Читать книгу Rituale im Jahreskreis - Roswitha Stark - Страница 7
ОглавлениеProlog
Früher dachte ich, Herpes sei etwas, das nur meine Schwester bekäme. Diese dicken hässlichen Krusten, die den Mund verzogen aussehen ließen und selbst die beste Freundin auf Abstand halten konnten. Meine Schwester hatte sie als Kind regelmäßig, ich nie. Anscheinend war ich stabiler als sie, zumindest, was die Gesundheit anging, blieb ich von diesen Dingern verschont.
Ich war ein braves Kind, angepasst, hätte man damals – zu Zeiten der Studentenrevolution – gesagt; immer ängstlich, ich könnte auffallen, vor allem in der Schule, wo ich panische Angst hatte, vom Lehrer aufgerufen zu werden und etwas sagen zu müssen, was von den Klassenkameraden mit Hohn hätte bedacht werden oder der Erwartung des Lehrers nicht entsprechen könnte. Ich konnte die Schule nie leiden, blieb aber weiterhin bei der Taktik, brav zu sein, was mir den Vorteil verschaffte, dass ich als einziges der drei Enkelkinder (meine Schwester war den Großeltern zu „lebendig“) manchmal an den Wochenenden zu Oma und Opa durfte, um dort in die Welt der Märchen einzutauchen, die mir mein Großvater mit seinem bäuerlich rudimentären Wortschatz geduldig holprig vorlas. Ich liebte diese Geschichten von den wehrhaften, zu klein geratenen Geschöpfen, die tapfer in die Welt hinauszogen, alle Abenteuer bestanden und den Unbilden trotzten, um letztlich zu voller Schönheit und Pracht verwandelt zu werden, die mit Armen voller Gold und Schätzen heimkamen, um die Angebetete, vormals Unerreichte, in die Arme zu schließen und fortan einem Leben voller Glück und Glitzer zu frönen. Da machte mein enges kleines Herz ein Stückchen auf und ließ mich den grauen Alltag leichter ertragen.
Der Weg ist das Ziel. Der Lebensweg ist das Ziel. Mein Weg zur Schule hieß „Wiesenweg“. Und er war ein echtes Highlight. Ein schmaler Pfad, mitten durch Grünflächen voll wunderschöner Wiesenblumen. Manchmal pflückte ich nach der Schule selbstvergessen einen Strauß dieser rosa, weiß, gelb und schwarzknopfig blühenden Wildblumen und brachte sie meiner Mutter, stellte sie auf den Mittagstisch, wo sich alsbald kleine schwarze Käferchen inmitten der Löffel, Gabeln und Teller tummelten. Der Wiesenweg ließ mich aufatmen, mein dünnes Herz weiter werden und zarter pochen, als es mein rüdes abweisendes Wesen nach außen hin zeigte. Inmitten der Blumen kauernd und zupfend fühlte ich mich geborgen, sonniger und luftiger, und der Wind raunte mir ins Ohr, er verstünde mich, und ich müsse mir keine Sorgen machen, anders zu sein als die anderen, denn in Wirklichkeit seien wir alle anders, nur hätte keiner den Mut, das zu zeigen. Aber diese Zeit werde schon noch kommen.
Den Wiesenweg gibt es zwar heute noch, fast 50 Jahre später, aber die Blumen sind weniger geworden, und meine rosa Zahnbürstel habe ich dort nie mehr gesehen. Dafür hatte ich letztes Jahr zweimal Lippenherpes, einmal eine dicke Augenentzündung nach einer anstrengenden Ausbildungswoche und mehrere grippale Infekte, wobei die Abstände dazwischen beunruhigend kleiner geworden waren. Dafür bin ich jetzt nicht mehr sehr brav, und die alte Wut, die ich als Kind erfolgreich unterdrückt hatte, sucht sich öfter Bahn, um endlich erlebt und damit erlöst werden zu können. Ich nehme sie dankbar an! Und meine liebe Schwester und ich sind uns gar nicht so unähnlich! Eigentlich spielt die Zeit hier keine Rolle. Was sind schon fünfzig Jahre im Vergleich zur Ewigkeit. Und das Kind, das entdecken wir schon noch in uns, wenn wir unsere Lauscher mal etwas nach innen richten.
