jahre lang behauptet hatten. Zum Glück wurde dieser Irrtum in der großen Kulturrevolution vor fast achtzig Jahren korrigiert.

Die Sechzigerjahre begannen jetzt also. Als Kind hatte er bestimmte Vorstellungen über die Zukunft und die Sechzigerjahre waren für ihn immer ferne Zukunft gewesen – unerreichbar fern. Die meisten seiner Vorstellungen der Zukunft stammten aus den Science-Fiction-Filmen, die er in Emo-Kinos erlebt hatte. Er sah dort die gleiche schöne Welt, in der er bereits lebte, jedoch in vielen kleinen Details noch ein wenig perfekter und schöner. An viele seiner damaligen Visionen der Zukunft konnte er sich nur noch verschwommen erinnern. Woran er sich aber jedes Mal ganz deutlich erinnern konnte, war ein dumpfes Gefühl in seinem Kopf, und das nach jedem Kinobesuch, ganz ähnlich wie sein momentaner Kater.

Damals waren die Beruhigungswellen-Emitter noch nicht in allen Emo-Kinos eingebaut. Die Emitter sorgten während der Filmvorführung dafür, dass die Emotionen der Zuschauer nicht zu stark wurden. Niemand sollte zu begeistert, womöglich deprimiert oder nachdenklich das Kino wieder verlassen. Am Anfang funktionierten die Beruhigungswellen-Emitter noch nicht so zuverlässig wie heute. Aber man erzählte sich, wie gefährlich es sein konnte eins der älteren Kinos zu besuchen, die nur schwache Beruhigungswellen-Emitter besaßen. Eines Tages soll nach einem sehr aktionsgeladenen Film ein junger Zweier-Minus geglaubt haben, er könne unverletzt sechs Stockwerke tief auf eine Aussichtsplattform herunterspringen. So hatte er es im Film gesehen. Ein breitschultriger Eins-Plus rettete im Film unzählige Einser, Zweier und Dreier, indem er von Hochhaus zu Hochhaus sprang und dabei blaue Invasoren aus dem Weltall mit bloßen Händen erschlug. Der Zweier starb bei seinem Versuch den Filmhelden nachzuahmen.

Seitdem die Beruhigungswellen-Emitter vorgeschrieben waren, hatte es keinen solcher Unfälle mehr gegeben. Zumindest war keiner mehr bekannt geworden. Gut bekannt war aber jedem die Wirkung der Wellen in Filmen, in denen die Emitter besonders intensiv arbeiteten. Das war immer während sehr emotionalen oder Fantasie anregenden Filmen der Fall. Die Besucher kamen dann angeheitert und entspannt aus den Kinosälen, sodass sie oft noch Stunden danach kein Verlangen nach Isodol verspürten. Die Wellen behindern das Kurzzeitgedächtnis und erzeugen eine sehr zufriedenstellende Euphorie bei den Kinogästen. Sie können dann nicht länger als einige Sekunden über das Erlebte nachdenken und die Erinnerungen an den Film verdunkelten sich in ihrem Langzeitgedächtnis zu Erinnerungen wie aus sehr früher Kindheit. Ein Actionfilm war ein Actionfilm, eine Komödie eine Komödie. Die Kinobesucher wollten gute Unterhaltung und Ablenkung, keine Details, über die sie noch lange nachgrübeln oder sogar streiten mussten. Die Beruhigungswellen-Emitter zerstreuten regelrecht die Gedanken und Erinnerungen.

Science-Fiction wurde in den Emo-Kinos nicht sehr häufig gespielt. Doch Arnold erinnerte sich immer an seine gespannte Neugier am Anfang dieser Filme. Doch je länger die Wellen einwirkten, desto mehr nahm diese Neugier ab. Nur selten konnte er sich nachher an die Handlung in der Mitte des Films erinnern. Meistens blieb ihm die erste Szene im Gedächtnis und vielleicht noch das Happy-End, weil die Wellen am Ende etwas reduziert wurden. So bekam man zwar den Eindruck den Film bei vollem Bewusstsein erlebt zu haben, sich mit anderen über Filme zu unterhalten war dadurch aber nur sehr oberflächlich möglich. Oft blieb es bei einem „Hast du den Film auch gesehen?“ - „Ja, schöner Film.“ Ganz selten mehr.

Das alles stellte Arnold nicht zufrieden. Er wollte die Filme, die er so mochte, viel detaillierter im Gedächtnis behalten. So versuchte er bei weiteren Science-Fiction-Filmen, den Punkt dieses vergesslich-zufriedenen Stimmungsumschwunges auf später zu verschieben. Meistens erfolglos. Doch manchmal, wenn er einen Film an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen anschaute, blieb eine vage Vorstellung der gesamten Handlung in seinem Gedächtnis haften. Und er wurde sich immer sicherer, dass er über Nacht die bruchstückhaften Erinnerungen ein wenig sortieren und am Morgen etwas präziser wieder aus seinem Gedächtnis hervorholen konnte. Doch es war mehr wie eine Idee eines Film, die sich fast so anfühlte, als sei sie ihm gerade erst selbst gekommen. Je häufiger er einen Film ansah, desto besser erinnerte er sich. Nach der zwanzigsten oder dreißigsten Vorführung konnte Arnold einen Film mit etwa einem Dutzend Sätzen nacherzählen. Immerhin ein Dutzend Sätze, aber auch nicht mehr. Die Erinnerungen fühlten sich an, als sei sein Gehirn krank. Details verblassten immer wieder unaufhaltsam aus seiner Erinnerung. Zäher Gedankenbrei verhinderte eine klare Erinnerung, egal, wie intensiv er sich bemühte.

