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EIN GEHEIMNIS BIOGRAFISCHER VERSTRICKUNGEN
ОглавлениеSie war eine schöne Frau. Eine elegante Frau.
Paula bewunderte sie.
Brünetter Typ. Mitte fünfzig. Kinderlos.
Schmales, ebenmäßiges Gesicht, schlanke Figur.
Kurzer Haarschnitt, pfiffig, stoppelig, unsymmetrisch – ganz, wie es zurzeit in Mode war.
Man traf sie auf Vernissagen und in Konzerten, auf Dichterlesungen und auf anderen kulturellen Ereignissen mit ihrem Ehemann. Immer trug sie einen breitrandigen Hut. Es schien, als habe sie eine ganze Sammlung davon. Mit den Hüten, die sie trug, hatte sie etwas Großstädtisches an sich.
Ein Flair aus Paris, London oder Berlin, Zwanzigerjahre, wehte einem entgegen. Charlotte B. fiel jedenfalls in der Runde auf, in der sie sich bewegte.
Kleinstadt, eher Flecken, kaum auf der Landkarte erwähnt. Doch die Kultur der nahen Universitätsstadt zog ihre Kreise längst schon in dieser Region.
Deshalb auch wieder nicht so außergewöhnlich, das Kulturleben.
Sie habe ihren Vater früh verloren, sagte sie einmal.
Im Kulturkreis bereitete man sich gerade auf eine Ausstellung „Deutsche Klassik“ vor. Ein Plakat sollte gedruckt werden. Man beschäftigte sich mit Goethe und dem Lied Mignons, das mit den Zeilen beginnt: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh‘n, im dunklen Laub, die Goldorangen glüh’n.“
Sie habe ihren Vater früh verloren, wiederholte sie – und deshalb stimme der Text sie melancholisch.
Sie sprach von der Sehnsucht nach Wärme und dem Süden und sie murmelte die letzten Verse jeder Strophe vor sich hin. Sie verstehe den Text besonders gut und er tröste sie.
Man wunderte sich sowohl über die Rollenvermischung im Liedtext, der zwischen Geliebtem, Beschützer und Vater nicht zu unterscheiden schien, als auch über Charlotte B, die sich mit außergewöhnlicher Inbrunst äußerte. Das war man von ihr nicht gewohnt. Es klang nach schmerzlicher Vatersehnsucht und verletzter Liebe. Man war etwas peinlich berührt.
Charlotte sagte, den frühen Vaterverlust habe sie immer noch nicht verwunden. Sie meinte, die eigene Biografie verbinde sich immer mit der Liebe, ob man wolle, oder nicht. Die Liebe sei ein Geheimnis biografischer Verstrickungen.
Draußen wartete ihr Ehemann.
Die Abenddämmerung zog herein. Die Versammlung ging dem Ende zu.
Charlotte B. stülpte sich einen breitrandigen Hut auf. War er blau, war er rot? Paula weiß es nicht mehr.
Charlotte eilte raschen Schrittes nach draußen, als würde das ersehnte Italien mit dem Glühen der Goldorangen auf sie warten.
Ihr Mann, Professor der nahen Universitätsstadt, von angenehmer Gestalt, groß und schlank, graue Schläfen, grüßte Paula und die anderen Anwesenden freundlich und fasste dann seine Frau sanft unter dem Arm. Dann gingen sie davon, traten den Heimweg in die beginnende Dunkelheit an, während die Anderen nachdenklich in alle Himmelsrichtungen davonstrebten.
Man kann nicht sagen, dass Charlotte abgöttisch an ihrem Ehemann hing. Nein, sie war durchaus emanzipiert. Suchte den Kontakt mit der Gesellschaft, setzte sich für die Kunst ein, sammelte Bilder bekannter und unbekannter Künstler. Ihr großes Haus, am Hang gelegen mit weitem Blick über das Tal, war voll davon. Doch, wo sie auch auftauchte, sie ließ sich nach Möglichkeit von ihm, ihrem Ehemann, begleiten. Er war ihr Schatten.
