Читать книгу Mami Bestseller 60 – Familienroman - Rosa Lindberg - Страница 3

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Es ist, dachte Juliane, während sie sonderbar ruhelos durch die Wohnung wanderte, mein erster Geburtstag, an dem ich allein bin.

Ganz allein.

Sie blieb vor dem Bild von Joachim stehen, das nur der Kinder wegen in der Wohnung stand. Er lächelte auf dem Bild, so wie er immer gelächelt hatte. Ein bißchen überlegen, ein bißchen leichtsinnig und auch ein bißchen weltfern. Bis auf leichtsinnig trafen die anderen Eigenschaften nicht zu. Schon gar nicht weltfern!

Ihre Ehe bestand nur noch auf dem Papier und auch dort nur noch so lange, bis die Kinder groß genug waren, daß Juliane ihnen würde erklären können, daß es…

Ach! Sie wußte noch nicht, wie sie es ihnen erklären würde. Jetzt noch nicht. Und noch war es ja auch nicht soweit.

Bis zum letzten Jahr hatte Joachim sich an ihre Vereinbarung gehalten und war einmal jährlich aus Paris angereist, wo er sich als Maler niedergelassen hatte. Ob er das allein getan hatte, wußte Juliane nicht und jetzt interessierte es sie auch nicht mehr.

Für die Kinder war Papa auf Reisen. Noch fragten sie kaum. Aber – Juliane gab sich da keinen trügerischen Hoffnungen hin – das würde kommen, mit Sicherheit!

Sie schrak regelrecht zusammen, als das Telefon in der stillen Wohnung läutete.

»Hellberg…«, meldete sie sich, und aus der Muschel klang mehr laut als schön:

»Happy birthday to you – happy birthday to you… Happy birthday, dear Julchen, happy birthday to you…«

Juliane lachte.

Nur Annegret konnte das sein, und sie war es auch.

»Na…«, fragte sie, nachdem sie tausend gute Wünsche durchtelefoniert hatte, »wie fühlt man sich denn so mit dreißig?

Juliane setzte sich.

»Ach, ich weiß nicht… Eigentlich genauso wie mit neunundzwanzig.«

»Tztz…«, machte Annegret, »du hast aber auch gar keinen Sinn für einschneidende Ereignisse im Leben einer Frau!«

»Vielleicht, weil ich die Ereignisse kenne und den Sinn deshalb nicht.«

»Ach, komm, werde nicht komisch! hast du Schampus im Hause?«

»Ich glaube ja.«

»Warst du schon bei den Kindern?«

»Ja…«, sagte Juliane, und sie lächelte unvermittelt und sah auf die Bilder und Gedichte, die ihre drei für sie im Krankenhaus angefertigt hatten. Denn wie immer, wenn eine Infektionskrankheit im Hause Hellberg anstand, machten alle drei Kinder sie durch. Diesmal war es Scharlach, und trotz Julianes beschwörender Bitten durfte sie die Kinder nicht zu Hause behalten. Wie alle Mütter, litt sie selbst mehr als die drei, die auf der Station im Anna-Hospital eine besondere Stellung hatten. Einfach auf Grund der Tatsache, daß sie zu dritt waren.

»Und wie geht es ihnen?«

Juliane lachte leise und verlegen auf. »Besser als mir, glaube ich…« Einen Augenblick war es still.

»Julchen?« kam es dann fragend.

»Ja?«

Man hörte, wie Annegret tief Luft holte.

»Bist du etwa ganz allein?«

Juliane mußte schlucken.

»Ja, sicher. Aber das macht doch nichts…«

»Und ob das etwas macht! Lege den Schampus auf Eis, ich mache einfach Schluß und komme sofort. Ich wollte schon immer mal sehen, wie das ist, wenn man Champagner am Nachmittag trinkt!«

»Aber…«, versuchte Juliane einzuwenden, deren Pflichtbewußtsein dank einer fast autoritären Erziehung ungemein ausgeprägt war.

Annegret rief schon: »Papperlapapp…!!« dazwischen, bevor sie ein zweites Wort sagen konnte, und hatte dann auch schon aufgelegt. Juliane freute sich plötzlich und lief, den Sekt auf Eis zu legen und nachzusehen, was sie zum Knabbern im Hause hatte.

Annegret mußte immer knabbern, und der Himmel allein wußte, wo sie das ließ, was sie pausenlos in sich hineinstopfte, denn sie war gertenschlank wie Audrey Hepburn und sah auch ein bißchen so aus, was sie ganz bewußt betonte.

Wieder läutete das Telefon, und wieder meldete Juliane sich.

»Ich bin es«, sagte die dunkle Frauenstimme, die jugendlich und forsch klang, obwohl sie einer Siebzigjährigen gehörte. Genau gesagt: dreiundsiebzig. »Großmutter…«, rief Juliane erfreut, denn nur wer Großmutter Barlach und nur wer ihre sprichwörtliche Sparsamkeit kannte, wußte dieses Ferngespräch zu würdigen.

»Ich wollte nur ganz kurz gratulieren«, sagte Großmutter, und Juliane hatte jäh und schmerzhaft Sehnsucht nach der alten Frau, an der sie so hing, weil sie sie aufgezogen hatte.

»Das finde ich aber…«

»Es wird zu teuer«, lachte Großmutter, obwohl sie es ernst meinte, »wenn du auch noch lange redest!«

»Dann, danke!« rief Juliane, »ist das kurz genug?«

»Sehr schön! Geht es dir und den Kindern gut?«

»Ja«, sagte Juliane und verschwieg, daß die Kinder krank waren. Erstens, weil sie ja ohnehin in ein paar Tagen wieder zu Hause waren, gesund und munter, und zweitens, weil sie die alte Frau nicht aufregen wollte.

»Fein! Hast du Lust umzuziehen?«

Juliane plumpste auf den Telefonhocker. Nur Großmutter konnte derartige Überraschungsfragen stellen, die immer nur scheinbar unmotiviert waren.