Dies behielt Arnold aber für sich, denn fantasievolle Gedanken galten, ähnlich wie Träumen, bereits als leichte Geisteskrankheit. Arnold bezweifelte geisteskrank zu sein, weil sich die Reisen in seine Gedankenwelten sehr gut anfühlten. Etwa so gut wie ein Gramm Isodol, nur frei und inspirierend statt betäubend. Diese innere Freiheit genoss Arnold, er nahm sich das Recht diese inneren Ausflüge zu unternehmen. Besonders da er er als Einser-Professor glaubte gewisse Rechte zu haben, auch wenn es so nirgends geschrieben stand. Er sprach nicht in den Andachtssitzungen oder sonst mit irgend jemandem darüber. Es kannte auch sonst niemanden, dem er das mitteilen wollte. Seine flüchtigen Bekanntschaften, weiblicher wie männlicher Art, und die Kontakte mit Kollegen waren reiner Freizeitvertreib, so wie die Neujahrsfeier letzte Nacht. Nein, so etwas wie intellektuellen Austausch oder philosophischen Gedankenaustausch gestattete Arnold nur mit sich selbst. Woher er die Eigenschaftswörter intellektuell und philosophisch kannte, wusste er nicht genau, aber er glaubte ihre ungefähre Bedeutung zu kennen.

Arnold war sicher, dass die Beruhigungswellen auch die Fantasie einschränkten, sogar noch stärker als Isodol. Im leichten Isodol-Zwei-Rausch hatte er schon manche Idee für seine Vorlesungen gehabt. Isodol-Zwei ersetzte seit einigen Jahren das erste Isodol und es war viel bekömmlicher als das alte. Aber nachdem er den Beruhigungswellen ausgesetzt war, fühlte er sich immer viele Stunden lang noch ideenloser als unter Isodol-Zwei. Arnold war sich aber sicher, dass seine Fantasie nicht schädlich für ihn war, sondern für seine Arbeit sogar nützlich. Als Einser-Professor unterrichtete er die Einser- und Zweier-Jungstudenten in Geschichte und in Errungenschaftslehre an der Frankfurter Krupp Universität. Er legte in seinen Vorlesungen stets Wert darauf, dass seine Studenten sich den Lehrstoff über mehrere Sinne oder Wahrnehmungskanäle einprägten, auch wenn es manchen schwer fiel dafür mehrere Sinne einzusetzen. Viele seiner Studenten schien es aber auch an der Fantasie zu fehlen, die in ihren Köpfen weitere Kanäle für neue Erkenntnisse bahnen würde. Doch das war wieder nur eine von Arnolds vielen geheimen Ideen.

Die Beruhigungswellen im Kino schienen im Gehirn jene weiteren Kanäle zu blockieren, über die man sich das Erlebte auf zusätzlichen parallelen Wegen viel nachhaltiger einprägen würde. Nach einem Kinobesuch fehlten dann im Gehirn weitere Anker, das Gesehene festzuhalten. So war es schwer möglich, die gesehenen Bilder mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen zu verknüpfen, um sie gleichzeitig in mehreren Bereichen der Gehirns abzuspeichern. Nur auf einem Kanal etwas wahrzunehmen bedeutete, dass man schon bei der kleinsten Störung, wie zum Beispiel der nächsten Filmszene, schnell wieder vergaß, was man davor gesehen hatte. So wie Träume aus der Erinnerung des Träumers verschwanden, wenn man nicht sofort versuchte sie sich nach dem Erwachen fest einzuprägen. Das hatte Arnold in einem Buch über Geisteskrankheiten gelesen, denn natürlich hielt er sich an das Traumverbot und träumte nicht. Die Bilder, die er im Schlaf sah, waren Erinnerungen, unbedeutende Bruchstücke von Erinnerungen. Nur ein bildliches Nachdenken im Halbschlaf. Nicht mehr, denn er war kein Träumer, da war er sich ganz sicher. Niemand durfte ein Träumer sein. Trotzdem war das alles Arnolds ganz persönliche Theorie, die er niemandem offenbaren wollte.

Je mehr es Arnold gelang, sich diese Filme durch Wiederholung im Gedächtnis zu bewahren, umso mehr regten sie seine Fantasie an. Bald fragte er sich, ob ein Emo-Kinofilm, indem man ihn sich immer wieder, Tausende Male anschaute, zu einer großen Wahrheit werden könnte. Damit würde sich die alte Nachtschulweisheit bestätigen.