Nur in den letzten Wochen des endenden Jahres war er nicht mehr zu sehen. Sie kam, übel gelaunt oder nervös gestimmt, allein zu den Treffen.
In dieser Zeit verlor sie eines Tages in der Versammlung des Kunstforums die Beherrschung, die Contenance, wie man zu sagen pflegte. Es kam aus heiterem Himmel. Ein allgemeiner Streit war entstanden, eine heftige Diskussion, die mit einem Zornesausbruch ihrerseits endete. Sie glich plötzlich einem bis dahin ruhigen Vulkan, der unvorbereitet Feuer spie und Lava in seine Umgebung ergoss.
Aber es kam noch mehr zum Ausdruck. Ein innerer Zusammenbruch deutete sich an. Sie war in einem Spannungszustand, der für alle Anwesenden nicht zu übersehen war. „Die kleinbürgerliche und engstirnige Diskussion, die Ignoranz und Begrenztheit der hier Versammelten habe den Punkt der Unerträglichkeit erreicht“, stieß sie mit bleichen Lippen hervor. Schweißperlen traten auf ihre Stirn und Tränen der Wut in ihre Augen. Mit mühsamer Beherrschung verließ sie den Raum.
Sie kehrte jedoch noch einmal zu der nun stillgewordenen Versammlung zurück, um ihren Hut zu holen, den sie vergessen hatte. Diesmal war es ein weinroter Hut, denn Paula erinnerte sich noch genau an die Szene und hatte das Bild lebhaft vor Augen. Sie setzte den Hut auf ihr zorniges Haupt.
Breitrandig loderte er um ihr fahles Gesicht. Sie sprach kein Wort mehr und verschwand, währenddessen jemand in der Versammlung laut und schrill zu lachen begann, und alle irgendwann aus Hilflosigkeit einstimmten.
Der Hut war es, weshalb gelacht wurde. Hauptsächlich war es der Hut gewesen, der das Lachen hervorgerufen hatte und der die brüske Verabschiedung mit einem ironischen Rascheln seiner Federn begleitete.
„Ja, vergessen Sie den Hut nicht!“ hatte noch jemand in die Stille gerufen. Dann wurde Charlotte lange nicht mehr wiedergesehen. Sie verschwand förmlich aus den Augen der Kleinstadt. Man hörte vages Gemunkel. Genaueres kam Paula aber nicht zu Ohren. Sie hatte Besseres vor, als sich um Ratsch und Tratsch zu kümmern. Hatte mit ihrem eigenen Leben genug zu tun.
Ungefähr ein Jahr sollte es dauern, bis Paula sie wieder traf auf einer der engen Gassen hinter dem Marktplatz, welche sie aus Gründen der Abkürzung häufig ging. Es war wieder in den Abendstunden.
Paula erkannte sie zunächst nicht. Sie sah völlig verändert aus. Erschrocken blieb Paula stehen und blickte ihr nach, während Charlotte B., ohne ihre Augen zu heben, an ihr vorbei in entgegengesetzter Richtung verschwand. Paula konnte die drastische Veränderung kaum fassen. Sie erschien ihr wie eine andere, völlig fremde Person.
Hatte Paula sich getäuscht?
Gebannt hatte Paula noch lange hinter Charlotte hergeschaut. Ihr dunkles Haar war ergraut und hing in Strähnen um ihr Gesicht, ihr Körper war dicklich geworden und in grobe und sackähnliche Kleidung gehüllt. Paula lauschte ihren schweren Schritten mit den plumpen Schnürschuhen hinterher.
Wo waren die krokodilledernen Stöckelschuhe oder Lackschuhe geblieben, die Paula immer an ihr bewundert hatte? Wo war der grazile Gang? Noch nie hatte Paula eine solch abrupte Veränderung an einem Menschen wahrgenommen.