»Um-zu-ziehen?«

»Genau!«

»Aber…«

»Hast du – oder hast du nicht?«

»Großmutter, bitte! Welch eine Frage!«

»Also ja!« legte Großmutter Barlach diese Antwort zu ihren Gunsten aus, sagte noch:

»Tschüß dann, feiert schön, ich schreibe dir gleich einen Brief!«

Die Leitung war leer. Juliane starrte die Sprechmuschel fassungslos an, als könne die ihr antworten. Natürlich konnte die nicht, und langsam legte sie den Hörer zurück auf die Gabel.

Für eine Weile, genauso lange, bis Annegret anschellte, waren Julianes Gedanken mit Vermutungen beschäftigt, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Sie öffnete die Tür.

»Hallo, da bin ich!«

Schön wie immer und gutgelaunt wie immer hielt Annegret ihr einen Strauß hin, der nach Sommer duftete und auch genauso aussah.

»Oh, vielen Dank!« Juliane freute sich ehrlich, denn sie hatte gelernt, sparsame Blumenkäufe zu tätigen, weil sonst ihr genau ausgetüfteltes Rechensystem, mit dem wenigen Geld auszukommen, das sie hatte, zusammengebrochen wäre. Einen solchen Strauß jedenfalls hätte sie sich nie geleistet. Annegret haßte es, Licht unter den Scheffel zu stellen und fragte deshalb in schöner Ungeniertheit:

»Schön, was?«

»Wunderschön…«, entgegnete Juliane und hätte am liebsten ihr ganzes Gesicht in den Strauß gesteckt. »Hier…« Annegret reichte ihr ein Cellophanpäckchen.

»Was ist das?«

»Blumenfrisch, das kriegt man gratis dazu, wenn der Strauß teurer als zwanzig Euro ist!«

Juliane mußte lachen, wie sie oft über Annegret lachen mußte. Der Tag, an dem sie Annegret kennengelernt hatte, in einer dunklen Stunde ihres kleinen Lebens, konnte einem zweiten Geburtstag gleichgestellt werden. Niemals vorher hatte sie gewußt, was es war, eine wirkliche Freundin zu haben. Einen Kameraden, einen Kumpel, der da war, wenn man ihn brauchte. Hinzu kam noch, daß Annegret zu der speziellen Sorte Mensch gehörte, die nicht viel Fragen stellten, nicht neugierig waren und sich nicht anmaßten, Urteile abzugeben über das Verhalten und die Art ihrer Mitmenschen. Was weiter wichtig war, war die Distanz, die immer noch zwischen ihnen bestand, bei aller Freundschaft. Eine Art Freiraum, den man nur auf Aufforderung betrat, ihn aber niemals verletzte.

»So viel Geld!« meinte Juliane, genoß aber dabei das Gefühl von Luxus, einen solchen Strauß zu besitzen.

Sie bemerkte den aufmerksamen Blick Annegrets und die kleine aber steile Falte zwischen deren schmalen dunklen Brauen und fragte:

»Ist irgend etwas mit mir?«

Annegret entledigte sich ihres Blazers und warf ihn achtlos irgendwohin. Wenn man sie so betrachtete, wie sie mit ihren Sachen umging, verwunderte es jeden, der sie nicht näher kannte, daß sie trotzdem stets aussah wie aus dem Ei gepellt.

Selbst für Juliane ein kleines Phänomen.

»Nichts, Mütterchen«, antwortete Annegret, »es ist nur einfach eine Schande!«

Juliane hatte ein Vase hochgenommen, um die Blumen hineinzutun.

»Eine Schande?« fragte sie verwundert und sah sehr jung aus mit den halb angehobenen Armen, in der rechten Hand die Vase, in der linken die Blumen.

»Ja«, Annegret zog die hochhackigen Schuhe aus, stieß sie aus dem Weg und war auf der Stelle klein und zart, »daß eine Frau von deiner Schönheit nicht von den Männern mit Blumen bombardiert wird! Rosen! Orchideen! Du müßtest…«

Mit raschen Schritten ging Juliane zur Tür, die zur Küche führte. Unter dem Rauschen des Wassers rief sie:

»Höre mir auf mit Männern! Mir reicht meine eine Erfahrung.«

Annegret stand jetzt in der Tür, lässig gegen den Rahmen gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt.

»Eine ist entschieden zuwenig!«

»Drei Kinder sorgen dafür, daß es bei der einen bleibt!«

»Bist du eigentlich unglücklich?«

Juliane war so überrascht, daß sie mitten in der Bewegung erstarrte.

»Unglücklich?«

»Genau. Also?«

»Nein«, Juliane ordnete die Blumen, die, von ihrer Verschnürung befreit, jetzt erst ihre ganze Schönheit entfalteten, »nein…«, wiederholte sie noch einmal, »jetzt nicht mehr.«

»Bist du sicher?«

Juliane lächelte und dachte an die drei, die jetzt noch im Krankenhaus waren und die ihr gehörten und auch sonderbarerweise nur ihr ähnelten. Sie hatte einen weltfernen Augenausdruck bekommen, und Annegret, die überzeugte Junggesellin und erfolgreiche Karrierefrau, hatte für einige Wimpernschläge lang das Gefühl, daß Juliane hätte sie fragen müssen, ob sie eigentlich unglücklich sei! Und nicht umgekehrt. Sonderbarer Gedanke! Sie verscheuchte ihn.

»Ganz sicher!« antwortete Juliane da, hob die Vase an und trug sie ins Wohnzimmer.

Annegret folgte ihr auf Strümpfen.

»Und wenn er zurückkäme?« fragte sie beiläufig, »könnte doch sein…«

Juliane sah die Freundin an und lächelte noch einmal.

»Ich liebe ihn nicht mehr…«, war ihre ruhige Antwort, und damit war alles gesagt.

Während sie den Sekt öffnete und Gläser holte, fragte Juliane sich, ob sie Joachim wirklich nicht mehr liebte. Nein!

Er hatte alles zerstört. Alles.

