Читать книгу BonJour Liebes Leben ... - Rose Hardt - Страница 5

Kapitel 1

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Charlotte Grafenberg hatte ihren Wagen in einer Seitenstraße des Waldfriedhofs geparkt, genau an der gleichen Stelle wie sie es nun schon seit einem Jahr tat, seit dem Tag als Gustav Grafenberg hier beerdigt wurde. Es war ein lauer Frühlingstag und es dämmerte bereits. In den Händen hielt sie eine Kerze und eine Streichholzschachtel, es war schon fast zum Ritual geworden, dass sie jeden zweiten Tag eine Kerze an sein Grab brachte. Doch heute stellte sich ihr die Frage warum sie das eigentlich tat. Ja, warum? Unvermittelt blieb sie stehen, sie wusste nicht wieso, aber sie war plötzlich des Gehens, der Routine müde geworden. Gleich neben dem Eingangsportal zum Friedhof entdeckte sie eine Holzbank mit einem kleinen Messingschild worauf in schwungvoller Schrift geschrieben stand: “Ich hab gelebt und den Lauf, den das Schicksal gegeben, vollendet“ (Lucius Annaeus Seneca). Nachsinnierend wie sie das Zitat wohl interpretieren sollte, setzte sie sich seitlich auf die Kante der Bank – wobei ihr das Schild mit dem Spruch nicht ganz geheuer war. Im nächsten Moment ging eine ältere Dame – die immer zur gleichen Zeit wie sie hier war – ganz nah an ihr vorüber, in ihren Händen hielt sie ebenfalls eine Kerze. Die Dame grüßte sie und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln wobei in ihrem Gesicht eine eigenartige Mischung aus Demuth, Bitternis und Zufriedenheit lag. Warum lächelt sie dir zu?, ging es ihr durch den Kopf. Nur weil ich hier sitze? Oder weil ich wie sie Witwe bin? Erneut liest sie das Zitat. KLAR!, kam es ihr ernüchternd in den Sinn. Wir führen wir das gleiche Schicksal mit uns, und sie, sie fühlt sich mit dir solidarisch! Nachdenklich sah sie der alten Dame nach und jetzt erst bemerkte sie ihren schleppenden, leicht gebeugten Gang. Mit Sicherheit lastet noch immer ihr ganzes Eheleben, das jahrelange Schuften im Haushalt, Job, Kindererziehung und weiß Gott was noch alles auf ihren Schultern, und nur, weil sie vielleicht ihrem Mann, über den Tod hinaus, noch Dankbarkeit zu Schulden glaubt, stellt sie ihm tagtäglich eine Kerze auf sein Grab. Mit bestürzender Deutlichkeit wird ihr mit einem Male ihr eigenes Leben vor Augen geführt. Ihr Blick schweift erneut über das Zitat, dann zur Kerze in ihren Händen und letztendlich wieder zur alten Dame, die unter der Last ihrer Vergangenheit fast zu zerbrechen drohte. Nein, sträubte sich etwas in ihr, keinesfalls möchte ich mich ihr verbunden fühlen und erst recht nicht die Hälfte meines Lebens hier auf dem Friedhof verbringen wollen „Nein!“, kam es leise und resolut über ihre Lippen, „alles hat schließlich mal ein Ende“, schob sie noch zähneknirschend hinterher. Abrupt stand sie auf, streifte mit beiden Händen über ihre Kleidung und somit ihre Vergangenheit ab. Fest entschlossen ein neues Leben zu beginnen marschierte sie mit energischen Schritten zu Gustavs Grab. Sie zündete die Kerze an, stellte sie in die dafür vorgesehene Grableuchte, atmete tief durch und sagte laut: „So, mein lieber Gustav das ist die letzte Kerze – also genieße sie! Das Ende unserer Ehe begann schon zu Lebzeiten, um es genauer zu sagen, mit deinen vielen Affären und hat sich schon viel zu lange hingezogen, als dass es jetzt noch eine Fortführung geben würde. Ab sofort werde ich meine regelmäßigen Besuche einstellen! … Nur, damit du Bescheid weißt!“ Danach folgte ein befreiender Seufzer der ihr ganzes Eheleben zu beinhalten schien. Endlich, es war Vollbracht! Nach all den Jahren hatte sie das erste Mal die Stimme gegen ihn, den großen und dominanten Gustav Grafenberg, erhoben. Und gerade als sie ihm gedanklich noch einige klärende Worte hinterherschicken wollte, hörte sie ihren Namen.

„Charly …? Ich meine Charlotte? Bist du es? Bist du es wirklich?“

Charlotte sah sich erstaunt um und entdeckte einen Mann der in der zweiten Grabreihe hinter ihr stand und erwartungsvoll zu ihr hinsah. Das erste was sie dachte war, er wird dir doch nicht zugehört haben? Sich ihrer Worte erinnernd zog eine leichte Verlegenheitsröte über ihr Gesicht.

„Doch du bist es!“, sagte der Mann und schien auch noch sichtlich erfreut sie zu sehen.

Während sie ihn, mit zusammengezogenen Augenbrauen, erstmal kritisch beäugte, ihn systematisch nach Wiedererkennungsmalen abtastete, lief ihr Langzeitgedächtnis bereits auf Hochtouren. Verzweifelt versuchte sie ihn unter einer Vielzahl von Gesichtern, von Menschen die ihr einst begegnet waren, herauszufiltern. War das etwa …? Nein! … Oder doch? … NIEMALS!

Aber der Mann schien es besser zu wissen. Er hielt die Hand an seine linke Wange, lachte laut auf und sagte: „Ja, verflucht noch mal du bist es! Ich fass‘ es nicht. Das letzte an das ich mich bei unserem Abschied noch erinnern kann, ist deine schallende Ohrfeige die du mir gegeben hast.“ Während er sich zwischen den Gräbern zu ihr hindurch schlängelte, fügte er augenzwinkernd an: „wow und die war nicht von schlechten Eltern.

Und erst in dem Moment als er vor ihr stand kam ihre Erinnerung etappenweise zurück. „Henning … der Henning Bleibtreu?“ drang es zunächst als rhetorische Frage aus ihr heraus, und mit dem zweiten Blick in seine dunklen, fast schwarzen Augen spürte sie tief in ihrem Herzen einen kleinen, stechenden Schmerz des Wiedererkennens. Sie wusste nicht wieso, aber unbewusst trat sie sofort einen Schritt zurück um einen gebührenden Abstand zwischen ihnen zu schaffen.

„Ja, genau, der Henning“, antwortete er mit einem schelmischen Grinsen.

„Du Schuft du … na, du traust dich was“, gab sie barsch zurück. Zeitgleich sieht sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie ihn ohrfeigt. Aber warum? Weshalb hatte sie ihn damals eigentlich geohrfeigt? Und bevor sie weiter in ihrer Erinnerungsschatulle stöbern konnte, hatte er wieder das Wort ergriffen.

„Ja, ja … ich weiß, du sagtest damals, dass ich dir niemals mehr unter die Augen treten soll. Dabei war alles … aber wirklich alles ganz anders …“

Charlotte unterbrach ihn mit einem kurzen Verlegenheitslachen und sagte: „ja, jetzt … jetzt weiß ich’s wieder! Ich erinnere mich aber auch, dass du das öfter sagtest“, nachdenklich sah sie ihn an, „hm … ich glaube mich sogar zu erinnern, dass es dein Standardspruch war!“ Und mit ihrer eigenen Aussage kehrte sukzessive ihr Erinnerungsvermögen, samt dem ohnmächtigen Gefühl des Betrogen-Werdens, auch des Gekränkt-Seins, an die damalige Zeit zurück und ohne, dass sie es wollte, schoss eine bissige Bemerkung aus ihr heraus: „Aber sag, mein lieber Henning Bleibtreu, liebst du noch immer die Vielweiberei oder …

„… ich meine liebe Charly, ich liebe nur noch Greta“, unterbrach er sie augenzwinkernd, dann steckte er Daumen und Zeigefinger zwischen seine Lippen und pfiff.

Charlotte sah sich neugierig um, doch es regte sich nichts.

„Greta komm her“, befahl er nun in einem scharfen Ton.

Endlich kam die besagte Greta hinter einem Grabstein hervorgewackelt. Es war eine in die Jahre gekommene Hundedame, ein grau-brauner, zerzauster Rauhaardackel der alleine schon beim Anblick Mitleid erregte.

„Darf ich vorstellen, das ist Greta, das einzige Wesen …“ abrupt stoppte er, Trauer überzog sein zuvor noch lachendes Gesicht „ja … das mir noch geblieben ist“, fügte er schließlich bedächtig und leise an.

Obwohl Charlotte seinen Stimmungswechsel registriert hatte, so musste sie beim Anblick der Hundedame dennoch schmunzeln. Ja, keine Frage, sie war wirklich eine bedauernswerte Kreatur. Während ihr Blick zwischen den beiden hin und her wechselte, dachte sie, na, die beiden passen irgendwie gut zusammen, sowohl Hennings Frisur als auch seine Haarfarbe – die zwischenzeitlich mehr grau als braun war – ähnelte Gretas Fell, und beide schienen vom Leben nicht gerade verwöhnt worden zu sein, wie sie bei genauerer Betrachtung resümieren konnte: Seine Kleidung war nicht mehr ganz aktuell, der braune Lederblouson wirkte zwar jugendlich aber stark abgetragen, nur das Hemd war blütenweiß und ließ das Braun seiner Haut noch intensiver erscheinen. Ach Gottchen! Verwaschene Jeans trägt er noch immer, stellte sie mit einem süffisanten Lächeln fest. Und je länger sie ihn in Augenschein nahm, desto deutlicher traten Bilder aus der Vergangenheit hervor, und mit ihnen erwuchs ein Rachegefühl – Rache für das was er ihr damals angetan hatte.

„So ist das, lieber Henning“, sagte sie, „wenn Mann sich für eine Frau nicht entscheiden kann“ dann wechselte ihr Blick zur Hundedame, „dann kommt Mann zwangsläufig auf den Hund. Ihr seid wirklich ein entzückendes Paar!“, fügte sie verächtlich an.

Seinem gedanklichen Tief wieder entrissen konterte er mit einem nachsichtigen Schmunzeln: „Ja, ja … ganz die alte Charly … und wie immer sehr charmant! Wenn ich mich recht erinnere, so fand ich deinen Zynismus schon damals sehr prickelnd.“ Dann trat er einen Schritt zurück, musterte sie ebenfalls von Kopf bis zu den Füßen und sagte: „Du, meine liebe Charly, das kann ich dir ja heute sagen, warst die einzige Frau, die mich, mit wenigen Worten, manchmal auch nur mit einem herablassenden Blick, in den Wahnsinn treiben konnte.“

Sie lächelte und kramte währenddessen noch etwas tiefer in ihrer Vergangenheit, und je intensiver sie in dort stöberte, desto aufdringlicher stolzierten längst vergessene Gefühle durch sie hindurch, erinnerten sie an das, was man damals Liebe nannte.

