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Die Anreise

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Einladend öffneten sich die automatischen Glastüren vor Gerlinde, und mit einem leisen Sirren rollte ihr Koffer über den gefliesten Boden. Im Halbdunkel schaute sie sich um. Die große Abflughalle des Frankfurter Flughafens war fast leer, nur weiter hinten an einigen Check-In-Schaltern stauten sich ein paar Leute. Die Geräusche waren eigentümlich gedämpft. Es herrschte eine Atmosphäre wie in einem Konzertsaal, kurz bevor der Dirigent den Taktstock hob. Jetzt, am frühen Morgen, waren wohl die meisten Leute noch nicht richtig wach. Erleichtert entdeckte sie das Schild ‚Treffpunkt‘ und stellte ihr Gepäck ab.

Petra war noch nicht da. Sie hielt Ausschau nach ihr und stellte dabei fest, dass die Warteschlangen an den Schaltern allmählich länger wurden. Das Kribbeln in ihrer Magengrube nahm zu. Wo blieb denn nur ihre Reisepartnerin?

Endlich sah sie die Freundin kommen. Petra wankte förmlich unter der Last ihres Gepäcks. Der Koffer, den sie hinter sich her zog, war ein wahres Monstrum und reichte ihr fast bis zur Taille. Und um die Brust trug sie eine große Lacktasche, die so pickepacke voll war, dass der Reißverschluss nur noch halb zuging.

„Nimm ja nicht so viel Gepäck mit. Denk dran, dass wir alles tragen müssen.“ Ganz genau konnte sie sich an Petras Worte erinnern! Sie hatte sich daran gehalten, ganze achtzehn Kilos brachte ihr Koffer auf die Waage. Auch ihr Handgepäck bestand nur aus einer mittelgroßen Tasche.

Petra kam im Schneckentempo näher, der Koffer eierte in gefährlichen Schlangenlinien hinter ihr her. Als sie endlich bei Gerlinde angelangt war, stieß sie ein Keuchen aus wie eine asthmatische Dampflok. Mit einem scharfen Knall schnappte der Ziehriemen in seine Verankerung zurück.

„Das hätten wir“, schnaufte sie und schaute sich um. „Wo müssen wir hin?“

„Dort drüben.“ Gerlinde zeigte auf den Schalter mit der längsten Warteschlange.

„Na klar, da, wo die meisten Leute sind. Hätte ich mir ja denken können.“ Petra schnaubte empört und warf ihr einen Blick zu, als sei sie persönlich schuld an dieser Misere. „Warum hast du dich nicht schon mal angestellt?“

Gerlinde schluckte eine Antwort hinunter. Wortlos griff sie nach ihrem Koffer und zerrte ihn zum Ende der Reihe.

„Bist du sauer oder was?“, fragte Petra.

Gerlinde schüttelte den Kopf. „Nö. Zur Gymnastik kommst du doch auch oft zu spät.“

Petra zuckte mit den Schultern. „War nicht meine Schuld“, nuschelte sie und gab dem Monsterkoffer einen Tritt, so dass er ein paar Zentimeter weiter rutschte, direkt in die Hacken des vor ihnen stehenden Mannes.

Der drehte sich wütend um. „Können Sie nicht aufpassen?“

Petra würdigte ihn keines Blickes. „Du siehst blass aus. Alles okay?“

Gerlinde wand sich innerlich. Ihr war hundeelend, und ihr Magen krampfte sich alle paar Minuten zusammen. Aber sie presste ihre Lippen zusammen und schüttelte tapfer den Kopf.

„Flugangst“, konstatierte Petra mit Kennerblick. „Dabei ist Fliegen die sicherste Reiseart überhaupt.“

„Außer wenn man von einem Koffer den Fuß zerquetscht bekommt“, giftete der Mann.

Petra schnitt eine Grimasse und drehte ihm den Rücken zu. „Es gibt extrem aufdringliche Leute, findest du nicht? Einfach kein Stil.“

Wider Willen musste Gerlinde lachen. Petra war schon eine Marke. Sie verstand es immer, eine Situation zu ihren Gunsten zu drehen. Und das mit dem ‚Stil‘ war eine von ihren Lieblingsfloskeln, deren Bedeutung sie noch nie so richtig verstanden hatte. „Ich bin ein bisschen aufgeregt“, gab sie zu. „Mein letzter Urlaub war noch mit…“ Sie brach ab.

Petra hakte sich bei ihr ein und gab ihrem Koffer einen weiteren Fußtritt. „Höchste Zeit, dass du mal wieder raus kommst. Du kannst nicht ewig zu Hause sitzen und trauern. Das hätte Henry bestimmt nicht gewollt.“

Sie hatte ja Recht. Es waren nun schon drei Jahre, dass Gerlinde allein war. Und genauso lange hatte sie sich zu Hause vergraben.

Seit Henrys Tod war die Gymnastikgruppe der einzige Termin, den sie regelmäßig wahrgenommen hatte. Die Damen kannten sich schon seit Jahren, wenn auch nur oberflächlich. Man schwitzte und turnte zusammen, ging danach meistens etwas trinken, und dann zerstreute sich die Gruppe wieder. Schon seit Längerem war Gerlinde direkt nach der Turnstunde verschwunden und hatte auf den gemeinsamen Umtrunk verzichtet. Es war noch nicht lange her, dass Petra sie regelrecht genötigt hatte, wieder einmal in die kleine Kneipe mitzukommen. Sie hatte ihr einen Apfelwein aufgeschwatzt und sie systematisch schwindlig geredet.

„Du musst wieder unter Menschen. Das Leben geht weiter, ob du willst oder nicht.“ Geschickt hatte Petra schon bald das Gespräch auf das Thema Urlaub gelenkt, und dann gab es kein Halten mehr. „Was hältst du davon: Wir gehen zusammen auf Kreuzfahrt.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Und bereits am nächsten Tag war sie mit einem Packen Prospekte unter dem Arm bei Gerlinde aufgetaucht. Der war nichts anderes übrig geblieben als Kaffee zu kochen und die Lobeshymnen über Kreuzfahrten im Allgemeinen und im Speziellen über sich ergehen zu lassen.

„Ich kümmere mich um alles“, hatte die Freundin versichert, und bald darauf war tatsächlich die Reisebestätigung da gewesen.

Für eine Weile hatte sich Gerlinde von der Euphorie anstecken lassen, endlich wieder einmal auf Reisen zu gehen. Aber nun in der Abflughalle des Frankfurter Flughafens wünschte sie sich nichts sehnlicher als die Ruhe ihres kleinen Häuschens. Allerdings war es jetzt für einen Rückzieher zu spät. Langsam aber sicher arbeiteten sie sich in der Schlange weiter vor zum Counter.

Die Bodenstewardess warf einen Blick auf die Waage und zog eine Augenbraue hoch. „Dreiundzwanzig Kilos, da haben wir wohl etwas zu viel eingepackt“, bemerkte sie und tippte auf ihrem Computer herum. „Das wären dann einhundertzwanzig Euro. Wie möchten Sie zahlen?“

Petra riss die Augen auf. „Für das bisschen mehr?“ fragte sie fassungslos.

„Wenn jeder Passagier mit ein bisschen mehr Gepäck reisen würde, können Sie sich vorstellen, was das unsere Airline an zusätzlichem Kerosin kostet?“ Die Dame war völlig humorlos und total immun gegen Petras Protest.

Die Wartenden hinter ihnen wurden allmählich unruhig, Gerlinde hörte das Gemurmel in ihrem Nacken lauter werden.

„Tja, was soll ich denn jetzt machen?“, jammerte Petra.

„Während Sie überlegen, können vielleicht die Herrschaften hinter Ihnen einchecken.“ Mit tadellos lackierten Fingernägeln trommelte die Stewardess auf dem Computertisch herum.

Gerlindes Koffer war bereits in den Tiefen des Flughafens verschwunden. Nun hievten die beiden Frauen gemeinsam Petras Mörderkoffer wieder von der Waage herunter und stellten sich ein paar Schritte neben die Warteschlange.

„Wurde aber auch Zeit“, raunzte jemand, aber das prallte an Petra völlig ab. Sie zerrte am Reißverschluss des Koffers, und sofort quollen etliche Kleidungsstücke heraus. Gerlinde wäre am liebsten im Erdboden versunken, die Szene war ihr unendlich peinlich. Teils schadenfroh, teils neugierig begafften die Umstehenden ungeniert, wie Petra in ihren Sachen herumwühlte.

„Da, zieh das mal an.“ Sie hielt Gerlinde zwei Pullover und eine wattierte Jacke hin. Die wagte nicht zu widersprechen. Es war nur gut, dass sie schlanker war als Petra, so dass sie problemlos hinein passte. Sofort brach ihr der Schweiß aus. Die Luft in der Halle war stickig, und nun war sie auch noch angepummelt wie für eine Polarexpedition. Auch Petra streifte ein paar Lagen über. Der Koffer ging jetzt deutlich leichter zu. Während sie darauf warteten, wieder an den Schalter vortreten zu dürfen, zerrte Gerlinde am Rollkragen eines Pullovers. Eigentlich wollten sie ja in die Sonne fliegen, warum hatte Petra bloß so viele warme Sachen mitgenommen?

„Zweiter Versuch?“ Die Bodenstewardess winkte sie endlich wieder heran und beäugte die Anzeige der Waage. „Na, etwas weniger ist es ja geworden. Ich will mal nicht so sein.“

Aufatmend beobachtete Gerlinde, wie Petras Koffer mit einem Anhänger beklebt wurde und dann rumpelnd im Bauch der Gepäckförderanlage verschwand.