Damals, ja, damals, da hatte sie geglaubt, kein Mensch auf der Welt könne unglücklicher sein als sie. Sie hatte es nicht begreifen können, daß Joachim fortging. Fort von ihr, fort von den Kindern.

Sie hatte auf der Brücke gestanden, die über den Fluß führte; mitten in der Nacht hatte sie dort gestanden und hinuntergestarrt in das träge fließende Wasser. Es lockte in seiner Trägheit, lockte, ruheversprechend und fließend: komm – komm – und sie hatte tatsächlich so etwas verspürt wie Todessehnsucht.

Dann hatte ein Wagen am Straßenrand gehalten, eine Tür war aufgegangen und eine Frauenstimme hatte gesagt:

»Ich würde es nicht tun…«

Juliane drehte den Kopf in Richtung der Stimme und sah in ein schmales Gesicht mit großen dunklen Augen. Es war ein junges Gesicht, ebenso jung wie sie ihr eigenes.

»Tun…?« hatte Juliane verständnislos gefragt und bemerkte erst dann, daß sie mit beiden Händen die steinerne Brüstung umfangen hielt, als wolle sie sich daraufschwingen zum Absprung in die Tiefe. Sie nahm die Hände zurück.

Die Frau wies mit dem Kopf, ohne dabei Julianes Augen loszulassen, hinab zum Wasser des Flusses.

»Sie wollten doch hinunterspringen, oder?«

Die Stimme war ganz sachlich, die so etwas Ungeheuerliches aussprach.

»O nein, nein – nein…« Juliane mußte nach Atem ringen.

»Dann«, vermutete die junge Frau ruhig, »haben Sie aber bestimmt mit dem Gedanken gespielt.«

Juliane hatte wild den Kopf geschüttelt, und die Frau lächelte nur.

»Ich fahre Sie nach Hause«, sagte sie dann, und sie sagte das so bestimmt, daß Juliane ihr, die auf den Wagen zuging, ohne sich nach ihr umzusehen, folgte. Ganz automatisch.

Es war ein kleiner Wagen mit einem verblüffend lauten Motor.

»Wo wohnen Sie?«

Juliane nannte die Adresse, und ihr wurde siedend heiß. Denn zu Hause, das hieß: Die Kinder, die ahnungslos in ihren Betten schliefen. Und sie – sie hatte – o Gott!!

Hemmungslos begann sie zu weinen.

»Weinen Sie nur«, sagte die Frau, die den kleinen Wagen durch die nächtliche Stadt steuerte, als wäre das die natürlichste Sache der Welt.

»Es – es ist…«, begann Juliane, doch sie wurde unterbrochen:

»Sie brauchen mir nichts zu sagen, wenn Sie es nicht wollen oder können…«, ein Blick hatte sie gestreift, »vielleicht später einmal. Ja? Einverstanden?«

Juliane hatte nur nicken können.

So hatte sie Annegret kennengelernt.

Annegret war in dieser Nacht noch mit in die Wohnung gegangen, und schweigend hatte Juliane ihr die drei schlafenden Kinder gezeigt.

Annegret hatte lediglich genickt, so, als hätte sie schon verstanden, obwohl man, nur wenn man drei schlafende Kinder gezeigt bekommt, nichts verstehen kann. Viel später hatte Annegret ihr erzählt, daß sie die Zusammenhänge geahnt habe und ihre Ahnungen sich beinahe exakt mit den Tatsachen deckten.

»Ich schäme mich so sehr…«, hatte Juliane noch gesagt, und sie meinte damit, daß sie in ihrem Schmerz ihre Kinder hatte vergessen können, wenn auch nur für einen winzigen, verzweifelten Augenblick. »Sie brauchen sich nicht zu schämen«, hatte Annegret im Hinausgehen gesagt und als sie fort war, als der laute Motor schon längst davongerattert war, hatte Juliane gedacht: Ich hätte sie nach ihrem Namen fragen sollen…

Doch das war nicht nötig gewesen, denn Annegret war am nächsten Mittag aufgekreuzt, gerade in dem Moment, in dem Juliane aus dem Hause ging, um Tanja vom Kindergarten abzuholen.

»Alles okay?« hatte Annegret als Begrüßung gefragt, und ihr Blick war schnell, forschend und ein fast prüfender gewesen. »Alles okay!« hatte Juliane fest geantwortet. Damit hatte ihre Freundschaft begonnen.

Jetzt saß Annegret also als einziger Geburtstagsgast mit hochgezogenen Beinen auf der Couch und schlürfte gut gekühlten Sekt. Sie tat das mit großem Behagen, man sah es ihr an.

Juliane bemerkte, daß Annegret sie beobachtet hatte.

»Entschuldige…«, sagte sie rasch, »manchmal gerate ich immer noch ins Grübeln.«

»Warum auch nicht? Nur endgültig durchdachte Dinge können eines Tages ad acta gelegt werden. Die meisten Menschen wissen das nur nicht…«

Dann sprachen sie über die Kinder, über Alltagskram, bis sie auf Großmutter Barlach zu sprechen kamen und Juliane von der kuriosen Frage am Telefon erzählte. »Ha!« machte Annegret.

»Was heißt das?« erkundigte Juliane sich.

»Das heißt«, antwortete Annegret triumphierend, »daß sie dir vermutlich das Haus vermachen will! Menschenskind, dann wärst du ja endlich aus dem Schneider!«

»O Gott!« sagte Juliane und schob die Schale mit dem Gebäck näher hin zu Annegret, »du und deine Ahnungen! Sie hat doch Mieter drin.«

»Denen kann man kündigen.«

»Ach – ach…«, machte Juliane, und doch war die Möglichkeit gar nicht so abwegig.