„Gut siehst du aus! Wie eine Dame die es zu etwas gebracht hat“, stellte er bewundernd fest, dabei glitt sein Blick erneut an ihr herunter, diesmal bewusst langsamer, „sehr gut sogar“, schob er mit einem Augenzwinkern hinterher.

Leichte Röte stieg ihr zu Kopf. Sie wusste nicht wieso, aber sie fühlte sich irgendwie nackt unter seiner Beschauung. „Danke für die Blumen“, antwortete sie irritiert, wobei bereits jede Sehne ihres Körpers leicht vibrierte, auch in ihrem Oberstübchen herrschte Chaos, und zu allem Überfluss gesellten sich auch noch poetische Zeilen aus Rilkes Liebes-Lied hinzu …

Auf welches Instrument sind wir gespannt?

Und welcher Geiger hat uns in der Hand?

… ja, damals war es ihr Lieblingsgedicht und fast, ja fast wären ihr die Zeilen über die Lippen gesprudelt. Doch im letzten Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie vor Gustavs Grab standen. Großer Gott ich muss hier weg, schoss es ihr durch den Kopf, wobei die neue Situation ihrem eh schon aufgekratzten Inneren Zündstoff gab.

Doch dem nicht genug. Eine ganze Weile stand er regungslos da und sah sie mit großen Augen verzückt an, er sah sie so an, als ob er sein Glück – sie, endlich nach all den Jahren wieder zu sehen – noch immer nicht fassen konnte.

„Was ist?“, fragte sie und kramte verlegen in ihrer Handtasche. „Warum siehst du mich so an?“, hakte sie schließlich nach wobei ihr Herz – ganz im Gegensatz zu ihrem Kopf – bereits leise jubilierte.

Mit einem bezaubernden Lächeln antwortete er: „Sieh an … Komplimente verunsichern dich noch immer … süß!“

Charlotte fühlte sich von ihm, seiner ganzen Art und Weise wie er dastand, was er sagte, völlig überrumpelt und so brach es nur schnippisch aus ihr heraus: „Nun, wie du weißt, mein lieber Henning, bekommt jeder das im Leben was er verdient. Aber was machst du eigentlich hier?, fragte sie das Thema wechselnd, „… wenn ich das überhaupt fragen darf!“

„Du darfst! … Was ich hier mache?“ wiederholte er verwundert. „Ja, weißt du das denn nicht? Mein Vater ist im letzten Jahr verstorben und er liegt genau hinter …“ mitten im Satz stoppte er, um die Grabinschrift auf dem Grabstein, vor dem sie stand, laut zu lesen: „Gustav Grafenberg“, fragend sah er sie an. „Wer war Gustav Grafenberg?“

„Er? … Ach, er war mein treusorgender Ehemann. Wobei treusorgend auf viele Arten interpretiert werden kann“, fügte sie ironisch leise, vielmehr für sich an, wobei sie gerade jetzt an sein ausschweifendes Liebesleben denken musste, und just in diesem Moment, verspürte sie nochmals Rachegelüste – diesmal gegen ihren Ehemann – Rache die sie zu seinen Lebzeiten nur gedanklich ausüben durfte, da diese, bevor sie sich zur vollen Blüte entwickeln konnte, schon im Vorfeld durch die diplomatische Geschicklichkeit ihrer Schwiegermutter heruntergespielt wurde.

Mittlerweile hatte Greta neben Gustavs Grab ihre Notdurft verrichtet. Eine biologische Regung die Greta in diesem Moment Pluspunkte einbrachte.

„Brav Greta“, kam es spontan, gemäß der immer noch sehr lebhaften Erinnerung an Gustavs Affären und überhaupt an all das was er ihr angetan hatte, über ihre Lippen, „ganz offensichtlich ist sie ein sehr sensibles Wesen, das Gedanken lesen kann“, schob sie ironisch hinterher.

Henning verstand, grinste übers ganze Gesicht und sagte: „Jaaa … das ist meine Charly … so wie ich sie damals liebte.“

Diese Aussage brachte sie nun endgültig auf die Palme. Völlig perplex sah sie ihn an. Was erlaubt er sich! Mit vorgespieltem Erstaunen fragte sie: „Oh, wir liebten uns? Nein, das kann nicht sein … das lieber Henning … das wüsste ich!“

Doch sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Mit seiner Aussage war alles wieder präsent! Es war als hätte er das Liebesband, das beide einst verbunden hatte, wieder zusammengeführt.

Ein warmes kribbelndes Gefühl kroch langsam und beharrlich in ihr hoch.

Ich muss hier weg, weg von dem Liebesgesäusel, seinen Anspielungen, weg von längst vergangenen Gefühlen, weg von … dann fiel ihr Blick auf Gustavs Grab, auch weg von ihm, weg von all den verletzenden Erinnerungen. Mit einer schnellen Handbewegung bekreuzigte sie seine letzte Ruhestätte, warf den Kopf in den Nacken und eilte Richtung Ausgang davon.

Ganz offensichtlich hatte sie nun endgültig Hennings Interesse geweckt, denn er folgte ihr auf dem Fuße und war dabei bemüht die Konversation weiter aufrechtzuerhalten. „Und du Charly“, rief er der Flüchtenden hinterher „du bist also Witwe?“ wobei er nochmals, nur um seine Frage bestätigt zu wissen, zurück zum Grab blickte.

Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt, sah ihn eindringlich an und sagte: „Bilde dir bloß nicht ein, dass wir unsere alte Liebe wieder auffrischen könnten. Nie und nimmer!“ Anschließend machte sie eine abweisende Geste um das äußerst sensible Thema, das unaufgefordert ihr Denken und Handeln zu manipulieren versuchte, zu beenden.

Erstaunt, mit einem spitzbübischen Lächeln antwortete er: „So so wir liebten uns also doch!“

Sprachlos, ihrer eigenen Worte erneut überführt, wandte sie sich abrupt um und eilte den Friedhofsweg hinunter, wobei sie das Gefühl hatte, dass sein Lächeln ihr aufdringlich hinterherlief.

Von ihrer Empörung nicht im Geringsten beeindruckt, ging er weiter hinter ihr her wobei er genüsslich grinste.

Mittlerweile war Charlotte an ihrem Wagen angelangt. Während sie mit zitternder Hand, nervös in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund suchte, konnte sie aus den Augenwinkeln beobachten, wie Henning langsam um ihren Wagen schlich.

Als er schließlich den Wagen in aller Ausführlichkeit begutachtet hatte kommentierte er: „Ahhh … Madam fährt einen Porsche! Respekt, Respekt!“ Nicht-glauben-Wollend umrundete er nochmals das Luxusgefährt, nickte mehrmals bewundernd, schenkte ihr dann einen verführerischen Augenaufschlag und sagte: „Na, meine kleine Charly ist ja eine richtig gute Partie!“

„Ach Henning“, antwortete sie, dabei versuchte sie so gelassen wie nur irgend möglich zu bleiben, „du bist ein unverbesserlicher Macho. Mach dir bloß keine falschen Hoffnungen, so schlecht kann es mir gar nicht gehen, dass ich dir wieder eine Chance geben würde … und im Übrigen, auch wenn wir uns damals liebten, so war ich nie dein! Niemals“, zischte sie ihm entgegen.

Woraufhin er erstaunt die Augenbrauen hochzog und lächelte.

Es war dieses besondere Lächeln dem man sich, wenn man es einmal erfasst hatte, nicht mehr entziehen konnte.

Ihre Gefühle ein weiteres Mal bestätigt kroch eine leichte Verlegenheitsröte sympathisch über ihr Gesicht.

Was ihn sichtlich zu amüsieren schien. Breitgrinsend sagte er schließlich: „Warte, ich hab‘ etwas für dich“, er griff in seiner Jackeninnentasche, zog eine Visitenkarte hervor und überreichte sie ihr mit den Worten: „Hier, nur für alle Fälle.“

Etwas widerwillig, mit spitzen Fingern, nahm sie das Kärtchen entgegen, sah es aber nicht an, sondern hielt es wie ein Fremdkörper fest.

„Hey, ich verrate dir etwas, du darfst es gerne lesen, es ist nichts Unanständiges“, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand. Im nächsten Moment sah er zur Hundedame und sagte: „Greta komm‘ wir gehen“, sein Blick glitt erneut an ihr herunter, „wir sind der Lady zu gewöhnlich“, sagte er mit einem anzüglichen Unterton in der Stimme. Anschließend schlenderten beide, in gemäßigten Schritten, davon – wobei Henning bemüht war sein Tempo der alten Hundedame anzupassen.

Charlotte las die Visitenkarte auf der in großen Lettern stand: HENNING BLEIBTREU der MANN FÜR ALLE FÄLLE! Darunter waren Anschrift und Telefonnummer aufgeführt. „Tzzz“ … allein sein Nachname Bleibtreu sprach schon Bände und Mann für alle Fälle … naja, dann erinnerte sie sich an den Henning von damals. Na, ganz offensichtlich hatte er seine Vorlieben für die Damenwelt später zum Beruf gemacht, doch dann las sie das Kleingedruckte Geschickte Hände erledigen Ihre Gartenarbeiten. „Tzzz … Henning und Gartenarbeit!“, grummelte sie vor sich hin, „das ich nicht lache.“ Mit Sicherheit ist das nur eine Tarnung und in Wahrheit verdient er sein Geld als Lover-Boy? Wie waren noch seine Worte ich wäre eine richtig gute Partie! Beim Einsteigen in den Porsche kam ihr so ein Gedankenblitz: Vielleicht ist er ja ein Heiratsschwindler! Erst neulich hatte sie in der Tageszeitung einen Bericht darüber gelesen, dass der Friedhof der ideale Platz sei um einsame und betuchte Witwen kennenzulernen. Sie neigte den Kopf zur Seite, sah ihm nach und dachte, naja jedenfalls versprüht er noch immer diesen gewissen Charme dem noch nie eine Frau widerstehen konnte. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, startete den Motor und ließ den Wagen langsam an ihm vorüberrollen. Sogleich fühlte er sich animiert und winkte ihr mit einem bezaubernden Lächeln hinterher. Und plötzlich, sie wusste nicht wie ihr geschah, zogen Bilder, die bisher nur ungelenk in ihrem Kopf umhertanzten, ganz deutlich an ihr vorüber. Im Besonderen jedoch sieht sie, wie er ihr nach jedem Liebesakt, einen Kuss gibt und sich bei ihr bedankt. Mit einem genüsslichen Schmunzeln dachte sie, ob er noch immer diese perfekte männliche Ausstattung besaß? Ups, jetzt gehst du zu weit, ermahnte sie ihr Verstand, der ihr auch sogleich den damaligen Trennungsgrund – diese super Blondine, die Brigitte Bardot für Leichtmatrosen – vor Augen führte. Wie war noch gleich ihr richtiger Name. Nein! fluchte sie nach innen und stoppte sogleich den vorbeiziehenden Bilderstrom. Darüber solltest du dir jetzt wirklich nicht den Kopf zerbrechen. Außerdem ist das alles lange vorbei. Kopfschüttelnd schob sie die Nachwirkungen dieses kurzen Gedankentrips beiseite.