Arnold vermied es das Wort Fantasie vor anderen zu benutzen, so lange er es vermeiden konnte. Es war in den letzten Jahren immer mehr zu einem Synonym für eine Geisteskrankheit geworden, die sich besonders unter den Einsern ausgebreitet hatte. Er selbst dachte aber sehr viel über den Begriff Fantasie nach und bekam immer mehr den Verdacht, dass viele seiner Ideen jener Quelle entsprangen, die als Fantasie bezeichnet wurde. Seine Gesundheit schien darunter nicht zu leiden. Also hatte er auch keinen Grund, etwas dagegen zu unternehmen oder einen Psychologen um Rat zu fragen.

Plötzlich unterbrach er diese Gedanken, weil er hoffte, dadurch einen anderen klarer zu erkennen, der sich gerade tief in seinem Gehirn kristallisierte. Er wusste, dass dieser Gedanke wichtig war und er ihn nicht verrinnen lassen durfte, bevor er ihn deutlicher vor sich sah. Woran hatte er zuvor gedacht? Neujahr, Chicago, Emo-Kino, Science-Fiction-Filme...Fantasie!

War es die Fantasie, die mit seiner undeutlichen Erkenntnis zu tun hatte? Nein. Aber was war es? Emo-Kino... Beruhigungswellen-Emitter...Isodol? Das war es: Isodol-Vier! Das neueste Produkt aus dem Hause Nixon-Pharma – Mach' Nächte durch und trink' viel Bier, wenn eins dir hilft: Isodol-Vier!

Arnold war sich jetzt sicher. Isodol-Vier hatte eine ähnliche Wirkung wie die Beruhigungswellen-Emitter in den Emo-Kinos: Sie hemmten die Fantasie und dämpften sogar starke Schmerzen. Seine Ideen hatte er seiner Fantasie zu verdanken, davon war er überzeugt. Deswegen wollte Arnold es sich nicht erlauben, dass etwas seine Fantasie dämpfte. Seine Vorlesungen wären dann exakt der fade Unterrichtsbrei, den die Zentrale für alle Universitäten genormt hatte. Arnold hielt große Stücke auf die Art, wie er unterrichtete. Besonders, wenn er auf manche Fragen der Studenten „kreative“ Antworten gab.

Das sorgte fast immer für heitere Vorlesungen und seinen Studenten gefiel das. Es war nicht das übliche Lachen aus Höflichkeit oder Verlegenheit gegenüber einem Professor, die Studenten lachten ganz entspannt und aus freien Stücken. So wurde Arnold beliebt bei seinen Studenten. Er war sich sicher, dass sich seine Vorlesungen besser einprägten, wenn die Studenten dabei viel lachten. Er hatte auch von Professoren gehört, die das mit viel Isodol im Hörsaal erreichten, aber das war für Arnold wie künstliche Heiterkeit auf Knopfdruck. Vielleicht schaffte er es seine persönliche Lehrmethode zum Standard künftiger Normen werden zu lassen. Arnold musste sie wahrscheinlich nur oft genug wiederholen. Doch auch diese Meinung behielt er für sich, denn: Zweiundsechzigtausendvierhundert Wiederholungen ergeben eine Wahrheit! Daran zweifelte selbst er nicht. Er musste nur beharrlich bleiben. Und er war sich sicher, dass er keine seiner kreativen Ideen im Unterricht jemals in einem Isodol-Zwei- oder Isodol-Vier-Rausch bekommen hatte, denn er war er immer nüchtern im Hörsaal.

Seine eigene Art zu unterrichten betrachtete Arnold lediglich als nützliches Werkzeug, um die genormten großen Wahrheiten besser zu vermitteln. Genauer betrachtet, hätte man sie aber schon als leichte Normabweichung bezeichnen können. Doch auch mancher Weltratspräsident, WRP genannt, soll schon vieldeutige Witze gemacht haben, die nur wenige andere Ohren gehört hatten. Man sprach in höheren Kreisen, dann entschuldigend, von „kleinen Wahrheiten“. Solche Abweichungen von der Norm waren damit offiziell gerechtfertigt. Der Begriff „kleine Wahrheiten“ war also der inoffizielle Befehl eine Äußerung oder sogar einen Vorfall augenzwinkernd zu vergessen. Bei Einsern wurde dies, sofern es nicht zu oft vorkam, toleriert. Nicht aber bei Zweiern oder gar den niederen Kasten. Es wäre nicht sehr logisch, dass neben den großen Wahrheiten gleichzeitig auch kleine Wahrheiten existierten. Es wäre ein Widerspruch. Dann musste auch das Erzählen von unorthodoxen Witzen, wie es der Weltratspräsident manchmal tat, ein kleiner Ausbruch von Fantasie sein. Wenn dem so sei, dann wäre dies eine weitere unglaubliche Erkenntnis, die Arnold sich niemals trauen durfte mit jemandem zu teilen.