»Wenn es so sein sollte«, sprach Annegret weiter, »würdest du dann nach Hamburg ziehen?«

Juliane brauchte nicht darüber nachzudenken. »Warum nicht?«

»Hm«, Annegret betrachtete die Freundin, »weißt du, daß ich auch schon lange die Absicht hatte, in eine Großstadt überzusiedeln?«

»Ja? Wirklich? Das wußte ich ja gar nicht!«

»Doch, es ist so. Denn hier, in diesem Kaff, sind ja alle heiratsfähigen Männer bereits unter der Haube!«

Juliane legte den Kopf schräg, wie immer, wenn sie etwas bezweifelte.

»Ich denke, du willst Junggesellin bleiben.«

»Im Vertrauen: Das sage ich immer nur wegen des Mangels an Gelegenheit!«

»Im Ernst?«

»Nicht ganz.«

»Also, was nun?«

Annegret schob die Beine von der Couch, stellte die Füße nebeneinander auf den Boden und betrachtete sie eingehend.

»Ich…«, sagte sie dann gespielt düster, »warte immer noch auf die große Liebe. Und sie kommt und kommt nicht! Also scheint sie hier nicht zu sein, deshalb werde ich mich entschließen, sie anderswo zu suchen!«

»Du hast dich aber noch nicht entschlossen?«

»Es hängt von Großmutter Barlach ab…«, lachte Annegret und griff nach dem Sektglas. Ihre Augen jedoch, sah Juliane, waren ganz ernst.

*

Großmutter Barlach mußte den Brief wirklich noch sofort nach dem Telefongespräch geschrieben haben, denn er war bereits am nächsten Tag bei ihr im Briefkasten.

Juliane las ihn, einmal und noch einmal. Dann ließ sie sich in einen Sessel fallen und starrte, den Kopf in den Nacken gelegt, die Decke an, die auch mal wieder getüncht werden mußte.

Großmutter wollte ihr tatsächlich das Haus vermachen.

Und zwar jetzt schon! Sie sollte mit den Kindern kommen und ihren zukünftigen Besitz bewohnen, damit sie auch noch etwas davon habe, denn, so schrieb Großmutter, sie habe die Absicht, wenn nicht hundert, so doch wenigstens neunzig Jahre alt zu werden, und dann wäre sie – Juliane – bereits fünfzig, die Kinder groß und – und – und… Vor Julianes zur Decke gerichteten Augen tauchte das Haus auf, hell und geduckt mit seinen eineinhalb Stockwerken und den gevierteilten Fenstern, mit dem Garten, dem großen Birnbaum, der Bank darunter, unter der Joachim ihr…

Sie stand auf, das Haus zerfloß und die Erinnerung an Joachim mit ihm.

Juliane ging zum Kühlschrank, fand noch einen kleinen Rest eines klaren Schnapses, goß ihn sich ein und trank ihn. Er brandete gegen ihre Magenwände, brannte kurz und wärmte dann, um gleich darauf Ruhe und Wohlbehagen in den ganzen Körper strömen zu lassen.

Sie wanderte an der Schrankwand entlang, auf der Suche nach Zigaretten, die sie, die Gelegenheitsraucherin, immer zu kaufen vergaß.

»Aha!« sagte sie laut, denn sie hatte ein angefangenes Päckchen gefunden. Als die Zigarette brannte, die erste Rauchwolke gegen die renovierungsbedürftige Zimmerdecke gezogen war, setzte sie sich wieder, nahm den Brief von Großmutter und las ihn ein drittes Mal.

Als sie den Blick hob, geriet ihr Joachims Bild ins Auge. Langsam stand sie auf, stellte sich davor und sah es, ohne es anzuheben, an. Sie sah es sehr lange und suchend an, ohne zu wissen, was eigentlich sie suchte. Dann wußte sie es, sie suchte nach Ähnlichkeiten Joachims mit den Kindern, oder umgekehrt. Sonderbar, daß sie keine fand…

»… und im Grunde«, hatte Joachim beim Abschied gesagt, »sind es ja auch deine Kinder und nicht meine!«

Er hatte nie eine Bindung an sie gehabt, oder doch? Recht hatte er allerdings gehabt, denn sie war es gewesen, die Kinder haben wollte, sofort, und auch nicht nur eines. So hatte sie sie bekommen, erst Achim, der jetzt zehn war, dann Susan, die jetzt neun und dann Tanja, die jetzt acht Jahre alt war.

Tanja war noch ein Baby gewesen, als Joachim sie verließ, regelrecht fortlief vor dem, wie er es nannte, »ständigen Kindergeschrei« und dem ewigen Windelgeruch.

In stillen, ganz objektiven Augenblicken hatte Juliane sich gefragt, ob Joachim sie überhaupt jemals wirklich geliebt hatte oder sie nur wegen ihren kleinen Vermögens geheiratet hatte. Sie hatten zusammen in einer Werbe-Agentur gearbeitet, sie im Büro und Joachim in der spöttisch »kreativen Abteilung« genannten Etage. Er hatte ihr Vermögen dazu benutzt, sich selbständig zu machen, was nicht gutging, denn er unterschätzte die Realitäten eines nur zum Teil künstlerischen Berufes.

Als er ging, saß Juliane mit einem winzigen Rest besagten Vermögens da. Und sie hatte diesen kleinen Rest auch noch deshalb, weil es festangelegtes Geld gewesen war.

Auf das Angebot, vor den Kindern den Schein einer Ehe so lange aufrechtzuerhalten, bis sie groß genug waren, ging Joachim sofort und bereitwillig ein. Aber – das wußte Juliane jetzt oder glaubte sie zumindest zu wissen – er hätte in alles eingewilligt damals, wenn sie ihn nur gehen ließe. Und sie hatte ihn gehen lassen.

Reisende soll man nicht aufhalten.

Die Kinder, dachte Juliane und spürte eine leise Müdigkeit, bedeuteten ihm nichts. Und er – er bedeutete ihnen auch nichts. Sie waren einander fremd geblieben.

Kunststück!

Sie sahen sich einmal im Jahr, und Joachim unternahm nicht den geringsten Versuch, auf die Kinder einzugehen.