Nun ja, jedenfalls hatte sie es versucht, doch so einfach war das nicht –.

Und während der ganzen Heimfahrt bemerkte sie wie Henning sich unaufgefordert ein kleines Plätzchen in ihrem Kopf zu erobern versuchte und immer dann, wenn sie ihn zu verdrängen versuchte, kamen neue Details zum Vorschein. Nein, sie wollte nicht mehr an ihn denken! Keinesfalls wollte sie an den Herzschmerz, den er ihr damals zugefügt hatte, erinnert werden. Voller Wut drückte sie das Gaspedal einmal voll durch, sodass der Porschemotor vor Wonne aufheulte, sie in den Sportsitz drückte und ihr ein berauschendes Gefühl von Macht, ja Freiheit vermittelte. Leider war diese Befreiungsaktion nur eine Momentsache, denn ein kurzer Lichtblitz erinnerte sie an die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Landstraße, zeitgleich sah sie zum Tacho der gerade noch Einhundertfünfzig anzeigte „Mist“, fluchte sie und drosselte sofort das Tempo, das gibt sicherlich Fahrverbot. Gustav würde ihr jetzt eine Szene machen, aber die Gewissheit, dass er es nicht mehr tun konnte, ließ sie, trotz allem, zufrieden schmunzeln. Auch wenn sie die Geschwindigkeit dem Limit der Straßenverkehrsordnung wieder angepasst hatte, so hatten ihre Erinnerungen an Henning – ihrer ersten große Liebe – an Fahrt wieder zugelegt. „Tzzz … Henning … Henning … Henning“, zischte sie verärgert.

Und während der restlichen Autofahrt wurde ihr ganz allmählich bewusst, dass er nicht nur in ihrem Kopf wieder aktiv war, sondern heftig an ihre Herzenspforte klopfte.

Kurze Zeit später parkte sie den Porsche – der zu Gustavs Lebzeiten, neben seinen Affären, zu seinem Lieblingsspielzeug gehörte – in der Garage. Nachdem die Wagentür mit einem sonoren Klack ins Schloss gefallen war, blieb sie einen Moment neben dem sportlichen Gefährt stehen. In Gedanken sieht sie Henning um den Porsche gehen, sie sieht, wie seine bewundernden Blicke langsam über den Wagen gleiten und zu guter Letzt bei ihr, mit einem Augenzwinkern, enden. „Tzzz … gute Partie“, zischte sie erneut, dann trat sie einen Schritt zurück und dachte, eigentlich ist der Porsche viel zu groß, zu protzig und in Anbetracht der Tatsache, dass sie gerade eben geblitzt wurde, auch viel zu schnell für sie, außerdem hatte sie immer das Gefühl, dass der Wagen mit ihr fuhr und nicht sie mit ihm. Sie sollte ihn verkaufen. Ja! Entschlossen wandte sie sich von dem Hochgeschwindigkeits-Geschoss ab und ging mit festen Schritten ins Haus.

„H a l l o … ich bin wieder d a a a!“ rief sie in die Eingangshalle, was, wie sie jetzt empfand, eine völlig überflüssige Handlung war. In all den Jahren in denen sie hier lebte war es ihr zur lieben Gewohnheit geworden ihr Kommen anzukündigen und immer kam von ihrer Schwiegermama Frida ein freudiges Hallo zurück, doch seit ihrer Demenzerkrankung schien die Begrüßung in der Halle auf eine verlorene, ja einsame Welt zu treffen. Für einen Moment hielt sie inne, bewusst ließ sie nun die Umgebung auf sich wirken. Doch mit einem Male schien ihr alles fremd, das sonst so Vertraute war meilenwert von ihr entfernt. Irgendetwas war mit ihr geschehen. Aber was? War es der endgültige Abschied von Gustav? Hatte der Gedanke an ein neues Leben nun auch ihrem Umfeld ein neues Gesicht verpasst? Oder war es die Begegnung mit Henning? – Nein, auf gar keinen Fall. Eine Frage die sie sofort wieder verdrängte. Erneut ließ sie ihren Blick durch die prunkvolle Eingangshalle schweifen. Meine Güte wie groß der Eingangsbereich war, alles, das ganze Drumherum war seit Gustavs Tod eigentlich viel zu groß für sie und die achtzigjährige kranke Frida. Mein Gott, die arme Frida! Was wird nur aus ihr? Wenn sie Gustavs letzten Willen nachgekommen wäre, so wäre sie schon längst in einem Pflegeheim – nein, korrigierte sie sich, es war eine Seniorenresidenz mit integriertem Pflegeheim – darauf hatte ihr Sohn besonders großen Wert gelegt. Für seine Mutter nur das Beste! Aber wie auch immer, sie brachte es einfach nicht übers Herz sie dort hin zu bringen, sie abzuschieben wie einen Gegenstand der unbequem wurde, sie hatte ihr schließlich viel zu verdanken.

Mitten in ihre Gedankengänge drang unvermittelt Fridas Stimme.

„Ich hab‘ dich gesehen!“, rief sie in einem singenden Ton. Im nächsten Moment stand Frida neben Charlotte, tippte ihr mit dem Zeigefinger mehrmals auf den Oberarm und sagte: „Ich hab’s genau gesehen!“, danach sah sie sich verstohlen um legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und flüsterte: „pssst … ich kann schweigen wie ein Grab“, dann trippelte sie zur Terrasse.

Obwohl Charlotte genau wusste, dass Frida seit Wochen schon nicht mehr unbeaufsichtigt aus dem Haus gehen konnte, ja, sie nur noch in ihrer eigenen Welt unterwegs war, machte ihr diese Aussage ein schlechtes Gewissen. Im nächsten Moment zog vor ihrem geistigen Auge das Bild von Henning und ihr vorüber – sie beide, vor Gustavs Grab. Stopp! Warum macht dir das ein schlechtes Gewissen? Die Antwort hatte sie gleich parat: Weil die Begegnung mit Henning sie wieder an die Liebe, an das Leben erinnerte.

Dann plötzlich ein gellender Aufschrei von Frida!

Ihren tiefgründigen Gedanken abrupt entrissen, lief Charlotte sogleich dem Schrei hinterher.

„Sieh doch! … So sieh doch!“, empörte sich Frida „sieh nur!“ Aufgebracht zerrte sie an Charlottes Arm, „so sieh doch was dieser Kerl getan hat!“ Ihre Stimme und ihre Lippen bebten vor Aufregung und schon im nächsten Augenblick packte sie Charlotte bei der Hand und zog sie über die Terrasse zum Garten.

„Sieh nur … sieh!“ Frida ließ ihre Hand los, trippelte in kleinen Schritten – wie sie es in letzter Zeit öfters tat – zum Buchsbaum, blieb erstaunt stehen und sagte enttäuscht: „Sieh nur was der Kerl im grünen Anzug getan hat!“ Im selben Moment schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte. Nein, es war kein Weinen, sondern vielmehr ein wimmern.

Charlotte ging zu ihr hin, legte tröstend den Arm um ihre Schulter und fragte: „Aber was, was um alles in der Welt hat WER denn getan?“ sie verstand ihre Empörung nicht.

Entsetzt sah Frida sie an, dann verwies sie mit ausgestrecktem Arm auf den Buchsbaum, „er, der Mann hat ihm den Kopf abgeschnitten! Sieh doch!“ In kleinen Schritten umrundete sie das Bäumchen, blieb stehen und sagte enttäuscht: „Sieh nur … auch diese Dings, diese Dinger …“ das fehlende Wort ergänzte sie indem sie ihre Arme anwinkelte und wie ein Vogel flatterte „…auch sie sind weg! Er war doch immer ein Piepmatz.“ Unvermittelt erhob sie ihre Stimme und rief flehend: „Er, dieser Kerl im grünen Anzug – mit dem Kerl meinte sie den Gärtner der wöchentlich kam – darf nicht mehr kommen, hörst du?“, Tränen kullerten unaufhaltsam über ihre Wangen.

Jetzt erst verstand Charlotte was sie ihr mitteilen wollte, ihr wäre es womöglich noch nicht einmal aufgefallen, da sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Behutsam nahm sie Frida in ihre Arme, wiegte sie und sagte: „Wir machen einen neuen Vogel aus ihm, das verspreche ich dir.“

Nach einer Weile löste sie sich aus ihren Armen, sah sie befremdlich an, blickte zum Himmel und sagte ganz sachlich: „Es wird dunkel … Gute Nacht“, dann ging sie in normalen Schritten, ganz ohne zu trippeln, ins Haus zurück.

Mein Gott, ihre Demenz wird von Tag zu Tag schlimmer und es war beängstigend wie heimtückisch diese Krankheit ihren Geist zerstörte. Charlotte hörte noch wie Lilo, die gute Seele des Hauses, Frida in Empfang nahm und mit ihr in ihr Schlafgemach ging. Gustav hatte Lilo, kurz nachdem er von ihrer Krankheit erfahren hatte, für ihre Betreuung eingestellt – worüber sie ihm mehr als dankbar war. Ja, im Planen und Organisieren war er unschlagbar. Kurz dachte sie darüber nach, ob seinem Augenmerk je etwas entgangen war – nein, nichts, stellte sie fest! Sein ganzes Leben war bis ins kleinste Detail durchstrukturiert, auch die Menschen um ihn herum hatten alle ihre festen Plätze und hatten sich an seine Regeln zu halten. Diejenigen die sich daran hielten wurden dafür auf großzügige Weise belohnt, doch, wenn jemand seine Regeln zu boykottieren versuchte, konnte er mitunter sehr unangenehm werden. Sie hatte das sehr schnell begriffen, denn als Gegenleistung war es ihr vergönnt ein Leben in Luxus führen. Ein Leben in Luxus! Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Großer Gott, nie hattest du ein eigenes Leben, du hattest es vor Jahren, aus Bequemlichkeit gegen den Luxus – gegen all das hier eingetauscht. Und während ihr Blick über die Rückseite der alten Villa Grafenberg schweifte resümierte sie ihr Leben. Mein Güte, es gibt Momente, da besitzt das Vergangene eine so ungeheure Kraft, dass man glaubt, das Gegenwärtige hätte keine Berechtigung und das Zukünftige keine Chance mehr.