Der Verlust jeglicher Eleganz, die Paula früher an ihr so bewundert hatte, die plötzliche Unförmigkeit ihres ehemals schlanken Körpers, die nach außen sichtbare Wesensveränderung eines hoch ästhetischen Menschen in eine grobe und derbe Gestalt hatten Paula verwirrt.
Sie war langsam in der Dämmerung nach Hause gegangen. Der Schreck saß ihr noch in den Knochen. Der Eindruck von Tragik und von selbstzerstörerischem Trotz ließ Paula nicht los. Sie trank einen Cognac und noch einen zweiten und grübelte darüber nach, was die Ursache für diese Verwandlung gewesen sein konnte.
Sie rief eine Freundin an. Sie kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass es auf keinen Fall die Abschiedsszene im Kunstverein oder das Lachen wegen des Hutes gewesen sein konnten. Es musste andere, noch tiefer liegende Gründe geben.
War sie erkrankt?
Nahm sie starke Medikamente?
Trank sie Alkohol? Hatte sie einen Klinikaufenthalt hinter sich? Eine psychische Krise? Und wo war ihr Ehemann? Man sah ihn nicht mehr.
Umso häufiger begegnete Paula jetzt Charlotte wieder auf den Straßen und jedes Mal erschrak Paula über die immer gleichbleibende Veränderung: in Säcke gehüllt, das Haupt grau wie mit Asche bedeckt, in alter und abgetragener Kleidung, die aus den Sechziger- und Siebzigerjahren stammen musste stapfte sie durch den Ort.
Sie ging jedes Mal mit gesenktem Blick ihren Weg.
Manchmal nur sah sie kurz auf, um notdürftig zu grüßen. Aber ihre Augen fixierten unverzüglich Sekunden später wieder den Straßenboden, dass Paula nicht wagte, sie anzusprechen.
So war das nun eine geraume Zeit: Paula sah sie, erschrak, murmelte einen Gruß, wartete, ob sie kurz stehen blieb, ja lauerte darauf, bedauerte, dass sich keine Gelegenheit des Gesprächs ergab, grübelte ihr nach und vergaß sie wieder – bis zur nächsten Begegnung. Den Ehemann sah man gar nicht mehr. Er blieb verschwunden.
Nun gingen auch die Gerüchte im Ort umher, brodelten und kochten über. Sie habe ihren Mann in einem lauten und wilden Anfall der Verzweiflung aus dem Haus geworfen.
Das Haus gehöre ihr allein.
Erbe ihrer reichen Familie.
Hinter ihren Türen verwalte sie weiter ihre wertvollsten Kunstschätze und Sammlungen.
Sie habe ihn samt seinen Koffern und der Aktentasche vor die Tür gesetzt, ausgesperrt, ihm bei Nacht und Nebel die Kleidung aus dem Fenster nachgeworfen: Anzüge, Hemden, Schuhe und Socken. Er solle nie mehr das Haus betreten.
Er habe frierend bei sternklarem Himmel vor der Tür gestanden und sie um Einlass gebeten, dann seine restlichen Sachen soweit als möglich in die Koffer verstaut, sei eine knappe Stunde später in ein Taxi gestiegen und nie mehr im Ort gesehen worden. Lebe jetzt wahrscheinlich in der Toskana oder in Sizilien oder auf Gran Canaria, vermutete man. Mit einer Geliebten, einer jungen Studentin von vierundzwanzig Jahren.
Von dem heimlichen Skandal, der erst spät ans Licht getreten war, vor allem, wie er sich zugetragen hatte, erzählte man lange hinter vorgehaltener Hand.
Paula war in dieser Zeit zu sehr beschäftigt gewesen, sodass es dauerte, bis ihr die Geschichte zu Ohren kam.