»Vielleicht…«, fragte Juliane sich selbst laut, »kann er es gar nicht…«

Die Kinder begegneten ihm bei diesem meist einwöchigen, jährlichen Besuch mit einer Reserviertheit, die ihrer sonstigen Art vollkommen zuwiderlief. Im letzten Jahr hatte sie beobachtet, wie Achim, damals neunjährig, seinen Vater mit runden, ernsten Augen angesehen hatte. Nein, nicht angesehen! Er hatte ihn betrachtet, fixiert und sich dann abgedreht, wie resignierend.

Zehn…

Vielleicht, Julianes Herz zog sich schmerzhaft zusammen, ahnte er schon etwas? Er war so – so gescheit schon für sein Alter, so verständig. Und deshalb war es doch eigentlich sonderbar, daß er niemals Fragen stellte. Wieder einmal schob Juliane diese Überlegungen beiseite.

Sie ging zum Telefon.

Erst rief sie Großmutter Barlach an und pfiff auf deren zwischendurch immer wieder gemachten Ermahnungen, ob sie auch daran dächte, wie teuer dieses Gespräch würde!

Jedenfalls ließ sie nach gut zehn Minuten eine glückliche, alte Frau in Hamburg an ihrem Telefon sitzen.

Dann rief sie Annegret an, die ihr zuhörte und dann lediglich: »Na, siehste!« sagte.

Juliane lachte leise und fühlte, wie sich langsam ein Glücksgefühl in ihr sammelte, ein kleines warmes noch, doch es würde sich vergrößern, wenn sie mit den Kindern erst »zu Hause« war.

»Wann soll es losgehen?« erkundigte Annegret sich. »Sobald die Kinder zu Hause sind.«

»Prima, dann suche ich mir jetzt auch mal einen Job in Hamburg! Du…«

»Ja?«

»Ich freue mich für euch!«

»Ich mich auch…«, sagte Juliane nach einem tiefen Seufzer, der mehr sagte als hundert oder sogar tausend Worte. Sie hatte nicht gewußt, daß sie ihre Sehnsucht zurückgehalten hatte, spürte es erst jetzt, wo sie imstande war, ihr endlich, endlich freien Lauf zu lassen.

Als sie aufgelegt hatte, bemerkte sie, daß ihr Gesicht naß von Tränen war.

*

Am Nachmittag ging sie zu ihren Kindern.

Sie durfte sie jetzt schon direkt besuchen und nicht mehr nur durch die Glasscheibe sehen und sprechen.

»Noch drei Tage«, rief sie, und ihre drei kamen ihr entgegen, der Große stand vor ihr, lehnte sich, schmal und jungenhaft, gegen sie. Susan hakte sich bei ihr ein, und Tanja, ein bißchen klein für ihr Alter, aber sie würde schon noch wachsen, umfaßte mit beiden Armen ihr cordbehostes Bein.

Nein…, dachte Juliane voller Glück und in einem kleinen Taumel einer Beinah-Seligkeit, nein, es tut mir nichts leid! Nichts – nichts – nichts!

Was auch immer war, was auch immer wird, für diese drei Kinder bin ich alles. Bin der Nabel ihrer Welt, bin – noch – ihr Herz und ihre Liebe, bin für sie der Arm, den sie brauchen, um gehen zu lernen, fest und sicher, hinein in ein Leben, das nicht immer rosig sein würde. Ich bin für sie die Sonne bei Regenwetter und ihr Mondschein beim Einschlafen. Ich bin die Speise ihrer Seelen, ihre Wärme bei Kälte.

Welche Frau, fragte sie sich, und ihr Herz weitete sich in Liebe zu diesen dreien, ist schon so vieles zugleich?

Welche?

Nicht eine.

Nur sie, die Mutter von drei genesenden Scharlachkranken, deren jetzt ein bißchen bläßliche Gesichter vertrauensvoll zu ihr emporgehoben waren und in deren Augen die Liebe so offen zu lesen war, daß es einem die Tränen hochtreiben konnte. Sie lächelte.

»Hallo…«, sagte sie und wunderte sich, daß ihre Stimme belegt war.

»Hallo!« sagte Achim männlich und lächelnd.

»Endlich!« sagte Tanja und rieb ihre Nase gegen Julianes Bauch.

»Wir warten schon ewig!« meinte Susan, deren Hang zu Übertreibungen hoffentlich nicht noch wachsen würde.

»Ewig!« sagte da Achim auch schon mit einem Seitenblick auf seine Schwester. »Weißt du überhaupt, was ewig ist?«

Susann hob den Kopf und sah ihren Bruder an. Die schmalrandige Brille, die sie tragen mußte, weil sie kurzsichtig war, vergrößerte ihre Augen enorm und hob deren langbewimperte Schönheit geradezu hervor.

»Klar!« sagte sie.

»Und?« fragte Achim.

»Wieso und?«

»Na und, was heißt es?«

»Ewig«, Susan konnte manchmal so sprechen, als rezitiere sie, »heißt einfach lange!«

»Hast du eine Ahnung! Ewig, das ist nicht nur lange, das ist ewig lange. Ewigkeit – verstehst du? Ewigkeit, Tod, Warten…«

»Hör auf!« sagte Tanja, der die geschwisterlichen Diskussionen zwischen Achim und Susan bisweilen auf die Nerven ging. So wie jetzt.

Susan hob die Nase, ließ die Brille leicht hinabrutschen, wobei Juliane dachte: Mein Gott, sie hat auch noch ein komisches Talent, und fragte: »Warum?«

»Darum!« sagte Tanja.

Jetzt würde die Diskussion zur anderen Seite weitergehen, wußte Juliane und sagte deshalb: »Ich habe sensationelle Neuigkeiten für euch.«

Drei Gesichter wandten sich ihr wieder zu. Und in allen dreien lag eine so offensichtliche und fast lüsterne Neugier, daß Juliane lachen mußte, ihre drei vor sich her in deren Zimmer schob und sich dort erst einmal setzte.

Eine Schwester kam herein, begrüßte sie. Fragte freundlich:

»Alles in Ordnung, Frau Hellberg?