Gerade sah sie noch wie in Fridas Zimmer das große Licht gelöscht wurde, lediglich warf die kleine Nachttischleuchte ein dämmriges Licht in den Raum. Gleich wird sie – so wie jeden Abend vor dem Einschlafen – den alten Plattenspieler betätigen und Musik hören. Kaum zu Ende gedacht perlten auch schon leise Klänge durch das halboffene Fenster. Vor ihrer Krankheit passte sie die Melodien ihrer mentalen Stimmungslage an, doch in letzter Zeit hörte sie, für sie aus unerklärlichen Gründen, immer wieder Chopins Regentropfen-Prélude. Vieles hatte sie zwar vergessen, nur die Musik nicht, sie gehörte zu ihrem Leben, wie die Sonne zum Tag. Ach, die gute Frida, seufzte sie nach innen. In all den Jahren war sie mir nicht nur eine mütterliche Freundin gewesen, sondern auch eine verlässliche Schwiegermutter, die, wenn sie mal wieder von Gustavs unsäglichen Affären erfahren hatte, es durchaus verstand ihm ordentlich den Kopf zu waschen, und danach auch keine Mühe scheute den Postillion d’amour zu spielen. Warum sie diesen liederlichen Draufgänger nicht verlassen hatte, war ganz einfach zu erklären: Sie wiegte sich in sicherer Existenz, alle Sorgen wurden von ihr ferngehalten. Ja und daran gab es jetzt nichts mehr zu beschönigen. Sie hatte ihr Leben vertan. Basta! Eine Erkenntnis die sie traurig und hilflos zugleich stimmte.

Die Musik verstummte, das Dämmerlicht wurde abgedreht. Sie sah zu ihrem Fenster und flüsterte: „Gute Nacht Frida.“ Vielleicht sollte sie Gustavs letzten Willen doch befolgen und sie in die von ihm ausgesuchte Seniorenresidenz bringen! Aber könnte sie das wirklich? Könnte sie das mit ihrem Gewissen vereinbaren? Jedenfalls erschauderte sie der Gedanke.

„H a l l o … Frau Grafenberg … h a l l o“, unterbrach Lilo mit lautem Zurufen ihre Selbstzweifel, „ich gehe dann mal. Ihre Frau Schwiegermama ist versorgt, ihre Pillen hat sie genommen, wenn auch nur widerwillig. Ich denke sie wird gleich schlafen. Also bis Morgen!“ Auf der Türschwelle blieb sie nochmals stehen, machte auf dem Absatz kehrt, fasste sich an den Kopf und sagte: „Entschuldigung, aber ich habe ganz vergessen Ihnen zu sagen, dass Ihr Schwager, Herr Grafenberg, hier war, er wollte … was wollte er noch gleich?“, nachdenklich zog Lilo die Augenbrauen zusammen, „ah ja, dass er noch etwas mit Ihnen klären müsse … Papierkram wohl! Jedenfalls soll ich Ihnen ausrichten, dass er morgen früh vorbeikommen wird. Gute Nacht, Frau Grafenberg.“

„Danke Lilo … und Gute Nacht!“ Mit einem tiefen Atemzug sah Charlotte zum Himmel. Im Westen zeugte noch ein letzter roter Streifen vom Sonnenuntergang, wogegen im Osten bereits der Mond auf seinem Weg um die Erde war. Alles um sie herum war still. Es schien als würde die Welt vor Anbruch der Nacht sich noch eine letzte Atempause gönnen. Eigentlich hätte sie jetzt weinen wollen, die Situation, ihre Stimmung, alles war wie geschaffen sich vor Selbstmitleid zu ergießen. Aus einem kleinen Seufzer heraus dachte sie, aber was … ja, was würde es nützen. Außerdem war es nie ihre Art gewesen, also warum jetzt damit anfangen.

Während sie zurück zum Haus schlenderte sinnierte sie weiter über ihr Leben und ganz ohne ihr Wollen landete sie wieder bei Henning. „Henning“ kam es flüsternd über ihre Lippen. Damals wie heute hatte er es fertiggebracht, sie sowohl mit Worten, als auch mit Gesten zu provozieren und sie konterte in gleichen Maßen. In Erinnerungen schwelgend umspielte ein erstes Lächeln ihren Mund, doch je tiefer sie in ihrem Gedächtnis unterwegs war, desto schmerzhafter war das, was ihr dort begegnete. An der Terrassentür angelangt stoppte sie ihre zermürbenden Gedankengänge, zähneknirschend fluchte sie: „vergiss endlich diesen Weiberheld!“ Fast drei Jahrzehnte war ich mit so einem Exemplar verheiratet, das braucht keine Frau ein zweites Mal. „Wer ist denn schon Henning!“, grummelte sie verärgert vor sich hin. Angetrieben von einer nie überwundenen Eifersucht schlug sie die Terrassentür zu, gleich so, als könne sie ihre Gedanken, ihre Gefühle an ihn draußen lassen.

Doch kaum, dass sie im Bett lag, ihre Augen geschlossen waren, war er in seiner ganzen Pracht – so wie sie ihn damals kennen und lieben lernte – wieder präsent. Sie sieht sein Gesicht vorüberziehen, sieht den Glanz in seinen dunklen Augen, hört seine Worte und wird von seiner Stimme wohlig berührt, und nein, sie konnte einen längeren Ausflug in jene Zeit nicht unterdrücken. Spontan fiel ihr wieder Rilkes Liebes-Lied ein, leise zitierte sie die erste Zeile –fast wie ein kleiner Hilferuf ihres Herzens – ins Kopfkissen:

Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?

Am nächsten Morgen saß sie am Frühstückstisch und noch immer schwebten die Träume der Nacht, eingehüllt in den bittersüßen Duft der Erinnerung, über ihr. „Es ist schrecklich, fast ein wenig ungerecht wie schnell die Zeit vergeht“, sagte sie zu Frida, die ihr gegenübersaß und routinemäßig in der Tageszeitung blätterte. Kurz lugte sie hinter der Zeitung hervor, setzte zum Sprechen an, doch dann schienen ihr die Worte zu fehlen und es blieb nur bei einem verlegenen Lächeln. Beschämt vertiefte sie sich wieder in die Tagesthemen – augenscheinlich jedenfalls, denn Charlotte bemerkte, dass sie keine Brille trug. Doch bevor sie sich weiter mit Fridas Gesundheitszustand befassen konnte läutete es an der Wohnungstür.

Lilo öffnete die Tür und sagte mit übertriebener Höflichkeit: „Guten Morgen Herr Grafenberg. Welch‘ angenehmer Besuch und sooo früh!“

„Guten Morgen, Lilo. Lilo wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, dass sie nicht darüber zu urteilen haben, wann ich komme oder gehe – das steht Ihnen nicht zu!“

„Jawohl, Herr Grafenberg“, hörte sie Lilo sagen, die sich im Grund einen Deut darum scherte, was Ludger Grafenberg zu ihr sagte oder er anordnete.

„Einen wunderschönen guten Morgen meine Damen! Ach, ist das nicht ein herrlicher Morgen“, schwärmte er euphorisch, klatschte dabei in die Hände und rieb sie genüsslich.

„Guten Morgen“, sagte Frida, und ohne ihren Blick von der Zeitung abzuwenden streckte sie ihm ihre Hand zur Begrüßung entgegen.

Wahrscheinlich war ihr wieder entfallen, dass er ihr Sohn ist.

Ludger nahm ihre Hand, umschloss sie fürsorglich und sagte: „Guten Morgen Mutter. Hattest du eine ruhige Nacht?“

Frida verzog keine Miene, stattdessen entzog sie ihm abrupt ihre Hand.

Er erwartete auch keine Antwort von ihr, sondern wandte sich sogleich Charlotte zu. Er küsste sie links und rechts auf die Wange, schenkte ihre einen langen und schmachtenden Blick und sagte schließlich: „Ganz bezaubernd siehst du heute wieder aus … ja, ganz bezaubernd.“

„Danke Ludger“, dabei fand sie seinen aufgesetzten Schmus heute besonders unangenehm, und gerade seit Gustavs Tod, waren seine Bemühungen um sie nicht mehr zu überhören. „Was führt dich so früh am Morgen her?“, fragte sie sachlich, um ihm keinen Nährboden für weitere Avancen zu bieten.

Was er natürlich bemerkte. Leicht pikiert über ihre Reserviertheit antwortete er kühl: „Wir müssen reden! Außerdem benötige ich noch dringend einige Unterlagen für die Steuererklärung …“

„… ja, ja! Nun setz dich erst einmal“ unterbrach sie ihn „trink‘ in aller Ruhe einen Kaffee mit uns, danach können wir immer noch über das Geschäftliche reden.“

„Meine liebe Charlotte“, sagte er wichtigtuerisch überspitzt, „die Angelegenheit ist äußerst dringlich. Die Verlängerungsfrist läuft nächste Woche ab“, echauffierte er sich künstlich „und das Finanzamt, meine Liebe, versteht keinen Spaß …“

„… gleich nach dem Frühstück gehen wir in Gustavs Büro“, unterbrach sie ihn erneut, „da kannst du dir die entsprechenden Unterlagen raussuchen.“

Lilo war zwischenzeitlich mit einem Kaffeegedeck gekommen. „Für Sie, Herr Grafenberg“, sagte sie und stellte das Gedeck so unsanft auf den Tisch, dass es kurz aufschepperte – woraufhin sie auch gleich einen strafenden Blick von ihm erntete. „Kaffee steht da“, fügte sie knapp an, dabei verwies sie mit der Hand auf die Kaffeekanne, warf den Kopf zur Seite und machte sich geschwind wieder in die Küche.

Charlotte konnte gerade noch einen Lacher unterdrücken, griff sogleich nach ihrem großen Milchkaffee und schlürfte, wohlwissend ihre Häme gut dahinter versteckt, genüsslich an dem Heißgetränk.

Kopfschüttelnd kommentiere Ludger ihr Verhalten: „Also ich finde diese Lilo ist eine unverschämte Person. Wenn ich dir einen guten Rat geben darf, so solltest du dich von ihr trennen. Wenn es dir Recht ist, ich meine … ich will mich ja nicht aufdrängen“, sagte er sich einschmeichelnd, „so kann ich gerne für einen adäquaten Ersatz sorgen.“

„So, findest du!“ Wieder so ein gutgemeinter Ratschlag, dachte sie leicht genervt und setzte die Tasse, gemäß ihrem Empfinden, abrupt auf.

„Ja, meine Liebe, du bist jetzt …“ er lachte kurz auf, „wie soll ich’s formulieren …“, fürsorglich tätschelte er ihre Hand, „so ganz ohne männlichen Schutz, und solche Individuen, wie diese, diese Lilo“, sagte er abwertend, „sind bekannt dafür, dass sie ihre Grenzen überschreiten. Gerade aus meinem Berufsalltag könnte ich dir so einige Geschichten erzählen und die, die nahmen kein gutes Ende.“

„Lieber Ludger, was würde ich nur tun, wenn ich dich nicht hätte“, spöttelte Charlotte wobei sie ihm ihre Hand entzog.

