Читать книгу Wenn die Seelen Trauer tragen - Rose Hardt - Страница 3
Kapitel 1
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„Man muss die Sprache der trockenen Tränen sprechen können,
um sich von den Qualen der Seele zu befreien.“
***
Prolog
Vor einiger Zeit fielen mir alte Tagebücher wieder in die Hände. Einige entstanden in den Achtzigern und waren in Steno geschrieben, denn nur so konnte ich mir sicher sein, dass sie nicht gelesen wurden. Beim Durchstöbern meiner Aufzeichnungen stolperte ich über den Namen Jacob – wer war nochmal Jacob? Einen Moment hielt ich inne, ich ließ die Zeit von damals Revue passieren. Zuerst erinnerte ich mich nur vage an einen gutgekleideten jungen Mann den ich zufälliger Weise in einem Pub kennenlernte, wir plauderten bis in die frühen Morgenstunden. Danach trafen wir uns noch einige Male, wobei wir uns nie verabredet hatten – nein, das Schicksal schien unsere Begegnungen zu arrangieren. Und je länger ich darüber sinniere desto klarer war Jacob vor meinen Augen. Er war ein außergewöhnlich schöner junger Mann, seine Erscheinung wirkte ebenso exzentrisch wie melancholisch, seine Haut war von der Sonne verwöhnt und die schwarz-glänzenden Haare streng zurückgekämmt, in seinen dunklen, mit schwarzem Kajal umrandeten Augen, loderte ein Feuer das manchmal beim Erzählen einer seiner Lebensereignisse kurz erlosch. Damals fühlte ich mich auf eigenartige Weise zu ihm hingezogen – aber nicht wie eine Frau zu einem Mann – nein, es war, als ob wir uns schon ewig kannten.
Zwar bedurfte es einiger Mühe mein Steno zu entziffern, doch danach war mir jedenfalls klar, dass ein Teil seiner Biografie die Basis für einen Roman bieten würde. Jacob habe ich danach nie mehr gesehen. Man erzählte sich nur, dass er in den Achtzigern in Hamburg verstorben sei.
Reglos saß Nora da, ihre Beine waren ineinander verschränkt und wirkten von der unbequemen Sitzhaltung wie abgestorben. Seit einigen Tagen kreisten ihre Gedanken um den toten fremden Mann in ihrem Vorgarten. Erneut tauchten vor ihrem geistigen Auge die Bilder auf. Ein Anblick der sie seit dieser Zeit wie ein unliebsamer Schatten verfolgte; auch die Recherchen der Polizei, sowie die tagelagen Belagerungen von Reportern mit ihren unliebsamen Fragen: Ob sie den Toten kannte? Und warum er sich gerade in ihrem Vorgarten das Leben nahm?, waren mehr als nervenaufreibend. Und das merkwürdige war, dass sie selbst bei der Häufigkeit der Fragen verunsichert wurde, mit einem Male war sie gezwungen sich mit dem erstarrten Gesicht des Toten auseinanderzusetzen, und seit jenem Tag trat das Bild des Toten – der leblose Körper eines Mannes um die siebzig – immer wieder aus ihrem Gedächtnis hervor. Verzweifelt versuchte sie dann eine Verbindung zu ihrem Unterbewusstsein herzustellen, um ihn endlich, für sich, identifizieren zu können – aber es war nichts Verwertbares dabei, das sie hätte weiterbringen können. Lediglich schien ein vages Gefühl ihn zu kennen vorhanden – vielleicht, ja, vielleicht waren es aber auch nur die vielen Fragen die sie zu dem Gefühl hindrängten. Das Ärgerliche war, dass sie – als Romanschriftstellerin – ohne ihr Zutun plötzlich in den Mittelpunkt des Geschehens geraten war und somit für die Boulevard-Presse ein gefundener Leckerbissen darstellte. Eine Erkenntnis, die nach einigen Tagen Flucht in ihr auslöste. Sie wollte nur noch dem Unglücksort sowie einigen aufdringlichen Reportern, die schlimmer als hungrige Hyänen waren, entfliehen. Und so war es der zeitnahe Abflug der sie nach Jersey führte. Vielleicht lenkte sie auch das Schicksal dorthin! Wer weiß das schon, schließlich hatte alles im Leben seine Bestimmung, nichts geschah einfach so.
Seit nun mehr einer Stunde saß sie auf der Hotelterrasse in Saint Helier, sie philosophierte über ihr Leben und versuchte dabei ihre Gedanken von dem tragischen Ereignis in ihrem Vorgarten abzulenken. Sie hielt ein Buch über Lebensweisheiten in Händen, und jeden Satz den sie las, nahm sie zum Anlass ihr eigenes Leben zu durchleuchten. Ihre letzte Liebe hatte ihr Herz stumm werden lassen und ihre Seele zum Trauern gebracht. Ach, wenn ich doch bloß diesen ganzen Seelenschmerz herausspeien könnte, dachte sie in Begleitung eines tiefen Seufzers. Gedankenverloren blickte sie auf, dabei fiel ihr Blick genau auf einen Geschäftsmann am Tisch gegenüber, auch er war in Zeilen vertieft, aber es waren keine Lebensweisheiten die ihn beschäftigten, sondern ein Börsenblatt – wie unschwer zu erkennen war. Hektisch schob er eine Ravioli nach der anderen in den Mund dazwischen spülte er immer wieder mit Wein nach, wobei er mehrmals seine Sitzposition änderte. Hinter ihm, dort wo am Morgen noch Ebbe war ruhte ein glänzendes Meer, darüber schwebten, fast ohne Flügelschlag, einige Möwen. Ein Bild der völligen Harmonie in der er, wie ein Fremdkörper saß und Unruhe verbreitete. Das Läuten seines Handys, sowie der schlechte Netzempfang veranlassten ihn schließlich seinen Platz zu verlassen – die Harmonie war wieder hergestellt. Doch nur kurz währte dieses Bild der Ruhe, denn eine Möwe empfand es als passende Gelegenheit einen Zwischenstopp einzulegen, um die restlichen Ravioli auf seinem Teller zu verschlingen. Beeindruckt von dem großen weißen Vogel, der es als Selbstverständlichkeit ansah seine gefräßige Gier zu stillen, beobachtete sie, ohne eingreifen zu wollen, das Schauspiel. Danach schwang er sich gestärkt und mit zwei kraftvollen Flügelschlägen, von denen sie noch den Wind in ihren Haaren verspüren konnte, davon. Handlungsunfähig, ja, immer noch wie gebannt von dem Unfassbaren, sah sie dem dreisten Vogel so lange nach, bis er sich im lichtgrauen Himmel aufgelöst hatte. Irgendwie faszinierend, dachte sie, ohne Scheu vor ihr, war er auf dem Nachbartisch gelandet um seinem natürlichen Trieb zu folgen. Gedankenverloren senkte sie ihren Blick und schlug die nächste Buchseite auf. – Ja, und wenn ich es mir recht überlege, so bin ich auch eigentlich gar nicht anwesend, dachte sie, eine Erkenntnis die sie traurig stimmte.
„Hallo Missus“, drang plötzlich eine männliche Stimme zwischen ihre trüben Gedanken, „hey, wer hat von meinem Teller gegessen? Waren Sie so hungrig?“
Wie aus einer anderen Welt entstiegen sah sie zu der Stimme hin, dann verharrte sie noch einen Augenblick in dieser Position, bevor es ihr möglich war zu antworten. „Nein, nein“, verteidigte sie sich dann mit abwehrenden Händen, wobei sie nun direkt in das fragende Gesicht des Mannes blickte, der noch vor wenigen Minuten am Nachbartisch saß und seine Ravioli schnabulierte. Im nächsten Moment kehrte die Erinnerung an die Möwe zurück, und der Gedanke daran brachte Nora zum Schmunzeln.
„Was ist so witzig“?, fragte er sichtlich erstaunt, woraufhin er unaufgefordert seinen durchtrainierten Körper auf die Sitzbank, gleich neben ihr, schwang. Sein geschäftsmäßiger Blick war zwischenzeitlich in ein spitzbübisches Lächeln gewechselt, seine sonnenverwöhnte Haut ließ das Blau seiner Augen noch intensiver erscheinen, der kurze blonde Haarschopf war glatt nach hinten gekämmt, und kleinere Fältchen um Mund- und Augenpartien wirkten äußerst sympathisch – wie sie bei genauerem Hinsehen feststellen konnte. Seine Augen huschten in rasanter Geschwindigkeit über ihr Gesicht, schienen es systematisch erfassen zu wollen, offensichtlich zufrieden mit dem was er sah, formte sich sein Mund zu einem breiten Grinsen, sodass strahlendweiße Zähne zum Mittelpunkt seines Gesichtes wurden.
Nora sah ihn verwundert an, und das erste was ihr durch den Kopf ging war: Will auch er nur seine Gier stillen? Wird er dich gleich mit Haut und Haaren verschlingen, sowie die gefräßige Möwe seine Ravioli? Sofort schaffte sie die gebührende Distanz zwischen ihnen und rutschte auf der Sitzbank etwas auf Abstand – was er nicht nur bemerkte, sondern sogleich auch kommentierte. „Oh, Entschuldigung, Missus! Ich vergaß mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Weinberg, Clemens Weinberg. Na, haben Sie nun von meinem Tellerchen gegessen oder nicht?“, gleichzeitig schweifte sein Blick über die menschenleere Terrasse.
Sie folgte seinem Blick, fühlte sich schuldig und geriet sogleich in Erklärungsnot. „Nein, nein“, verteidigte sie sich erneut, „es war nur eine hungrige Möwe … die … die“, stotterte sie, „die wohl die Gelegenheit ihrer Abwesenheit nutzte!“
Mit großen Augen und halbgeöffnetem Mund sah er sie fragend an.
Im gleichen Augenblick wurde ihr bewusst, wie unglaubwürdig ihre Geschichte klingen musste. Aus Verlegenheit hielt sie ihm die Hand zum Gruß entgegen, und sagte: „Ich bin … ich meine, mein Name ist Nora Goldmund“, leichte Röte überzog nun ihr Gesicht.
„Sieh an, sieh an, das Goldmündchen war hungrig und glaubt nun, es könne mir die Geschichte einer gierigen Möwe auftischen!“, bemerkte er, wobei er ihre Hand zwischen seine Hände nahm und ihr ein verführerisches Lächeln schenkte.