»Alles!« sage Juliane und zog einen Blumenstrauß hervor. »Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit mitgebracht, weil Sie immer so nett zu meinen Kindern sind!«

»Aber, aber! Das war aber wirklich nicht nötig!« Doch man sah der altgedienten Nonne an, daß sie sich freute.

»Übrigens…«, meinte sie im Hinausgehen, »ist es nicht schwer, nett zu Ihren dreien zu sein! Sie sind prächtig! Hoffentlich bleiben sie so, Gott schütze sie!«

»Ja…«, sagte Juliane, die kleinen Welten der ewigen Mutterängste in sich fühlend. Ihre Kinder mögen ein gutes Leben haben, »ja Schwester, Gott schütze sie…«

»Ist es was Ernstes?« erkundigte sich Achim, und unter der Oberfläche seiner Stimme lag ein Fliegen. Juliane nahm die überspielte Sorge mit einem Aufseufzen wahr, fragte, um ein wenig Zeit zu gewinnen:

»Was soll ernst sein?«

»Die Neuigkeit…«, sagte Achim und blickte sie bohrend an, sah dann erleichtert aus, als er erkannte, daß Mamis Augen tief und dunkel in ihrem Haselnußbraun lächelten.

»Sie wird«, sagte Juliane und blickte alle drei der Reihe nach an, »unser Leben verändern.«

Die Mädchen standen mit geöffneten Mündern und unverhohlener Neugier schweigend da. Achim aber, sah Juliane mit Erstaunen, sah mit einem Male noch ein bißchen blasser aus als vorher.

»Kommt – kommt der Mann jetzt wieder zurück?«

Juliane legte ihre Hand gegen die schmale weiße Knabenwange.

»Welcher Mann?« fragte sie verständnislos, und Achim schluckte.

»Er meint den Vater«, erklärte Susan hilfsbereit und ohne jegliche Emotion.

Es versetzte Julianes Herz einen Stich, und sie mußte ganz behutsam, ganz tief durchatmen.

War alles umsonst? fragte etwas ganz tief innen in ihr, alles vergeblich? Das ganze Spiel von intakter, nur eben getrennter Familie?

Oder – Juliane mußte die Nasenflügel weiten, weil die Luft plötzlich so knapp war in dem Krankenzimmer und so stickig – oder war gar alles verkehrt gewesen?

»Na, sag schon!«

Es war Susan – wieder mit herabgelassener Brille – die die Situation rettete, die Luft im Zimmer wieder normal machte und damit auch ihren Bruder und ihre Mutter von ihrer kaum wahrgenommenen Verstörtheit befreite.

»Nein…«, erklärte Juliane, ordnungsliebend wie sie nun einmal war, erst Achims Frage beantwortend, »er kommt nicht zurück.«

Täuschte sie sich, oder sah sie Erleichterung in den Kindergesichtern? Mein Gott, was bildete sie sich denn nur ein!

»Was dann?« fragte Susann.

Juliane setzte sich in Positur, weil sie meinte, daß diese Situation Positur erforderte.

»Großmutter Barlach«, erklärte sie kurz und bündig, ohne Spannung und ohne Umschweife, »hat uns ihr Haus vermacht. Wir sollen sofort einziehen!«

Als erstes faßte Tanja, die Kleinste, sich und befeuchtete ihre Lippen. Dann fragte sie:

»Das Haus gehört jetzt uns?«

Juliane nickte, sah dann Susan an, die vor Aufregung – freudiger Aufregung, Juliane erkannte es sofort – ihre Brille abnehmen mußte.

Dann blickte sie auf Achim, und Rührung überlief ihre Haut, wie eine Gänsehaut. Achim sah geradezu verklärt aus und hatte Augen, Augen wie einer, dem sich ein Wunder offenbart hatte. Er hat Großmutter Barlachs Augen! stellte Juliane unterbewußt und mit großem Erstaunen fest. Es war ihr nie vorher aufgefallen.

»Das Haus?« fragte er leise, ohne daß sein Blick an Verklärtheit verlor und auch ohne daß er sich der männlichen Mühe unterzog, seine Riesenfreude darüber zu verbergen. Er liebte Großmutter Barlachs Haus, es war, wenn er manchmal träumte, das Ziel seiner Wünsche. Daß es eigentlich mehr der große Garten war, der das Wunschziel war, erkannte er noch nicht. Und es war auch nicht wichtig, es zu wissen.

»Das Haus!« bestätigte Juliane, und mit enger Kehle wußte sie plötzlich, daß kein Kind in einem Hochhaus aufwachsen dürfte! Keines! Aber – sie würde es nicht verhindern können. Vielleicht konnte das niemand.

Die Zeit.

Es war ja so leicht, immer und für alles ihr die Schuld zu geben, der Zeit, der Entwicklung… Aber wer prägt sie denn, die Zeit? Wir…, dachte Juliane, wir. »Und auch den Garten?« fragte Achim weiter, da er nicht wußte, ob der nur zufällig ums Haus herum war, oder ob er auch dazugehörte.

»Auch der Garten…«, bestätigte Juliane.

Susan ließ sich rücklings aufs Bett fallen und schrie:

»Mich laust der Affe!«

Befremdet blickte Achim zu ihr hin, erkannte dann, daß es eben ihre Art war, ihrer Freude Ausdruck zu geben und lächelte. Diese Art, jeden nach seiner Fasson nicht nur selig werden zu lassen, sondern jedes Menschen Art auch zu akzeptieren, würde dem jungen und später auch dem älteren Achim Hellberg viel Freude bringen. Es würde ihm allerdings auch zuzeiten zu schaffen machen, wenn es um Ellenbogenfreiheit ging, wie allen toleranten Menschen, aber es würde ihn niemals tief treffen. Julianes beinah fanatische Weitergabeversuche an die Kinder, was Toleranz, Verstehen und Verständnis betraf, würde gerade bei Achim beste Früchte tragen. Und – zu Julianes Freude – ihn zu einem stets zufriedenen Menschen machen.