„…dann würde es uns richtig gutgehen“, ergänzte Frida laut. Sie reckte ihren Kopf hinter der Zeitung empor, sah sich suchend um und rief: „Lilo, wo ist mein Sohn?“

Lilo kam herbeigeilt, „Frau Frida, was ist denn los?“

„Haben Sie meinen Sohn gesehen? Wo ist er?“

„Ihr Sohn? Aber da ist doch ihr Sohn!“

Alle sahen zu Ludger.

Doch Frida schüttelte energisch den Kopf, „nein das ist nicht mein Sohn … das ist nur der Besuch und der, der möchte gehen!“ Mit Nachdruck legte sie die Tageszeitung auf den Tisch, schenkte Ludger noch einen strafenden Blick und trippelte anschießend davon.

„Aber Mutter … ich bin doch auch dein Sohn!“, echauffierte er sich. „Ich bin doch Ludger! Ja kennst du mich denn nicht mehr?“ Sichtlich enttäuscht, dass seine eigene Mutter ihn nicht mehr erkennen konnte wurde er blass um die Nase.

Mittlerweile war Lilo auf Frida zu gekommen um sie zu beruhigen: „Alles ist gut Frau Frida wir werden gleich einen Spaziergang zum Friedhof machen, und bei der Gelegenheit besuchen wir Ihren Sohn“, ergänzte sie hämisch grinsend. Während sie sich bei der alten Dame unterhakte sagte sie schnippisch: „und der Besuch geht wann er will! Nicht wahr Herr Grafenberg“, anschließend warf sie triumphierend den Kopf in den Nacken.

„Eine äußerst impertinente Person“, knurrte Ludger in den Bart, „aber so was von …“ wobei die Blässe in seinem Gesicht entschwunden war, stattdessen glühten nun seine Ohren vor schäumender Wut.

Und obwohl auch er ihr Sohn war, so schien Frida ihn, aus welchen Gründen auch immer, aus ihrem Langzeitgedächtnis verbannt zu haben. Vielleicht war es damit zu begründen, dass Gustav der Erstgeborne war und sie ihr ganzes Leben, bis auf einige kurze Ausnahmen, unter einem Dach wohnten – aber wer weiß das schon! Vielleicht erinnerte er sie auch nur an ihren verstorbenen Mann, beide trugen nicht nur die gleichen Vornamen, sondern ihr Äußeres war von frappierender Ähnlichkeit.

Wie auch immer, jedenfalls bei Ludgers Anblick, hatte Charlotte sichtlich Mühe nicht laut aufzulachen.

„Wenn Gustav noch am Leben wäre, so hätte er diese Lilo längst rausgeschmissen“, fügte er zähneknirschend an.

„Ach … Gustav … Gustav! Gustav ist nicht mehr unter uns“, unterbrach sie ihn empört, „und nur, dass du es weißt, ER gehört ab sofort der Vergangenheit an – Punkt!“

Für diesen Ausspruch erntete sie einen strafenden Blick. „Also ich muss mich doch sehr wundern, Charlotte“, dein Mann ist gerade mal ein Jahr unter der Erde und du …“

„… ja! Er ist seit einem Jahr mausetot und ich, ich lebe!“ Um jetzt keine Diskussion vom Zaun zu brechen, sagte sie: „Ich denke, mein lieber Ludger, wir sollten ins Büro gehen, da kannst du dir die verdammten Unterlagen raussuchen“, fügte sie genervt an. Ohne eine Antwort abzuwarten stand sie auf und ging schnurstracks zu Gustavs Büro.

Er folgte ihr wie ein gehorsamer Dackel, „duuu Charlotte, wie du weißt, handle ich nur in guter Absicht …“

Unvermittelt blieb Charlotte stehen, „ja ja … ist schon gut. Ich weiß, dass du deinem Bruder versprochen hast auf mich aufzupassen, das hast du bereits des Öfteren erwähnt …“ mitten im Satz stoppte sie, denn ihr war durchaus bewusst, dass sie ohne Ludgers Hilfe – zumindest was die finanzielle Seite anging, ganz zu schweigen von der komplizierten Rentenabwicklung – aufgeschmissen gewesen wäre, dann fuhr sie fort: „mein lieber Ludger, ich bin dir wirklich sehr, sehr dankbar, dankbar für alles was du nach seinem Tod für mich getan hast, das darfst du mir gerne glauben, aber …“ dann hielt sie kurz inne um ihre Worte sorgfältig auszuwählen, denn sie wollte ihm keinesfalls vor den Kopf stoßen oder ihn gar vergällen, „sieh mal, im Trauerjahr war ich nie wirklich alleine. Immer war jemand da … mal ganz abgesehen von Frida. Doch jetzt brauche ich etwas mehr Zeit für mich. Verstehst du? Ich muss meinem Leben wieder einen Sinn geben. Ich muss es neu ordnen!“

Auch wenn er sie mit seinem berühmt-berüchtigten Dackelblick, ganz so als ob er kein Wässerchen trüben könnte, ansah, so lauerte im Hintergrund ein listiger Fuchs, der nur darauf wartete im richtigen Moment zuzuschnappen. Für einen Moment überlegte er, was sie gerade gesagte hatte dann antwortete er: „Meine liebe Charlotte, das verstehe ich durchaus, aber …“

„… ohne Wenn und Aber“, stoppte sie ihn, und mit dieser resoluten Antwort öffnete sie die Tür zum Büro. Muffige abgestandene Luft schlug ihnen entgegen. Seit Gustavs Ableben war sie nur noch selten hier im Raum, wenn, dann höchstens um einige Papiere rauszuholen oder um vielleicht mal die Rollläden hochzuziehen. Es wird Zeit einige Dinge zu entsorgen, dachte sie, mit diesem Gedanken riss sie das Fenster sperrangelweit auf. Während sie die eindringende Luft einatmete sagte sie: „Du weißt in welchem Ordner die Unterlagen sind?“ Was für eine überflüssige Frage! Die zwei Brüder hielten wie Pech und Schwefel zusammen. Sie wussten alles voneinander – oder? Wusste er auch über seine Affären Bescheid? Ein Gedankengang, der ihr sogleich über die Lippen sprudelte: „Sag‘ Ludger, hattest du immer von den Affären deines Bruders gewusst?“

Worte, die ihn wie Wurfgeschosse am Kopf trafen, fast wäre ihm beim Aufprall die Kinnlade runtergefallen, doch im letzten Moment blies er die Backen auf und beim Ausatmen sagte er: „Weißt du Charlotte, das war …“

„… ganz anders als ich denke! Ich weiß“, beendete sie seine Ausrede barsch, „gib dir keine Mühe, Einzelheiten interessieren mich eh nicht. Ich möchte nur eine ehrliche Antwort von dir.“ Mit großen Augen sah sie ihn erwartungsvoll an.

Verlegen schlug er die Augenlider nieder, blies nochmals die Backen auf, und während er die Luft ausblies nuschelte er, „jaaa … aber ich habe ihm immer gesagt, dass ich das nicht für gut finde …“

„So hast du das?“

„Jaaa! Wie oft habe ich zu ihm gesagt, dass ich dich für eine wunderbare Frau halte und du das nicht verdienst“, achselzuckend fügte er noch an, „was sollte ich denn tun, er war mein älterer Bruder und gegen Ratschläge – wie du selbst weißt – immun!“

Wieso konnte sie ihm das nicht glauben? Jedenfalls hatte ihre Frage ihn sichtlich in Verlegenheit gebracht, er vergrub die Hände tief in seinen Hosentaschen und unter seinem Jackett konnte man die Windungen seines Oberkörpers sehen, gerade so, als wäre ihm seine eigene Haut zu eng geworden. Nein sie gab ihm keine Antwort mehr, stattdessen ließ sie ihn, samt seinem schlechten Gewissen, alleine. Für Charlotte war die Untreue ihres verstorbenen Mannes längst kein Thema mehr. Die letzten Jahre ihres Ehe-Lebens hatte sie in dem Bewusstsein verbracht die Betrogene zu sein. Sie hatten sich, wie es so schön heißt: über die Jahre zusammengerauft, die dunklen Beziehungszeiten gemeistert und sich irgendwann arrangiert! Ja, und daran gab es nichts mehr zu rütteln.

Okay, dachte sie, dein schlechtes Gewissen, lieber Ludger, darfst du gerne bei mir abarbeiten. Auf der Türschwelle blieb sie stehen, sagte das Thema wechselnd: „Im Übrigen, ich wollte den Porsche verkaufen. Könntest du mir dabei behilflich sein? … Ach ja, noch etwas, gestern Abend wurde ich auf der Landstraße geblitzt, könntest du dich auch darum kümmern?“

„Gustavs Porsche?“ fragte er sichtlich erstaunt. Die Frage schien zunächst im Raum zu rotieren bevor er überhaupt in der Lage war sie zu realisieren.

„Jaaa! Oder hast du etwas dagegen?“ fügte sie stirnrunzelnd an.

Ludger legte zunächst nachdenklich die Stirn in Falten, doch schon im nächsten Augenblick überzog ein selbstgefälliges Grinsen sein Gesicht, zögerlich antwortete er: „Ich könnte … ich meine, nur wenn nichts dagegen spricht … so könnte ich den Porsche kaufen!“ nachsinnierend spitzte er seine Lippen, dann brach es laut aus ihm heraus: „Ja, ich kaufe ihn“, mit dem Ausspruch war sein Entschluss Fakt. Und nach dem Strahlen seiner Augen sah er sich bereits in dem sportlichen Gefährt hocken, sah sich mit gemäßigtem Tempo, sodass ihn auch alle sehen konnten, durch die Innenstadt fahren.