Arnold fand sich im Aufzug wieder, der nach unten fuhr. Davor hatte er den Aufzug verlassen und war einige hundert Meter auf der die Spazierrunde der Promenaden-Plattform auf dem Dach des Wohnkomplexes gegangen. Er war durch seine Gedanken so abgelenkt, dass er sich an den Weg kaum noch erinnerte. Danach hatte er sich ohne nachzudenken auf den Weg zur Universität gemacht. Seine Aktentasche hatte er bereits unter dem Arm, als der Aufzug unten ankam. Die tägliche Routine hatte es überflüssig gemacht, dass er mit seinem Smart-Pad in der Uni anrief und ihnen dort eine Ausrede auftischte, warum er heute krank sei. Wenn Arnold sich nicht gut fühlte fuhr er vor der Arbeit automatisch nach auf das Dach des Porsche-Hochhauses und ging ein paar Meter. Sein Kopf war durch die vielen Gedanken an diesem Morgen und den Spaziergang wieder völlig klar geworden, und er freute sich auf die Vorlesungen. Nur ein Frühstück müsste er sich nach der ersten Vorlesung noch dringend besorgen. Wie konnten bloße Gedanken eine so aufputschende Wirkung besitzen, ähnlich wie es Isodol-Vier nach dem Schlucken für kurze Zeit bewirkte? Und dabei dämpften diese Gedanken nicht wie jenes Isodol nach einer weiteren Viertelstunde die Fantasie. Das war natürlich viel besser, denn Arnold legte ja großen Wert darauf, seine Kreativität nicht zu vernebeln.

Arnolds Smart-Pad piepte leise am Handgelenk. Es war die Erinnerung, dass seine U-Bahn in zwei Minuten einlief. Überflüssig, denn er betrat gerade den Bahnsteig. Nach diesem Feiertag waren hier noch viel weniger Menschen als sonst. Besonders von den höheren Kasten waren nur wenige zu ihrer Arbeit unterwegs. Eine U-Bahn öffnete ihre Türen und eine ganze Nachtschicht Vierer schwappte auf den Bahnsteig. Fünf dutzend erdfarbene Overalls, die zu höchstens vier verschiedenen Gesichtern der Klon-Geschwister gehörten. Das Neujahrsfest feierten nur die beiden oberen Kasten, Dreier und niedrigere Kasten gingen zu ihrer üblichen Arbeit. Dafür hatten sie ihre eigenen Feiertage.

Als Arnold die Vierer ansah, fiel es ihm schwer die einzelnen Gesichter zu unterscheiden, außer vielleicht durch eine mehr oder weniger starke Schmutzschicht. Das amüsierte ihn, obwohl man Witze über Kasten nicht laut äußern durfte. Doch es gab diese Witze. Sie wurden auch gestern Abend unter den feiernden Einsern und Zweiern erzählt, aber keiner davon fiel Arnold jetzt noch ein. Isodol macht eben vergesslich. Nur besonders häufige Wiederholungen prägten sich auch unter Isodol-Einfluss in das Gedächtnis ein. Es waren selten die interessanten, sondern meistens die dummen Dinge, die hängen blieben. Arnold konnte sich noch nicht einmal erinnern, mit wem er sich gestern unterhalten hatte.

Die Vierer kamen aus einem speziellen Waggon mit Platz für einhundertundzwanzig stehende Vierer oder einhundertundvierzig Fünfer. Einser oder Zweier benutzten diese Waggons nicht. Als die Vierer ausgestiegen waren, tauchte die leere U-Bahn wieder in den dunklen Tunnel ein und zog eine Wolke von Arbeiterschweiß hinter sich her. In der nächsten Station würden wieder Vierer oder Fünfer einsteigen und die U-Bahn würde wieder in die dunkle Röhre abtauchen, den Arbeiter-Wohnvierteln am Stadtrand entgegen. Lange Leerfahrten waren selten. Die Dreier-Schichten lagen heute offenbar anders. Dann würde Arnold auch später auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn fast keinem Dreier begegnen. Den hohen Kasten hätte es nichts ausgemacht mit anderen Kasten in der U-Bahn zu fahren, doch es war wirtschaftlicher, ganze Arbeitsschichten getrennt nach den Kasten zu transportieren. Auch Sechser würde Arnold in der U-Bahn heute nicht sehen. Das passierte nur selten. Die Sechser-Wohnviertel lagen ganz im Osten und im Westen der Stadt und es gab dort für die Sechser separate Haltestellen, wo sie jeweils zu zweihundert in die gleichen Waggons einstiegen, die auch die Vierer eben benutzt hatten. Die meist unter einem Meter dreißig kleinen Sechser mochten es eng, das wusste jeder. Und trotz ihrer Kindergröße waren sie ein weiterer wichtiger Baustein der Gesellschaft. Viele der Sechser fuhren aber weit aus der Stadt hinaus, um in den großen Fabriken und Kraftwerken zu arbeiten.

Arnold lehrte im Studienfach Errungenschaftslehre die eine große Wahrheit, nach der es vor Jahrzehnten viel weniger Sechser gegeben habe. Er selbst glaubte sogar, dass es eine Zeit gab, in der die Fünfer allein die unterste Kaste gewesen sein mussten, also die unterste von nur fünf Kasten. Woher er das wusste, konnte er nicht genau sagen. Vielleicht glaubte er es auch nur zu wissen. Arnold hatte viele ältere Texte gelesen und je älter die Texte waren, desto seltener wurden darin die Sechser erwähnt. Also vermutete er wahrscheinlich nur, dass es eine Zeit ohne Sechser gegeben haben muss, ohne dies konkret gelesen zu haben. Unvorstellbar als große Wahrheit, beinahe Science-Fiction, nur umgekehrt.