Ein Blick auf die Bordkarten genügte. „Dreierreihe“, schimpfte Petra. „Das hätte ich mir denken können. Diese Kuh war mir gleich unsympathisch.“ Sie blieb stehen und schaute sich um. „Ich brauch jetzt erst mal einen Kaffee.“

Kurz darauf saßen sie sich an einem kleinen Tischchen gegenüber und schlürften ihre Getränke. Auf einem Stuhl daneben türmten sich die Kleidungsstücke, die beide in Windeseile ausgezogen hatten. Petra fand ihre gute Laune wieder und tätschelte Gerlinde aufmunternd die Hand. „Das wird schon mit deiner Flugangst. Sobald wir im Flieger sitzen, ist die wie weggeblasen. Du wirst sehen.“ Ihr rundes Gesicht strahlte unternehmungslustig. „Hach, endlich geht’s los!“

Gerlindes Hände zitterten. Sie hatte sich für Tee entschieden, auch ohne Kaffee klopfte ihr Herz schon hektische Trommelwirbel. Wieder einmal fiel ihr auf, dass sie sich optisch sehr unterschieden. Petra war nicht sehr groß und vollschlank, sie dagegen hätte für ihre Größe durchaus ein bisschen mehr wiegen können. Sie strich ihre halblangen Haare aus dem Gesicht und trank einen weiteren Schluck. Mit Tee hatte die Flüssigkeit wenig zu tun, sie schmeckte wie warmes Spülwasser.

Die Zeit schien zu kriechen, noch über eine Stunde, bis ihr Flug aufgerufen wurde. Verzweifelt wünschte sie sich, dass sie diesen Teil der Reise schon hinter sich gebracht hätte. Allmählich wurde es voll in der Abflughalle, und die vielen herumlaufenden Menschen machten sie noch nervöser.

Petra zog ein Heft aus ihrer Tasche heraus und zückte einen Kuli. „Willst du auch? Ich hab noch eins dabei.“

Sudoku. Gerlinde nickte ergeben. Vielleicht würde sie das etwas ablenken.

Im Flugzeug angekommen belegte Petra sofort den Fensterplatz. Gerlinde hoffte, dass der Gangplatz frei bleiben würde. Aber da kam schon ein Mann heran, grüßte höflich und platzierte sein Handgepäck in dem Ablagefach über ihrer Sitzreihe. Während er sich setzte, musterte ihn Gerlinde. Er mochte in ihrem Alter sein, vielleicht schon in Rente oder kurz davor. Nicht unsympathisch, leicht gebräuntes Gesicht, gepflegte Hände, Jeans, Hemd und Pullover.

„Und?“, fragte er, „Meinen Sie, Sie halten es ein paar Stunden neben mir aus?“ Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Sie wurde rot. „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht anstarren.“

Nun lachte er, es war ein angenehmes Lachen. „Hier sitzt man so nahe bei einander, dass man sich ja zwangsläufig ansehen muss.“

Erleichtert lachte sie mit.

Nach dem Start, den Gerlinde mit angehaltenem Atem und Schweißperlen auf der Stirn überstand, nahm er ihre kleine Unterhaltung wieder auf. „Gehen Sie auch auf die Kreuzfahrt?“ fragte er.

„Woher wissen Sie…“ stotterte Gerlinde verblüfft.

„Ich schätze, die meisten hier im Flieger werde ich auf dem Schiff wiedersehen“, erklärte er. „Sie auch?“

Sie nickte. „Ja, meine Freundin und ich sind für zwei Wochen auf der ‚Mare Azul‘. Das ist meine allererste Kreuzfahrt“, fügte sie besorgt hinzu.

„Es wird Ihnen bestimmt gefallen“, versicherte er. Er überlegte kurz. „Da könnten wir uns doch gleich bekannt machen. Wo wir doch Reisegefährten sind.“

Petra war auf ihre kleine Unterhaltung aufmerksam geworden. „Danke, aber wir legen keinen Wert auf Männerbekanntschaften“, funkte sie dazwischen und warf dem Mann einen unfreundlichen Blick zu.

Sein Lächeln gefror. „Verzeihung“, murmelte er.

Gerlinde rutschte tiefer in ihren Sitz und wagte nicht, die Freundin anzusehen. Er wollte doch nur nett sein, sie fand ihn überhaupt nicht aufdringlich.

„Wir haben unsere Reiseflughöhe verlassen und beginnen nun mit dem Landeanflug auf Las Palmas de Gran Canaria. Bitte stellen Sie die Rückenlehnen Ihrer Sitze aufrecht und klappen Sie die Tische vor sich hoch.“ Mit gelangweilter Stimme leierte die Stewardess ihren Text herunter.

Gerlinde schrak aus einem Dämmerschlaf hoch. Sofort setzte hektisches Treiben ein um sie herum. Die Anspannung krampfte ihr schon wieder den Magen zusammen, es war eine diffuse Mischung aus Vorfreude und ein wenig Angst.

„Wir haben’s fast geschafft.“ Petras Stimme klang erleichtert. „Bald sind wir raus aus dieser Konservendose.“ Mit einem Ruck fuhr ihre Rückenlehne in die geforderte aufrechte Stellung hoch, und ein fülliger Arm mit einem verblüffend spitzen Ellenbogen bohrte sich schmerzhaft in Gerlindes Seite.

„Aua!“

„Entschuldige, das wollte ich nicht. Aber hier kann man sich ja wirklich nicht rühren. Auf diesen kurzen Flügen ist es immer das gleiche, man wird eingepfercht wie Vieh. Überhaupt dieser Charterflug, gar kein Vergleich zur Linie. Da wird man wenigstens noch als Gast behandelt und reist mit Stil.“

Das Nörgeln umspülte Gerlinde, ohne dass sie weiter zuhörte. Bei diesem Schnäppchenpreis für einen fünfstündigen Flug konnte man eben nicht erwarten, viel Platz zur Verfügung zu haben. Das mit der Enge war allerdings wirklich unangenehm. In ihren Waden kribbelte es, höchste Zeit, dass sie sich wieder Bewegung verschaffte. Vergeblich versuchte sie, ihre Beine auszustrecken. Eine spitze Ecke von Petras Lacktasche stach in ihren Knöchel, und sie musste sich einen weiteren Schmerzenslaut verbeißen.

Der Mann neben ihr hatte den Zwischenfall bemerkt. „Manche Leute sind einfach rücksichtslos“, kommentierte er halblaut.

Gerlinde schüttelte beschwichtigend den Kopf. Sie wollte es nicht zu einem Streit mit Petra kommen lassen. Seit deren kühler Abfuhr, und das war bereits vor Stunden gewesen, hatte der Mann seine Nase in ein Buch gesteckt. Bis eben zu dieser Bemerkung. Aber es blieb sowieso keine Zeit mehr, das Gespräch wieder aufzunehmen. Das Flugzeug schwebte bereits über der Insel. Bald würden sie aussteigen, das Gepäck vom Band holen und den Transferbus suchen, der sie zum Hafen bringen würde. Und dann… Ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer. Ein großes, weißes Schiff wartete auf sie. Und das Meer.

Immer schon hatten Henry und sie das Meer geliebt, und im Laufe ihrer Ehe hatten sie viele Urlaube an der Nordsee verbracht. Das Plätschern der Wellen, die im Sand ausliefen, die Spaziergänge an der windumtosten Küste, die blaue Weite, die jeden Tag neu und anders aussah, gemeinsam hatten sie das alles Jahr um Jahr sehr genossen. Nur draußen auf dem Meer waren sie nie gewesen, abgesehen von ein paar Stunden auf Ausflugsbooten, die die Küste entlang geschippert waren. Völlig von Wasser umgeben zu sein und kein Land mehr zu sehen, auf einem Schiff zu schlafen, das war ein Abenteuer, auf das sie sehr gespannt war. Henry hätte das bestimmt auch Spaß gemacht.

Sie warf einen dankbaren Blick auf Petra. Ihren Überredungskünsten verdankte sie diese Reise. Dafür nahm sie gern ein paar blaue Flecken in Kauf. Und auch wenn die Freundin gerne mal in ein Fettnäpfchen trat mit ihrer großen Klappe, hatte sie bestimmt das Herz auf dem rechten Fleck. Gerlinde seufzte, ein bisschen mehr Selbstbewusstsein würde ihr selbst auch nicht schaden. Aber sie gehörte nun einmal eher zur schüchternen Fraktion. Von Stil ganz zu schweigen, ergänzte sie, innerlich lächelnd.

Aufgekratzt zeigte Petra aus dem Fenster. „Da, man sieht schon die Stadt. Wir sind gleich da.“ Sie fummelte an den Seiten ihres Sitzes herum. „Wir müssen uns anschnallen.“

Gerlinde beugte sich hinüber, aber sie konnte nur eine große Wasserfläche sehen. Ein paar Schiffe verteilten sich darauf, bunt und klein wie Spielzeug. Jetzt neigte sich das Flugzeug leicht nach vorn, und es rumpelte, als das Fahrwerk ausgefahren wurde. Sie setzte sich aufrecht hin und starrte auf den Rücksitz vor sich mit dem hochgeklappten Tischchen. Es wird gut gehen, es wird schön werden, wie ein Mantra leierte sie in ihrem Kopf die Worte herunter. Ach, wenn wir doch nur schon unten wären! Krampfhaft hielt sie sich an den Armlehnen fest. Das Flugzeug verlor nun rasch an Höhe. Der Druck auf ihre Ohren nahm zu, so dass sie die Geräusche um sich herum nur noch gedämpft hörte. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ein tiefes, gleichmäßiges Atmen. Da spürte sie eine leichte Berührung auf ihrem Arm. Der Mann neben ihr! Er hatte bestimmt mitbekommen, dass sie angespannt war und versuchte nun, sie zu beruhigen. Unwillkürlich musste sie lächeln, sie hatte ihn also richtig eingeschätzt als netten Menschen.