Verblüffung stand in Charlottes Gesicht, doch wenn sie es sich recht überlegte, hätte sie diese Entscheidung vorhersehen können. Und soweit sie sich zurückerinnern konnte versuchte er Gustav nachzueifern, alles was er hatte, wollte auch er, und seit seinem Tod, beschlich sie zuweilen das Gefühl, dass es Zeit für ihn wäre einen Platz – hier im Hause und an ihrer Seite, womöglich in ihrem Bett – einzufordern. Ein Gedankengang der sogleich für eine Gänsehaut sorgte. Igitt, Igitt nein! Und überhaupt, er und sie – unmöglich! Stattdessen versuchte sie vor ihrem geistigen Auge, Ludger und den Porsche zusammenzubringen. Sie sieht den drahtigen Ludger – ein junggebliebener Sechziger, im elegant-klassischen Jackett, mit offenstehendem Hemd, dem passenden Halstuch sowie blankpolierten Schuhen und seinem selbstgefälligen Grinsen – im Porsche sitzen. Eigentlich fand sie ihn ja ganz attraktiv, wenn da nur seine Pedanterie nicht wäre. Sein übertriebener Hang zur Genauigkeit konnte jede Frau zur Raserei bringen. Vermutlich war er deshalb auch Single. Auch seine Haarfrisur, die gegelten Haare mit den Kammspuren und dem immer perfekten Seitenscheitel, sagten schon sehr viel über seine Pingeligkeit aus. Dabei fiel ihr auf, dass sein volles dunkles Haar noch keine einzige Spur von einem grauen Haar aufwies, aber wer weiß, vielleicht war es ja nachgefärbt. Ihr Blick vertiefte sich kurz in seinen Haaren. Man neigte immer dazu hineinzufassen um es durcheinander zu bringen – um endlich die Perfektion aus ihm herauszuholen. Ein Wunschgedanke, bei dem Charlotte, trotz allem, lächeln musste, denn ihre beste Freundin, Doro von Sickingen, hatte das einmal, bei einer Geburtstagsfeier und im betrunkenen Zustand, versucht ... oh, da war aber was los. Ja doch, Ludger passte in den Porsche! Mit hundertprozentiger Sicherheit würde er den kleinsten Vogeldreck mit etwas Spucke, auf einem seiner weißen Stofftaschentücher, die alle mit seinem Monogramm versehen waren, sofort wegpolieren. Ein Fantasiegebilde das sie fast ausgesprochen hätte, doch im letzten Moment korrigierte sie ihre Wortwahl und sagte nur: „Schön, dann halte ihn in Ehren … den Porsche!“

Er klatschte in die Hände, zwinkerte ihr zu und sagte freudestrahlend: „Gut, dass wir das schon mal geklärt hätten“, wobei er sich die Hände rieb, als hätte er den Super-Deal seines Lebens abgeschlossen.

Etwas skeptisch beäugte sie sein Verhalten und es war nur zu hoffen, dass sie ihn nicht selbst auf die falsche Spur gesetzt hatte, eine Spur die ihn auf der Zielgeraden zu ihr führte.

„Tja, wo waren wir noch gleich stehengeblieben? Ja, das Knöllchen! Selbstverständlich kümmere ich mich darum. Sei ganz unbesorgt!“ Grinsend, vom Sportwagen träumend stand er noch eine Zeitlang da.

„Ludger? …du wolltest Unterlagen für die Steuererklärung raussuchen … du erinnerst dich!“

„Wie? Ah richtig“, antwortete er. Aus seinem Tagtraum erwacht, klatschte er nochmals in die Hände, grinste wie ein Honigkuchenpferd und sagte mit einem leicht kindischen Unterton in der Stimme: „Na, wo sind denn die kleinen Ordner? Na da sind sie ja!“

Charlotte verdrehte genervt die Augen. „Viel Spaß! Ich gehe dann mal, du kennst dich ja hier bestens aus“, fügte sie überspitzt an.

Während sie zurück zur Terrasse ging, fiel ihr Blick auf den großen Spiegel in der Eingangsdiele. Sie blieb stehen, trat einen Schritt vor um ihr Spiegelbild etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Sie betrachtete es so, als würde sie eine gute Freundin begutachten. Die Frau die sie sah war Anfang fünfzig und ihr Gesamtbild von angenehmer Erscheinung, die dunkelbraunen halblangen Haare hatten immer noch Glanz und Schwung, ein paar Fältchen sprachen für eine lebenserfahrene Frau, die rehbraunen Augen und der volle Mund für Sinnlichkeit, und die kleine Hüftrolle – kurz griff sie zu – war zwar überflüssig konnte man aber gut kaschieren, die Beine waren – Dank regelmäßiger Fitness – wohlgeformt, dann kam der Griff zum Busen, sie rückte den Büstenhalter zurecht um das Dekolleté samt dem Inhalt etwas kritischer zu beäugen …

„Darf ich dich am Wochenende zum Essen ausführen?“ flüsterte Ludger aus dem Hintergrund, wobei ein erotischer Touch in der Modulation seiner Stimme nicht zu überhören war.

Erschrocken fuhr sie zusammen. „Luder! … Stehst du schon lange hier? Du weißt, dass ich das auf den Tod nicht ausstehen kann“, fluchte sie. Sofort trat sie einen Schritt zur Seite und drückte ihren Körper schutzsuchend an die Wand.

In geschmeidig-tänzelndem Gang trat er auf sie zu, lächelte und antwortete: „Lange genug meine Liebe um mir bewusst zu werden, dass du eine hinreißende Frau bist“, und schon im nächsten Moment glitt sein schmachtender Blick langsam, um auch ja nichts auszulassen, an ihr herunter. „Das Leben, meine liebe Charlotte, ist viel zu kurz um es alleine zu verbringen.“ Dann kam er noch etwas näher – und ja, da war er wieder, dieser treue Dackelblick, den er seit Gustavs Tod ganz offensichtlich eingeübt haben musste – stützte lasziv lässig seinen Ellenbogen gleich neben ihr an die Wand, legte den Kopf in seine Handinnenfläche und pustete ihr sanft eine Strähne aus dem Gesicht.

Gerade sah sie noch wie seine zum Kuss gespitzten Lippen in Richtung ihres Mundes kamen …

Ohhh … tu’s nicht, schoss es ihr verzweifelt durch den Kopf, zeitgleich tauchte sie unter ihm weg – und nein, sie wollte auf gar keinen Fall weiter auf sein Liebesgesülze eingehen. „Sag, wolltest du dich nicht um die Steuern kümmern?“ lenkte sie geschickt von der äußerst delikaten Situation ab. Anschließend machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand so schnell sie nur konnte in Richtung Terrasse.

Hinter ihr folgten noch alltägliche Worte wohl verpackt in zärtlichem Geflüster: „Um den Porsche meine Liebste sowie um die finanziellen Sachen kümmere ich mich, ebenso um das Knöllchen! Ach ja, und das mit dem Essen, das kannst du dir gerne überlegen. Ich würde mich jedenfalls sehr um ein wenig mehr Entgegenkommen deinerseits freuen.“ Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss.

„Tzzz … meine Liebste“, äffte sie ihm nach, und was heißt hier eigentlich ein wenig mehr Entgegenkommen? Na, das hättest du wohl gerne!

Später saß sie mit einem Kaffee auf der Terrasse. Kopfschüttelnd dachte sie immer wieder über die Unverfrorenheit ihres Schwagers nach. Er und sie? Igitt-igitt! In Erinnerung an sein erotisches Geplänkel lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

Plötzlich drang ein glockenhelles „Guten Morgen“ mitten in das noch sehr lebhafte Szenario, zeitgleich vernahm sie eilige Schritte auf dem Kiesweg seitlich des Hauses. Es war Doro von Sickingen, ihre langjährige Freundin und eine ehemalige Arbeitskollegin. Die nimmermüde Powerfrau war mit Leib und Seele Immobilienmaklerin und sie war eine der besten ihrer Zunft, eben weil sie ehrlich, korrekt und zuverlässig war – was nicht unbedingt immer die Attribute eines Maklers sind. Ihre Botschaft lautete: „Nur ethische Werte haben langfristig Erfolg“. Sie liebte es hochpreisige Objekte weltweit zu verkaufen, danach hatte sie großes Vergnügen die Provisionen gewinnbringend anzulegen – Ja, das war Doro! Und der Mann für so eine Frau, der musste jedenfalls noch gebacken werden – hatte sie selbst einmal behauptet. Aber wie jeder Mensch hatte sie nicht nur kleine Fehler, sondern ihre ganz speziellen Unausgewogenheiten!

Lachend, sich dabei tanzend im Kreise drehend, stand sie mit der Champagner-Flasche in der Hand jubelnd auf der Terrasse: „Jaha …jaha … heute habe ich mal wieder einen super Abschluss gemacht“, im nächsten Moment küsste sie Charlotte auf ihr Haupt, stellte die Flasche auf den Tisch und sagte: „Weißt du wie viel sechs Prozent von fünfhunderttausend sind? … Schlappe Dreißigtausend! Ich habe beim Verkaufsabschluss einer Immobilie Dreißigtausend verdient! Ist das nicht genial – nein, ich bin genial!“, jubelte sie weiter. Und wenn es ihr möglich gewesen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich selbst geküsst. Bevor Charlotte antworten konnte, ließ sie den Champagnerkorken knallen, so dass das edle Getränk wie eine Fontaine emporschoss. Den ersten Schluck nahm sie sogleich aus der Flasche, wofür sie auch sofort eine Entschuldigung parat hatte. „Ja … meine Güte, nun guck nicht so verdutzt! Solche Abschlüsse sind nicht alltäglich!“

Charlotte lachte auf, „Doro das freut mich für dich, dann sollten wir – deinem Erfolg gebührend – mit Gläsern, anstoßen!“ Als sie ein wenig später zurückkam, saß Doro da und weinte. Ja, auch das war Doro! Zuerst himmelhochjauchzend dann wieder zu Tode betrübt.

„Hey was ist geschehen, ich dachte du freust dich über deinen finanziellen Zuwachs?“ tröstend legte sie die Hand auf ihre Schulter.

„Eben drum, aber was nützen mir solch‘ horrende Abschlüsse, wenn ich die Freude nicht mit jemandem teilen kann?“

„Aber dafür hast du doch mich!“ scherzte sie.

„Ha ha … du erlaubst, dass ich später lache.“

Charlotte streifte ihr scherzeshalber, von hinten nach vorne, durch die Haare und meinte: „Wie war noch gleich dein Spruch? Ah warte, ich hab’s: Genieße die Nacht mit einem Mann, doch wenn der Morgen grüßt, sollte dich nichts mehr an ihn erinnern.

Ein wenig pikiert, dass sie von ihrer Freundin nicht ernst genommen wurde warf sie den Kopf zurück und ordnete ihre Frisur.

„Was ist eigentlich mit diesem, diesem … Wie hieß er noch gleich?“, versuchte Charlotte von ihrer unsensiblen Bemerkung abzulenken wobei sie direkt ins nächste Fettnäpfchen trat.

Doro ignorierte vorerst ihre Frage, stattdessen goss sie mit einem Schwung das perlende Getränk in die Gläser, sodass der Schaum dekadent über den Rand schäumte.

„Diether! Der Mistkerl heißt Diether!“, zischte sie ihr entgegen. „Hör mir bloß mit diesem Typen auf …“, und gemäß ihrem Ärger fegte sie mit der flachen Hand den Champagnerschaum von der Tischplatte.

„Oh, wie das?“ fragte sie nun sichtlich interessiert, obwohl sie genau wusste, dass wechselnde Beziehungen zu ihrem Leben gehörten wie eine erfrischende Dusche am Morgen.