„Nein, nein, ich schwöre, es war eine Möwe die Ihren Teller leerte!“ Wieso muss ich mich eigentlich verteidigen, ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Was will er von dir? Und überhaupt war ihr jetzt diese Anmache zu blöde – und einer ihm völlig fremden Frau gleich einen Kosenamen zu geben fand sie mehr als nur fragwürdig – wenn nicht sogar respektlos, ja, unverschämt.
Zwischenzeitlich kam die Kellnerin mit ihrer Bestellung. Mit einem freundlichen Lächeln sagte sie: „Ihre Bestellung, Missus Goldmund: Ravioli, auf Rucola und geriebenem Parmesankäse. Bon Appetit.“
„Sieh an, da ist ja mein Essen wieder“, stellte er mit vorgespieltem Erstaunen fest. „Gebens Sie’s zu“, sagte er augenzwinkernd, „Sie hatten solchen Hunger, dass Sie meine Portion aufgegessen haben, und in der Hoffnung ich würde es nicht bemerken, bestellten Sie sofort wieder eine neue …“ Mit einem herausfordernden Lächeln stützte er lässig seinen Arm auf die Tischplatte, vergrub das Kinn in seiner Handinnenfläche und sah sie dabei herausfordernd an.
Nora war völlig perplex. Eigentlich sollte sie jetzt aufstehen und gehen, doch dann räusperte sie sich, schob den Teller mit einem kleinen Schubs zu ihm hinüber und sagte: „Hier … für Sie … Guten Appetit!“
„Wirklich? Sie wollen mir ihr Essen überlassen?“, fragte er mit vorgespielter Unschuldsmiene, dabei spitzte er seinen Mund wie ein Kind, das nicht wusste was es tun sollte.
„Ja, mir ist der Appetit irgendwie vergangen“, im gleichen Moment, und bei seinem Anblick, musste sie feststellen, dass er sie amüsierte. Ein Gefühl, dass sogleich ihre innere Anspannung ein wenig auflockerte – auch das seit Tagen gefestigte Bild des Toten rückte in den Hintergrund.
Mit einem Lächeln schob er den Teller wieder zurück, „nein, vielen Dank“, sagte er augenzwinkernd, „aber ich habe hinter der Glastür den großen weißen Vogel gesehen, der sich in unverschämter Weise über mein Essen hermachte. Eigentlich hätte ich es mir denken können – hier auf Jersey heißt es: Lass nie etwas Essbares unbeaufsichtigt im Freien stehen, denn eine Möwe ist immer in deiner Nähe die alles beobachtet.“
Erneut schob sie den Teller wieder zu ihm hin, „hier … bitte“, sagte sie, „Sie sind doch sicherlich in Eile. Sie dürfen gerne essen.“
Große blaue Augen sahen sie verzückt an. „Nur, wenn Sie mir versprechen mich heute Abend zum Dinner zu begleiten, dann nehme ich Ihr Angebot sehr gerne an?“
Einen Moment lag ein nachdenkliches Schweigen zwischen ihnen.
„Bitte“, flüsterte er in einem charmanten Ton, „sagen wir gegen neunzehn Uhr – hier im Hotel. In der Champagner Lounge! Ja? Und danach reserviere ich einen Tisch im Restaurant.“ – In seiner Mimik lag nun die ganze Überzeugungskraft eines Verführers.
Unschlüssig sah sie ihn an, im Schnelldurchgang ging ihr das dramatische Ereignis, sowie die Aufregungen der letzten Tage nochmals durch Kopf. Eigentlich hatte sie auf diese Art von Verabredungen so gar keine Lust, und außerdem stand ihr der Sinn nicht nach einem Flirt – oder was auch immer er von ihr wollte.
Ihre Unsicherheit schien er als Herausforderung zu interpretieren. Er neigte den Kopf etwas zu Seite und legte seinen ganzen Charme in sein Lächeln.
Einen Moment haderte sie noch. Sollte sie? Vielleicht würde eine Abwechslung ihr guttun, ja, sie auf andere Gedanken bringen? „Okay“, antwortete sie schließlich, „aber nur wenn Sie jetzt essen!“
Im gleichen Moment schob er mit dem Messer eine Ravioli auf die Gabel und ließ sie, mit einem Augenzwinkern, in seinem Mund verschwinden. Danach aß er in gleicher Manier weiter, als ob es keine Unterbrechung gegeben hätte.
„Sie müssen wissen, ich habe heute noch nichts gegessen – was soll ich machen“, entschuldigte er sich achselzuckend, danach schob er sich hektisch eine Gabel nach der anderen in den Mund. „Jedenfalls habe ich in einer halben Stunde ein wichtiges Meeting … und Geschäfte, Geschäfte mache ich niemals mit leerem Magen“, sagte er kauend. Nach einer Weile hatte er aufgegessen, und noch während er sich den Mund mit einer Serviette abtupfte, verlangte er nach der Rechnung. Beim Abschied sagte er: „Dann bis heute Abend, Goldmündchen“, er kam noch etwas näher an sie heran, so nahe, dass sie seinen Atem in ihrem Gesicht spüren konnte, augenzwinkernd flüsterte er: „ich habe eine Penthousewohnung gleich neben dem Viktoriapark, sie verfügt nicht nur über eine herrliche Aussicht, sondern auch über ein supergroßes King-Size-Bett! … Also bis dann.“ Dann griff er nach seinem Aktenkoffer und schlängelte sich mit seinem athletischen Körper geschickt zwischen der Bestuhlung der Terrasse hindurch. Auf der Türschwelle zur Hotellobby wandte er sich nochmals, und mit einem bestätigenden Lächeln, zu ihr um.
Sprachlos sah sie ihm nach. Was war das denn?, schoss es ihr durch den Kopf. Für wen oder was hält er sie? Für eine der sogenannten Wochenendfrauen? Frauen, die hier im Hotel und nur an den Wochenenden zu finden waren? Frauen, die auf kurze Abenteuer aus waren? Nein, das hätte sie jetzt nicht von ihm erwartet. Das war also sein Bestreben! Er wollte nur mit ihr in die Kiste! Jetzt ärgerte sie sich, dass sie auf seine blöde Anmache reingefallen war. „Na, da kannst du lange warten“, zischte sie ihm wütend nach.
Natürlich ging sie nicht zu dem vereinbarten Treffen, stattdessen ließ sie sich das Essen auf ihrem Hotelzimmer servieren. Und während sie aß, genoss sie die traumhafte Aussicht von der dritten Etage auf die Bucht von Saint Aubin. Für dieses Zimmer, mit einem gigantischen Ausblick, hatte sie noch einiges drauf zahlen müssen – aber, wie sie jetzt feststellen musste, war es jedes Jersey Pfund wert. Allein schon die Lage des Hotels war perfekt, alles war in nur wenigen Minuten zu Fuß erreichbar: ob nun die City von Saint Helier, der Jachthafen, oder die traumhafte Bucht von Saint Aubin, die bei Ebbe die ideale Gelegenheit für sportliche Aktivitäten bot – oder zu Abendspaziergängen bei traumhaften Sonnenuntergängen einlud.
Am nächsten Morgen war sie durch lautes Geschrei einiger Möwen erwacht. Sie blinzelte zum offenen Fenster und konnte gerade noch ein paar dieser graugefiederten Vögel erkennen, die dicht an ihrem Fenster vorbeischwebten. Sie blinzelte zur Uhr auf der Konsole – sechs Uhr, viel zu früh um aufzustehen, dachte sie, schlaftrunken vergrub sie ihren Kopf wieder unter der Bettdecke und versuchte nochmals einzuschlafen, doch sobald sie ihre Augen schloss, wanderten ihre Gedanken wieder zu dem dramatischen Ereignis in ihrem Vorgarten: erneut zog das Bild des Toten – der leblose starre Körper – vor ihrem geistigen Auge vorüber, ein Bild das langsam jede einzelne Gehirnzelle in ihrem Kopf zu aktivieren schien. Ach ihr gruselte jetzt, und an Einschlafen war nicht mehr zu denken. Und so beschloss sie an den Strand joggen zu gehen. Vielleicht war es ihr möglich sich freizulaufen, freizulaufen von allem was sie bedrückte, ja, sie innerlich bewegte.
Kurze Zeit später überquerte sie im Laufschritt die Victoria Avenue. An der Kai-Mauer stoppte sie, um sich eine erste Orientierung zu verschaffen. Zu ihrer linken Seite thronte die Elizabeth Castle, zur rechten lag eine menschenleere Bucht die nicht nur um Beachtung bat, sondern auf faszinierende Weise einlud die noch schlafende Landschaft zu erkunden. Ein kleiner befreiender Seufzer kam kaum hörbar über ihre Lippen. Die morgendliche Ruhe wirkte nicht nur entspannend auf ihren Körper, sondern schmeichelte gleichermaßen ihrer Seele. Horizont und Meer waren kaum voneinander zu unterscheiden – alles vereinte sich in einem violetten Morgendunst. Ein innerer Drang mit der Natur im Einklang zu sein, ja, sich im Laufen darin aufzulösen trieb sie die Stufen zum Strand hinunter. Zurzeit war Ebbe und der versiegelte Sandboden mit den geriffelten Spuren der Wellen erwies sich als optimale Laufqualität. Doch kaum hatte sie ihren Lauf-Rhythmus gefunden, gingen ihre Gedanken wieder auf Wanderschaft. Die Bilder des Toten drangen unverblümt in den Vordergrund, erneut sieht sie den leblosen Körper an der Buche hängen, sie sieht wie Polizeibeamte ihn unter großem Kraftaufwand abschnitten und den erstarrten Körper in den Sarg betteten – nein, es war vielmehr ein Pressen, auch hört sie wie der Reißverschluss des Totensacks mit einem lauten Zischlaut – der durch Mark und Bein ging – zugezogen wurde, gleichzeitig vernahm sie das Blitzlichtgewitter der Reporter, die sich wie eine Meute hungriger Hyänen hinter der Absperrung drängten, um dann das allerletzte Foto noch zu schießen. Verständnislos schüttelte sie darüber den Kopf, weil auch sie – ohne ihr Wollen – in ihre Schusslinie geraten war. Ganz deutlich hört sie noch ihre Fragen – Fragen, die sie so unvermittelt trafen, dass sie nur noch Reißaus nehmen konnte. Warum gab es für diese Presseleute kein Gesetz, das sie in ihre Schranken verwies? „Tsss … so etwas nennt sich dann Pressefreiheit!“, zischte sie. Wie oft wurden unschuldige Menschen durch falsche Interpretationen der Medien vernichtet! Fragen und Gedanken, die sie nur noch mit einem kräftigen Fußtritt in den Sand beantworten konnte. Ja, und weiß der Geier, sie ärgerte sich maßlos darüber, dass sie ungewollt zum Opfer wurde – ja, zur Gejagten, so dass sie die Flucht, die Flucht hierher nach Jersey, antreten musste. Ihr Laufschritt passte sich gemäß ihrer Wut an. Plötzlich blieb sie stehen, die Erinnerung an das Gesicht des Toten war wieder da – ja, das Gesicht hatte Ähnlichkeit mit einem Mann, der bei ihren letzten drei Lesungen zugegen war. Sie presste einen Moment die Hände vor ihre Augen, gleich so, als könnte sie das Bild festhalten – gewiss doch! Ja, er saß bei ihren letzten Lesungen in der hintersten Reihe – fast unscheinbar im Halbdunkel – als wollte er nicht gesehen werden. Aber wer war er? Ein abgewiesener Verehrer? Aber warum sollte er sich gerade in ihrem Vorgarten erhängen? – Nein, das ergab keinen Sinn. Auch wenn sich der ein oder andere Verehrer seit den Veröffentlichungen ihrer Bücher gemeldet hatte, so traten sie alle in irgendeiner Form in Erscheinung. Sie lief weiter und folgte in Gedanken den Spuren dieser Verehrer: jede einzelne E-Mail, auch handgeschriebene Zeilen versuchte sie gedanklich nachzuvollziehen, aber es war nichts dabei, das sie als krankhaft hätte deuten können – oder doch? Vielleicht sollte sie ihre E-Mails nochmals lesen, gegebenenfalls auch zwischen den Zeilen deuten. Mist, da fiel ihr ein, dass sie die Angewohnheit pflegte ihre E-Mails regelmäßig zu löschen. Somit dürften alle Mails vernichtet sein, folglich war es sinnlos sich weiter den Kopf darüber zerbrechen zu wollen.