Ja, ihr Mann beabsichtige mittlerweile, sich wieder neu zu binden, erzählte ein Bekannter im Ort, mit dem er hin und wieder telefonierte, um letzte Formalitäten zu erledigen.
Solche Gespräche gingen um, besonders, weil die Beiden zuvor als leuchtendes Beispiel der Liebe galten. Man bedauerte Charlotte. Man sah, dass sie nicht mehr auf die Beine kam. Immer noch war sie am Boden zerstört.
Sie ließ keine hilfreichen Hände oder tröstenden Worte an sich heran. Sie verwehrte das ihr entgegen gebrachte Mitgefühl. Sie umging jede Konversation. Sie besuchte weder den Kulturkreis im Ort, noch nahm sie an anderen öffentlichen Ereignissen teil. Doch es umgab sie so etwas wie eine Aura ergreifender Größe und Wahrhaftigkeit. Ihr Äußeres offenbarte ihren inneren Zustand. Sie verbarg ihn nicht. Dies blieb über längere Zeit bestehen und veränderte sich nicht – bis zu jenem klassischen Konzert, das unter Organisation und Beteiligung des Kunstforums aufgeführt wurde.
Man hatte den Liederzyklus von Schumann eingeübt, einen bekannten Pianisten und eine junge Sopranistin engagiert sowie eine Auswahl getroffen.
Dazu gehörte unter anderem das Lied „MIGNON“, das Charlotte damals in einen Zustand von Ergriffenheit versetzt hatte und nun Paula mit ihrer schönen Altstimme singen sollte.
Die Musiker, eingeschlossen Paula, gaben bei dem Konzert ihr Bestes und erhielten entsprechend begeistert Beifall, bevor sie sich mit Blumensträußen in die Garderobe zurückzogen. Dort wartete Charlotte. Vor allem wartete sie auf Paula.
Schwerfällig und steif ließ sie sich in dem Sessel nieder, den man ihr anbot. Einen Augenblick saß sie schweigend dort, bis ihr ein leises, gebrochenes Dankeschön über die Lippen kam.
Sie bedankte sich für das wiederentdeckte Glück, das Geschenk des Abends. Das Konzert habe es ihr ermöglicht, wieder in eine schönere Welt zurückzukehren Eine innere Veränderung sei eingetreten. Sie wisse noch nichts Genaues damit anzufangen. Aber vielleicht bewirke der Abend ein Wunder. Vielleicht wolle sie es noch mal mit dem Leben versuchen.
Sie habe heute erst gemerkt, welche Kräfte in ihr schlummerten und dass sie sich von der maßlosen Enttäuschung, die ihr widerfahren sei, jetzt würde verabschieden können. Die Worte kamen noch mühsam über ihre Lippen, ungewohnt.
Paula umarmte sie herzlich und lud sie zu einem Besuch ein. Sie kam wirklich. Von da an erzählte sie. Sie vertraute sich wieder an. Von da an begann auch ihre Freundschaft.
***
Es hatte in ihrer Ehe wohl schleichend begonnen.
Sie spürte es, wie man eine Wetteränderung wahrnimmt: bevor der Föhn einsetzt und die Kopfschmerzen beginnen. Oder wenn ein Orkan sich ankündigt und Gliederreißen auslöst, oder der Herzrhythmus aus dem Takt gerät. Sie spürte eine Veränderung bei sich und ihrem Mann, schon bevor seine Offenbarung ihrer langjährigen und bewährten Beziehung ein Ende setzte. Ein abruptes Ende, kann man wohl sagen.
Das Geständnis fand in einer kalten Winternacht statt, nachdem sie wie üblich gemeinsam ihren Rotwein getrunken hatten. Sie wusste nur, dass sie langsam aufgestanden und bis in die Mitte des Zimmers gegangen war. Dort blieb sie stehen.
Versteinert. Gebannt an diese eine Stelle: diese braune Steinfliese, quadratisch, vierzig mal vierzig Zentimeter groß. Dort muss sie längere Zeit gestanden haben.