„Der … der hatte es doch nur auf meinen Namen von Sickingen abgesehen!“, fügte sie überspitzt an, dann schnäuzte sie verächtlich ihren überschüssigen Tränenfluss ins Taschentuch.

„Ach was!“, antworte Charlotte etwas ungläubig. Wieder einmal eine missglückte Beziehung, dachte sie. Manchmal beschlich sie das Gefühl, dass Doro vor zu viel Nähe auf der Flucht war. Öfters hatte sie schon darüber nachgedacht warum das so war, aber sie kam nie zu einer befriedigenden Antwort. Lediglich rätselte sie und vermutete, dass es wohl in ihrer Vergangenheit eine große Liebesenttäuschung gegeben haben musste.

„Jaaa … wieder so einer … jetzt weißt du warum ich alleine bin.“

Charlotte tat so, als würde sie das noch überraschen und ließ sich auf den Gartenstuhl fallen. „Und ich dachte das wäre mal ein potenzieller Heiratskandidat!“

„Heiratskandidat, das ich nicht lache“, antwortete sie und hatte nun sichtlich Mühe ihre aufgestauten Emotionen unter Kontrolle zu halten.

„Komm, erzähl schon. Ich bin ganz Ohr“, forderte Charlotte die Unglückliche auf.

Während Doro das Champagnerglas sinnierend in ihrer Hand drehte, sprachen Gesichtsmimik und Körperhaltung schon Bände. Ihre eh schon markanten Konturen verhärteten sich; das blaue Blut der Adelsdynastie strammte ihren Körper aufrecht. Wie eine unnahbare Göttin saß sie plötzlich da. Wieder einmal hatte sie ihr berühmt-berüchtigtes Panzerkorsett strammgezogen, danach konnte sie nichts und niemand mehr verletzen! –Naja, augenscheinlich jedenfalls.

Als sie sich wieder vollkommen unter Kontrolle hatte erhob sie das Glas, beobachtete die aufsteigenden Champagnerperlen und sagte mit kontrolliert ruhiger Stimme: „Nun, eines Tages rief mich Diether an und sagte, dass er dringend mit mir reden müsse. Er hätte eine wichtige Frage … war ja wohl klar welche. Jedenfalls stand er am nächsten Abend mit feierlichem Gesicht und einem Strauß Rosen vor meiner Tür …“ Kurz stoppte sie um sich nun selbst zur Contenance zu zwingen, „wie du dir sicherlich vorstellen kannst, hatte ich mir gedanklich schon ein Traumgebilde aufgebaut. Ich sah mich bereits als strahlende Braut ihm entgegengehen, alle meine Immobilienobjekte hatte ich bereits nach einem gemeinsamen Nest durchstöbert …“, kopfschüttelnd, mit einem bitteren Lächeln fügte sie an, „doch was macht dieser Windhund …?“

„Was denn?“, fragte Charlotte ungeduldig.

„Naja, meine Hoffnung hatte er zwar erfüllt, doch seine Vorstellung von einer Ehe war mit meiner nicht kompatibel!“

„AHA …!“ Wieder einmal dachte sie.

Doro überhörte geflissentlich ihre Bemerkung und im nächsten Moment überzog ein Wechselspiel von Gefühlen ihr schönes Gesicht: zuerst war es eine Mischung aus Enttäuschung und Trauer, dann Abscheu und Ekel, doch dann verengten sich ihre Augen gefährlich zu einem Schlitz. Hinter ihrer hohen Stirn war es mächtig am Brodeln. Im Geiste schien sie ihre beliebte Wutpeitsche aufzunehmen, um nun auf alles, was männlich war, draufzuschlagen. Ja auch das war Doro!

„… er sagte“, fuhr sie schließlich zähneknirschend fort, „dass ich mein Single-Leben so weiterführen könne wie bisher. Er wäre ja ein moderner Mann, ein Befürworter der offenen Ehe – was auch immer er darunter versteht. Breitgrinsend fügte er noch an, dass mein Name von Sickingen“ und um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen klopfte sie mit dem Zeigefinger mehrmals auf ihre Brust, „mein Name … tzzz … ich kann‘s immer noch nicht glauben, eine Zierde auf seiner Visitenkarte wäre! Kannst du dir das vorstellen?“, empörte sie sich lautstark. „Anschließend sprach dieser Mistkerl laut und deutlich seinen Vornamen inklusive meines Nachnamens Heinrich-Diether von Sickingen aus. Ich dachte jetzt, jetzt ist er völlig übergeschnappt … grrr dieser blasierte, aufgeblähte Gockel mit seinem übersteigerten Selbstbewusstsein, dieser Möchtegern-Von-Adel-Sein … grrr“, ihre überschüssige Wut trieb sie sogleich vom Stuhl hoch und im Laufschritt um den Tisch, wobei sie adelsunfeine Flüche in den Bart knurrte. So schnell wie sie aufgestanden war, saß sie auch wieder am Tisch und erzählte, das für sie Unfassbare, weiter: „nun und als krönenden Abschluss setzte er noch einen drauf. Lapidar meinte er, dass mein Name von Sickingen geradezu prädestiniert wäre um Werbung für seine Sportfilialen zu betreiben … Naja“, sagte sie achselzuckend, „mein Traumgebilde von Hochzeit und dem ganzen Gedöns ... bla, bla … brach dann lautlos in sich zusammen.“

Charlotte legte tröstend die Hand auf ihren Arm. „Das tut mir sehr, sehr leid für dich!“ – Nun, was sollte sie auch sonst sagen.

Beide erhoben gleichzeitig ihre Gläser, nahmen einen kräftigen Schluck und spülten Diethers Unverfrorenheit mit einem Ruck herunter.

Erst nach einer ganzen Weile stieß Doro einen kleinen Seufzer des Bedauerns hervor und sagte: „Wo er doch ein so guter Liebhaber ist!“

Charlotte musste bei dieser Aussage laut auflachen und meinte augenzwinkernd: „Na, dann würde ich ihn ganz nach deinem Motto als Liebhaber behalten und sofort danach hinaus katapultieren“, daraufhin erhob sie ihr Glas und prostete ihr aufmunternd zu.

Entrüstung stand in Doros Gesicht. „Was hast du heute eingenommen? Diese lockeren Sprüche kommen dir doch sonst nicht über die Lippen?“

Achselzuckend antwortete sie: „Nun, ich habe Gustav die Kündigung ausgesprochen, und jetzt“ seufzte sie erleichtert „jetzt, fühle ich mich zum ersten Mal befreit. Zum Wohlsein!“ Anschließend kippte sie das edle Getränk in ihre Kehle.

„Wie geht das denn?“, wunderte sich Doro, „er ist doch tot!“

„Stimmt! Aber ich hatte mich noch nicht von ihm verabschiedet, im Geiste hielt ich ihn noch immer fest. Doch jetzt ist es vorbei. Er ist endlich über die Brücke ins Jenseits gezogen!“

Kopfschüttelnd, mit ungläubigem Blick entgegnete Doro: „Was du wieder redest! Gib‘s zu … du hast doch etwas eingeworfen.“

„Nein“, lächelte sie. „Die Erkenntnis ist mir gestern am späten Nachmittag auf dem Friedhof gekommen. Ausschlaggebend war eine alte Frau. Seit Gustavs Beerdigung beobachte ich sie und als ich ihr so nachsehe, wie sie, von der Last des Lebens niedergedrückt, zum Grab ihres Mannes geht, sehe ich mich, Jahre später, selbst in dieser Frau, und ganz plötzlich hat es bei mir klick gemacht!“

„Na, besser spät als nie!“ antwortete Doro wie aus der Pistole geschossen. „Sei froh, dass dieser Ehebrecher, dieser Dauerfremdgeher, der noch nicht einmal vor … ich meine, dass er endlich über die Brücke ist und dich dein Leben, leben lässt“, korrigierte sie noch schnell ihre Wortwahl – und beinahe hätte sie ihre beste Freundin auf eine Fährte gesetzt die fatale Folgen gehabt hätte.

Nach einem kurzen Nachsinnieren, fragte Charlotte schließlich: „Wie? Was soll das heißen? der noch nicht einmal vor … was willst du damit andeuten? Weißt du etwas, was ich nicht weiß … oder vielleicht wissen sollte?“

Verlegen wandte Doro ihren Blick hinaus zum Garten: „Du heiliges Kanonenrohr“, lenkte sie geschickt vom Thema ab, „was ist denn mit dem Buchsbaum passiert? Welcher Banause hat den so verstümmelt?“ Im nächsten Moment stand sie auf und ging über die Terrasse zu dem traurig aussehenden Gewächs hin.

Charlotte ließ vom Thema ab und folgte ihr. „Das? … Das war die Vertretung unseres alten Gärtners, er hatte wohl seine Schere nicht richtig im Griff. Tja auch die arme Frida war ganz entsetzt über die stümperhafte Arbeit“, seufzte sie. „Ich muss ihn anrufen, dass er den Buchsbaum wieder in seine ursprüngliche Form bringt.“

„Apropos, wie geht es Frida?“, fragte Doro mit besorgter Miene, „ich hab‘ sie seit Gustavs Beerdigung nicht mehr gesehen.“

„Die arme Frida“, antwortete Charlotte kopfschüttelnd, „ihre Krankheit wird von Tag zu Tag schlimmer. Einfach unvorstellbar! Noch vor einigen Wochen war sie mit dem Auto unterwegs, und eines Tages, ja, da fand sie den Weg nicht mehr zurück. Sie muss Stunden orientierungslos umhergefahren sein. Schließlich hatte sie ein Passant weinend im Wagen vorgefunden, die Polizei alarmiert und die, die hatte sie dann nach Hause gebracht. Nicht auszumalen was alles hätte passieren können.“

„Meine Güte“, sagte Doro zutiefst gerührt, „das ist ganz schön brutal.“

„Und wie! Es ist, als ob eine Gehirnkammer nach der anderen sich schließt. Ihre geistige Klarheit, auch ihre Sprache haben … hm … wie soll ich’s formulieren? … sie haben Löcher bekommen. Ja, so könnte man es ausdrücken.“ Nachdenklich fügte sie bitterlächelnd an, „doch dann gibt es noch diese hilflose, ja unschuldige Seite an ihr, eine Seite die man nicht übersehen kann. Verstehst du was ich meine?“

Mit zusammengezogenen Augenbrauen nickte Doro, „ja ich denke schon.“

Eine Weile standen sie sprachlos einander gegenüber, um dieser scheußlichen Krankheit – die jeden treffen konnte – Gelegenheit zu geben sich zu verflüchtigen.