„Guten Morgen Goldmündchen“, drang plötzlich eine gutgelaunte Stimme zwischen ihr Gedankenwirrwarr. „Ihnen ist schon klar, dass Sie mich gestern Abend versetzt haben!“, wobei er sie eindringlich von der Seite musterte, „aber zum Glück bin ich ja nicht nachtragend“, fügte er großzügig an. Anschließend joggte er, ohne sie zu fragen, neben ihr her, zwischendurch korrigierte er mehrmals seine Schrittfolge, um mit ihr im gleichen Rhythmus zu joggen.
Am frühen Morgen, ohne eine Tasse Kaffee getrunken zu haben, auf diese Weise angemacht zu werden – das ging gar nicht, dachte sie.
„Wie war noch gleich Ihr Name? Ach ja, Mister Weinberg! Nun, Mister Weinberg, um ganz ehrlich zu sein, die pubertierenden Anmachen eines alternden Playboys sind für Damen vielmehr eine Beleidigung, als eine Einladung“, sogleich erhöhte sie ihr Lauftempo um ihn abzuhängen.
„Meine Güte, sind wir aber mal empfindlich, das mit dem King-Size-Bett war ein Scherz … nichts als ein Scherz! Sie verstehen, Missus Nora Goldmund!“, rief er ihr nach.
Sie gab ihm keine Antwort, stattdessen rekonstruierte sie in Gedanken den gestrigen Gesprächsablauf. Vielleicht hatte sie ja wirklich überreagiert? Oder gar die Verabredung völlig falsch interpretiert? Vielleicht hätte sie auch schlagfertiger sein sollen! Gleichzeitig war sie verärgert darüber, weil sie wieder einmal die Schuld bei sich selbst suchte – ja, und das Sich-schuldig-Fühlen, war ein unliebsames Anhängsel aus Kindertagen. Während ihren Gedankengängen hatte er sein Lauftempo ebenfalls erhöht und joggte nun, als ob es das Selbstverständlichste auf der Welt wäre, wieder neben ihr her. Zwischendurch korrigierte er abermals, und mit sichtlichem Vergnügen, seine Schrittfolge. Zuerst beobachtete Nora ihn nur aus den Augenwinkeln, dann wandte sie ihren Kopf abrupt um und warf ihm einen strafenden Blick zu.
„Uuuh … zum Glück konnte dieser Blick nicht töten, sonst wäre ich jetzt mausetot umgefallen“, scherzte er.
Momentan war sie nicht in der Stimmung ihm zu antworten. Ihre gute Laune hielt sich irgendwo versteckt, und die Erinnerung an den fremden Toten, schien ihren Humor ebenfalls verdrängt zu haben. Erneut sah sie zu ihm hin – Entschlossenheit lag in seiner ganzen Ausstrahlung, wie sie nun erkennen konnte. Ja, dieser unverschämte Kerl besaß auch noch die Dreistheit und lächelte ihr zu.
Und so liefen sie eine Weile nebeneinander her, und immer wenn sie zum ihm hinsah, lächelte er – er lächelte! Ja, aber wenn sie ehrlich war, dann war es ein offenes Lächeln, das sie mit zunehmender Laufzeit nicht nur versöhnlicher stimmte, sondern auch ein klein wenig ihre Neugier weckte. Eigentlich, dachte sie, mal abgesehen von seiner aufdringlichen Art, sieht er recht passabel aus. Wie alt er wohl sein mag? Fünfzig! Vielleicht etwas darüber – aber nicht viel. Nochmals sah sie zu ihm hin und dieses Mal nahm sie ihn genauer in Augenschein – was er natürlich bemerkte.
„Na, gefalle ich Ihnen?“, fragte er mit einem breiten Grinsen, wobei er gekonnt eine Pirouette drehte.
Clown, dachte sie, und lächelte in sich hinein.
„Sie sind ganz schön hartnäckig, wissen Sie das, Frau Goldmund!“, sagte er nach einer Weile.
„Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass sich Hartnäckigkeit auszahlt“, konterte sie.
Woraufhin er sie nur anstrahlte.
Außer ein paar verstohlenen gegenseitigen Blicken liefen sie schweigend nebeneinander den Strand entlang. Am Ende der Bucht, kurz vor Saint Helier, stoppte er, mit ausgestrecktem Arm verwies er auf eine schicke Wohnanlage gleich neben ihrem Hotel, „ich muss dorthinauf“, meinte er, „meine Zeit ist leider um. Es hat Spaß gemacht schweigend mit Ihnen zu joggen, Frau Goldmund, aber dennoch muss ich mich verabschieden … die Pflicht ruft“, dann drehte er sich um und hastete dem Treppenaufstieg der Kai-Mauer entgegen.
Ohne ihm zu antworten, sah sie ihm nach, dabei musste sie feststellen, dass seine Beharrlichkeit ihr Interesse geweckt hatte. Eine ganze Weile noch dachte sie mit einem Lächeln, sowie einem wohligen Gefühl in der Bauchgegend über ihn und seine dreiste Art nach. Jedoch mit zunehmender Zeit schlichen ihre Gedanken wieder zu dem Toten und zu einigen E-Mails ihrer Verehrern – die leider nur noch bruchstückhaft in ihrer Erinnerung vorhanden waren – und so sehr sie sich auch anstrengte, sie fand keine Verbindung zu dem Toten. Verärgert über ihre Gedächtnislücken, ihre missliche Lage, in die sie ohne ihr Zutun hineingeraten war – und überhaupt ihr ganzes bescheidenes Leben das nur noch so dahinplätscherte, erhöhte sie ihr Lauftempo, dabei dachte sie, du musst nur schnell genug laufen, dann gelingt es dir vielleicht ALLEM davonzulaufen – was leider, wie sie aus Erfahrung wusste, nur bedingt möglich war. Die Wahrheit war, danach waren ihre Energietanks leer und sie hatte keine Kraft mehr über ihr Leben nachzudenken.
Ein wenig später kam sie ausgepowert, sowie gedankenleer im Hotel an, nur diesem Mister Weinberg war es seltsamer Weise gelungen sich ein Plätzchen in ihrem Kopf zu verschaffen. Unbewusst pendelten ihre Gedanken immer wieder zu ihm hin, ja, sie entlockten ihr sogar ein Schmunzeln.
Am frühen Abend ging Nora unschlüssig in ihrem Hotelzimmer auf und ab. Sie überlegte ob sie zum Dinner ins Hotelrestaurant gehen oder sie doch lieber hier bleiben sollte – ach, vielleicht könnte sie im Restaurant anrufen und Sandwiches bestellen? Unentschlossen, nur mit Slip und BH gekleidet, blieb sie am Fenster stehen und sah hinaus. Und wieder einmal bewunderte sie den Ausblick aus der dritten Etage. Ja, sie fand ihn so grandios, dass er wie ein magischer Anziehungspunkt auf sie wirkte, sie nützte jede Gelegenheit um hinauszusehen, ob sie nun im Bett lag, beim Ankleiden war – ja, auch vom Badzimmer aus, war es ihr möglich einen Teilblick zu erhaschen. Verträumt schweifte ihr Blick über die fast menschenleere Bucht, in der nur noch vereinzelt Spaziergänger mit ihren Hunden unterwegs waren. Den ganzen Tag war es diesig gewesen, die Sonne war nur zu erahnen und eine melancholische Stimmung schien sich ganz allmählich auf alle Lebewesen zu übertragen. Auch die Möwen schienen weniger angriffslustig als sonst zu sein und dösten mit eingezogenem Kopf auf der Kaimauer vor sich hin. Während sie immer noch unschlüssig am Fenster stand, pendelten ihre Gedanken langsam aber zielsicher zu den Ereignissen der letzten Tage, und gerade als aus ihrer Erinnerung das Bild des Toten wieder hervorkroch, fühlte sie ein Beobachtet-Werden. Sofort fiel ihr Blick zur eleganten Wohnanlage gleich vis-à-vis. Auf der Dachterrasse einer schicken Penthousewohnung stand ein Mann der in ihre Richtung blickte – jetzt schien er jemandem zuzuwinken. Nora trat noch einen Schritt vor, um besser sehen zu können, dann musste sie feststellen, dass es ihr galt. Etwas irritiert hielt sie sofort die Gardinen vor ihren halbnackten Körper, und beim zweiten Blick erkannte sie schließlich dann diesen aufdringlichen Mister Weinberg. Er gab ihr irgendwelche Zeichen die sie aufgrund der Entfernung nicht so recht deuten konnte. Was tat er nun? Er hielt zwei Sektgläser empor und verwies anschließend mit der Hand mehrmals auf die Terrasse des Hotels.
