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Eine alte Welt und eine neue

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Am Rande einer kleinen Stadt, am Ende der allerletzten Straße, ganz hinten neben dem dichten dunklen Wald befand sich ein unheimliches Haus. Dort, wo die alte Linde stand und das Gras bis an die Mauern heranwuchs, als hätte man mit einer stumpfen Schere ein Rechteck aus einem grünen, fransigen Teppich geschnitten und ein Gebäude hineingezwängt. Dort kauerte es auf seine alten Mauern gestützt, die ächzten und heulten, wenn der Wind in ihre Ritzen fuhr.

Hunderte Jahre stand es ganz allein, umgeben nur von Wiesen und Bäumen. Doch die nahe Stadt wuchs und dehnte sich aus. Straße um Straße, Haus um Haus stahl sie sich heran, bis nur noch ein verwitterter Zaun eine alte Welt von einer neuen trennte. Der Zaun war klapprig und so schrundig, dass jeder, der eine der Latten berührte, sofort einen spitzen Holzsplitter im Finger stecken hatte. Und gleich dahinter breiteten sich das Gestrüpp und das hohe Gras aus. Es wucherte so dicht, dass man den Boden nur erahnen konnte.

Das Haus selbst war kein gewöhnliches Haus. Es war das unheimlichste und düsterste Haus der ganzen Straße, mit dem bestimmt unheimlichsten und düstersten Bewohner der ganzen Straße. Da waren die Leute sicher. Schließlich hatte kaum jemand diesen Bewohner je zu Gesicht bekommen. Wer nämlich nie und nimmer, auch nicht bei strahlendem Sonnenschein, sein Haus verließ, musste einfach unheimlich und düster sein. Nur manchmal bewegten sich die Vorhänge hinter den Fenstern und nachts drang hin und wieder ein schwacher Lichtschein hervor.

Tatsächlich zog der Bewohner des unheimlichen Hauses die schweren Vorhänge dann und wann ein ganz klein wenig auseinander und betrachtete diese neue Welt, die so nah war, dass er sie atmen hören konnte. Verstohlen nur und heimlich, damit niemand etwas bemerkte. Dann sah er Menschen, die ihm fremd waren, in Häusern mit Blumenkästen vor den Fenstern, inmitten von Gärten, die nach frisch gemähtem Gras rochen, und Sprinkleranlagen, die kleine, glitzernde Regenbögen über fröhlich spielende Kinder spannten.


Es war ein alter Mann, klapperdürr und blass, der ganz allein in dem windschiefen Haus lebte. Viele Jahre schon, so viele, dass er sie gar nicht mehr zählen konnte. Er dachte oft an seine Mutter und wie ihre langen Nägel im Rhythmus eines Kinderliedes auf sein Messingbettgestell geklopft hatten, damit er schneller einschlief. Und an seinen Vater und dessen wunderschöne Meerschaumpfeifen. Der würzige Duft des Pfeifentabaks hing immer noch schwach in den versteckten Winkeln des Hauses. Oft sah er auch seine Großmutter vor sich, mit hochgestecktem weißen Haar, knöchellangen Röcken und Spitzenkrägen bis unters Kinn. Sie hatte sich stets kerzengerade gehalten, weil sich das für eine vornehme Dame so gehörte.

Immer wenn er besonders traurig und einsam war, strich er über die Anzüge seines Vaters, die Zeitschriften seiner Mutter oder das Porzellan seiner Großmutter. Er hatte alles, jedes noch so kleine Stück von ihnen aufbewahrt, weil er es einfach nicht übers Herz brachte, sich davon zu trennen, und weil er eben ein Pasternak war. Denn die Pasternaks waren allesamt Sammler. Schon sein Vater vor ihm und dessen Vater und immer so fort. Generation für Generation. Alles wurde aufbewahrt, was auch immer in dieses Haus kam. Weil man nie wissen konnte, ob man es in Zukunft nicht doch einmal brauchen würde, zu einem Zweck, den man noch gar nicht kannte.