„Als erstes trinken wir ein Sektchen. Zur Einstimmung. Und dann machen wir einen Rundgang und schauen uns alles an. Du wirst staunen…“ Petra hatte das Programm bereits festgelegt. „In die Kabine können wir sowieso erst um drei Uhr. Idiotisch, die Gäste stundenlang rumsitzen zu lassen. Das könnten die doch besser organisieren.“

Gerlinde schwieg. Die Kabinen mussten doch für die neuen Passagiere gesäubert und hergerichtet werden, und das war bestimmt nicht in einer halben Stunde zu schaffen. Aber Petra war das völlig schnuppe. Immerhin lenkte sie Gerlinde mit ihrer Schimpftirade erfolgreich von der letzten Phase der Landung ab. Erst als beim Bodenkontakt ein leichter Ruck durch das Flugzeug ging, bekam sie mit, dass sie angekommen waren. Sie atmete erleichtert auf, die erste Etappe dieses Urlaubs hatte sie überstanden.

Die Triebwerke wurden abgestellt. Statt des Dauerbrummens der letzten Stunden hörte Gerlinde nun Stimmengemurmel und das metallische Klicken der Gurte um sich herum. Auch sie löste ihren Sitzgurt.

Petra war bereits aufgestanden. Allerdings hatte sie von ihrem Fensterplatz aus keine Chance, das Ablagefach über ihnen zu erreichen. „Wären Sie mal so nett?“, forderte sie den Mann an Gerlindes Seite auf und deutete nach oben.

Er stand auf und öffnete die Klappe. „Welche von den Sachen gehören Ihnen denn?“

„Schmeißen Sie einfach alles runter, was da ist“, wies Petra ihn an.

Er fing an, einzelne Kleidungsstücke herauszuziehen, die sie ihm sofort aus den Händen riss. Ungeduldig teilte sie die Sachen zwischen sich und Gerlinde auf, die fast unter dem Klamottenberg verschwand. Man musste ein halber Schlangenmensch sein, um sich im Sitzen und bei den beengten Verhältnissen anzuziehen. Irgendwie schaffte sie es und spürte, wie ihr sofort wieder der Schweiß ausbrach. Zusammen mit den Triebwerken war auch die Klimaanlage abgestellt worden, und die Kabine heizte sich zusehends auf.

Ihr Sitznachbar warf ihr einen amüsierten Blick zu. Sicher sah sie völlig idiotisch aus in den ganzen Lagen an Klamotten, die ihr auch noch zu groß waren. Aber taktvoll hielt er den Mund. Neben ihr kämpfte sich auch Petra in ihre Sachen. Schließlich standen sie beide mit gebeugten Knien in dem schmalen Raum zwischen ihrer eigenen und der Vorderreihe, während das Handgepäck, das griffbereit auf den Sitzflächen stand, in ihre Hinterteile drückte.

„Warum geht denn das nicht vorwärts?“ Petra verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, den Grund für den Stau zu erspähen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam Bewegung in die Menge. Gerlindes Sitznachbar stellte sich in den Gang und blockte die nachfolgenden Passagiere ab, so dass erst sie und dann Petra sich vor ihn quetschen konnten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Freundin rechts und links in die Sitzreihen griff und alles an Zeitschriften zusammenraffte, was sie erwischen konnte. Gerlinde drehte sich um und wollte fragen, wo Petra die Illustrierten eigentlich noch verstauen wolle. Aber die war genau in diesem Moment komplett abgetaucht. Mit rotem Kopf kam sie wieder hoch und hielt triumphierend ein Bonbon in die Höhe. „Eiserne Reserve!“, verkündete sie.

Schnell drehte sich Gerlinde wieder nach vorn. Jetzt bloß nicht diesen Mann ansehen. Sie beide boten ja ein grandioses Schauspiel. Sie hoffte inbrünstig, dass sie ihn nie, nie mehr wiedersehen würde. Das Schiff war schließlich groß genug. Irgendwie fand sie es aber auch schade, denn er war nett. Aber nun hatte er mit Sicherheit den Eindruck, zwei Irre vor sich zu haben.

Wie eine Wand stand die heiße, schwere Luft im Flughafengebäude. Gerlinde schnappte nach Luft und fürchtete, gleich in Ohnmacht zu fallen. So musste sich ein Fisch fühlen, den es unvermittelt auf eine heiße Herdplatte verschlagen hatte. Sie blieb stehen und versuchte vergeblich, die drei langen Ärmel, die sie übereinander anhatte, hochzustreifen, um wenigstens ein kleines Stückchen Haut freizulegen. Es juckte und kratzte überall an ihrem Körper. Aber Petra hastete gnadenlos weiter, als gelte es, einen Sprint zu gewinnen. Sie musste sich beeilen, um sie in der Menschenmenge nicht zu verlieren.

Völlig außer Atem erreichten sie das Gepäckrondell, das bereits umlagert war wie eine mittelalterliche Festung. Petra erbeutete einen Kofferwagen, den sie mit entschlossener Miene geradewegs in die Mauer der Wartenden hineinschob. Die empörten Bemerkungen prallten an ihr ab, mit starrem Blick konzentrierte sie sich auf die Koffer und Taschen, die im Zeitlupentempo an ihr vorbeirollten.

Gerlinde hielt sich im Hintergrund und fand endlich ein wenig Zeit, um sich umzusehen. Durch die gläserne Frontseite fielen Sonnenstrahlen in das Gebäude. Der Himmel war blau und wolkenlos. Vom Lärm der startenden und landenden Flugzeuge war nichts zu hören, aber die Geräuschkulisse tausender redender, lachender und schreiender Menschen war ohrenbetäubend. Durch Lautsprecher wurde Wichtiges angekündigt, das sie jedoch nicht verstand. Das schnelle Spanisch klang wie Musik; das gerollte „R“ erinnerte sie an Kastagnetten, und das Stakkato der Sätze an die stampfenden Schritte einer Flamencotänzerin. Plötzlich wurde ihr bewusst, wo sie sich befand: Auf einer nicht sehr großen Insel mitten im Atlantik, die im Wesentlichen aus Sand und Felsen bestand.

„Schlaf nicht ein!“ Petras Stimme riss sie aus ihren Fantasien von Palmen, idyllischen Stränden und erfrischendem Meerwasser. „Meinen Koffer hab‘ ich. Jetzt bist du dran.“ Sie schob Gerlinde in Richtung Gepäckband.

Schulter an Schulter standen die Menschen dort immer noch in mehreren Reihen hinter einander, während das Band unter der Last der Gepäckstücke ächzte und quietschte. Gerlinde bemerkte die Seitenblicke, die einige Leute ihr zuwarfen, und ihr von der Hitze gerötetes Gesicht färbte sich noch ein paar Schattierungen dunkler. Sie hätte wenigstens die dicke Jacke ausziehen und bei Petra auf dem Wagen lassen sollen. Aber dazu war es jetzt zu spät, hinter ihr hatte sich der Kreis der Wartenden bereits wieder geschlossen. Aber sie hatte Glück. Schon bald erspähte sie ihren Koffer. Jemand half ihr sogar, ihn vom Gepäckband zu heben. Sie zog den Griff heraus und zwängte sich zu Petra durch. Die war clever gewesen und hatte in der Zwischenzeit alles ausgezogen, was entbehrlich war. Das Ablagefach des Rollwagens war gestopft voll. Gemeinsam hievten sie nun Gerlindes Koffer auf den Wagen.

Suchend schauten sie sich um. „Dort drüben!“ Petra hatte das Schild mit dem Logo der Reederei entdeckt.

Wieder blieb Gerlinde keine Zeit, etwas auszuziehen. Zielstrebig marschierte die Freundin auf den Ausgang zu, an dem sich eine ganze Armada junger, bunt gekleideter Leute zusammengerottet hatte, um die Kreuzfahrer in Empfang zu nehmen. Sie staunte, wie schnell und reibungslos alles ging. In Nullkommanichts waren sie ihre Koffer los. Sie würde sie vor ihrer Kabinentür wiederfinden, versicherte man ihnen und informierte sie, dass sie Transferbus Nummer Sechs nehmen sollten.

Nach der stickigen Flughafenhalle war die frische Brise, die sie draußen empfing, eine Erlösung. „Ist es nicht toll hier?“ fragte Petra begeistert und zeigte auf eine Reihe von Palmen, deren große Wedel leicht im Wind schwankten.

Auch Gerlinde war entzückt. Hier gab es wunderschöne Blumen und Büsche, ganze Rabatten, die in satten Farben leuchteten. Die Erde hatte eine rötliche Tönung, ganz anders als zu Hause. Fremd und exotisch war das alles. Gerne hätte sie sich die Blüten näher angesehen. Aber der Bus wartete, und nach der ganzen Aufregung des Fluges freute sie sich, bald beim Schiff anzukommen. Dort würde sie endlich verschnaufen können.

„Ihr Transfergutschein?“ An der Bustür erwartete sie eine strahlende junge Frau, der die Urlaubsfreude förmlich aus allen Poren kroch. Wohin man schaute, wurde man von jungen Leuten begrüßt. Mit dem dreißigsten Geburtstag wurden die Angestellten vermutlich in den Innendienst versetzt. Aber die fröhlichen Gesichter hatten etwas Ansteckendes. Unwillkürlich lächelte sie zurück.

Petra hatte sich in den Windschatten des Busses verzogen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Endlich brannte der Glimmstängel, und sie sog gierig daran. „Das ist immer das Schlimmste an den Flügen: Rauchverbot.“ In aller Ruhe füllte sie ihren Nikotinspiegel wieder auf.

Gerlinde schaute ihr eine Weile geduldig zu. Aber schließlich wurde sie unruhig, denn der Transferbus Sechs füllte sich zusehends. „Wir müssen rein, sonst bekommen wir keinen Platz mehr“, wagte sie einen Vorstoß.

Petra verzog genervt das Gesicht, aber sie sah wohl ein, dass da etwas dran war. Sie schnippte die Zigarette auf den Boden. „Ich komm‘ ja schon“, knurrte sie ungnädig.

Tatsächlich waren nur noch einzelne Plätze frei, so dass sie getrennt sitzen mussten. Gerlinde nahm ihre Tasche auf den Schoß und schaute sich neugierig um. Ihre Mitreisenden waren bunt zusammengewürfelt, wenn auch viele die Fünfzig bereits überschritten hatten. Aber es gab auch ein paar junge Familien und ältere Leute, die mit kleinen Kindern unterwegs waren. Gerlinde vermutete, dass es sich um Großeltern handelte, die mit ihren Enkeln auf Reisen gingen.