„Ah, jetzt verstehe ich, ich soll auf die Hotelterrasse kommen – vergiss es“, zischte sie. Mit einem Ruck zog sie demonstrativ die Gardinen zu, gleichzeitig stellte sich ihr die Frage: Was will er eigentlich von dir? Warum ist er so aufdringlich? Nach einigen Minuten des Hin- und Herüberlegens wurde sie neugierig. „Also gut, ich komme!“, murmelte sie … außerdem wird dir etwas Abwechslung sicherlich ganz guttun, entschuldigte sie sofort ihre Entscheidung. Aber, mein lieber Mister Weinberg, wenn du jetzt glaubst, dass ich mich wegen dir in Schale werfe, muss ich dich enttäuschen. Bewusst griff sie nach einer dünnen khakifarbenen Sommerhose und zu einem farblich passenden Shirt dessen einzige Raffinesse ein geraffter Carmen Ausschnitt war. Während sie in ihre Ballerinas schlüpfte, betrachtete sie noch etwas kritisch ihr Aussehen im Spiegel. „Na, geht doch“, sagte sie, während sie rasch ihre rotblonden Haare zurechtzupfte. Dann trat sie noch etwas näher an ihr Spiegelbild heran. Nur ihre sonst so strahlend grünen Augen wirkten müde, irgendwie auch traurig. Na, ist ja auch kein Wunder bei all den Aufregungen!, dachte sie. Noch ein letzter prüfender Blick, und mit ihm kam wieder die Frage aller Fragen: Warum ist es dir trotz deines attraktiven Aussehens und deiner tollen Ausstrahlung nie gelungen einen Mann langfristig an dich zu binden? Ja, und ganz plötzlich war die Sehnsucht nach menschlicher Nähe, nach Geborgenheit wieder da – ja, das Bedürfnis nach Liebe, nach einem Menschen der sie liebevoll in die Arme nehmen und sagen würde: ich liebe dich. Einen Moment hielt sie inne, sie überlegte, wann sie diese drei kleinen Worte zuletzt gehört hatte, doch mit Entsetzen musste sie feststellen, dass alle – ja, alle die ihr einmal nahestanden, nur umschreibende Worte gebrauchten. Aber warum? Ob es wohl an ihr lag? Seit ihrer letzten großen Liebe – jedenfalls hatte sie geglaubt, dass es die große Liebe war – beschlich sie zuweilen der Gedanke, vielleicht doch mehr von einem Partner zu erwarten, als dass dieser zu geben bereit war. Dabei wollte sie doch nur geliebt werden, ja, nur geliebt! Plötzlich geschah etwas Sonderbares. Sie sah im Spiegel die blutjunge Nora – so wie sie vor dreißig Jahren aussah – sie sah in große Augen die ihr verängstigt entgegenstarrten. Für den Bruchteil einer Sekunde schoss ein Erinnerungsblitz durch sie hindurch: Ein Lichtstrahl durchbrach die Dunkelheit und mit ihm erschien eine Gestalt – aufsteigende Angst schnürte gleichzeitig ihre Kehle zu – und noch bevor sie den Erinnerungsblitz realisieren konnte, war er auch schon wieder erloschen. Leicht irritiert von dieser seltsamen Begebenheit, kreuzte sie intuitiv schützend die Arme vor ihrer Brust, dann sah sie wieder ihr Spiegelbild. Jetzt bloß kein Herztürchen öffnen, den aufkeimenden Seelenschmerz erst gar nicht beachten, ermahnte sie sich selbst – nur nicht sentimental werden, sonst musst du weinen und der Abend ist gelaufen.
Ein wenig später stand sie Mister Weinberg auf der Hotelterrasse gegenüber. Er musterte sie von Kopf bis zu den Füßen, anschließend zog ein breites Grinsen über sein Gesicht.
„Was ist … habe ich etwas Absonderliches an mir?“, fragte Nora.
„Och, ich hätte zumindest das kleine Schwarze erwartet“, aber so führe ich Sie selbstverständlich auch zum Dinner aus.
Nach dieser Aussage war sie sichtlich verärgert weil sie seiner Zeichensprache gefolgt war. „Ich kann ja wieder gehen“, zischte sie ihm entgegen, anschließend warf sie beleidigt den Kopf in den Nacken, und gerade als sie die Flucht antreten wollte, spürte sie seine warme Hand der ihren Arm umfasste. „Nicht anfassen“, zischte sie ihm sogleich entgegen.
Er ließ auch sofort los, „ups … ich mag Kratzbürsten, man hat immer das Gefühl, dass man auf der Hut sein muss“, entgegnete er mit einem spitzbübischen Grinsen. „Geben Sie mir noch eine Chance? … Ja? … Bitte!“, gleichzeitig hielt er ihr ein Glas Champagner entgegen. „Hier, als Wiedergutmachung“, sagte er in Begleitung eines verführerischen Lächelns, und dieses Lächeln hatte etwas, dem man sich nicht so leicht entziehen konnte.
Noch ehe sie etwas sagen oder tun konnte, hielt sie das Glas in ihrer Hand.
Sanft, stieß er mit seinem Glas gegen das Ihrige, „auf einen erfolgreichen Abend!“, sagte er augenzwinkernd.
Blödes Spiel, dachte sie, aber auch okay – ganz wie du willst, und so nahm sie innerlich seine Herausforderung an. „Nun denn, Mister Weinberg, darf ich fragen wie Sie sich einen erfolgreichen Abend mit mir vorstellen?“
Er nahm tief Luft und antwortete: „Hm … während wir den köstlichen Champagner genießen könnten wir ein wenig plaudern, sozusagen uns ein wenig beschnuppern. Jaaa, und danach, wenn unsere Sinne von den Champagnerperlen benebelt sind, könnten wir zu mir, in meine Penthousewohnung gehen, dort werde ich Ihnen, gepaart mit einer traumhaften Aussicht, einen erstklassigen Wein kredenzen“, dann kam er noch etwas näher an sie heran, er vertiefte sich in ihre Augen und flüsterte: „ja, und anschließend, da könnten wir gemeinsam – in meinem großen King-Size-Bett – ein Spiel für große Jungs und Mädchen spielen“, wobei nun ein breites Grinsen über sein Gesicht zog, „und danach, ja, da könnten wir zum Dinner gehen – sofern Sie dann noch hungrig sind!“
Leicht irritiert sah sie ihn an – oh, und viele Antworten schwirrten ihr jetzt durch den Kopf, sie zwang sich aber zur Contenance und sagte stattdessen: „Können Sie eigentlich auch ernsthaft sein?“, wobei sie ihn mit ihrem Ellenbogen abrupt auf Distanz stieß.
„Ja – zu Befehl!“ salutierte er mit vorgespieltem Ernst, dem sogleich ein verführerisches Lächeln folgte.
Bei diesem Anblick wurde Nora bewusst, dass ihr Kopf nicht frei für seine Spielereien war, und sie auch nicht in der Stimmung war zu kontern – ihr Herz war viel zu verkapselt, als dass sein verführerischer Blick es hätte aufsprengen können. Entgeistert sah sie ihn an, im gleichen Moment schoss ihr eine Frage durch den Kopf: Was machst du eigentlich hier? Kurzerhand drehte sie sich um, nun wollte sie ihn endgültig stehen lassen.
Doch er war wieder einmal schneller und versperrte ihr sogleich den Weg.
„Hey, das war ein Scherz! Kommen Sie, lassen sie uns etwas essen und ein wenig reden“, wiederum zierte ein überaus charmantes Lächeln sein Gesicht. „Ich werde mich auch benehmen – versprochen“, dabei erhob er seine rechte Hand zum Schwur, „bitte“, flehte er.
Wie kann man nur so ein unwiderstehliches Lächeln haben, ging es Nora durch den Kopf. Ja, und sein Lächeln wurde noch einen Tick charmanter.
„Also gut“, sagte sie, „aber ich warne Sie, noch einen dieser Sprüche und Sie sehen mich nie wieder!“
Woraufhin er sein Haupt zum Dank kurz beugte. Dann hakte er sich bei ihr unter und führte sie galant zum Restaurant.
Im Laufe des Abends ersetzten ernsthafte Gespräche das anfängliche Wortgeplänkel, und erst nachdem sie ihn als Mensch einschätzen konnte, willigte sie, auf ein Glas Wein, in seiner Wohnung ein.
Gegen Mitternacht waren sie in seiner Penthousewohnung angelangt. Es war eine traumhafte Immobilie mit einer großen Dachterrasse von der man eine herrliche Aussicht über die gesamte Bucht, bis hinunter zum Yachthafen hatte. Während er sich um den Wein kümmerte, genoss sie die Aussicht. Staunend, wie ein kleines Mädchen das zum ersten Mal den Horizont entdeckte, trat sie zur gläsernen Balustrade vor, um die Schönheit in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Ein Ausblick, der in Verbindung mit Alkohol, noch um einiges imposanter wirkte – ja sogar Einfluss auf ihre mentale Stimmung nahm. Hier würde ich gerne leben wollen, dachte sie, diese Aussicht würde mich, bei meiner kreativen Arbeit, mehr als nur inspirieren – sie würde meiner Fantasie geradezu Flügel verleihen. Ein kleiner Seufzer des Bedauerns kam leise über ihre Lippen und mit ihm erwuchs eine leichte Melancholie. – Doch da lauerte noch ein anderer Gedanke der sich wieder langsam durch die Hintertür einschlich. Wer war der Tote in ihrem Vorgarten? Könnte der Tote wirklich der Mann gewesen sein, der bei ihren letzten Lesungen zugegen war? Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte krampfhaft beide Gesichter nebeneinander zu bringen – Ja, die Ähnlichkeit schien jedenfalls frappierend, mal davon abgesehen, dass der Tod sein Gesicht entstellt hatte.
Mittlerweile war Mister Weinberg neben sie getreten.
„Na, beeindruckt?“ fragte er und überreichte ihr ein Glas Rotwein.
Ihren Gedanken jäh entrissen, blickte sie ihn nur erschrocken an.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er mit besorgter Miene.
„Ja, ja, alles in Ordnung“, antwortete sie abrupt, wobei ihr Blick wieder in die Ferne schweifte.
„Ganz sicher?“, hakte er nach.
Sie nickte nur.
„Übrigens, ich bin Clemens, wenn es der Nora recht ist?“, dabei stieß er mit seinem Glas gegen das Ihrige.
Sie lächelte und merkte, dass es ihm wieder gelungen war sie ihren Gedanken zu entreißen. „Einverstanden“, sagte sie „aber nur wenn du mir nicht wieder mit deinem King-Size-Bett kommst?“
„Versprochen! … An was denkst du?“, fragte er neugierig.