Er durfte diese Vermutung aber auf gar keinen Fall im Unterricht erwähnen. Sogar ihn selbst irritierte seine Vermutung, weil er bei seiner Recherche nicht erfahren konnte, ob die Epoche, in der noch keine Sechser erwähnt wurden, womöglich eine kleine Wahrheit sein könnte. Man durfte kleine Wahrheiten zwar nicht lehren, aber man musste sie wenigstens nicht leugnen und unter Einsern hätte man sogar darüber reden dürfen. Doch er schwieg lieber über diese gefährliche Idee. Eine Welt ohne Sechser konnte sich auch Arnold nur schwer vorstellen. Wer sonst als die Sechser sollten die gefährlichen Arbeiten machen, die nur Sechser machen konnten? Die Arbeit in den Kraftwerken, im Bergbau, als Feuerwehrassistenz - das liebten die Sechser und alle liebten sie dafür. Die Schulklassen riefen bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie eine Gruppe Sechser sahen, oft im Chor: „Sechste Kaste – beste Kaste!“, um den dummen, aber fleißigen Sechser ihre Anerkennung auszusprechen. Meistens waren die Sechser aber viel zu weit weg, um die Schüler zu hören.

Nach kurzem Nachdenken musste Arnold sich eingestehen, Sechser bisher kaum aus nächster Nähe gesehen zu haben, meistens nur gesichtslos in den schnell durchfahrenden U-Bahnen, in denen sie so dicht standen, dass nur die blaue Farbe ihrer Arbeitsuniformen und ihre kindhafte Körpergröße auf ihre Kaste hindeuteten. Ein blauer vielköpfiger Drache zog vorbei, auf dem Weg in die Hitze, den Schmutz oder die Gefahr. Und nach Schichtende von dort wieder zurück in die Sechser-Quartiere. Dieses Bild hatte er sich schon als Kind von den riesigen Sechser-Arbeiterkolonnen gemacht und seitdem nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sechste Kaste – beste Kaste.

Wirklich als einzelne Personen hatte er Sechser nur einmal wahrgenommen. Es war im Sommer vor wenigen Jahren, als er in einer Vorlesung zur Auflockerung das schöne Wetter erwähnte und alle unwillkürlich nach draußen schauten. Niemand konnte das Drama übersehen: Ein blauer Punkt rutsche das schräge Dach des alten gegenüberliegenden Gebäudes hinab. Offenbar stürzte gleich ein Sechser-Dachdecker in den Tod. Er rutschte über die Dachkante und stürzte mindestens sechs Meter tiefer auf das Baugerüst vor der Fassade. Der ganze Hörsaal schrie auf. Der Sechser hatte unwahrscheinliches Glück, denn er fiel nicht tiefer, sondern blieb merkwürdig verkrümmt an dem Gestänge des Gerüsts hängen. Er schien bewusstlos, wenn nicht sogar tot. Als er sich plötzlich bewegte, fiel er nochmals tiefer. Aber er blieb zur Überraschung aller nur ein Stockwerk tiefer an einer weiteren Querstange hängen. Ja, er hielt sich sogar, sicher schwer verletzt, mit den Händen fest.

Ein Raunen ging durch den Saal, als ein Fünfer-Fensterputzer seinen Aufzug verlassen wollte, um auf das Baugerüst zu klettern. Er zögerte, als ein anderer Fünfer ihm etwas zurief. Offenbar verbot er ihm seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Die beiden schwarzgekleideten Fünfer sahen danach gelassen zu dem kleinen Blauen hinüber und nahmen nur wenige Augenblicke später ihre Arbeit wieder auf. Auch der Hörsaal beruhigte sich wieder und bald wurden erste Wetten unter den Studenten abgeschlossen, wie lange sich der Sechser noch halten könnte. Es war nicht ungewöhnlich oder verboten auf unabwendbare Ereignisse Wetten abzuschließen, so lange man um nichts Wertvolles wettete.

Der kleine Sechser war erstaunlich zäh und hing immer noch reglos an der Stange. Die niederen Kasten, auch die beiden schwarzgekleideten Fünfer-Fensterputzer, waren sehr stark konditioniert ihre Arbeit in den ungewöhnlichsten Situationen weiterzumachen. Auch im Hörsaal, der an diesem Tag nur mit Zweiern gefüllt war, wurden die Studenten nervös, weil sie von Arnold erwarteten, dass er die Vorlesung fortsetzte. Inzwischen hatten die meisten der Studenten die amüsante Gelegenheit genutzt und auf irgend eine Uhrzeit gewettet. Nur eine Studentin hörte Arnold selbstbewusst sagen: „Er fällt nicht herunter.“ Aber vielleicht wollte sie einfach nur nicht wetten.