Der Bus war angefüllt mit lautem Reden. Alle waren aufgekratzt, erwartungsvoll und bester Laune. Auch Gerlindes Erschöpfung war wie weggeblasen und einer großen Spannung gewichen. Sie hoffte, unterwegs etwas von der Insel zu sehen. Da sie nur noch einen Gangplatz erwischt hatte, schaute sie nach vorne durch die Windschutzscheibe.

Der Fahrer ließ den Motor an, und sofort machte sich erwartungsvolle Stille breit. Aber bevor es losging, lieferte die junge Frau von der Bustür aus noch ein paar Informationen. „Die Fahrt wird ungefähr eine halbe Stunde dauern. Wir wünschen Ihnen einen wunderschönen Urlaub an Bord der ‚Mare Azul‘.“ Sie kletterte aus dem Bus, und nun begann die Fahrt tatsächlich.

Es ging auf einer breiten Autobahn die Küste entlang. Entzückt betrachtete Gerlinde das Meer. Wellen brachen sich in weißen Schaumkronen an dunklen, zerklüfteten Felsen. Kakteen und niedrige Büsche ragten aus der kargen Erde. An anderen Stellen bedeckten große Flächen niedriger Pflanzen den Boden, deren pastellfarbene Blüten sich weit geöffnet der Sonne entgegenstreckten. Diese Pracht! Gerlinde war ganz verzaubert.

Eine Ortschaft huschte am Fenster vorbei. Die weiß getünchten Häuser klebten an den Felsen wie Schwalbennester. Kleine Gärten und von Steinmäuerchen eingefasste Felder schoben sich gefährlich nahe an den Abgrund. Man musste wohl schwindelfrei sein, um dort arbeiten zu können. Ein paar kleine Läden, eine Bar mit Tischen davor, an denen dunkel gekleidete Männer saßen, das war schon alles, was der Ort zu bieten hatte.

Bald kam eine Anzeigetafel in Sicht. Las Palmas 5 km, sie hatten die Inselhauptstadt fast erreicht. Da, von der erhöhten Straßentrasse aus konnte man einen ersten Blick auf die Bucht und den Hafen werfen. Und dort lag das Schiff, das sie bald über das Meer tragen würde. Ein Raunen ging durch den Bus, Kameras und Handys klickten und surrten eifrig. Jeder schaute und staunte, nun ungeduldig, endlich anzukommen.

Schon waren die ersten Straßen der Großstadt in Sicht, der Verkehr nahm rasch zu. Souverän lenkte der Fahrer den Bus durch Kreisel, bog in eine schmale Straße ein, die zum Hafen führte, und hielt schließlich an. Mit einem Zischen öffnete sich die Tür, und eilends kletterten die ersten Passagiere hinaus.

Endlich war Gerlinde an der Reihe. Sie stieg aus dem Bus und schaute sich um. Bunt und lebhaft ging es hier zu. Die Menschen liefen mit Gepäckstücken herum, bildeten Trauben vor einem Stand mit Erfrischungsgetränken und verschwanden schließlich hinter den Glastüren des Hafengebäudes.

Und dann verschlug es ihr den Atem: direkt vor ihr lag das Schiff. Weiß, mit blauer Bemalung und so gewaltig, wie sie es sich nie vorgestellt hätte, ragte es weit über das Dach des Kreuzfahrtterminals hinaus. Sie konnte diese Größe gar nicht richtig erfassen. Man musste den Kopf in den Nacken legen, um das oberste Deck zu sehen, über dem bunte Wimpel an einer Leine im Wind flatterten. Der Schornstein spuckte kleine Wölkchen aus, die sich im Blau des Himmels verloren.

„Nun machen Sie mal hinne, Sie blockieren ja alles!“

Ein unsanfter Stoß in den Rücken löste Gerlinde aus ihrer Erstarrung. „Entschuldigung“, murmelte sie und ging ein paar Schritte weiter. Bald würde sie auf einem Deck da oben stehen. Aber so richtig glauben konnte sie es immer noch nicht.

Petra! Suchend schaute sie sich nach ihrer Reisegefährtin um. Der Bus spie die letzten Insassen aus und fuhr wieder an, um Platz für den Nachfolger zu machen, der schon in den abgesperrten Hafenbezirk einbog. Für einen Moment fühlte sie sich völlig verloren in dieser Menge von Leuten, die wie in einem aufgeschreckten Ameisenhaufen durcheinanderliefen. Dann endlich entdeckte sie die Freundin, die lässig an einem Pfeiler lehnte und sich gerade die nächste Zigarette ansteckte. „Na, was sagst du? Ein tolles Schiff, gell?“

„Das ist… unfassbar“, stammelte Gerlinde. „So groß hab ich mir das nicht vorgestellt.“

Petra lächelte triumphierend, als habe sie das Schiff eigenhändig gebaut. „So ging mir das auch beim ersten Mal. Ich hab es dir ja gesagt, eine Kreuzfahrt ist wirklich was Tolles.“ Sie stieß eine Rauchwolke aus den Nasenlöchern. „Wart‘ mal ab, du wirst staunen, wie es erst drinnen aussieht.“ Jetzt, da sie am Hafen angekommen waren, schien Petra es nicht mehr eilig zu haben. „Das Einchecken wird noch mal blöd, aber dann haben wir’s überstanden. Dann fängt der Urlaub so richtig an.“ Genießerisch streckte sie ihr Gesicht der Sonne entgegen.

Gerlinde stellte ihre Tasche ab. „Soll ich uns was vom Getränkestand holen?“

„Nö, das ist nur langweiliger Saft. Wir warten, bis wir was Besseres kriegen.“ Petra warf ihre Kippe auf den Boden. „Es kann losgehen.“ Stöhnend wuchtete sie ihre Lacktasche auf die Schulter und wandte sich dem Eingang des Gebäudes zu. Hastig schloss Gerlinde zu ihr auf.

In der riesigen Halle des Hafenterminals herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, und sie war so überfüllt, dass Gerlinde zurückschreckte. Petra dagegen marschierte ungerührt vorneweg und drehte sich nur kurz für eine Erklärung um. „Das ist hier nach Decks sortiert. Wir müssen zu Nummer Acht.“ Sie zeigte auf eine Schlange von Passagieren. „Und pass gut auf deine Tasche auf, hier wird bestimmt geklaut.“

Gerlinde machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst, aber es ging zügig voran, und schon nach ein paar Minuten standen sie bereits am Schalter.

„Willkommen auf der ‚Mare Azul‘, begrüßte sie ein junger Mann. Sein Lächeln sah etwas eingefroren aus, was Gerlinde nicht wunderte bei der Menge von Leuten, die er abzufertigen hatte. „Ich brauche die Voucher und Ihre Reisepässe. Und wenn Sie die Nebenkosten mit Kreditkarte zahlen wollen, dann die bitte auch gleich.“

Die beiden Frauen kramten in ihren Taschen. Da sie gemeinsam eine Kabine gebucht hatten, gab es nur einen Voucher, und den hatte Petra. Triumphierend legte sie ihn auf den Counter, zusammen mit Pass und Kreditkarte.

Auch Gerlinde steuerte ihre Unterlagen bei. Aufmerksam beobachtete sie, wie der Mann alles an sich nahm und dann auf die Tasten seines Computers einhackte. Er schaute hoch; wieder dieses Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Er legte die Pässe und das Kärtchen zurück auf den Tresen. „Frau Michels, Frau Kirsch, herzlich willkommen an Bord. Nun noch ein Foto.“

Petra fummelte hektisch an ihren Haaren herum. „Soll ich zuerst?“, fragte sie und schob sich vor Gerlinde.

Erst jetzt entdeckte die ein kugelförmiges, kleines Ding, das der Mann sorgfältig auf Petra ausrichtete. Ein Klicken, dann war das Foto fertig.

„Nun Frau Michels bitte.“ Gerlinde schaute verblüfft. Und Klick.

„Das war’s auch schon“, verkündete der Mann und überreichte ihnen zwei Kärtchen. „Hier sind Ihre Bordkarten. Die sind gleichzeitig Ihre Kabinenschlüssel, und Sie bezahlen damit an Bord.“

Petra maß ihn mit einem kühlen Blick. „Ich kenne mich aus“, ließ sie ihn wissen.

„Oh, Sie sind schon eine erfahrene Kreuzfahrerin. Wie schön.“

Petra schaute hoheitsvoll drein, als erwartete sie im nächsten Moment einen roten Teppich, der vor ihr ausgerollt wurde. Aber es gab sicher viele Leute, die öfter Kreuzfahrten machten. Für ihre Freundin war es erst die zweite, wie Gerlinde wusste. Also wurde gar nichts ausgerollt, schon gar kein roter Teppich. Da nichts weiter geschah, zog Petra mit säuerlicher Miene den Reißverschluss ihrer Lacktasche zu. „Dann sind wir hier wohl fertig.“

„Willkommen an Bord“, schallte es ihnen schon wieder fröhlich entgegen. Diese Munterkeit hatte fast etwas Beschwörendes. Ein junges Mädchen in weißer Uniform drückte ihnen ein Glas Sekt in die Hand. „Sie sind gleich da. Dort drüben gibt’s noch ein Foto, und dann einfach den Gang entlang.“

„Arbeitet hier eigentlich irgendjemand, der älter ist als Dreißig?“, rutschte es Gerlinde heraus.

„Wahrscheinlich hält man diesen Zirkus nur aus, wenn man jung ist“, kam es prompt von Petra zurück. Der Sekt war lauwarm, und sie verzog das Gesicht. „Denen ist wohl das Eis ausgegangen“, murrte sie, trank das Glas aber in einem Zug aus. „Bevor das Zeug noch wärmer wird…“

Sie näherten sich einem bebrillten, jungen Mann, der vor einer erstaunlichen Kulisse postiert war. Interessiert betrachtete Gerlinde das Potpourri, das wie eine Postkartenidylle aussah. An einem Gestell war ein Rettungsring befestigt, auf dem der Schiffsname prangte. Rechts und links rahmten ihn große Plastikpalmen ein, und dahinter hing ein Stück blaue Leinwand.