„Hm … nichts! Aber sag, warum deine Bemühungen mich kennenzulernen? Gibt es einen bestimmten Grund?“
Er lächelte, „der Grund ist eine schöne, attraktive Frau! Ist das nicht ausreichend genug?“
Verlegen senkte sie ihren Blick, „danke für das Kompliment, aber das alleine ist es doch nicht …“
„Stimmt! Und wenn ich ehrlich sein soll, hat es einen ganz trivialen Grund“, er stützte beide Arme auf die Balustrade, dann nahm er tief Luft und sagte: „Weißt du, ich lebe seit einigen Jahren hier, und ich lebe gerne hier, berufsbedingt lerne ich viele Menschen aus unterschiedlichen Nationen kennen, die Unterhaltung ist fast immer in englischer Sprache. Doch dann kommt es vor, dass mich das Heimweh nach Deutschland packt“, verlegen senkte er kurz seinen Blick, „und da habe ich dich gesehen und gehört, dass du Deutsche bist“, er lächelte, „ja, du hattest passgenau diesen Moment erwischt, wo das Heimweh mich gepackt hatte, und da ging es einfach mit mir durch … ich musste dich kennenlernen! Kannst du das verstehen?“
Mit einem verstehenden Lächeln, nickte sie ihm zu. Eine Antwort, die ihm, wegen seiner Ehrlichkeit, Sympathiepunkte einbrachte.
Danach lauschten beide, gedankenverloren in die Stille der Nacht.
Nora war es, die zuerst wieder aus der Unterwelt ihrer Gedanken aufgetaucht war, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, nicht zu lange dort zu verweilen, denn das würde jede weitere Kommunikation unmöglich machen. Sie sah zum Himmel und sagte: „Es ist kälter geworden, die Nebelschicht des Tages hat sich aufgelöst, auch einige Sterne sind zu sehen … siehst du“, dabei verwies sie mit ihrem Glas Richtung Himmel, „sogar der Vollmond kann sein Spiegelbild auf der Meeresoberfläche bestaunen“, fügte sie mit einem milden Lächeln an.
Clemens folgte stumm ihrem Hinweis und nippte nachdenklich an seinem Glas.
„Ein Anblick der mich an meine letzte Liebe erinnert“, bemerkte Nora leise.
„Ja, ja … die Liebe!“, seufzte Clemens, und so wie er es sagte, schien er noch in seiner Gedankenwelt unterwegs zu sein.
Kurz schnippte Nora mit dem Finger gegen ihr Glas, der zarte Klang ließ ihn aufblicken.
Für ihren dezenten Hinweis bedankte er sich mit einem Lächeln, dann kam er etwas näher an sie heran, sodass sie seine Körperwärme spüren konnte. „Möchtest du über deine letzte Liebe reden?“, fragte er, wobei er zärtlich mit seinem Zeigefinger über ihren Arm strich.
Ihr Blick folgte seinem Zeigefinger – wie zärtlich er dich in das Thema zwingt, dachte sie. Plötzlich – sie konnte gar nicht anders – musste sie ihn ansehen. Es war, als ob sein Blick nur darauf gewartet hätte. Sie spürte, wie dieser Blick kurz ihr Herz berührte. Die Verkapselung, die sich seit ihrer letzten Liebe um ihr Herz gebildet hatte, schien einen Riss bekommen zu haben. Einen zeitlosen Augenblick waren ihre Blicke ineinander versunken – wobei beiden die Gefährlichkeit der Intensität ihrer Blicke bewusst war. Ob sie darüber glücklich sein sollte, vermochte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu sagen. Verlegen und mit leicht geröteten Wangen schlug sie die Augenlider nieder.
Erst nach einem kaum hörbaren Seufzer erzählte sie ihre Geschichte, die ihr Herz nach der langen Zeit endlich freigeben konnte. „Nun, vor einigen Jahren begegnete ich auf einer Reise einem Menschen der mein ganzes Leben veränderte. Wir lernten uns in einer Vollmondnacht, genau wie diese, kennen, der Mond der sich auf der Meeresoberfläche spiegelte, fand unser beider Interesse. Tja …“, seufzte sie, „ich dachte, es wäre die große Liebe, dabei war es nur ein Wegweiser des Schicksals der mich auf einen ganz anderen Pfad führte, einen Pfad der ebenso schmerzvoll wie auch arbeitsintensiv meine Lebensspur prägte. Den Gedanken an ihn, den Hoffnungsschimmer ihm jemals wieder zu begegnen, war ein Haltegriff an dem ich mich über Jahre emporzogen hatte. – Aber jetzt, wo ich im Begriff bin den Haltegriff wieder loszulassen, bin ich froh, dass der Hoffnungsschimmer erloschen ist, denn wir wären mit Sicherheit unglücklich geworden“, für einen Moment hielt sie inne, dann fuhr sie mit leiser Stimme fort: „Er war nur ein Wanderer auf einem einsamen und lieblosen Pfad, dem eine Frau nur hin und wieder den Weg ausleuchten sollte – nicht mehr und nicht weniger!“
„Das klingt nicht nur sehr poetisch, sondern auch sehr wehmütig!“, wobei Clemens sanft mit seinem Zeigefinger über ihren Handrücken streifte.
Nora drehte sich zu Clemens um, ihre Blicke trafen erneut aufeinander, diesmal durchströmten warme Wellen ihren Körper. Gleichzeitig, vielmehr aus einer Verlegenheit heraus, erhoben beide ihre Weingläser und stießen an, ein heller Klang verdrängte das beharrlich aufsteigende und dürstende Verlangen nach körperlicher Liebe.
Mit einem bitteren Lächeln fuhr sie fort: „Hm … sozusagen war ich die Alchimistin, die aus der Begegnung die große Liebe machen wollte … leider bin ich kläglich daran gescheitert. Aber, ich habe andere Dinge daraus gelernt …!“
„Oh … das klingt sehr philosophisch“, bemerkte Clemens, „kann es sein, dass der Rotwein seine ersten Spuren zeigt?“, wobei er sein Glas gegen den Schein des Mondes hielt und dabei den Rest des Weines spielerisch kreisen ließ.
Sie lächelte, wobei sie eigentlich hätte weinen mögen, aber irgendetwas hielt ihre Tränen zurück. Auch war sie kurz davor ihm von dem Toten in ihrem Vorgarten zu erzählen, aber diese Geschichte würde die wundervolle Atmosphäre nur zerstören – und nein, das wollte sie keinesfalls. Diese Augenblicke der völligen Harmonie waren eine Seltenheit in ihrem Leben geworden und verlangten beachtet, ja, gewürdigt zu werden. Sie setzte das Glas an und nahm einen großen Schluck Wein.
„Lebst du alleine hier?“, fragte sie das Thema wechselnd.
Kurz sah er sich suchend um, „ja, so wie es den Anschein hat … oder siehst du noch jemanden?“
„Es gelingt dir immer nur kurz ernsthaft zu bleiben oder …?“, lächelte sie.
Er kam etwas näher, legte zärtlich seinen Arm um ihre Hüfte und flüsterte: „Hey, ich verrate dir etwas, nur wenn ich verlegen bin … oder verliebt!“
„Und was bist du jetzt?“
„Beides!“ flüsterte er ihr ins Ohr und küsste sie dabei auf die Schläfe.
Verlegenheitsröte stieg in ihr auf, sanft stieß sie ihn mit dem Ellenbogen auf Distanz.
Mit einem Lächeln prostete er ihr zu, ihre Gläser trafen kurz aufeinander, ein klirrender Ton verhallte in der Nacht und vibrierte durch ihr eh schon aufgewühltes Innenleben. Doch so schnell würde sie sich nicht verführen lassen, das hatte sie sich nach ihrer letzten Liebe geschworen – die Zeit war noch nicht reif.
Nun, galt es das Thema in eine andere Richtung zu bringen. „Wie finanziert man eigentlich so eine traumhafte Immobilie?“, fragte sie.
„Du bist aber gar nicht neugierig?“, lachte er, „durch Immobilien und Anlageberatungen! Und du? Was machst du beruflich?“
„Nun, ich bin vor einiger Zeit, um es genauer zu sagen, nach den Irrungen meines Herzens, zur Autorin konvertiert.“
„… konvertiert? Hm … interessant!“, wobei er bei dem Wort: konvertiert, sichtlich irritiert schien.
Was sie zwar bemerkte aber ohne Kommentar so stehen ließ. Sie fand das Wort passend!
„Über was schreibst du?“
„Nun, ich schreibe mich durch die ganze Klaviatur der Leidenschaften“, sie nippte an ihrem Wein und beobachtete seine Reaktion. Denn immer wenn sie diese Antwort gab, konnte sie in den Augen des Gegenübers erkennen welche Impulse diese Antwort auslöste. Viele versuchten dann die seltsame Komposition ihrer Wortwahl zu definieren, bei unkreativen Menschen blieb ein Fragezeichen in den Augen zurück; die kreativen begriffen sofort die Vielfalt die sich dahinter verbarg, und manchmal, ja, da ergaben sich auch sehr aufschlussreiche Themen daraus.
„Klaviatur der Leidenschaften! Hm … das klingt in der Tat nicht nur vielversprechend im erotischen Sinne, sondern verspricht auch theatralische Auswüchse!“ In seinen Augen lag nun ein ganz besonderes Strahlen – ein sehnsüchtiges Bedürfnis nach Liebe flackerte auf.
Sie ahnte, nein, vielmehr spürte sie, dass er die Kunst der Liebe beherrschte und lächelte ihm nur wissend zu, was ihn wiederum animierte noch etwas näher an sie heranzutreten, so nahe, dass ihre Körper sich berührten. Und sie musste sich selbst eingestehen, dass sein Körper sich gut anfühlte. In ihren Schläfen pochte bereits aufsteigendes Blut, ihr Körper fing zu beben an. Er spürte ihre Erregung und war sichtlich angetan von dem, was er bei ihr erreicht hatte. In seinem Gesicht lag schon dieses Siegerlächeln und gerade als er im Begriff war seinen Sieg auskosten zu wollen, wandte sie sich mit einem wissenden Lächeln von ihm ab. „Nein, mein Freund“, sagte sie augenzwinkernd, „so war das nicht gemeint“, anschließend nahm sie die Weinflasche, füllte die die Gläser wieder auf und prostete ihm zu.
Er lachte, „Goldmündchen … ich krieg dich noch“, neckte er.