Arnold Wankel setzte seine Vorlesung fort. Dann plötzlich erschien ein zweiter blauer Punkt auf dem Gerüst. Ein anderer Sechser kletterte schnell und geschickt am Gerüst herunter und war sofort bei seinem Kollegen. Er schlang einen Arm um den Körper und zog ihn kraftvoll in Richtung des Gerüstes. Der Verletzte ließ nicht los. Es kostete den Retter eine weitere Minute den Griff des Verletzten zu lösen, indem er stark an ihm rüttelte. Dann reichte er ihn mühelos durch ein Fenster in das Gebäude hinein. Heitere Erleichterung breitete sich im Hörsaal aus und die Studenten unterhielten sich angeregt. „Mut haben sie, die Sechser.“, „Reife Leistung!“, „Wie lange, Jassir?“ - „Vierunddreißig Minuten“, „Huh, ich kenne einen Zweier-Turner, der das vielleicht zehn Minuten durchgehalten hätte. Wie müssen diese Zwerge nur trainieren?“

Nur Arnold bemerkte den zynischen Widerspruch in dieser respektvoll gemeinten Bemerkung der Zweier-Plus Studentin. Jeder wusste, dass es für die drei unteren Kasten, Vierer, Fünfer und Sechser, weder die Zeit noch die Notwendigkeit für Sport gab, so viel und so hart arbeiteten sie. Zynismus war aber bei Zweiern ungewöhnlich, wenn auch durchaus möglich. Wahrscheinlich war es aber nur gedankenlos von der Studentin. Erforderte Zynismus doch die Fähigkeit eine Sache gleichzeitig aus mehreren Blickrichtungen zu betrachten. Daran mangelte es hier im Hörsaal, denn keiner lachte. Wenn es Zynismus war, hatten die Kommilitonen ihn nicht verstanden.

Aus der hinteren Sitzreihe rief einer der Studenten: „Die mutigen Sechser sind das Fundament unserer Gesellschaft, aber ich bin stolz ein Zweier zu sein!“ Er zitierte damit eine Nachtschulweisheit, die hier alle kannten. Zustimmung raunte durch den Saal und einige murmelten dabei: „Sechste Kaste – beste Kaste!“. So hatten sie es über Jahre, drei Nächte pro Woche eingeflüstert bekommen.

Nochmals erhob die Zweier-Plus emotionslos ihre Stimme. „Konditionierung. Sie behalten dadurch den Klammer-Reflex der Säuglinge. Er hat sich wahrscheinlich noch nicht einmal bewusst festgehalten und wäre erst gefallen, wenn sein Kreislauf versagt hätte. Er konnte nicht anders. Und Mut haben sie auch nicht, sie haben nur keine Angst. Alles keine bewusste Handlungen, nur reine Konditionierung.“

Es war Putina, die da sprach, eine angehende Ärztin für Vierer und Fünfer oder auch Pharmakologin, so viel Arnold wusste. Putina sah im Hörsaal in die zufriedenen und beruhigten Gesichter ihrer Kommilitonen. Konditionierung war gut, das wussten die Studenten hier. Sie erleichtere es jedem seine Aufgaben zu erfüllen. Wie gut, dass Putina ihnen das Erlebte mit der wertvollen Errungenschaft der Konditionierung erklärt hatte. Doch das hatte sie nicht beabsichtigt, sie hatte gar nichts mit dieser Bemerkung beabsichtigt, es brach einfach aus ihr heraus. Sie hatte ein Bedürfnis Dinge richtig zu stellen, die Wahrheit zu sagen. Das wollte Arnold auch, traute sich aber oft nicht. Nicht so offen, wie diese Studentin. War das Mut oder wusste sie nicht was sie riskierte?

An noch einen weiteren so nahen Kontakt zu den Sechsern erinnerte sich Arnold nicht, er wusste erstaunlich wenig über sie, offenbar viel weniger als diese Studentin.

Arnold saß inzwischen im U-Bahn Abteil und fuhr nach Süden in die Innenstadt. Ein wenig perplex war er noch wegen seines kleinen Blackouts bei der gestrigen Feier. Es war ihm grundsätzlich egal, mit wem er sich möglicherweise vergnügt hatte, dafür waren die Feiertage da, aber er wüsste es nur gerne. Aus Verlegenheit überprüfte auf seinem Smart-Pad am Handgelenk den monatlichen Stand seiner Konsumpunkte. Es mussten beinahe null Punkte sein, da der Monat gestern begonnen hatte. Überrascht sah er, dass die Anzeige auf drei Komma neun stand. Fast vier Konsumpunkte an einem Feiertag! Er musste mächtig gefeiert haben und gratulierte sich selbst, dem Ziel von einhundert am Monatsende schon näher gekommen zu sein. Er schaute sich auf dem Wandschirm der U-Bahn noch eine Werbung an und wurde sofort dafür belohnt, indem die Anzeige auf vier Komma null umsprang. Er musste lachen, weil es ein Werbesport für Isodol-Vier war. Trotzdem fragte er sich, was diese vom Staat geforderte positive Einstellung zum Konsum ihm persönlich brachte.