Inmitten des großen Raumes, umgeben von kostbaren Teppichen und der noch kostbareren Gemäldesammlung war sie minutenlang zur Salzsäule erstarrt wie Lots Frau im Alten Testament, die verbotenerweise in die Ereignisse des Schreckens zurückblickte.
Zunächst verstand sie nicht.
In ihren Ohren war ein Dröhnen und Rauschen.
Die Erde schwankte, als stürzten jeden Moment die Tempel und Kathedralen sowie die Mauern ihres Hauses ein. Eine Katastrophe war hereingebrochen, so viel hatte sie begriffen.
Sie war am Rande des Untergangs. Es würde ums Überleben gehen. Sie schleppte sich einige Schritte weiter und klammerte sich an die Lehne des dort stehenden schweren Eichenstuhls.
Sie starrte aus der großen Glasfront ihres Hauses.
Gemeinsam gebaut. Keine Bedeutung mehr. Unterhalb die Ortschaft in der Dunkelheit. Kein Stern war zu sehen. Es kam die schwarze Nacht. Sie löste sich mühsam, fast mechanisch. Dann ging sie wie von unsichtbarer Regie geführt blicklos an ihm vorbei. Ihre Schritte klangen laut und hart auf den Stufen nach unten. Er kam hinter ihr her, wollte sie besänftigen.
In dieser Nacht hatte sie ihm Koffer und Aktentasche vor die Tür gestellt. „Reise ab. Sofort. Heute Abend noch“, hatte sie fast tonlos gesagt.
Wie leblos schritt sie ins Haus zurück und schloss mehrfach hinter sich ab, während er nur leicht bekleidet mit ungläubigem Staunen draußen bei den Koffern stand und später in der Dunkelheit mit einem vorfahrenden Taxi verschwand. So muss es jedenfalls abgelaufen sein. Sie sah ihn nicht wieder.
Sie hatte sich in ihr Studio zurückgezogen und darauf, dass die Zeit verging. Doch die Zeit verging nicht. Katastrophen kennen keine Zeit. Sie rechnen anders.
Äußerlich war sie verstummt. Innerlich tobte die Verzweiflung in ihr, die Scham über die Selbsttäuschung, der Schmerz über die Demütigung, die Hoffnungslosigkeit. Es war ihr, als verliere sie ihr Leben und als warte in der Ecke nur der Tod. Es war, als würde ihr Mann, ihr Beschützer, ihr Gefährte, der langjährige Vertraute all ihre Lebendigkeit mit sich nehmen und als könne sie nicht leben ohne ihn und mit ihm auch nicht mehr. „Das ist das Ende“, sprach sie.
Das Haus war leer und still geworden. Wenn sie früher alleine gewesen war, spürte sie die Leere nicht, denn sie war immer innerlich zu zweit. Ihr Mann würde bald kommen, oder am Abend kommen, oder in zwei Tagen, oder in einer Woche.
Das Haus sprach mit ihr, die Bilder sprachen mit ihr. Die Stadt sprach mit ihr und sie mit der Stadt.
Sie war ausgefüllt gewesen.
Die Ergänzungen in einem Eheleben,
die Ansprüche aneinander,
Hoffnungen, Wünsche,
die Selbsttäuschung,
die Bedürftigkeit.
War sie nur ausgefüllt gewesen durch ihn?
Wer war sie?
Sie spürte in sich nur das Nichts und die gähnende Leere. Sie flüchtete nach draußen. Sie ging durch die Stadt und kam sich fremd vor. Hier lebte sie doch schon lange. Hier hatte sie sich einen Bekanntheitsgrad geschaffen. Hier war sie im kulturellen Leben anerkannt. Es hatte ihr immer genügt.
Sie war eitel gewesen.
Sie wusste, wie stolz er auf ihre Schönheit war.