„Stellen Sie sich bitte da hin“, forderte der junge Mann sie auf und zeigte auf den Rettungsring. Das vor ihm aufgebaute Stativ mit einer voluminösen Kamera wies ihn unschwer als Fotografen aus.

Wie auf Kommando drückten Gerlinde und Petra ihr Handgepäck fest an sich und nahmen ihre Position hinter dem rot und weiß bemalten Plastikteil ein.

„Wollen Sie Ihre Taschen nicht abstellen?“, fragte der Mann.

Die beiden schüttelten einträchtig die Köpfe. „Kommt überhaupt nicht infrage. Womöglich klaut die noch einer.“ Petra war wild entschlossen, sich nicht von ihrer Habe zu trennen.

„Aber…“, setzte er an und schluckte dann das Ende des Satzes hinunter.

Petras Gesicht hatte eine unnatürlich rote Farbe angenommen. Hatte sie zu hohen Blutdruck? Oder kam das vom Sekt?

Der Fotograf hantierte routiniert an seiner Kamera herum, dann klickte es ein paarmal. „Das war’s schon“, verkündete er strahlend, als hätten die beiden gerade einen komplizierten Zahnarzttermin absolviert. Er drückte jeder ein Kärtchen in die Hand. „Die Fotos können Sie morgen im Studio auf Deck Sieben ansehen. Und natürlich auch kaufen.“ Er zwinkerte ihnen vertraulich zu. Mit seinen etwas zu groß geratenen Vorderzähnen hatte er etwas von einem Kaninchen. Dann verlor er schlagartig das Interesse an ihnen und wandte sich den nächsten Gästen zu.

„Stellen Sie sich bitte da hin“, hörten sie noch, während sie einen verglasten Gang entlang schlenderten, der schräg nach oben auf das Schiff zu führte.

„Hoffentlich sind die Bilder gut geworden. Das ist bestimmt eine schöne Erinnerung“, meinte Gerlinde.

Petra blieb stehen und schaute sie scharf an. „Bist du verrückt geworden? Hast du eine Ahnung, was diese Fotos kosten?“ Tadelnd schüttelte sie den Kopf. „Ich hab’s mir schon gedacht, auf dich muss man aufpassen. Du lässt dir bestimmt jeden Mist andrehen.“

Gerlinde zog den Kopf ein wie ein gescholtenes Schulmädchen. „Wir können ja trotzdem mal nachsehen, wie sie aussehen“, lenkte sie hastig ein.

Der Gang machte eine Biegung, und dann standen sie unmittelbar vor der weißen Schiffswand, die sich vor ihnen auftürmte. Im unteren Teil gab es kleine Fenster, die ungefähr die Größe von Dachluken hatten. In diesen Kabinen musste es ziemlich dunkel sein, mutmaßte Gerlinde. Darüber sah sie zwei Reihen mit deutlich größeren Fenstern. Und dann kamen die Decks mit Balkonen, drei oder vier Reihen, sie konnte sie gar nicht zählen von hier unten. Sie blieb stehen, um das alles in sich aufzunehmen. Natürlich hatte sie das Schiff auf Fotos im Reiseprospekt gesehen, aber so leibhaftig davor zu stehen, das war doch noch etwas anderes.

„Nun komm schon, das Schiff kannst du dir noch lang genug anschauen“, drängte Petra schon wieder.

Gerlinde seufzte. Ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, zusammen mit ihr diese Kreuzfahrt zu unternehmen? Allmählich fühlte sie sich wie ein Postpaket, das ständig gezogen, gezerrt und herumgeschubst wurde. Auch diese gewisse Großspurigkeit und ewige Besserwisserei, die sie zum ersten Mal an Petra bemerkte, widerstrebten ihr sehr. Nun ja, das Schiff war groß genug. Man konnte sich aus dem Weg gehen, wenn es zu heftig werden sollte. Ach Henry, dachte sie verzagt. Aber dann trottete sie doch folgsam hinter Petra her.

Der erste Eindruck vom Inneren des Schiffes ließ Gerlindes Atem stocken. Schon wieder musste sie den Kopf in den Nacken legen, um bis zur Decke der drei Stockwerke hohen Atriumlobby schauen zu können. Alles war mit blauem Teppichboden ausgelegt. Die Geländer an den Treppen schimmerten in edlem Messing, und die vielen Lampen und Spiegel verliehen dem riesigen Raum ein luxuriöses Ambiente. Das war ja wie in einem Sternehotel! Eingeschüchtert von so viel Pracht kam sie sich unbeholfen und linkisch vor. Ob sie sich hier wohlfühlen konnte? So eine Umgebung war sie nicht gewohnt, womöglich machte sie etwas falsch und brachte sie beide in eine peinliche Situation.

Petra war neben ihr stehen geblieben und schaute sich ebenfalls um. „Ganz nett“, kommentierte sie trocken.

Gerlinde verschlug es die Sprache. Na, die konnte wohl gar nichts erschüttern.

Schnell stellte Gerlinde fest, dass sie nicht als einzige staunend ihre neue Umgebung betrachtete. Um sie herum schlenderten viele Mitreisende durch die Lobby und legten die Köpfe in den Nacken. Die meisten waren ähnlich gekleidet wie sie selbst. Beige Hose, Anorak und festes Schuhwerk, das schien eine Art Einheitslook für Kreuzfahrer zu sein. Nur zwei Leute, die händchenhaltend näher kamen, stachen aus der Menge heraus. Beide mochten schon über siebzig Jahre alt sein. Die Frau hatte leuchtend rotes Haar, das ihr in großen Wellen auf die Schultern fiel. Bei jeder Bewegung ihres Kopfes blitzten lange, mit blauen Steinen besetzte Ohrringe auf. Über ihren schwarzen Stoffmantel hatte sie ein buntes Tuch gelegt, und obwohl sie ziemlich klein war, hatte ihre Haltung etwas Königliches, so dass die Leute ganz automatisch Platz machten. Der Mann war nur wenig größer als sie. Er war in elegantes Grau gekleidet, und ein dunkler Hut verdeckte sein Gesicht. Fürsorglich führte er sie durch das Gewimmel von Menschen und achtete sorgsam darauf, dass niemand sie anrempelte. Langsam und vorsichtig setzten sie ihre Schritte, als würde der Boden jetzt schon schwanken, obwohl das Schiff ja noch im Hafen lag.

„Komm, Lilli, wir gehen nach oben. Hier ist es zu voll“, hörte Gerlinde den Mann sagen. Die Frau lächelte ihn an, und dann verschwanden die beiden in einem Gang.

Petra hatte den kleinen Decksplan herausgeholt, den jede beim Einchecken bekommen hatte. „Wir müssen nach Deck Elf“, verkündete sie. „Da ist die Bar. Ich hab fürchterlichen Durst.“

Eine gute Idee, auch Gerlinde fühlte sich wie ausgedörrt. „Und wie kommen wir da hin?“

Petra drehte und wendete den Plan und zeigte dann entschlossen in eine Richtung. „Da lang.“ Sie schritt zügig voran. Bald erreichten sie ein Treppenhaus, und hier war auch der Aufzug.

Eine halbe Stunde später konnte Gerlinde bereits über die Erlebnisse während ihrer chaotische Anreise lächeln. Die Tasche fest zwischen die Füße geklemmt saß sie entspannt vor einem exotisch aussehenden Cocktail und beobachtete das quirlige Treiben auf dem Sonnendeck. Die Tische rundherum waren alle besetzt. Mit Glück und ein wenig Ellenbogeneinsatz war es Petra gelungen, die letzten zwei freien Plätze zu ergattern. In Windeseile hatten sie alle überflüssigen Kleidungsstücke ausgezogen. Die türmten sich jetzt zu einem großen Haufen auf Petras Lacktasche. Ihr war es auch gelungen, die Aufmerksamkeit eines asiatischen Kellners in weißer Jacke auf sich zu ziehen, um ihre Bestellung aufzugeben. Zwei Mai Tai hatte sie geordert, ohne Gerlinde zu fragen. Vielleicht war es üblich, eine Kreuzfahrt mit diesem Getränk zu beginnen. Jedenfalls standen zahlreiche sehr ähnlich dekorierte Gläser auf den anderen Tischen. Gerlinde betrachtete entzückt das Stück frische Ananas und die Cocktailkirsche, die aufgespießt am Rand des Glases hingen.

„Prost!“ Petra erhob ihr Glas und lächelte sie an. „Auf einen schönen Urlaub!“

Vorsichtig sog Gerlinde an dem Strohhalm. Die Mischung aus frischen Säften und ein wenig Alkohol schmeckte ausgezeichnet. Auf Petras Geschmack konnte man sich verlassen. „Das ist wirklich gut“, lobte sie und nahm gleich noch einen tiefen Zug aus ihrem Glas.

Gerlinde knabberte an dem Ananasstück und schaute sich neugierig um. Das Sonnendeck bestand aus einer großen Fläche, in deren Mitte eine Art runde Plattform gebaut war. Auf der einen Seite gab es ein Schwimmbecken, auf der anderen Seite ein flacheres Becken und einen Whirlpool, in dem sich bereits ein paar Leute aalten. Das Schwimmbecken war mit einem Netz abgedeckt, offenbar durfte man es zurzeit nicht benutzen. Die Bar mit den Tischen, an denen sie saßen, war zum Teil überdacht. An den vier Ecken des Decks führten jeweils Treppen hoch zu einem weiteren Deck, auf dem sie Sonnenliegen sehen konnte, die in Reih‘ und Glied aufgestellt waren. Auch hier unten gab es Liegen, die rund um den Swimmingpool verteilt waren. Der Boden war mit Holz belegt. Alles sah gepflegt und sauber aus. Entspannt lehnte sich Gerlinde zurück, sie fühlte sich auf Anhieb wohl hier. Die Luft war warm und seidig, eine kleine Brise wehte vom Land herüber. Es war nur schade, dass sie nichts von Gran Canaria gesehen hatte. Aber es lagen ja noch viele Inseln vor ihnen, und dann würde es genug Zeit geben, die zu erkunden.