Schließlich waren all die Menschen, die dem Mann etwas bedeutet hatten, im Laufe der Jahre verschwunden, geblieben waren lediglich Dinge und eine Leere, die gefüllt werden wollte.

Der alte Mann stapelte, schichtete, türmte und schachtelte Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Er kannte jeden Winkel des Hauses, auch wenn er nicht immer genau wusste, wo sich jeder Winkel gerade befand. Die Stapel, Wände und Gänge wuchsen nämlich so schnell, dass er mitunter den Überblick verlor.

An manchen Tagen wunderte er sich, wo all die Sachen eigentlich herkamen. Allein die Gießkannen! Mit zwei oder drei hatte es begonnen, womöglich waren es auch vier gewesen, und die wuchsen schließlich bis an die Decke, eine über der anderen, wie die Blüten an einer Hecke.

Und irgendwann, beinahe unmerklich, verlor er sich zusehends zwischen all den Stapeln, Gängen, Ecken und Winkeln. Seine Ordnung schien auf den Kopf gestellt. Gegenstände fand er nicht mehr dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Die Türme ächzten mitunter und kamen ihm verschoben vor. Ein wenig nur, aber merkbar. Stein und Bein hätte er darauf geschworen. Also durchmaß er die Gänge mit langen Schritten und kam immer wieder zu anderen Ergebnissen, mal lief er fünf Schritte mehr, mal zehn weniger.

Dann kratzte er sich ratlos am Kopf, weil er einfach keine Erklärung dafür fand. Misstrauisch blickte er um sich, die Gänge entlang, die Wände hoch, ließ sich von unbekannten Winkeln und Ecken in die Irre führen. Für all das gab es nur eine Erklärung: Das Haus und alles, was darin auf die Ewigkeit wartete, waren weit mehr als leblose Steine und Gegenstände. Das Gebäude und die Dinge führten ein Eigenleben. Daran konnte es keinen Zweifel geben.

Seit Jahrhunderten schon war das Haus im Besitz der Pasternaks. Oder aber die Pasternaks waren im Besitz des Hauses. Ganz genau konnte das niemand sagen. Der alte Mann war der Letzte einer langen Ahnenreihe, der das Haus davor bewahrte, aus allen Nähten zu platzen. Ein paar feine Risse da und dort, doch auch nach so vielen Jahren hielten die starken Mauern stand. Er fragte sich, was wohl mit dem Haus und allem, was darin war, passieren mochte, wenn er einmal nicht mehr war. Dann wurde er traurig und fühlte sich wie ein Gefangener in seinem Haus und seinen Erinnerungen, die allmählich verblassten wie alte Fotografien.

Im Laufe der Jahre verließ der alte Mann das Haus immer seltener und die Leute begannen zu tuscheln. Die Pasternaks lebten ja schon viel länger an diesem Ort als irgendjemand sonst und waren doch immer für sich geblieben. Man wusste im Grunde gar nichts über diese Leute. Alles Mögliche konnte hinter den alten, brüchigen Mauern vorgehen. Alles Mögliche und Unmögliche. Die Pasternaks waren einfach nicht wie die anderen Menschen. So viel stand fest.

Wenn es nämlich ein Gewitter gab, donnerte und blitzte es über dem alten Haus besonders heftig. Wenn es stürmte, klapperten die Schindeln auf dem Dach so laut, als würde der Teufel daran rütteln. Und auch wenn die Sonne schien, lag das Haus immer im Schatten eines der großen knorrigen Bäume, sodass kein Strahl die klammen Mauern zu wärmen vermochte.

So kam es, dass die Menschen von einem Fluch zu sprechen begannen, einem Fluch von immerwährendem Unglück und beklemmender Dunkelheit, der den letzten Pasternak an sein Haus fesselte.

Ein Fluch, der erst gebrochen werden konnte, wenn irgendwann ein Mensch mutig genug wäre, dem Geheimnis des Hauses und seines unheimlichen Bewohners auf den Grund zu gehen.

Das unheimliche Haus des Herrn Pasternak

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