Sie spürte den eleganten Hut auf ihrem Haupt und die Krempe, die ihre Wange streifte. Sie war etwas Besonderes hier durch ihren Hut. Mal in Blau, mal in Gelb, mal mit Feder, mit Schleier, ohne Schleier.
Doch irgendwie war alles schal geworden.
„Oberflächlich“, entschied sie für sich.
Das waren ihre Beziehungen.
Sie hatte mehr gewollt. Sie hatte einmal das Schicksal bezwingen wollen. Sie hatte alles von ihm verlangt und war doch nur eine bürgerliche Existenz eingegangen. Kleinbürgerlich fast.
Sie hatte versagt. Sie hatte sich verraten. Sie hatte um ein Glück gebuhlt, das sie abhängig machte. Sie hatte ihr Leben an ein anderes gefesselt.
Doch sie war es immer noch, sie, Charlotte B., ihr Blut floss in ihr weiter und es floss nicht von selbst.
Wo war das Herz, dass das Blut immer noch durch ihren Körper pumpte, das ihre erstarrten Hände wärmte? Sie musste angekoppelt sein an einen anderen Kreislauf, denn sie fühlte nur einen Stein, wo sonst das Herz schlug. Starthilfe, tägliche, brauchte sie sozusagen. Eine Nabelschnur, die sie ernährte. Sie hatte sich zu sehr gewöhnt an die tägliche Gemeinsamkeit, an das Schlafen miteinander, an die Nächte Haut an Haut, an die Tage mit den ineinander verwobenen Seelen.
Sie brauchte die Hand, die ihr fürsorglich unter den Arm griff, die Geborgenheit, den Beschützer. Hatte sie den Geliebten mit dem Beschützer und dem Vater verwechselt? Sie nahm Goethes „Wilhelm Meister“ hervor und las das Lied der Mignon, noch einmal und noch einmal, und die Schönheit seiner Sprache wurde ihr bewusst und tröstete sie. Sterben an gebrochenem Herzen?
Sie wollte leben, aber wozu?
Sie lief in den Wald hinter dem Haus und irrte dort ziellos herum. Manchmal auch nachts. Stundenlang lief sie die alten Wege.
Manchmal erkannte sie nicht mehr, wo sie sich befand. Doch irgendwie kehrte sie immer zum Ausgangspunkt zurück: am Holzhaus mit den roten Fensterläden vorbei, das seit Neuestem einem ihr unbekannten Maler gehörte, der im Rollstuhl saß, an der weißen, hinter Bäumen versteckten Villa, die einer Fabrikantenfamilie aus der Hauptstadt gehörte und nur selten bewohnt war, bis hin zu ihrem Zuhause am Rande des Waldes, mit der Glasfront zum Tal, dessen Eingang auf vier gelben Säulen stand, ein modern anmutendes, helles, freundliches Gebäude mit wildem Garten und exotischen Gewächsen umgeben. Es war einmal ihr Zuhause gewesen. Jetzt war es nur noch irgendein Haus.
Sie dachte an nichts.
Sie ging nicht ans Telefon.
Sie rief niemanden an.
Was sie aß und trank, wusste sie nicht.
Die Post sammelte sich auf der Truhe. Die Haushaltshilfe, die einmal wöchentlich kam, bestellte sie ab. Das Haus begann zu verwildern.
Sie lebte von den Vorräten, bis sie verbraucht waren. Sie duschte und wusch sich die Haare nur noch sporadisch. Sie stand manchmal vor dem Schrank mit ihren Hüten und erschrak. Das war einmal sie selbst gewesen?
Sie nahm das Geschmeide in die Hand, die Ringe und Perlenketten, und ließ sie wieder in die samtene Box gleiten. Alles dies brauchte sie nicht mehr.
Diese Zeit war vorbei.