***

Einige Tische weiter saßen ein älteres Ehepaar und ein Junge von vielleicht acht Jahren, vermutlich der Enkel. Der Pool mit dem Netz darüber zog den Kleinen magisch an. Er stand auf und schlenderte hinüber. Erst balancierte er am Rand des Beckens entlang, dann versuchte er, auf den dicken Seilen herumzuturnen. Die beiden Älteren reckten die Köpfe.

„Daniel, komm her. Deine Cola wartet!“, rief der Mann, aber es war ein vergeblicher Versuch, den Jungen vom Pool weg zu locken.

Der hörte nicht, sondern krabbelte auf allen vieren auf dem Netz herum, das sich unter seinem Gewicht durchbog und nun gefährlich nahe über der Wasseroberfläche hing. Plötzlich rutschte sein Fuß von den groben Maschen ab, und er steckte bis zum Knie im Wasser. Hektisch versuchte er, sich wieder hoch zu schaffen, aber er verhedderte sich nur immer mehr in den Seilen. „Opa!“, rief er panisch, „Hilf mir raus!“

Der ältere Herr sprang auf, aber er konnte seinen Enkel nicht erreichen und stand ratlos am Beckenrand. Da kam ein Schiffsarbeiter in einem blauen Overall dazu. Er griff nach einer langen Stange, die am Beckenrand lag, und hielt sie dem Jungen hin. Der klammerte sich mit aller Kraft daran fest, und nach einigem Ziehen und Zerren kam er schließlich frei. Der Mann dankte dem Arbeiter, packte seinen Enkel am Ellenbogen und zog ihn schimpfend hinter sich her zurück zum Tisch.

***

„Jungs, kippt ab!“, kam es da laut vom Nachbartisch.

Gerlinde schrak zusammen. Eine Gruppe von sechs Männern hatte sich dort niedergelassen. Die roten Gesichter und die stattliche Anzahl leerer Biergläser ließen darauf schließen, dass sie schon seit einer ganzen Weile ihren Urlaubsbeginn feierten. Sie lächelte nachsichtig, vermutlich war das ein Kegelclub auf seinem jährlichen Ausflug.

Petra fand das nicht so amüsant und verzog das Gesicht. „Einfach ekelhaft, wie die sich benehmen“, kommentierte sie keineswegs leise und drehte sich kampflustig zu der Gruppe um.

Das verstand einer der Zecher wohl falsch. Er zwinkerte ihr zu und hob sein Glas. „Schöne Frau, wollen Sie sich nicht zu uns setzen? Sie sind genau das, was mir der Arzt verordnet hat.“

Gerlinde hielt die Luft an, aber Petra wusste diesen plumpen Annäherungsversuch gut zu kontern. „Hättste wohl gern“, krähte sie und drehte ihm den Rücken zu. Sie beugte sich zu Gerlinde. „So ein Prolet! Überhaupt kein Stil“, schimpfte sie und sog aufgebracht an ihrem Strohhalm. In Nullkommanichts war das Glas leer.

Gerlindes Magen knurrte. Seit dem Frühstück und einem Imbiss im Flugzeug hatte sie nichts mehr gegessen, und das lag nun schon viele Stunden zurück. Sie hatte Hunger. Und sie stellte fest, dass in diesem süffigen Cocktail doch einiges an Alkohol gewesen sein musste. Jedenfalls hatte sie das Gefühl, dass ihre Umgebung leicht schwankte, und ihr Blick war seltsam unscharf. Es war ein durchaus angenehmes Gefühl, aber trotzdem sollte sie möglichst bald etwas essen. Jemand marschierte an ihr vorbei, einen Teller mit einer Currywurst und Pommes Frites in der Hand. Suchend schaute sie sich um und entdeckte eine lange Menschenschlange vor einer Theke, hinter der ein paar Angestellte herumwerkelten. Das wäre jetzt genau das Richtige! Doch während sie noch überlegte, ob sie sich dort anstellen sollte, kam eine Lautsprecherdurchsage. „Liebe Gäste, die Kabinen sind jetzt bereit für Sie. Wir bedanken uns für Ihre Geduld.“

Sofort sprang Petra auf. „Na endlich, das wurde aber auch Zeit.“ Sie drückte Gerlinde ein paar Kleidungsstücke in die Hand und griff nach ihrer Lacktasche. „Es geht los.“

Gerlinde atmete auf. Nun würde sie bald diesen Kleiderberg loswerden.

Die Menschenmenge schob sich vom Sonnendeck in die Treppenhäuser. Verwirrt schaute sich Gerlinde um, sie hatte völlig die Orientierung verloren. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich wieder einmal an Petras Fersen zu heften, die offenbar genau wusste, in welche Richtig sie zu gehen hatten.

***

An der Rezeption standen die Leute in Dreierreihen. Geduldig wartete der groß gewachsene, schlanke Mann, bis er endlich an der Reihe war. „Mein Name ist Werner Velten. Ich fahre als Gentleman Host mit. Mein erstes Mal“, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu.

Die Dame hinter dem Tresen schaute hoch. „Willkommen an Bord“, begrüßte sie ihn. Sie tippte auf ihrem Computer herum. „Ah, da haben wir Sie.“

Sie musterte ihn jetzt mit unverhohlener Neugier. „Der Staff Captain erwartet Sie schon in seinem Büro. Das ist direkt über der Offiziersmesse. Gehen Sie am besten gleich hin.“ Sie nahm einen Bordplan zur Hand und erklärte ihm den Weg.

Werner bedankte sich und marschierte los. Das kleine Faltblatt zitterte in seiner Hand. Außer Sichtweite der Rezeption blieb er stehen und holte erst einmal tief Luft. Es war eine einfache Sache gewesen, sich zu Hause das Anheuern auf einem Schiff auszumalen. Aber nun galt es, die ersten Schritte auf diesem ihm unbekannten Terrain zu machen. Und das gestaltete sich aufregender, als er gedacht hatte.

Langsam schlenderte er weiter und betrachtete aufmerksam seine neue Umgebung. Hier würde er nun die nächsten Wochen verbringen, sich zwischen den Gästen bewegen und insbesondere die Damen zu unterhalten haben. Das Publikum entsprach durchaus seinen Vorstellungen. Er war darauf gefasst, vorwiegend ältere Reisende anzutreffen, und wenn er sich so umschaute, passte er mit seinen fünfundsechzig Jahren bestens dazu.

Fast hätte er vor lauter Schauen die unauffällige Tür übersehen, die in den Mannschaftsbereich des Schiffes führte. Er drückte die Klinke herunter und stellte kurz darauf fest, dass er sich in einer völlig anderen Welt befand.

Der Übergang von den leuchtenden Farben und dem modernen Design des Passagierbereichs zu dem schmucklosen, grau gestrichenen Treppenhaus war krass. Aber so war das nun einmal, wenn man hinter die Kulissen schaute. In seinem neuen Job bewegte er sich ganz klar in zwei verschiedenen Welten. Er studierte den Plan, der an der Wand angebracht war. Die Offiziersmesse befand sich auf Deck Zwei, tief unten im Bauch des Schiffes. Und das Büro des Staff Captains lag fast direkt darüber. Seine Schritte hallten auf der Metalltreppe, die von schmucklosen Neonröhren grell ausgeleuchtet wurde.

„Sie sind bestimmt Herr Velten.“ Der kräftig gebaute Mann in Uniform und mit akkuratem Bürstenhaarschnitt stand auf und streckte Werner die Hand entgegen. Er hatte eine stattliche Größe, und alles an ihm war rund. Werner betrachtete interessiert das Gesicht mit den kleinen, fast zierlichen Ohren, die fülligen Oberarme, die die Ärmel seines Hemdes zur Gänze ausfüllten, und den Bauch, der eindeutig nicht von harter Askese herrührte. Der Mann strömte Behaglichkeit aus. Wie ein zu groß geratener Teddybär hatte er etwas Kuscheliges an sich, wozu nur die strenge Frisur nicht recht passen wollte.

„Ja, ganz recht, Herr…?“ Werner schaute seinen neuen Vorgesetzten fragend an.

„Blank, Stefan Blank“, stellte der sich vor. „Ich bin der Staff Captain hier an Bord und verantwortlich für das gesamte Personal.“

Scharfe Augen musterten ihn von oben bis unten, und Werner fragte sich, ob er mit Jeans und Pullover nicht zu leger gekleidet war. Aber offenbar war der erste Eindruck okay, denn Blank lächelte zufrieden. „Nehmen Sie Platz. Wir gehen kurz die wichtigsten Punkte durch, die Ihren Job betreffen. Danach können Sie sich erst mal häuslich einrichten.“

Werner erinnerte sich sehr genau an die Stellenbeschreibung in der Zeitung. Gute Umgangsformen, gewandtes Auftreten, Kenntnisse in allen gängigen Gesellschaftstänzen, sehr viel mehr war der Anzeige nicht zu entnehmen gewesen. Immerhin, diese Voraussetzungen erfüllte er, so dass er nach dem üblichen Papierkram und einigen Telefonaten mit der Reederei eine Zusage bekommen hatte.

Der Offizier lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf zusammen.

„Wir haben hier an Bord immer einen gewissen Prozentsatz allein reisender Frauen. Das liegt wohl in der Natur der Sache, die Damen sind einfach zäher als wir Männer.“ Blank lachte über seinen eigenen Witz, und Werner lächelte pflichtschuldigst mit. „Seit einem Jahr haben wir nun die Gentleman Hosts eingeführt, und ich muss sagen, mit gutem Erfolg. Ich muss wohl nicht extra betonen, dass dieser Job nicht immer einfach ist. Manche Damen verwechseln unsere Hosts mit einer ganz anderen Sorte Dienstleister, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Er zog fragend eine Augenbraue hoch, und Werner beeilte sich zu nicken.