„Mag sein, aber nicht heute Abend. Zum Wohlsein“, sie erhob ihr Glas und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Und nun aber mal zu dir. Du bist mir noch eine Antwort schuldig. Gibt es nun ein weibliches Wesen an deiner Seite … ja oder nein?“
Sein Blick schweifte zum Horizont, „man sagte mir einmal ich sei ein Scheusal“, dann lachte er kurz auf, „ich wäre ein großer Junge – ein Scheusal mit schmutzigen Gedanken“, dann stoppte er, „manchmal denke ich, wir Männer werden nie erwachsen. Ich jedenfalls, ich bin es nie geworden“, er trank einen Schluck Wein und versank in Gedanken.
Nora dachte an ihre erste Begegnung und dachte über seine Anmache nach, sie verkniff sich jedoch eine Antwort und lächelte ihm stattdessen nur zu.
Dann redete er weiter: „Mein Liebesleben verlief eher unspektakulär, genauer gesagt, es gab einige Affären“, achselzuckend fügte er an, „naja, darunter waren auch zwei feste Beziehungen, und die letzte Dame wollte mich besitzen“, ein bitteres Lachen drang aus seiner Kehle. „Ach, ich war einfach zu viel unterwegs und sie fühlte sich halt einsam, so einsam, dass sie nach einem anderen Ausschau hielt, einem der mehr Zeit für sie hatte, einem mit dem sie eine Familie gründen konnte – was sie kurze Zeit später auch tat“, anschließend leerte er sein Glas zur Hälfte, „tja“, seufzte er, „leider habe ich einen Job der mich zum Reisen zwingt. Fazit: keine Zeit für eine feste Bindung!“
„Vielleicht waren es auch immer die falschen Frauen?“, fügte Nora schmunzelnd an.
Er lächelte, sah zu ihr hin und sagte: „Mag sein oder auch nicht. Darüber zu sinnieren ist verlorene Zeit, Zeit die ich nicht habe!“ Doch seine Augen sprachen eine andere Sprache, nämlich die der Sehnsucht, Sehnsucht nach einer festen Bindung, nach Verständnis, nach Geborgenheit und Liebe!
Mit einer zweiten Flasche Rotwein sowie anregenden Gesprächen wurde die restliche Nacht versüßt.
Am kommenden Morgen wurde sie durch fremdklingende Geräusche geweckt, und beim genaueren Hinhören könnte dieses zischende, das in ein klackendes Geräusch überging, nur von einer Espressomaschine stammen. Mist! Wo war sie? Zuerst öffnete sie nur ein Augenlid, dann das zweite, anschließend folgte ein Blick unter die Bettdecke – ausgezogen, verdammt! Ihr Körper war erst einmal starr vor Entsetzen. Im Schnelldurchgang durchforstete sie ihr Gedächtnis nach Merkmalen die ihr vielleicht eine erotische Nacht mit ihm vor Augen führten, doch nach kurzer Zeit konnte ihr Erinnerungsvermögen Entwarnung geben. Puuuh … nichts passiert! Ihr Körper entspannte sich wieder. Sie hob kurz ihren Kopf an, um sich eine erste Orientierung im Raum zu verschaffen, vielleicht auch um nach Clemens Ausschau zu halten. „Autsch“, das war wohl doch etwas zu viel Alkohol in der letzten Nacht! Ihr Kopf fiel wieder schwer-brummend aufs Kopfkissen zurück. Verrückt, verrückt, verrückt … aber in diesem Augenblick dachte sie noch nach, ob sie nun beruhigt oder beleidigt darüber sein sollte, dass er sie nicht angefasst hatte. Ein Gedankengang der vorerst unbeantwortet blieb, denn im nächsten Augenblick wurde die Zimmertür langsam geöffnet.
„Guten Morgen Goldmündchen. Na wie hast du in meinem King-Size-Bett geschlafen?“, grinste Clemens übers ganze Gesicht, „es ist ein herrlicher Tag und der Kaffee ist fertig. Wir warten auf dich.“
„Danke!“ woraufhin sie ihm das Kopfkissen entgegenschleuderte. Aber was meint er mit WIR? Sofort saß sie aufrecht im Bett, und ihre Gedanken kreisten in ihrem dröhnenden Kopf um das WIR! Wer ist bei ihm? Und verflixt, wie sehe ich überhaupt aus? Und wo war noch mal das Bad?
Nach der Einnahme einer Kopfschmerztablette, sowie einem notdürftigen Styling, trat sie kurze Zeit später unsicher dem WIR entgegen. Gleich beim Öffnen der Tür fiel ihr Blick auf Clemens, danach auf eine zierliche männliche Gestalt, die, wie sie erkennen konnte, einen bedrückten Eindruck machte. Beide saßen an der Küchentheke, die Küche und Wohnraum voneinander trennte.
Oh, und wie gerne wäre sie in diesen Sekunden unsichtbar gewesen. „Guten Morgen“, sagte sie mit leiser Stimme, „ich geh dann mal“, hauchte sie den beiden Herren noch im Vorrübergehen zu, dabei verwies sie mit der Hand Richtung Aufzug, ihre Schritte wurden schneller und insgeheim hoffte sie, sie könnte sich so davonstehlen.
„Guten Morgen, Nora“, schallte es durch den ganzen Raum, sogleich hüpfte Clemens vom Hocker, eilte ihr hinterher und zog sie mit resolutem Griff Richtung Küchentheke zurück. „Darf ich dir Jacob vorstellen. Jacob, das ist Nora Goldmund, auch Goldmündchen genannt“, wobei er sehr vertraut seinen Arm um ihre Hüfte legte.
Einen Kosenamen auf nüchternen Magen … das war einfach zu viel. Beherrschung war angesagt!
„Guten Morgen Jacob, es freut mich Sie kennenzulernen“, zeitgleich hielt sie ihm freundlich lächelnd ihre Hand zur Begrüßung entgegen.
Wortlos, ohne eine Emotionsregung, legte er seine schmale kalte Hand in ihre, doch bevor sie zudrücken und die Begrüßung vollziehen konnte, war seine Hand ihrer schon wieder entglitten. Ihr schauderte bei dem Gefühl seiner kalten Hand. Leicht irritiert nahm sie ihn nun etwas genauer in Augenschein. Große dunkle Augen, die mit einem schwarzen Kajal umrandet waren, blickten ihr traurig entgegen, sein ebenmäßiges Gesicht war von schwarz-glänzendem Haar umhüllt und seine äußerst gepflegte Haut schimmerte bronzen. Er wirkte verlassen und irgendwie schutzbedürftig. Wer er wohl war? Und in welcher Verbindung stand er zu Clemens? Und während sie darüber nachdachte, wechselte ihr Blick mehrmals zwischen den beiden Herren.
„Jetzt trinkst du zuerst einmal einen Espresso mit uns, danach darfst du dich gerne verabschieden“, drängten Clemens Worte mitten in das Bild das sie sich gerade von den beiden Herren zurechtzusetzen versuchte.
Widerwillig gehorchte sie, dann ließ sie sich in den Dunstkreis zweier merkwürdiger Herren, die eigentlich Fremde für sie waren, nieder. Danach folgte eine befremdliche Stille. Nochmals wechselte ihr Blick zwischen den beiden Männern. Starke Parfümdüfte stiegen ihr in die Nase: ein schwerer süßer Duft konkurrierte mit einem herben Männerduft. Eine Duftkombination die erneut ihr Interesse weckte und eine erste Mutmaßung formte.
Jacob war es, der das Schweigen unvermittelt brach. „Alle, die ich je geliebt habe, haben mich verlassen. Ist das nicht traurig?“, fragend sah er zu Nora, doch sein Blick schien durch sie hindurchzugehen. Seine Worte klangen klar, seine Augen wirkten nun, nachdem er sie ausgesprochen hatte, beängstigend leer. Eine nüchterne Mitteilung die nackt im Raum stand und Unbehagen bei Nora verursachte.
„Er will damit sagen, dass alle, die ihm, in seinem Leben etwas bedeutet haben, verstorben sind“, versuchte Clemens die Worte des jungen Mannes zu verdeutlichen.
„Oh, Sie sind in Trauer, das tut mir leid“, antwortete Nora und rührte verlegen in ihrem schwarzen doppelten Espresso.
Erneut stellte er einen Satz in den Raum. „Meine Eltern kommen mir heute, nachdem sie tot sind, lebendiger vor als zu Lebzeiten – in meiner Erinnerung sehe ich sie als eine Art Zweigespann, das nichts und niemanden trennen konnte! Ja, und ich war nur der Zweitgeborene, ein nicht mehr gewolltes Nebenprodukt ihres spießigen Lebens … der durch seine Andersartigkeit ihre kleine perfekte Familien-Idylle störte.“ Mit dem letzten Halbsatz warf er Clemens einen verächtlichen Blick zu.
Fragend sah Nora zu Clemens, der sogleich betroffen seine Augenlidern senkte und im nächsten Moment seine Hand tröstend auf Jacobs Hand legte. Eine Geste die erneut Fragen aufwarf: Sind beide anders? Sollte sie sich in Clemens so getäuscht haben! War sie schon so lange alleine, dass sie nicht einmal mehr in der Lage war, diesen kleinen feinen Unterschied zu erkennen? Ein Gedanke der sie innerlich schmerzlich berührte.
Die eigenartige Stille, die sich mittlerweile zwischen ihnen aufgebaut hatte, empfand Nora als äußerst unangenehm, ja, irgendwie peinlich. Ich muss hier weg, schoss es ihr durch den Kopf, und just in dem Moment wo sie aufstehen wollte, erhob Jacob wieder seine Stimme …
„Aber jetzt wo ER tot ist, tauchen auch SIE wieder aus meinem Unterbewusstsein auf, SIE durchkreuzen meine Gedanken und quälen mich – besonders in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, dann kommen SIE und stoßen mich mit anschuldigenden Blicken hinab in die Tiefen meiner Erinnerungen“, dann sah er zu Nora und fragte: „Glauben Sie, dass Tote sich rächen können?“
Oh mein Gott, ich muss hier weg! Wieso stellte er ausgerechnet ihr diese Frage? Und wieso gerade jetzt? Wo sie doch selbst mit quälenden Fragen zu kämpfen hatte!