Irgendwann war Charlotte ergraut. Fixiert auf den Schmerz der Trennung, hätte der Tod selbst, der Menschen auseinanderreißt, nicht schlimmer sein können. Ja, seinen Tod hätte sie ertragen, aber dass sie ihn an eine andere Frau verloren hatte, das war der Grund der Verzweiflung. Sie sehnte sich nach Liebe, mehr denn je, und gerade sie wurde ihr plötzlich versagt. Sie würde ihr auch den Rest des Lebens versagt bleiben: Niemals würde es werden wie zuvor, niemanden würde sie jemals wieder lieben, es war aus mit der Liebe. So dachte sie. So fühlte sie. Das war ihre Trauer. Der Mensch kann ohne Liebe nicht hoffen. So wusste sie nicht, wie es mit ihr weitergehen sollte.
Bei den Gemälden blieb sie ab und zu stehen.
Die Farben und Formen drangen für einen Moment in ihr Inneres. Dann wanderte sie wieder weiter durch das Haus oder durch Feld und Wald, und sie spürte nichts als Unglück, während ihre Beine schwer wurden und schleppend. Zwischenzeitlich saß sie im Lehnstuhl ihres Studios.
Sie starrte auf den Ort, in dem die Menschen sie zu vermissen begannen und sich Sorgen um sie machten. Das Gerücht um die Trennung von ihrem Mann hatte längst Kreise gezogen.
Charlotte aber verharrte lange in der Trauer. Zu lange, wie sie später meinte. Trotzdem begann eine allmähliche Veränderung.
Nach Monaten, in denen sie abgemagert war, begann es ihr wieder zu schmecken, und sie bestellte sich erstmals Delikatessen, die sie mit einem Glas Wein am Abend alleine genoss. Aus dem Glas Wein wurde mit der Zeit manchmal auch eine ganze Flasche oder mehr. Doch es war trotzdem der erste Weg zu sich selbst: sie begann, die Abende unabhängig zu genießen, für sich alleine. Auch, wenn sie das rechte Maß verlor.
Sie bestellte den Friseur und ließ sich die Haare so kurz abschneiden, dass sie aussah wie eine buddhistische Nonne. Den Sinn des Lebens aber suchte sie nicht.
Sie begann auch wieder, wie früher in ihrer Jugend, rauschhaft Bücher zu verschlingen. Sie ließ sich dicke Romane aus der Buchhandlung kommen. Sie entdeckte die letzten Neuerscheinungen und las sich in fremde Kulturen und fremde Biographien ein, wie sie es noch nie zuvor getan hatte. Die Welt wurde plötzlich ein weiter Raum. Sie mied aber nach wie vor die Gesellschaft ihrer Mitmenschen und erledigte nur widerwillig die anfallende Post.
Die Scheidung war eingereicht worden. Alles ging seinen Weg. Das Trennungsjahr war längst abgelaufen, als die Formalitäten ohne ihre Anwesenheit durchgeführt wurden. Die Vermögenslage war geklärt, also konnte sie tun und lassen, was sie wollte.
***
Anfang Mai hatte er das erste Mal an ihrer Tür geklingelt. Sie hatte gezögert, ob sie öffnen solle.
Aber sie sah ihn aus ihrem Fenster mit seinem Rollstuhl dort unten vor der Haustür. Er erschien ihr erbärmlicher und hilfloser als sie selbst. Doch sie sollte sich täuschen.
Sie öffnete. Er lud sie ein. Er sähe sie häufig an seinem Haus vorbei gehen und er würde sich sehr freuen, wenn sie bei Gelegenheit mit ihm Kaffee trinken würde.
Zu dieser Zeit hatte sie schon mächtig an Gewicht zugenommen. Ihre Haare waren kurz geschoren, ihre Hüte der Reihe nach, bis auf einen einzigen, vernichtet, ihre Ringe und Perlenketten dem Juwelier überlassen, und sie frönte ihren neuen Leidenschaften, dem Lesen und den Delikatessen.