Zufrieden dozierte Blank weiter. „Nun, das genau ist der kritische Punkt. Ihre Aufgabe ist es, für gute Laune zu sorgen. Allerdings endet Ihr Job vor der Kabinentür der jeweiligen Damen. Um es ganz deutlich zu sagen, wir möchten nicht, dass Sie irgendwelche privaten Kontakte pflegen, die über den gesellschaftlichen Rahmen hinausgehen. Vielleicht erstaunt Sie meine Direktheit, aber das ist die oberste Regel, von der es keine Ausnahme gibt.“

Die letzten Worte klangen streng, und Werner konnte sich gut vorstellen, dass sein neuer Chef äußerst unangenehm werden konnte, wenn es dazu Anlass gab.

„Es ist eine Art Eiertanz, das ist mir durchaus klar. Ein kleiner Flirt, aber nicht mehr. Komplimente verteilen, aber dabei stets unverbindlich bleiben, das erfordert Diplomatie und Geschick. Meinen Sie, Sie kriegen das hin?“

Werner räusperte sich. Auf eine solche Offenheit war er nicht gefasst gewesen. Aber es war ihm recht, dass die Dinge direkt angesprochen wurden. „Ich denke schon“, antwortete er.

Der Offizier grinste. „Wir verstehen uns, das merke ich schon. Also, ich muss Ihnen ehrlich sagen, für mich wäre das nichts. Ich bin froh, dass ich eine gewisse Distanz zu den Gästen halten kann. So schön es ist, zwischendurch mit den Passagieren zu plaudern, meistens bin ich froh, wenn ich mich wieder zu meiner Arbeit zurückziehen kann. Nun ja, der Smalltalk ist schließlich Ihr Job. Unter anderem natürlich.“ Er setzte sich aufrecht hin und warf einen Blick auf die Papiere, die vor ihm lagen.

Werner vermutete, dass es sich um seine Bewerbungsunterlagen handelte.

„Sie sind nicht verheiratet?“, vergewisserte sich Blank.

„Nein.“

„Gut, das erleichtert es. Nicht, dass es etwa noch Stress gibt an der häuslichen Front.“ Er schaute kurz hoch.

„Nein, da ist nichts zu befürchten“, beeilte sich Werner zu versichern.

Der Offizier lehnte sich wieder zurück. „Nun, dann hätten wir das geklärt.“ Er zog eine Schublade auf, kramte darin herum und legte dann etwas auf den Tisch. „Das ist Ihr Namensschildchen. Sie müssen es stets tragen, wenn Sie im Dienst sind. Also sobald Sie Ihre Kabine verlassen haben und sich im Passagierbereich aufhalten.“ Er kratzte sich am Kopf. „Wir haben an den meisten Tagen abends Tanz in der Luna-Bar. Außerdem läuft ein Tanzkurs, bei dem Sie natürlich auch anwesend sein werden. Generell haben Sie sehr vielseitige Aufgaben wahrzunehmen. Wenn Not am Mann ist, werden wir Sie auch einmal für Landausflüge einteilen. Haben Sie soweit alles verstanden?“

Werner schluckte. Das bedeutete lange Arbeitstage, aber auch das war ihm vorher klar gewesen. „Jawohl, Herr Blank.“

Dem Offizier war das kleine Zögern nicht entgangen. „Sie kriegen das hin“, ermunterte er seinen Neuzugang. „Schließlich sind Sie ja kein heuriger Hase und bringen eine gehörige Portion Lebenserfahrung mit.“

Er lachte dröhnend und stand dann auf. „Sie haben Glück. Die Kabine gehört Ihnen allein, zumindest auf dieser Reise. Hier ist Ihre Bordkarte. Und der Schlüssel, Nummer Dreiundzwanzig, Deck Eins. Ich glaube, fürs erste habe ich Ihnen genügend Informationen aufs Auge gedrückt. Am besten machen Sie sich möglichst bald mit Ihren zwei Kollegen bekannt.“ Er schaute auf seine Armbanduhr. „Um diese Zeit finden Sie Herrn Trautmann und Herrn Hellwege vermutlich in der Offiziersmesse. Fragen Sie sich einfach durch.“

Ein kurzer Händedruck, und Werner stand wieder auf dem Flur. Puh, dieses Gespräch musste er erst einmal verdauen! Seine Kabine fand er ohne Probleme. Gespannt öffnete er die Tür, trat ein und knipste das Licht an. Der fensterlose Raum war, nun ja, recht überschaubar. Luxus fand wirklich nur oben auf den Passagierdecks statt. Aber viel Zeit würde er hier ohnehin nicht verbringen.

***

„Achttausendeinhundertvierzehn. Hier ist es.“

Petra führte die Bordkarte in den Schlitz der Kabinentür ein, und mit einem verheißungsvollen Klacken entriegelte sich das Schloss. Sie drückte die Klinke hinunter und ging hinein.

Gerlinde folgte gespannt. Aber nach einem kurzen Rundblick zog sie enttäuscht die Nase kraus. Der Raum war zwar hell und freundlich, aber ziemlich klein.

„Hier schlafe ich“, verkündete Petra und warf alles, was sie in den Armen hatte, auf eines der Betten.

Gerlinde setzte sich auf das andere Bett, es war ihr egal, auf welcher Seite sie schlief. Plötzlich bemerkte sie, dass die Sonne hereinschien, die Außenwand war komplett verglast. Und dahinter – sie konnte es nicht fassen, da gab es einen Balkon.

„Aber…“, stammelte sie völlig überrascht.

„Tataaa! Überraschung!“ Petra grinste sie an. „Ich hab uns eine Balkonkabine gebucht. Wenn du schon mal auf Kreuzfahrt gehst, dann soll es auch vom Feinsten sein. Wir reisen schließlich mit Stil.“

Gerlinde war völlig überrumpelt. „Aber das hat doch sicher sehr viel mehr gekostet“, brachte sie schließlich heraus.

Petra zuckte lässig mit den Schultern. „Geld ist dazu da, dass man es ausgibt.“ Sie öffnete die Schiebetür zum Balkon und trat hinaus. „Schau mal, ist das nicht toll?“

Gerlinde stellte sich neben sie an das Geländer und betrachtete entzückt die Wellen tief unter ihnen, in denen sich das Licht brach. Es sah einfach traumhaft aus. Zwei Stühle und ein kleines Tischchen luden zum Sitzen ein. Sie wusste sofort, dass das ihr Lieblingsplatz werden würde. „Aber das geht doch nicht“, protestierte sie noch einmal halbherzig, aber die Freundin wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg.

„Ich find’s schön, dass wir zusammen unterwegs sind. Und als Gegenleistung bist du jetzt meine persönliche Reiseleiterin. So viel, wie du gelesen hast, machst du das mit links.“

Gerlinde musste lachen. Aber es stimmte, sie hatte sich durch einen ganzen Berg Reiseführer gekämpft, um sich auf den Urlaub vorzubereiten. „Na gut, wenn du meinst, dann machen wir das so“, stimmte sie zu.

Während Petra sich eine Zigarette ansteckte, ging Gerlinde zurück in die Kabine und schaute sich erst einmal in Ruhe um. An der Wand gegenüber den Betten hing ein Fernseher. In einer Ecke gab es ein Regal, und zu jedem Schlafplatz gehörte ein Nachttisch. Über dem kleinen Schreibtisch, auf dem es einige Informationsblätter und eine Glaskaraffe mit zwei Gläsern gab, hing ein großer Spiegel. Die Kleiderschränke waren in dem kleinen Flur gegenüber dem Badezimmer untergebracht. Das schaute sie sich als nächstes an und staunte. Auf kleinstem Raum war alles untergebracht, was man brauchte. Die Dusche war sogar größer als bei ihr zu Hause, und durch eine Glastür vom restlichen Bad abgetrennt. Bewundernd stellte Gerlinde fest, dass die Kabine zwar klein, aber sehr gut aufgeteilt war. Jedes Eckchen war optimal ausgenutzt. Irgendwie würden sie ihre Siebensachen schon unterbringen.

Es klopfte an der Kabinentür, und Gerlinde öffnete. Ein Asiate strahlte sie an und schob ihren Koffer herein. „Bitteschön, Madam“, sagte er liebenswürdig.

Gerlinde war überfordert. Sollte sie ihm ein Trinkgeld geben? Hektisch wühlte sie in ihrer Handtasche, aber als sie ihre Geldbörse endlich gefunden hatte, war der Mann schon wieder verschwunden.

Petra streckte ihren Kopf vom Balkon herein. „Super, dein Koffer ist schon da. Fang gleich mit Auspacken an. Dann kommen wir uns nicht ins Gehege.“ Dann kam sie aber doch herein und öffnete die Kleiderschränke, um sich die Aufteilung anzusehen.

„Hier gibt’s ja sogar einen Safe“, staunte Gerlinde.

„Natürlich! Was dachtest du denn? Die haben schließlich Stil.“

Petra verschwand wieder nach draußen, während Gerlinde den Koffer auf ihr Bett hievte und mit dem Auspacken begann. Es war mehr Platz vorhanden, als sie anfangs gedacht hatte. Jedenfalls hatte sie im Nullkommanichts ihre Sachen untergebracht. Den leeren Koffer schob sie unter das Bett.

Wie aufs Stichwort klopfte es wieder, und ein Mann brachte Petras Koffer. Dieses Mal hatte Gerlinde ihr Portemonnaie parat. Sie war nicht sicher, ob es derselbe Mann war wie vorhin. Diese asiatischen Gesichter waren schwer zu unterscheiden.

Nun lief Petra geschäftig hin und her und verstaute ihre Sachen.