Im Grunde erwartete er keine Antwort, sondern beantwortete seine Frage selbst. „Nie hatte ich ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern, sie konnten meinen Lebenswandel – so wie sie ihn missbilligend bezeichneten – nie verstehen“, fügte er überspitzt an. „Und später, als sie kurz hintereinander verstarben, war es mir nicht möglich um sie zu trauern, denn zu tief hatten sie meine Gefühle verletzt. Ja, zu tief! Doch jetzt, wo ich um meine Liebe trauere, drängen sie wieder in meine Gedanken und spielen sich mit Ermahnungen in den Vordergrund“, kurz hielt er inne, „ich glaube das ist ihre Rache – ja, ihre Rache!“ Kopfnickend, mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen stand er auf, dann huschte sein ganz in schwarz gekleideter schlanker Körper geräuschlos, fast wie ein Schatten, durch den Wohnraum Richtung Aufzug. Er drehte sich nicht mehr um, auch dann nicht, als er bereits im Fahrstuhl stand. Mit einem Zischlaut ging die Aufzugstür hinter ihm zu. Das einzige was zurückblieb, war sein schwerer süßer Parfümduft der im Raum verharrte.
Jacobs Abgang erinnerte Nora an ein Theaterstück: … der Teufel, der sich auf Erden eine menschliche Regung erlaubt hatte, ist danach reumütig in den Hades zurückgekehrt, um sich seiner Bestrafung hinzugeben. Ein mulmiges Gefühl kroch in ihr hoch, hastig trank sie ihren Espresso. „Es ist besser wenn ich jetzt gehe“, sagte sie zu Clemens ohne ihn nochmals anzusehen, denn zu sehr schämte sie sich jetzt für ihr zärtliches Geflüster in der Nacht – wo er doch vielleicht anders war!
„Aber wir sehen uns wieder … ja … versprochen?“, bedrängte Clemens sie mit einem charmanten Lächeln, als ob er ihre Befürchtungen ahnen konnte.
Um unnötige, vielleicht auch peinliche Fragen zu vermeiden, nickte sie ihm nur stumm zu.
„Gibt es hier auch eine Treppe?“, fragte sie, „ich würde gerne die Treppe nehmen!“ Denn der eben emporgestiegene Gedanke – mit dem Aufzug in den Hades hinabzufahren – erschauderte sie.
„Ja, gleich neben dem Aufzug rechts! Und bis bald, Goldmündchen“, sagte er mit sichtlicher Freude über ihre Einwilligung.
Nachdem die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war, legte sie den Kopf in den Nacken, erleichtert atmete sie zuerst einmal die frische und salzige Luft, die vom Meer herüberwehte, tief und bewusst ein. Wieso hatte sie nicht bemerkt, dass er anders ist? Sie schloss ihre Augen und ließ den Abend nochmals Revue passieren. – Nein, sein Verhalten war doch ganz normal! Nichts, aber auch gar nichts war andersartig an ihm und an den gemeinsamen Gesprächen. Nachsinnierend an die beiden Herren schweifte ihr Blick zum Horizont, um sich dann in der Endlosigkeit zu verlieren. Ja, auch wenn sie ihr kleines Wortgeplänkel zwar äußerst anregend fand, so blieben dennoch Zweifel zurück.
Im Laufe des Vormittags beschloss sie dann zur kleinen Felseninsel, nahe der Hafen-Einfahrt von Saint Helier, zu fahren. Auf ihr thronte die Elizabeth Castle, eine der eindrucksvollsten Burgen der Channel Islands, die nur bei Ebbe und mit dem Shuttletransfer zu erreichen war. Während ihrem Besichtigungsausflug zur Insel dachte sie nochmals über Clemens und Jacob nach. Sollte sie sich in Clemens wirklich so getäuscht haben? Jedenfalls vermittelte er nicht den Eindruck anders zu sein, ja, anders – das Wort schwul mochte sie nicht, es ließ keine Ausweichmöglichkeiten mehr zu.
Kurze Zeit später schlenderte sie gedankenverloren hinter der Besuchergruppe durch die Burg, doch irgendwann muss sie wohl die Gruppe, in einen der vielen Räume verloren haben. Sie schlenderte zurück zum Ausgang und sah wie der Shuttletransfer bereits auf der Rückfahrt war – die Flut war hereingebrochen. „Shit! Shit! Shit! Was nun?“, kam es fluchend über ihre Lippen. „Tja, dann wirst du wohl oder übel für einige Stunden hier festsitzen“, seufzte sie. Und so setzte sie sich auf einen Felsvorsprung und ließ die Umgebung erst einmal auf sich einwirken, und wenn sie nun genauer darüber nachdachte, so war es geschenkte Zeit, Zeit um über alles und in aller Ruhe nachzudenken. Oh ja, und die benötigte sie in ihrer jetzigen Situation. Ein schwarzer Rabe war zwischenzeitlich gleich neben ihr auf der Kaimauer gelandet. Langsam breitete er seine Schwingen aus, dann verharrte er in dieser Position. Ganz offensichtlich war es eine Art Drohgebärde, dachte sie. Auch bei den Möwen schien die Hölle los zu sein. Ein großer Schwarm war vom Meer hereingebrochen und besetzte einen großen Teil der Burg; wildes Geschrei und wütendes Geplapper aufeinandertreffender Schnäbel wirkten ebenfalls bedrohlich. Sie dachte mit Entsetzen an Die Vögel von Alfred Hitchcock. Warum nur diese Aufruhr? Ach, mit Sicherheit war Paarungszeit, versuchte sie selbst das Verhalten der Vögel mit einem Lächeln zu erklären. Etwas verunsichert beobachtete sie das Geschehen, im nächsten Moment fiel ihr Blick auf einen ganz in schwarz gekleideten Mann, der vor dem geschlossenen Eingangstor zur Burg stand. War das etwa Jacob? Aber was macht er hier? In langsamen Schritten kam er auf sie zu. Plötzlich, in der Hälfte des Weges, blieb er stehen. Nun konnte sie ihn erkennen. Ja, es war Jacob! Und so unvermittelt wie er stehengeblieben war, setzte er seinen Weg auch wieder fort. Seine Schritte ähnelten nun einem Seiltänzer, seine Arme waren ausgebreitet und der Wind wirbelte seinen schwarzen offenstehenden Mantel angsteinflößend nach hinten. Seine ganze Erscheinung wirkte in ähnlicher Weise wie die Drohgebärde des Rabens. Dann stand er vor ihr. Seine Augen waren noch stärker mit schwarzem Kajal umrandet als am Morgen, seine Haare waren mit Pomade straff nach hinten frisiert und ein seltsames Lächeln lag in seinem totenblassen Gesicht. Ein Anblick der sie erschauderte.
„Ich … ich …“, stotterte er, „ich wollte mich in die Tiefe stürzen, aber ich war zu feige mich dem Tod in die Arme zu werfen.“ Ein krankhaftes Lachen schüttelte seinen Körper bevor er dann zusammenbrach und er bitterlich zu weinen anfing.
Unbeholfen stand Nora vor diesem bedauernswerten Geschöpf das sich nicht mehr der Worte bedienen konnte, sondern nur noch in der Lage war zu weinen. Unfähig etwas zu sagen blickte sie sich erst einmal hilfesuchend um, doch sie waren sie die Einzigen hier. Verzweifelt suchte sie in ihrer Handtasche nach ihrem Handy um Clemens anzurufen – nichts! Immer, wenn man dieses blöde Ding braucht, ist es nicht da, schoss es ihr durch den Kopf. Kurz überlegte sie wie sie ihn trösten könnte, aber wie tröstet man einen Fremden von dem sie nur wusste, dass er anders war und um einen geliebten Menschen trauerte. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend setzte sie sich neben ihn, tröstend legte sie ihren Arm um seinen vor Kummer gebeugten Rücken. Allein schon ihre Berührung war für ihn Anlass genug, Schutz in ihren Armen zu suchen. Erschrocken von dem kalten fremden Körper saß Nora zuerst einmal irritiert und handlungsunfähig da. Großer Gott, was nun? Nach einigen Sekunden fing sie schließlich an, ihn, wie ein schutzbedürftiges Kind, in ihren Armen zu wiegen – irgendwann war er still. Auch sie gab sich, mehr aus Unbeholfenheit als aus Absicht, der Stille hin. Es muss wohl so nach einer Stunde etwa gewesen sein, als er schließlich aus seiner Lethargie erwachte und sich zeitlupenähnlich aus ihren Armen löste. Der von den Tränen aufgelöste Kajal überzog nun schwarz seine Wangen und zeichnete sein Gesicht zu einer furchterregenden Maske – er schien nicht mehr von dieser Welt zu sein! Oh mein Gott, wie deprimierend das auf sie wirkte – auf sie – der sie doch selbst mit einem tragischen Ereignis zu kämpfen hatte. Der Anblick war so unerträglich, dass sie ein Taschentuch hervorziehen musste, um ihn von seinem elenden Aussehen zu befreien. Ganz allmählich fand er wieder in die reale Welt zurück, er richtete sich auf und während sein Blick in die Ferne schweifte, fing er zögerlich und mit gebrochener Stimme zu reden an …
„ER … Stéphan stand auf der Bühne. Im Opernhaus herrschte völlige Ruhe, dann sollte sein Einsatz kommen, aber er schwieg. Das Publikum wurde allmählich unruhig. Ich befand mich hinter dem Vorhang und zischte ihm mehrmals zu, doch er reagierte nicht. Auch die Souffleuse wurde aktiv und tippte ihm mit einem kleinen Stöckchen mehrmals an sein Bein – wieder nichts. Das ganze Ensemble rings um ihn herum war wie erstarrt. Er stand nur da … in seiner imposanten Erscheinung stand Stéphan einfach nur regungslos da. Die Bühnenbeleuchtung war komplett ausgeschaltet, nur ein kleiner Lichtstrahl zielte noch auf ihn. Sein Blick verlor sich irgendwo im dunklen Zuschauerraum. Es herrschte eine eigenartige, ja, fast schon respektvolle Stille, denn alle warteten auf seinen großen Einsatz, warteten auf den letzten Satz, den Satz der das ganze Stück beenden sollte. Dann geschah es, Stéphan drehte sich um, und verließ in langsamen wohlbedachten Schritten die Bühne.“
Entsetzt, als ob er es immer noch nicht begreifen konnte, sah er sie mit großen Augen an.
Nora saß bewegungsunfähig, auch ein wenig verängstigt, weil sie ihn nicht einschätzen konnte, neben ihm und folgte aufmerksam seinen Worten.
„… und noch immer sehe ich ihn mit seinem braunen weiten Gewand, mit dem weißen wallenden Haar über die Bühne schreiten“, fuhr er leise fort, „ein Lichtstrahl folgte ihm bis er hinter dem Bühnenvorhang entschwunden war. Er hatte nur noch einen Satz zu sagen … einen einzigen Satz“, echauffierte er sich kopfschüttelnd, „aber es gelang ihm nicht mehr.“
Für einen Moment hielt er inne, bevor es ihm dann wieder möglich war in seiner Geschichte fortzufahren.