„Naja“, seufzte Charlotte, „in bestimmten Situationen denke ich, dass es vielleicht besser wäre, wenn …“ nein, sie konnte das Wort Pflegeheim nicht aussprechen, es wollte einfach nicht über ihre Lippen kommen.

„Du meinst, dass du Gustavs Wille doch nachkommen solltest!“

„Ja und nein“, druckste sie, „doch so lange Lilo, die gute Seele, sich so rührend um sie kümmert, bleibt Frida hier, hier in ihrer vertrauten Umgebung. Und überhaupt, schließlich habe ich ihr viel zu verdanken. Ich würde es als Verrat an ihr ansehen. Sie war mir immer eine führsorgliche Schwiegermutter, mehr noch, sie war mir eine gute Freundin, die mir in all den Jahren, mit Rat und Tat zur Seite stand, sie war mir eine große Stütze, gerade dann, wenn Gustav mal wieder einer seiner unsäglichen Affären hatte.“ Beschämt, auch unangenehm berührt von jenen Erinnerungen, senkte sie ihren Blick und ging zum Tisch zurück.

„Stütze!“, eschauffierte sich Doro lautstark, „also ich hör‘ wohl nicht richtig“, sie folgte ihr auf dem Fuße, wobei sie im Geiste wieder ihre beliebte Wutpeitsche fest umschlossen hielt. „Bei allem Verständnis, meine Liebe, aber du solltest die Kirche im Dorf lassen. Tzzz … Stütze“, wiederholte sie kopfschüttelnd. Verärgert ließ sie sich auf den Gartenstuhl fallen, schnappte die Champagnerflasche beim Halse und kippte das edle Getränk in die Gläser. „In erster Linie meine liebe Charlotte war sie Gustavs Mutter und insofern nur um sein Wohl sowie seinen Seelenfrieden bemüht – glaub mir. Aber sag, warst du wirklich so naiv?“ schob sie aufgebracht hinterher.

Völlig perplex sah Charlotte zu ihr hin. „Was ist plötzlich wieder in dich gefahren? Ich wusste immer über seine diversen Frauengeschichten Bescheid“, verteidigte sie sich, „und wenn ich ihn hätte verlassen wollen, so hätte ich es getan ... Basta!“

„Nie im Leben hättest du das getan … Never!“, fügte Doro besserwisserisch an und streckte dabei ihr schmales, adeliges Näschen arrogant in die Höhe.

„Also ich bitte dich, Doro, nur weil du schlechte Erfahrungen mit den Herren der Schöpfung gemacht hast, brauchst du mich nicht anzupflaumen … Und erst recht nicht, lass‘ ich mir von dir, mein gerade erst aufgebautes Ego demontieren!“ – In solchen Situationen hasste sie Doro, hasste sie für ihre destruktive Art und Weise.

Für einen Augenblick saßen sie wie Katz‘ und Maus einander gegenüber. Jeder fand sich sowohl in der Position als Katze auf dem Sprung, als auch als schutzsuchendes Mäuschen in einer Ecke kauernd.

Dieser Zustand war, Gott lob, jedoch nur von kurzer Dauer.

Doro machte, ganz wie es ihrem Charakter entsprach, den ersten Versöhnungsschritt und sagte: „Ah, bevor ich es wieder vergesse, da fällt mir gerade ein, wenn du Lust hättest so könntest du, in meinem Auftrag, eine Immobilie in Südfrankreich besichtigen – ganz so wie früher“, sie zwinkerte ihr zu und meinte: „auf dein Augenmerk war schließlich immer Verlass.“

Charlotte war von dem Angebot so überrascht, dass sie vergessen hatte weiter sauer auf sie zu sein. Erstaunt hakte sie nach: „Wie jetzt? … Ist das dein Ernst?“

„Sehe ich so aus, als ob ich Scherze mache?“ Erleichtert, dass ihr Ablenkungsmanöver geglückt war, prostete Doro ihr zu. „Stößchen auf dein neues Leben. Dann werde ich dir in den nächsten Tagen eine Adresse zukommen lassen … Okay?“, fügte sie mit ihrem schönsten Augenaufschlag an.

Ja, auch so war Doro, mal beherrscht, mal exaltiert, doch immer wieder versöhnlich und wahrscheinlich hielt gerade deshalb ihre Freundschaft schon so lange.

Charlotte spürte eine leichte Beklemmung aufsteigen, die sogleich eine Maschinerie in ihrem Kopf in Gang setzte: Ich muss … ich sollte … ach … und könnte sie Lilo mit Frida wirklich alleine lassen? Was wäre wenn? Schließlich trägt sie die Verantwortung! – Nein! Kurzerhand stoppte sie diese Maschinerie die immer mehr Zweifel und Fragen zu produzieren schien, sie in einem rasanten Tempo wieder zurück in den Alltag, in das triste Allerlei zu schubsen drohte. Es ist dein Leben das vor dir liegt, vielleicht deine letzte Chance ermahnte sie schließlich ihr nüchterner Verstand also mache etwas draus! Dann wich die Beklemmung und sie jubelte laut: „Jaaa! … Ja ich werde es tun!“, und diesem Glücksgefühl folgte ein befreiendes Lachen.

„Na, das ist doch mal eine Ansage!“, antwortete Doro in Begleitung eines zufriedenen Seufzers, dann kann ich gleich Monsieur Renoir Bescheid geben, dass du kommst. Du musst wissen, dass Pierre, ich meine Monsieur Renoir, der Eigentümer des zu veräußernden Objektes ist, und ja, er ist ein wunderbarer Mensch“, schwärmte sie“, wobei in ihren Augen wieder dieses unmissverständliche Strahlen lag. „Ach, was rede ich, du wirst ihn kennenlernen und ihn mögen, davon bin ich felsenfest überzeugt!“

Ah sieh an, schoss es Charlotte durch den Kopf, verzichtete aber auf eine bissige Bemerkung.

Sie redeten, planten, tranken Champagner und alberten bis in die späten Nachmittagsstunden, wobei das brisante Thema Männer absichtlich nicht mehr aufgegriffen wurde. Mit einer herzlichen Umarmung sowie Doros Standardspruch: Und immer schön lächeln, dann wird dir die Welt zurücklächeln, gingen sie auseinander.

Nachdem Charlotte wieder alleine war, legte sie sich zufrieden im Gartenstuhl zurück, lächelte und dachte über Doros Spruch nach. Sie lächelte aber auch deshalb, weil eine neue Welt für sie ihre Pforten geöffnet hatte. „Ja, Welt ich komme“, sagte sie laut und in diesem Moment hätte sie Luftsprünge machen können und sie war mutig genug um erste fantastische Gespinste um ihr neues ich zu weben: Vor ihrem geistigen Auge sieht sie sich als Immobilienmaklerin durch ferne Länder reisen, sieht sich durch traumhafte Villen schreiten und mit den interessantesten Menschen plaudern. Jetzt hielt sie nichts mehr auf dem Stuhl, von ihren Gespinsten aufgejagt lief sie auf der Terrasse auf und ab, sie war so sehr mit ihren neuen Lebensplänen beschäftigt, dass alles um sie herum gar nicht mehr existent war.

Doch irgendwann mischte sich ein heftiges Wortgefecht mitten in ihre zurechtgesponnene bunte Traumwelt. Sie hörte Frida und Lilo lautstark diskutieren. Frida widersprach trotzig und zum wiederholten Male Lilos Anweisungen, auch wenn Charlotte nicht verstand um was es ging, so war die Modulation in ihren Stimmen schon hinweisführend. Plötzlich hörte sie wie Porzellan zerschlagen wurde, es folgte ein kurzer Aufschrei von Lilo, dann schepperte es erneut. Charlotte lief sofort dem Scherbengeräusch nach. Frida stand wie paralysiert vor den Scherben zweier sündhaft-teuren chinesischen Bodenvasen.

Lilo hielt vor Schreck, um nicht nochmals aufzuschreien, die Hand vor den Mund. „Frau Frida!“, drang es schließlich ganz entsetzt aus ihr heraus, „oh mein Gott … ein Vermögen liegt auf dem Boden!“

Charlottes Blick fiel zuerst auf die Porzellanteile, die über dem Boden zerstreut lagen, dann zu Lilo und zu guter Letzt zu Frida die völlig hilflos, wie ein verstörtes Kind, vor den Trümmern stand und offenbar gar nicht begriff was überhaupt geschehen war.

Für einen Moment stockte Charlotte der Atem und innerhalb von nur wenigen Sekunden lösten sich ihre bunten Träume auf, die Pforte zu ihrer neuen Welt rückte in die Unerreichbarkeit und gemäß dieser Erkenntnis sank sie innerlich zusammen.

Lilo hatte zuerst wieder die Kontrolle über die Situation. „Frau Frida, nicht traurig sein, das waren doch nur dumme Vasen in denen niemals Blumen standen.“

„Niemals?“ brüskierte sich Frida, sogleich hielt sie suchend Ausschau und rief: „Wo ist Gustav? Er … er soll das wegmachen“, wobei sie eine entsprechende Geste mit den Händen machte.

Charlotte und Lilo tauschten für einige Sekunden stumme und fragende Blicke.

Schließlich hakte sich Lilo bei Frida unter und sagte sie tröstend: „Wir beide gehen jetzt in die Küche, trinken Tee und essen dazu leckere Kekse.“

Frida gehorchte.

Charlotte ging in die Hocke, betrachtet den Scherbenhaufen, dachte an Fridas geistigen Zerfall und sieht ihre neuen Lebenspläne zwischen den filigranen Porzellanteilen langsam entschwinden. Sie wollte doch immer für sie da sein, fuhr ein schmerzlicher Gedanke durch sie hindurch, und jetzt, wo sie auf ihre Hilfe angewiesen war, konnte sie doch nicht so egoistisch sein und verreisen. Behutsam hob sie einige der Scherben auf, drehte sie nachdenklich in ihren Händen und legte sie dann vorsichtig wieder zurück. Vielleicht könnte ein Experte sie zusammenkleben? Doch dann bemerkte sie wie klein und in sich zersplittert die Teile waren. Nein, die Vasen waren rettungslos verloren! – Wie dein Leben, ermahnte sie eine innere Stimme, wenn du jetzt nicht endlich deinen eigenen Weg gehst, wird es für immer zu spät sein! Eine Prozession missvergnügter Gedanken setzte sich langsam in Bewegung und drohte sie niederzudrücken. Im nächsten Moment gingen ihr Lilos Worte durch den Kopf. Wie Recht sie doch hat, dachte sie kopfschüttelnd, es waren doch nur dumme Vasen! „Ja, und für mich“, murmelte sie, „für mich keinen Grund meine zurechtgeträumten Pläne wieder zu verwerfen.“ Kurzerhand schob sie ihre zermürbenden Gedanken zur Seite, nahm Besen und Schaufel und fegte die restlichen Scherben zusammen.

BonJour Liebes Leben ...

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