Nicht nur ich durfte endlich meinen inneren Herpes – und damit meine versteckte Aggression – ausleben. Im letzten Jahr traf es vermehrt auch meine Heilerkollegen, allesamt ganzheitlich denkende und arbeitende Menschen, die gern für andere da sind und sich selbst lieber hintan stellen, als anderen nicht zu helfen. Nicht wenige dieser wunderbaren Menschen kommen nur noch schwer auf die Füße, fühlen sich leer und ausgebrannt oder haben wiederkehrende Infekte, ein immer schwächer werdendes Immunsystem oder schlimmere Erkrankungen. Burn-out, das neue Modewort, und Depressionen machen sich breit.
Vielen geht alles viel zu schnell, und auch das gewohnte Abschalten vor dem Fernseher, sich noch etwas mehr Konsum zu gönnen oder ein gutes Glas Wein scheinen immer weniger zu helfen durchzuhalten. Unsere Batterien werden immer schneller leer, und die Kompensationsmechanismen unserer westlich-kultivierten Gesellschaft scheinen nicht mehr so recht zu greifen. Der Körper und die Seele rufen deutlich und immer lauter nach echter Erleichterung, nur haben wir offenbar weitgehend vergessen, wie wir uns früher Entlastung verschafft haben.
Mutter unser
Die du bist im Herzen Geheiligt werde dein Name Unser einig Reich komme Dein Wille geschehe Wie im Himmel So auf Erden Deine reichen Früchte schenke uns heute Und die Achtsamkeit, sie zu ehren Und vergib uns unsere Schuld Wie auch wir vergeben unseren Mitgeschöpfen Und vor allem uns selbst Du führst uns nie in Versuchung Sondern erlöst uns in deinen Armen Denn dein ist die Schöpfung Und die Kraft und die Herrlichkeit In Ewigkeit.
Danke.
Alles ist gut
Heute, es ist Heiligabend, sitze ich an meinem stillen See und blicke auf seine wunderbare Oberfläche, in der sich das späte Laub der Bäume und die knorrigen Äste der Bäume spiegeln. Das mir vertraute Entenpaar putzt sein Gefieder und genießt in trauter Eintracht und stiller Zweisamkeit die letzten sinkenden Sonnenstrahlen des späten Nachmittags. Vor nicht einmal einer Stunde habe ich meine Tochter verabschiedet, die sich entschieden hat, Heiligabend bei ihrem Vater und ihrer Oma zu verbringen. Das erste Mal seit der Trennung ist die Familie an Heiligabend nicht vereint. Ich habe sie liebevoll gehen lassen. Ich finde es gut, dass sie den Vater ehrt. Wenn ich normal wäre, müsste ich jetzt verzweifelt oder zumindest ein ganz klein wenig traurig sein. Wenn ich ganz normal wäre …! Ein nie gekannter tiefer Frieden hat sich in mir Raum gemacht, wie ich hier so sitze auf dieser versteckten Bank am Weiher. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals an Weihnachten einen so tiefen Frieden in mir verspürt hätte, und auch nicht jemals vorher an einem anderen Tag. Alles, einfach alles ist gut in diesem Augenblick. Ich sitze nur hier und schaue, und absolut nichts findet mehr Platz außerhalb des Fühlens und Seins. „Ich bin ganz im Hier und Jetzt!“ Und: „Alles ist gut so, wie es ist!“
Ich atme die klare Luft und werde mir des Ästedaches bewusst, das mich sanft schwebend behütet. Die Abendsonne kitzelt meine Nase und lässt mich blinzeln, und die Tiere … sie haben die Ruhe weg. Einfach schön, es geht mir richtig gut!
Den Wiesenweg gibt es überall. Er führt direkt hinein in die Geschenke der Natur, in den Überfluss der Elemente, in den stillen See der Schöpfung, in den wir in unserer Er-Schöpfung eintauchen können, um gelabt und erfrischt wieder auftauchen zu können, wenn die Zeit dafür reif ist.
Mögen Sie Ihren persönlichen Wiesenweg voller Wunder gehen – allein und stark, in trauter Zweisamkeit oder mit all denen, mit denen Sie in Liebe verbunden sind. Mögen Sie immer neue Blumen finden, die zu einem Strauß voller Möglichkeiten gebunden werden. Und mögen Sie auch die Käfer lieben lernen, die zu den Blumen gehören. Und mögen Sie viele leuchtende und duftende Sträuße in Ihrem Leben geschenkt bekommen!
Denn wir sind alle Blumenkinder.
In Dankbarkeit:
Roswitha Stark