Ein junger Zweier-Minus stieg gerade in die U-Bahn ein und zeigte einem anderen Bekannten flüchtig sein Smart-Pad, der es aus über einem Meter Entfernung gar nicht hätte ablesen können. „Sieh nur, eintausendeinhundert, gestern kurz vor Mitternacht erreicht. Eintausendeinhundert!“ „Gratulation, ich freue mich für dich“, beglückwünschte ihn sein Zweier-Kollege aufrichtig. Arnold schaute verstohlen auf sein Smart-Pad, drückte seine Konsumpunkte in den Hintergrund und ging auf den roten Knopf für den Bürgerindex, die wichtigste Anzeige überhaupt. Sein Bürgerindex stand seit über einem Jahr auf eintausendzweiundzwanzig. So viel er auch konsumierte oder sonst noch Wünschenswertes tat, es gelang ihm nicht, ihn zu erhöhen. Mit einem Bürgerindex von ein Tausend startete jeder Einser, Zweier oder Dreier in sein Leben. Jeden Monat ein Hundert Konsumpunkte zu erreichen war Pflicht, um seinen Bürgerindex auf ein Tausend zu halten. Die Vierer und noch niedrigeren Kasten hatten keinen Bürgerindex. Sie erhielten automatisch, was sie benötigten, und hatten keinen großen Einfluss auf die Konsumwirtschaft.

Arnold konnte seine meisten Bürgerpunkte als Kind gutmachen, mit banalen Referaten über „Unsere schönste neue Welt“ und mit ähnlichen Heldentaten des Alltags. Solche sehr einfachen Aufgaben waren für Arnold nie eine große Herausforderung gewesen. Er dachte damals, er würde noch als junger Erwachsener spielend zweitausend Punkte erreichen, obwohl er noch nie davon gehört hatte, dass jemals ein Bürger so viele Punkte erreicht hatte. Als Jugendlicher hatte er aber fünf Punkte verspielt, weil er mit einigen Zweier-Freunden nachts umher gezogen war und dabei eine Parkbank im Flammen aufgegangen war. Benimm-Wächter hatten sie aufgegriffen. Er hatte nichts getan und war nur dabei gewesen, hatte den beiden Anderen sogar noch ins Gewissen geredet, es bleiben zu lassen. Doch jetzt galt er als Mitläufer und bekam außerdem noch eine Woche zusätzlichen Gesellschaftsunterricht verpasst. Seine zwei damaligen Freunde bekamen, wie er hörte, einhundertundzwanzig Punkte Abzug, was für Schüler ungewöhnlich viel war und die späteren Berufschancen erheblich verschlechterte. Man kam zwar noch den den Beruf, für den man vorgesehen war, aber dort bekam man dann eher die schlechteren als die besseren Arbeitsplätze. „Tendenz zur Normabweichung“ hieß das furchtbare Urteil und einen so großen Punktabzug konnte niemand so schnell wieder aufholen. Über einen der beiden hatte er gehört, dass er später viele weitere Punkte verspielt hatte und bei sechshundert Punkten eine Rekonditionierung angedroht bekam. Weitere einhundert Punkte niedriger und es wäre für ihn so weit gewesen. Vielleicht war es dann auch tatsächlich passiert, doch Arnold hatte nie wieder von ihm gehört.

Mit solchen Personen hatte Arnold schon lange keinen Kontakt mehr, es war ihm eine Lehre gewesen. Doch er ärgerte sich, dass es ihm als Einser offenbar schwerer als anderen fiel, seine Bürgerpunkte zu verbessern. Er wusste doch genau, was zu tun war, womit man seine Punkte erhöhen konnte. Alle fünfzig Punkte über eintausend gab es einen kleinen Drei-Tage-Urlaub vom Staat. Alle einhundert Punkte zusätzlich weitere drei, also sechs Tage Urlaub, wenn Arnold die eintausendeinhundert erreichte. Er konnte sich natürlich auch jederzeit ein paar Tage lang krank melden, ohne sich damit zu schaden, doch es ging ihm viel mehr um das Prestige. Es ärgerte ihn, dass mancher Zweier oder Dreier spielend leicht erreichen konnte, was ihm trotz guter Vorsätze und penibler Planung regelmäßig misslang. Wohin zerrannen seine Bürgerpunkte und vor allem warum?

Im unteren Stockwerk seines Wohnhauses wohnten mehrere Dreier mit deutlich mehr als eintausendzweihundert Bürgerpunkten. Von einem sagte man, er habe im letzten Jahr eintausendvierhundert erreicht. Abzüge, und zwar große, gab es natürlich für Tendenz zur Normabweichung, was man schon durch eine falsche Äußerung in der Öffentlichkeit erreichen konnte. Noch schwerwiegender waren natürlich gesetzliche Unregelmäßigkeiten, die früher Straftaten genannt wurden. Aber auch für Unfälle, bei denen ein Bürger starb und damit der Gesellschaft verloren ging, gab es Punktabzug. Zwanzig, dreißig oder vierzig Punkte, je nachdem wie groß die Schuld des Unfallverursachers und wie hoch der Wert des Opfers war. Für die Arbeitsleistung gab es keine Bürgerpunkte, sie war selbstverständliche Pflicht für jeden Bürger. Das fand Arnold falsch, denn er glaubte, dass er ungewöhnlich gute Arbeit als Professor leistete. Bessere Arbeit als seine Kollegen, was durchaus zusätzlich belohnt werden sollte, wie er fand.