„Dann geschah etwas Eigenartiges, ein Mann aus dem Publikum erhob sich – ein Raunen ging zeitgleich durch das Publikum. Voller Ehrerbietung vor dem großen Schauspieler, sprach dann dieser Mann, seinen letzten Satz, laut und deutlich aus. Danach applaudierte das Publikum – zuerst noch verhalten, doch dann standen die Menschen auf, um mit lautem Applaudieren die künstlerische Darstellung, des großen Schauspielers: Stéphan, zu würdigen. Ja, und noch während dieses Applauses ist Stéphan dann in seiner Garderobe, alleine, verstorben.“
Jacob schwieg, sein Blick vertiefte sich in den herankommenden Wellen. In seiner gebeugten Körperhaltung lag unendlich viel Trauer, ja, man hatte das Gefühl, das er sich noch mittendrin in seiner Erzählung befand.
Mit einem tiefen Seufzer, der seinen Körper kurz aufbäumte, redete er weiter: „Als ich etwas später in seine Garderobe kam, saß Stéphan in seinem großen Ohrensessel – ganz so wie immer, als würde er sich nur für den nächsten Akt ausruhen wollen. Beide Arme lagen gestützt auf den Armlehnen, seine Augen waren geschlossen und in seinem Gesicht lag der ganze Frieden eines erfüllten Künstlerlebens ...“
Plötzlich geriet Jacob in Ekstase, er sah Nora direkt an, sein Atem wurde schneller, in seiner Stimme lag Unruhe.
„… ich kniete mich vor Stéphan, umschloss seine starken Hände, ich dachte, wenn ich nur fest genug zudrücke, dann … dann wird er wieder wach“, Jacob wandte sein Blick wieder dem Meer zu, mit bebender Stimme fuhr er zeitverzögert fort, „dann, ja, dann hielt ich seine Hände so lange umschlossen bis die letzte Lebenswärme aus ihm gewichen war. Ein letztes Mal dankte ich ihm dann für alles … ja, für alles was er aus mir gemacht hatte“, der letzte Halbsatz erstickte in Tränen.
Jetzt erst, nachdem Nora die Geschichte gehörte hatte, löste sich ihre erstarrte Körperhaltung. Tröstend strich sie mit der Hand mehrmals über seinen vor Kummer gebeugten Rücken.
Er nickte ihr dankend zu, zog ein Taschentuch hervor, schnäuzte hinein und sagte: „In der Presse hieß es: … auf dem Zenit seines Könnens ist er gestorben. Ja, und ein letztes Mal zierten Stéphans Bilder die Titelseiten einiger Boulevardblätter – diesmal nicht mit seinem Erfolg, sondern mit seinem dramatischen Abgang ... mit seinem Tod!“
Eine ehrfurchtsvolle Stille lag zwischen den beiden.
Mittlerweile hatte die Flut ihren Höchststand erreicht, die Elizabeth Castle war von den Fluten des Meeres völlig eingeschlossen. Beide saßen nebeneinander und beobachteten die Wellen die langsam und kontinuierlich die restlichen Felslücken ausfüllten. Ein beklemmendes Gefühl erwuchs zwischen ihnen, und es schien, dass dieses ganz in schwarz gekleidete und zerbrechlich wirkende Geschöpf noch mehr Seelenlast mit sich trug. Eine Seelenlast die nun bedrohlich nach Nora griff. Unter halbgeöffneten Augenlidern beobachtete sie ihn, und es war, als würde der Tod ihn immer noch fest umschlossen halten. Ihr schauderte bei dem Gedanken! Aber wie konnte sie ihm helfen? Mit was trösten? Alles ist ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen: Sie sah den Toten in ihrem Vorgarten, sah sein totenstarres Gesicht, auch sah sie das schemenhafte Gesicht des Gastes bei ihren letzten Lesungen – beide fügten sich ganz allmählich zu ein und demselben Gesicht zusammen; dann sah sie in das Gesicht ihrer großen Liebe, das immer mehr und mehr zu verblassen schien, stattdessen trat das Gesicht von Clemens in den Vordergrund. Alles wirbelte durcheinander, aber nichts fügte sich zu einem Trost für Jacob zusammen. Sie konnte ihn nicht trösten weil sie selbst eine Trostsuchende war, das wurde ihr in diesem Moment bewusst.
Jacob fühlte Noras verstohlene Blicke, was ihn sogleich wieder zum Reden anspornte: „Stéphan war mein Mentor, mein großes Vorbild“, die Worte sprudelten geradezu aus ihm heraus. „Nein, er war mehr als das“, er nahm tief Luft und mit dem Ausatmen sagte er: „Stéphan war meine große Liebe.“
Mit großen Augen sah sie zu ihm hin, ja, ihre Vermutung hatte sich somit bestätigt: er war homosexuell!
Im nächsten Augenblick stand er, wie an unsichtbaren Fäden emporgezogen, auf. Seine Bewegungen waren ähnlich wie die einer Marionette.
„… bevor ich Stéphan kennenlernte war ich ein Niemand! Ein Nobody! Er hat aus mir erst einen Menschen gemacht, er vermittelte mir das Gefühl geliebt zu werden. Aber jetzt, wo er tot ist, durchkreuzen SIE wieder meine Gedankengänge, immer wieder höre ich IHRE Ermahnungen. Damals, als meine Eltern erste homosexuelle Veranlagungen bei mir entdeckten, steckten sie mich in ein Internat, weit ab von Zuhause – ihr Sohn und schwul – nein, das durfte nicht sein! Diese Gefühle würde man mir im Internat schon austreiben“, für ihn immer noch unverständlich, schüttelte er mehrmals den Kopf. „So waren die Worte meines Vaters. Ja, harte Worte die mich nicht nur innerlich schmerzhaft trafen, sondern gleichzeitig auch einen Keil zwischen meine Eltern und mir trieben.“ – Der letzte Satz kam bebend über seine Lippen.
Im gleichen Augenblick schwang er sich galant auf die Kai-Mauer, er breitete seine Armen aus und balancierte wie ein Seiltänzer über die unebene Oberfläche. Gefährlich nah tänzelte er am Abgrund vorbei, so nahe, als würde er das Unglück geradezu herausfordern wollen, und immer wenn er ins Wanken geriet, und Nora aus Angst um ihn aufschreien wollte, hielt sie schnell die Hand vor ihren Mund, um ihn nicht zu erschrecken. Erst durch den grellen Schrei eines Seevogels, sowie eine emporsteigende Möwenschar, die dicht über seinen Kopf hinwegflog, wurde seine riskante Vorführung gestoppt.
Während er gedankenverloren der Vogelschar nachsah, erzählte er weiter: „Im Internat war dann dieser Arzt der mir Verständnis, Geborgenheit und Liebe entgegenbrachte, eine Liebe die ich aber nicht von ihm wollte, nein, gewiss nicht! Aber er war da – irgendein Gefühl war überhaupt da.“ Mit starren Augen sah er Nora fragend an. Dann strich er mit beiden Händen fest über seinen Kopf, korrigierte dabei seine Haarfrisur und sagte: „Ja, meine ach so lieben Eltern hatten mich – noch bevor ich Schande über die Familie bringen konnte – ins Internat abgeschoben, und mich dort meinem Schicksal überlassen.“ Abrupt sprang er von der Kai-Mauer, er hüpfte Nora auf einem Bein entgegen und setzte sich dann ihr gegenüber.
Während der ganzen Zeit hatte sie ihn beobachtet. Sie konnte sein Verhalten nicht einschätzen, er wirkte verrückt und normal gleichzeitig. Vielleicht hatte er einfach nur zu viel erlebt, sein Bewusstsein keine Zeit gehabt alles zu verarbeiten und jetzt, nach dem Tod seiner großen Liebe brach alles unstrukturiert aus ihm heraus. Aber warum erzählte er ausgerechnet ihr, einer Fremden, diese Geschichte? Warum hatte er gerade sie ausgesucht, um sein Herz auszuschütten? Ja, mit Sicherheit hatte es damit zu tun, dass sie Autorin war, sicherlich hatte Clemens ihm von ihrer Tätigkeit berichtet. Viele fremde Menschen erzählten ihr aufgrund dessen, ihre persönlichen Lebensgeschichten. In Gedanken versunken sah sie zum Meer, dabei stellte sie fest, dass das Meer zurückging. Bald … ja, bald wirst du aus dieser misslichen Lage befreit sein, dachte sie erleichtert.
Am späten Nachmittag kam dann endlich der ersehnte Shuttletransfer. Sie stiegen ein und saßen wie Fremde schweigend nebeneinander, doch ganz tief in ihr fühlte Nora eine Verbundenheit mit Jacob – ein seltsames Gefühl, das sich noch nicht ganz einordnen ließ – erwuchs in ihr.
Später, beim Verlassen des Shuttletransfers, drehte Jacob sich nochmals zu ihr um, in seinen Augen lag ein eigenartiger Glanz, sein Blick traf den ihren, schrankenlos tauchte er in ihre Seele ein, seine schön geformten Lippen bewegten sich kaum, er nuschelte etwas, was sie nicht verstehen konnte.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah sie ihn fragend an.
Dann wiederholte er seine Worte: „Wir Frühlingskinder tragen die gleichen verletzten Seelen in uns!“
Erschrocken und sogleich überrascht von seinen Worten ging sie sofort einen Schritt zurück, um Distanz zu dem Gesagten zu schaffen. Seltsam, in seinem Gesichtsausdruck erkannte sie eine winzige Spur von dem, was in ihr selber vorging. Ein unterschwellig schmerzendes Gefühl, das sie nicht zuordnen konnte, zog von ihm zu ihr. Geschickt schlug er mit seinen schlanken Händen den Kragen seines Mantels hoch, machte eine Kehrtwende und verschwand unter einer Gruppe von Touristen. Kurz sah sie noch das Tuch seines schwarzen Mantels, bevor er sich in der Menschentraube dann verlor.
Hilflos stand Nora da. Sie fühlte sich wie ein Taschentuch in das man den ganzen Seelenkummer der Welt hineingeschnäuzt hatte und danach achtlos zurückließ – ja, so war ihr Empfinden.
Seine Geschichte zerrte ihre depressive Stimmung – die sie seit ihrer Ankunft auf Jersey – geschickt zu unterdrücken versuchte, in kürzester Zeit an die Oberfläche. Das Schicksal hatte sie auf einen Weg geschickt, der mit menschlicher Abtrünnigkeit gepflastert war und auf dem ein Todesengel patrouillierte.