»Mich auch!« pflichtete Tanja ihrer Schwester bei, gesellte sich der zu, die begonnnen hatte, auf dem Bett herumzuhopsen, eine Art Indianer-Freudentanz per Po.

Mutter und Sohn sahen sich an. Nachsichtig und gegenseitig um Rücksicht bittend für diese beiden albernen, kichernden weiblichen Geschöpfe, die die andere Hälfte ihrer Familie war.

An den Mann in Paris dachte in diesem Moment niemand von ihnen.

*

Der Mann in Paris hieß Joachim Hellberg. Hier allerdings nannte er sich »Joaquin«, und unter diesem Namen versuchte er auch seine Bilder zu verkaufen.

»Manchmal mit Erfolg, manchmal auch nicht«, sagten die Leute, die sich seine Freunde nannten. Joachim Hellberg selbst redete sich ein, hier in Paris endlich sein Glück und seine Freiheit gefunden zu haben. Hätte er richtig nachgedacht, doch das tat er nicht, so wäre ihm aufgefallen, daß es mehr Monika war, die ihm das einredete. Monika, mit der er damals hier angekommen war, und die inzwischen zu einem spindeldürren und demzufolge begehrten Mannequin geworden war. Sie war das berühmte Mädchen mit der Löwenmähne und den hungrigen Augen und hatte eine Menge damit zu tun, ihren inzwischen siebenundzwanzig Lebensjahren das absolut Mädchenhafte zu erhalten.

Ihre Beziehung, einmal die große Leidenschaft, war jetzt eher als kühl zu bezeichnen. Streng genommen waren sie eine Interessengemeinschaft auf Sympathie.

Jedenfalls ermöglichte ihnen Monikas zwar schwankendes, aber meist gutes Einkommen ein sorgenfreies, angenehmes Leben, das sich, obwohl sie eine große Atelierwohnung ihm sechzehnten Stock besaßen, in erster Linie »draußen« abspielte. Draußen, das waren die Cafés und Bistros, in denen sie aßen und tranken und redeten, denn Monika hatte weder Zeit noch Lust, so etwas wie eine Versorgung ihrer kleinen Gemeinschaft zu übernehmen. Sie frühstückten im »Charly in«, lunchten bei »Rivell« und dinierten, wenn sie nicht gerade eingeladen waren, bei Boris, dem hochgewandten Russen mit den traurigen Augen.

An die Zukunft dachten sie beide nicht oder kaum, sie waren Menschen der Gegenwart und so geschaffen, daß sie beide, sowohl Joachim als auch Monika, vermutlich immer jemanden finden würden, der auf irgendeine Art und Weise für sie sorgte. Bei Joachim war es erst seine Mutter gewesen, dann Juliane und jetzt Monika.

Er hatte keine Skrupel diesbezüglich, und wenn er ein Bild verkaufte, schob er Monika die Euro-Scheine hin, als wären sie nichts. Monika schob sie ihm in der Regel zurück, er ließ sie einfach liegen und nahm sie an sich, wenn sie fort war. Das war seine Freiheit. Er würde unter Freiheit immer nur die finanzielle sehen. Daran, Juliane und den Kindern einmal Geld zukommen zu lassen, dachte er nicht. Er sah es als Preis für ihr Übereinkommen an, daß Juliane sich und die Kinder allein durchbrachte, und allein das war der Grund, weshalb er nicht gegen die Regeln verstieß und regelmäßig als »Vater« bei den Kindern erschien. Und Juliane hatte niemals versucht, nicht privat und nicht auf dem Rechtswege, von ihm zu bekommen, für sich und die Kinder, was ihr nach dem Gesetz zustand.

»Ist es nicht bald wieder soweit?« fragte Monika und zog geschickt die künstlichen Wimpern von den Lidern.

Joachim wußte sofort, was sie meinte.

»Doch«, er betrachtete das Bild, an dem er malte, »nächsten Monat«.

Monika drehte sich auf dem Hocker um und sah ihn an.

»Meinst du nicht, es wäre langsam an der Zeit, Schluß mit dem Theater zu machen?«

Joachim sah hoch und blickte zu dem rehhaften Wesen hinüber, das ihm vertraut und fremd zugleich war.

»Warum?«

Es klang gänzlich desinteressiert und ließ so etwas wie Zorn in Monika aufsteigen. Zorn auf seine Gleichgültigkeit, die sie selbst ebenfalls hatte, aber bei anderen nicht gut verstand oder verstehen wollte.

»Ist dir niemals der Gedanke gekommen«, sagte sie langsam und leise, »daß ich endlich darauf bestehen könnte, daß du mich heiratest.«

Joachim hob ein Tuch auf und wischte den Pinsel sorgfältig aus.

»Nein«, sagte er dann aufrichtig.

»Nein…« Sekunden war Monika aus dem Konzept gebracht, doch eben nur Sekunden.

»Ach…«, sie erhob sich und kam in ihrem Mannequin-Gang, Beine strecken – Becken vor, auf ihn zu.

Joachim sah ihr entgegen. Er lächelte ihr zu und wollte, als sie nah vor ihm war, sie an sich ziehen. Er

regelte vieles mit Umarmungen, schaffte vieles damit für sich aus der Welt.

Doch Monika machte einen Schritt zurück.

»Und wenn ich es möchte?« fragte sie.

»Müssen wir das heute besprechen?«

»Ich frage ja nur…«

Er zuckte die Achseln.

»Wir würden das irgendwie schon machen…«

»Was würde denn deine Ehefrau wohl dazu sagen?«

Joachim dachte einen Augenblick nach und kam zu dem Schluß, daß Juliane schon einwilligen würde. Sie hatte immer eingewilligt, war Wachs gewesen in seiner Hand, und wenn er ihr versprach, vor den Kindern weiterhin als Vater zu erscheinen, würde sie…

»Na…?« fragte Monika.