Sie zögerte. Sie war es nicht mehr gewöhnt, mit jemandem persönliche Worte auszutauschen, und sie bestand einen leisen, inneren Kampf, bis sie sich entschließen konnte. Sie sagte schließlich zu, sagte wieder ab, sagte wieder zu, bis sie dann doch eines Tages an seinem Tisch saß und mit ihm Kaffee trank. Es war mittlerweile wieder August geworden.
Er hatte Pflaumenkuchen gebacken, und sie wunderte sich, wie er im Rollstuhl sitzend so vieles bewältigen konnte, was ihr selbst nicht gelang. Sie schwieg hartnäckig und antwortete nur einsilbig auf seine Fragen.
Sie tranken den heißen Kaffee auf der Terrasse.
Diese war mit Hecken und Weinlaub zugewachsen.
Man sah sie von der Straße nicht.
Das beruhigte sie.
Sie aß von dem Pflaumenkuchen zwei Stück und sah sich in seiner Wohnung um: alles weitläufig und viel Platz. Er konnte sich überallhin bewegen. In einer Ecke ein altes Klavier. Bilder im Raum verteilt. Sie glühten in Farben und reflektierten das Licht. Sie konnte sie nicht direkt ansehen, so sehr blendeten sie ihre Augen. Das Atelier?
Sie wollte es nicht sehen.
Bücher. In den Regalen viele Bücher.
Das kam ihr im Augenblick vertrauter vor.
Und auch ein Gemälde an der Wand! Hieroglyphengleich waren Farben und Zeichen darauf verteilt. Man musste seine Geheimschrift entziffern. Sie griff fast wahllos eines der Bücher, stellte es wieder in das Regal, suchte weiter. Er reichte ihr einen dünnen Band, den sie nach Hause trug mit dem Titel: “Glut“
„Warum diesen Band?“, dachte sie. Die Glut ist in mir erloschen. Bedauerlich. Sie fühlte sich für einen Moment wieder kalt und leer.
Sie las, brachte das Buch zurück, trank wieder Kaffee bei ihm, las ein neues Buch, das er für sie bereitgelegt hatte, brachte es wieder zurück, bis sie eines Abends zusammenblieben und gemeinsam Wein tranken. An diesem Abend rollte er seinen Rollstuhl zum Klavier und begann zu spielen, eine Gefahr, die sie witterte, die sie aber ausblendete.
Doch sie spürte, das hier war ihre Welt.
Die Bücher, die Musik, die Bilder, die Farben, die Formen, das Licht. Das Glück war zurückgekommen. Was im Einzelnen passiert war, konnte niemand sagen. Charlotte B. erschien nach einer längeren Pause wieder im Ort, schön, schlank und mit Hut.
Diesmal trug sie ein neues Modell mit lila Federn, und die Menschen drehten sich wie früher bewundernd, neidisch, lästernd und anerkennend nach ihr um.
Ergraut, aber elegant, an der Seite den zwanzig Jahre jüngeren Maler Max Rendy im Rollstuhl, betrat sie das Rathaus, um das Aufgebot zu bestellen. Der Ort stand Kopf. Einige waren skeptisch, mache schüttelten den Kopf, viele beglückwünschten sie. Anschließend gab es ein Fest mit einem spektakulären Feuerwerk, das den Himmel über der Ortschaft erleuchtete. Auch Nachbarn, Freunde und Bekannte waren eingeladen.
Paula war ebenfalls dort. Sie stand allein und ein wenig frierend im Garten und sah der funkelnden, blitzenden, krachenden und Sterne sprühenden Illusion zu, die sich am Nachthimmel abspielte. Sie dachte an ihre eigene, verflossene Liebe, an die Einsamkeit und an die Zweisamkeit.
Charlotte und Max Rendy eröffneten wenig später ihre bis heute erfolgreiche Galerie, in der sie mit Fingerspitzengefühl und Fachkenntnis junge Talente entdeckte, und er sich ein Publikum für seine eigene Kunst erobern konnte.