Die Krupp-Universität! Wie immer freute er sich, als das sechzig Stockwerke hohe Gebäude vor ihm immer beeindruckender in die Höhe ragte, während er vom U-Bahn-Aufgang über den Vorplatz der Uni schritt. Er hätte auch unterirdisch direkt von der U-Bahn zum Aufzug der Uni gelangen können. Doch wenn es nicht gerade stark regnete, ließ er keine Gelegenheit aus, die Universität in ihrer vollen Größe zu betrachten. Er wusste, dass nur Einser und Zweier auf das Gefühl konditioniert wurden, vor solchen ehrfürchtigen Gebäuden angenehmen Respekt zu spüren. Dreier mochten mehr ihr unmittelbares Arbeitsumfeld, ihr Büro, ihre Werkstatt oder ihren Fahrersitz, die sprichwörtliche Armlänge um sie herum, die sie nicht gern verließen. Ihr wichtigstes Arbeitswerkzeug oder das Material, mit dem sie arbeiteten - das liebten die Vierer und Fünfer ganz besonders. Doch worauf die Sechser konditioniert waren, das wusste Arnold nicht genau. Sie waren blau gekleidet, klein und trotzdem wichtig. Sie liebten Hitze, Dunkelheit, Enge, Höhe und Stromschläge. Viel mehr wusste er wirklich nicht über sie. Verwegene Burschen und kleine Heldinnen waren sie wohl. Draufgänger, die in der Tat sehr häufig bei ihrem Beruf draufgingen.

Das erhabene Gefühl, welches das Universitätsgebäude in Arnold auslöste, hielt noch an. Es war noch genauso stark wie an seinem ersten Tag an der Uni – damals, als er das Gebäude als Erstsemester zum ersten Mal betreten hatte. Aber er fand auch ganz eigene Gründe, weshalb er gern den Haupteingang benutzte: Es waren die Studenten, sein „Arbeitsgerät.“ Er mochte sie wirklich, ob darauf konditioniert oder nicht, denn sie bestätigten, wie beliebt er und seine Arbeit bei den Studenten waren. „Tolle Vorlesung!“ oder „Eine große Wahrheit, gestern!“, so etwa klangen die Zurufe, die er in der Eingangshalle häufig völlig formlos von den Studenten zugerufen bekam. Es galt zwar als respektlos einen Professor ohne Begrüßung anzusprechen, doch ihm war es angenehm, wenn seine Studenten ihm ihrem Respekt auf diese ungewöhnliche Weise bekundeten. Und damit war er der Einzige unter den Dozenten der Krupp-Uni.

Ja, die großen Wahrheiten standen fest und waren in den Lehrplänen der Schulen und Fakultäten festgelegt, doch eingeschränkt fühlte er sich dadurch nicht. Arnold sah darin sogar mehr Freiheit, da es ihm frei stand, wie er diese Wahrheiten erklärte. Die große Kulturrevolution hatte gezeigt, dass nur Freiheit die Grundordnung sichern konnte. So wurden viele starre Regeln abgeschafft und durch die neuen Freiheiten ersetzt. Die neuen Freiheiten waren sehr genau definiert und sie erklärten so vieles in dieser perfekten Gesellschaft. Besonders in der Geschichte konnte damit Einiges deutlich leichter erklärt werden, als es davor möglich war. Die erste neue Freiheit wurde schon in der Schule erklärt.

„Isodol ist Freiheit – ein Tag, ein Gramm“, es befreit von Schmerzen und macht glücklich. Kein Wunder, dass die wilden Völker ohne Isodol zu Grunde gingen. Mit jeder neuen Freiheit konnten viele Dutzend Zusammenhänge in Gesellschaft und Geschichte erklärt werden.

„Beruhigungswellen machen das Emo-Kino gesund“, denn sie schützen vor den schädlichen Nebenwirkungen der Eindrücke. Das war eine der neuen Freiheiten, die jeder kennen musste.

„Alkohol enthemmt und schafft Freundschaften.“ Das durften die Schüler schon ab dem fünften Schuljahr in der zweiten großen Pause ausprobieren, wenn kostenloser Alkohol zur Verfügung stand. Der ungiftige neue Alkohol tötete keine Körperzellen mehr ab, wirkte aber sonst genauso und wurde sogar oft unruhigen Säuglingen verabreicht.

Es gibt viele neue Freiheiten, die unsere schöne befreite Welt perfekt machen. Dieser Sinnspruch aber, erinnerte sich Arnold, zählte zu den großen Wahrheiten, den übergeordneten, absoluten Erkenntnissen der Menschheit. Große Wahrheiten wurden niemals hinterfragt, sie waren absolut und endgültig.

80 Jahre danach in der schönen neuen Welt

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