»Es ist doch alles nicht dein Ernst«, sagte Joachim ärgerlich. Er mußte jetzt etwas trinken, es war Zeit, rauszugehen, neue Impressionen sammeln, Eindrücke holen und nicht sich hier herumzustreiten und doch zu keinem Ergebnis zu kommen.

Er hat recht, dachte Monika, und sie lachte plötzlich auf und legte die Arme um seinen Hals.

Auf unsere Art, durchfuhr es sie, während sie seinen Nacken streichelte, lieben wir uns sogar. Sie legte ihre Lippen gegen seinen Hals.

»Noch nicht…«, murmelte sie, ließ es geschehen, daß er sie hochhob und ins Nebenzimmer trug, »noch nicht…« Es war spät, als sie endlich bei Boris erschienen, von dem, wie alle Stammgäste, mit Handschlag begrüßt.

»Ich dache schon, ihr würdet nicht mehr kommen«, sagte er dabei und rollte das Rrrr und gleichzeitig seine traurigen Augen.

»Wir haben einen Bärenhunger«, sagte Joachim statt einer Antwort, »was kannst du uns denn heute empfehlen?«

»Oh, Joaquin«, lachte Boris, der in seiner Gutmütigkeit eine Schwäche für diesen Deutschen hatte, der ihn immer an das Bibelwort von den Lilien auf dem Felde erinnerte, »um diese Zeit…«

»Dann bring uns, was du hast«, schlug Joachim vor, und Boris knurrte etwas Unverständliches von »Zaubernkönnen…«, verschwand aber dann hinter dem Perlenvorhang, hinter dem die Küche war. Gleich darauf bekam eine unsichtbare Hilfe Anweisungen aus einem Gemisch mehrerer Sprachen, und Töpfe-Geklapper ertönte. »Ach so…«

Monika stellte die große Weinflasche zurück, die immer auf ihrem Tisch stand und aus der sie die Gläser gefüllt hatte, »hier – das hätte ich fast vergessen, Post für dich…«

Sie hatte aus ihrer Tasche einen länglichen Umschlag, cremefarben und gefüttert, gezogen und reichte ihn Joachim.

»Danke…«, sagte der und schob ihn achtlos in die Tasche.

»Willst du ihn nicht lesen?«

Beide kannten sie die Briefe, denn Juliane benutzte immer das gleiche Briefpapier.

»Später«, antwortete Joachim und nahm einen tiefen Schluck Rotwein, dann noch einen. Ah – das tat gut!

»Warum nicht jetzt?«

»Wozu? Es ist immer dasselbe.«

»Ach ja?«

»Natürlich. Sie bittet mich, nicht zu vergessen, daß im nächsten Monat wieder der Vatertag ist!«

Sekundenlang starrte Monika ihn an, ihre langgeschnittenen großen Augen waren ohne Ausdruck, nur fragend und grün.

»Bedeuten sie dir eigentlich überhaupt nichts?«

Joachim schnupperte der Duftwolke nach, die aus der Küche kam und sah erst dann Monika an, leichtes Verwundern im Blick. Anscheinend hatte sie heute ihren moralischen Tag!

»Ich kann mit Kindern nichts anfangen.«

»Warum habt ihr euch denn gleich drei hintereinander angeschafft?

Die breiten Schultern Joachims, die auf sportliche Betätigung schließen ließen, die er jedoch in gar keiner Weise ausübte, hoben und senkten sich. »Sie war vollkommen versessen auf Kinder. Also…« – Er machte eine Handbewegung, womit der Satz beendet war.

»Und sie?

»Sie?

»Ja – sie! Bedeutet sie dir nichts?«

»Wir paßten nicht zusammen.«

»Ein – wie soll ich es nennen – ein Irrtum also, beiderseits?«

Ja, dachte Joachim, während er nickte, ein Irrtum beiderseits. Denn auch das Geld Julianes konnte nicht dazu beitragen, daß sie einander verstanden. Es war, als ob sie zwei verschiedene Sprachen gesprochen hätten. Er war aufrichtig genug, zu bezweifeln, daß Juliane jetzt, nach all der Zeit und nach all dem, was geschehen war, noch etwas für ihn empfand. Sie hatte geglaubt, ihn zu lieben, doch er war sicher, daß auch sie inzwischen erkannt hatte, daß diese vermeintliche Liebe nichts weiter war als eine jugendliche – Juliane war eben achtzehn Jahre alt gewesen, als sie sich kennenlernten – Verliebtheit.

Die drei Kinder, schloß er seine Gedanken, denn Boris kam mit dem hour d’heuvere, und das sah fantastisch aus, sind ihr Problem!

Sie begannen zu essen.

»Vielleicht«, begann Monika wieder zwischen zwei Gabeln Salat, »ist es diesmal etwas anderes…«

Joachim maß sie schweigend mit einem langen Blick, zog dann den Brief hervor, seufzte, öffnete ihn, las ihn und reichte ihn dann Monika, die ihn ebenfalls las. »Ein Haus…«, sagte sie anschließend, reichte den Brief zurück und aß weiter, »ausgerechnet in Hamburg!«

»Es ist das Haus ihrer Großmutter.«

»Ich könnte in Hamburg nicht leben«, sagte Monika ohne Interesse dafür, was es mit dem Haus, von dem in dem Brief die Rede war, auf sich hatte.

»Ich auch nicht…«, pflichtete Joachim ihr bei, lächelte sie an, »nichts für uns zwei, wie?«

»Nein…«, Monika lächelte zurück, seltsam zufrieden plötzlich darüber, daß der Brief nichts weiter bedeutete als die Mitteilung der neuen Anschrift. »Nichts für uns…«

*

Die Woche, in der die Kinder aus dem Krankenhaus kamen, ging später als die »Festwoche« in die Familiengeschichte.

Erst wurde natürlich die Heimkehr gebührend gefeiert, zu der auch Tante Annegret kam. Und – wie immer – kam sie nicht mit leeren Händen.

Kurz darauf feierte man bei Tante Annegret in deren Apppartement deren Geburtstag.

Mami Bestseller 60 – Familienroman

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