Gerlinde hatte in der Zwischenzeit eine der beiden Schwimmwesten herausgeholt, die sie im Schrank gefunden hatte. Das grell orangefarbene Ding mit langen schwarzen Strippen war widerspenstig, und sie brauchte eine Weile, bis sie es angezogen hatte. Bewegen konnte sie sich jetzt allerdings nicht mehr richtig, die Schwimmhilfe fühlte sich fest und steif an. Aber wenn so etwas nötig war, um sie über Wasser zu halten, sollte es ihr recht sein.

Petra entdeckte das Tagesprogramm auf dem Schreibtisch und studierte es ausführlich. Dann schaute sie auf ihre Uhr. „Die Seenotrettungsübung ist in einer Stunde“, verkündete sie. „Ablegen dann um Sechs, Abendessen ab halb Sieben. Dann gibt’s noch eine Farewell-Party auf dem Sonnendeck. Und anschließend natürlich das Abendprogramm.“

Sie sah schon wieder ungeheuer unternehmungslustig aus.

Gerlinde riss erschreckt die Augen auf. Na, da stand ihr ja noch einiges bevor. Schon jetzt fühlte sie sich völlig kaputt und wollte eigentlich nur noch etwas essen und dann in ihr neues Bett krabbeln. Aber das konnte sie wohl vergessen. Gegen Petras Unternehmungslust würde sie schwerlich ankommen. Plötzlich wurde ihr bewusst, was Petra da gerade gesagt hatte, und sie wurde blass. „Senioren-Rettungsübung?“, fragte sie zaghaft.

Petra lachte schallend. „Seenot, nicht Senioren, du Dummerle. Das ist Pflicht, da müssen alle teilnehmen.“

Gerlinde ließ sich auf ihr Bett fallen und schloss die Augen. Urlaub war schön, aber auch anstrengend. Geruhsam oder gar langweilig würden die nächsten zwei Wochen bestimmt nicht werden, so viel stand jetzt schon fest.

***

Werner war enttäuscht. Unter einer Offiziersmesse hatte er sich etwas Schickeres vorgestellt als diesen Raum. Hier sah es aus wie in einer zweitklassigen Kantine. Fenster fehlten völlig, logisch, da dieses Deck sich unter der Wasserlinie befinden musste. Die einzelnen Tischreihen wurden durch ein paar halbhohe Kästen mit Plastikblumen voneinander abgetrennt. Wenigstens war die Beleuchtung etwas angenehmer als in den Fluren. Einige Strahler waren auf die Fotos der ‚Mare Azul‘ gerichtet, die als einziger Schmuck an den Wänden hingen.

Er schaute sich um. Der Raum war fast leer. Hinter dem Tresen, auf dem warme und kalte Speisen bereitstanden, werkelten drei Angestellte herum. Ganz hinten am letzten Tisch entdeckte er zwei Männer, die sich gegenübersaßen. Das waren vermutlich seine Kollegen. Werner versuchte vergeblich, sich an ihre Namen zu erinnern, während er auf die beiden zuging. „Entschuldigung, sind Sie die Gentleman Hosts?“

Die beiden schauten hoch. Allmählich gewöhnte er sich an diese abschätzenden Blicke, wenn er sich jemandem vorstellte. Aber auch er musterte seine beiden zukünftigen Kollegen genau.

„Sie sind wohl der Neue“, mutmaßte der eine Mann. Er war mittelgroß, dunkelhaarig und tendierte genau wie der Staff Captain ein wenig zur Fülle. Seinen lebhaften Augen entging kein Detail. Er stand auf und streckte ihm die Hand hin. „Karl Trautmann. Hier an Bord duzt man sich. Also, ich bin der Kalli.“

„Werner Velten, freut mich, dich kennen zu lernen.“

Auch der andere Mann erhob sich. Er war kleiner als Werner, schlank, fast schmächtig, und hatte blonde Haare, die allerdings im Kampf gegen das Alter bereits den Rückzug angetreten hatten. Sein schmales Gesicht war blass und faltig, er sah aus als habe er Magenprobleme. „Und ich bin Lothar Hellwege. Angenehm.“

Kalli zog den Stuhl neben sich unter dem Tisch hervor. „Setz dich. Endlich kommt Verstärkung, das wurde aber auch Zeit.“

„Kaffee?“, fragte Lothar, und als Werner bejahte, winkte er ihm mitzukommen. „Hier ist Selbstbedienung“, erklärte er, während sie am Kaffeeautomaten standen.

Kalli nickte dankend, als Werner auch ihm eine Tasse hinstellte. „Nun erzähl mal, wo kommste her, was biste für einer? Und wie hat es dich hierher verschlagen?“

Werner war irritiert von so vielen Fragen. „Wo soll ich anfangen, direkt bei meiner Geburt oder schon vorher?“

Die neuen Kollegen lachten.

„Mensch, du bist richtig. Nicht auf den Mund gefallen, das ist gut. Das kannste hier brauchen.“ Kalli klopfte ihm begeistert auf den Rücken. „Willkommen im Club.“ Er trank einen Schluck Kaffee. „Vielleicht fange ich erst mal mit mir an. Also, ich mach dieses Theater jetzt schon seit einem Jahr. Bin von Anfang an dabei, seit sie auf die Idee kamen, die Damen zu bespaßen. Das war kurz nachdem ich in Rente gegangen bin. Zu Hause ist mir ganz schnell die Decke auf den Kopf gefallen, wenn du verstehst, was ich meine. Meine Frau, also, eigentlich ist sie ja eine Nette. Aber so den ganzen Tag unter Aufsicht, immerzu, das hab ich nicht lange ausgehalten. Ein Mann braucht doch schließlich seinen Freiraum. Wir sind Jäger und Sammler, schon immer gewesen seit den Neandertalern.“ Er grinste Werner an. „Stimmt’s?“

Der konnte nicht so ganz folgen. Was meinte Kalli damit? Er hatte noch genau die Verhaltensmaßregeln seines neuen Chefs im Ohr. „Jäger?“, fragte er verwirrt zurück.

Kalli lachte. „Ich sehe schon, du hast die Gehirnwäsche vom Steiff-Tier hinter dir. Kein privater Kontakt und so.“

Was war denn jetzt wieder dieses Steiff-Tier? Es dauerte einen Moment, bis bei Werner der Groschen fiel. Dieses Behagliche, Plüschige war ihm ja auch gleich aufgefallen. Natürlich war der Staff Captain gemeint. Das war kein schlechter Spitzname für ihren Vorgesetzten.

Kalli zwinkerte Werner vertraulich zu. „Das erklär ich meiner Frau auch immer. Jedes Mal, wenn ich wegfahre und wenn ich wieder heimkomme.“ Er nickte zu Lothar hinüber. „Stimmt’s?“

Lothar verzog das Gesicht. „Die ewige Leier. Wir können’s schon auswendig herbeten. Angucken, rumschwenken, aber den Zuckerpüppchen ja nicht zu nahe treten. Dass ich nicht lache!“ Sein verdrießliches Gesicht legte sich in traurige Falten. Hektisch rührte er seinen Kaffee um, obwohl sich der Zucker schon längst aufgelöst haben musste. Überhaupt kam er Werner ziemlich fahrig und nervös vor. Aber ihm blieb keine Zeit, den Kollegen genauer zu studieren.

„Also nun aber. Erzähl mal“, insistierte Kalli.

„Tja, was soll ich groß sagen? Ich bin Single. Seit kurzem in Rente, also so ähnlich wie bei dir. Da ist mir diese Anzeige in die Finger gefallen, und ich dachte, das wäre eine gute Idee. Man sieht was von der Welt und bekommt das auch noch bezahlt.“

Die neuen Kollegen schauten sich an und zogen vielsagend die Augenbrauen hoch.

„Falsch?“, fragte Werner verunsichert.

Kalli legte ihm eine Hand auf den Arm. „Also das mit der Welt sehen, das kannst du dir gleich abschminken. Wenn sie dich nicht für einen Landausflug einteilen, besteht deine ganze Welt ab jetzt nur noch aus diesem Schiff. Denn wenn du nicht gerade schläfst, und glaub mir, du wirst jede freie Minute dafür nutzen, dann bist du im Dienst. Also sieh zu, dass du die richtige Einstellung zu deiner Arbeit hast. Nimm mit, was du kriegen kannst. Das ist kein Zuckerschlecken.“

Lothar schaute hoch. „Na, du kannst dich doch wirklich nicht beschweren! Für dich fällt doch immer mal was ab“, wandte er ein. Plötzlich begann er, in seiner Hosentasche herum zu suchen und förderte eine Pillendose zutage. „Fast hätte ich‘s vergessen…“ Er stand auf und ging zum Tresen.

Werners Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

„Den darfst du nicht so ernst nehmen“, raunte Kalli ihm zu. „Der ist ein bisschen neben der Spur. Nichts Schlimmes, Lothar ist ein echt guter Kumpel. Nur manchmal halt etwas verpeilt, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Er hat einen an der Klatsche.“

Werner schaute ihn entgeistert an. „Was…?“

Aber da kam Lothar mit einem Glas Wasser zurück. Er öffnete die Pillendose und entnahm ihr zwei verschiedenfarbige Tabletten, die er mit einem Ruck seines Kopfes in die Kehle beförderte und dann nachspülte. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und schaute seinen Kollegen anklagend an. „Jetzt geht es wieder los.“ Seine Stimme hatte plötzlich etwas Weinerliches.

Kalli verdrehte die Augen. „Oh Mann, nicht schon wieder! Jedes Mal, wenn eine neue Tour beginnt, das braucht wirklich keiner.“ Er langte über den Tisch und packte Lothar an den schmächtigen Schultern. „Es ist alles gut. Du kennst das doch schon.“ Er schüttelte ihn richtig durch, so dass man meinte, seine Zähne klappern zu hören.

Energisch wand sich Lothar aus dem Griff heraus und zupfte sein Jackett wieder in Form. „Wir sind doch nur Preishengste, das ist alles, was wir sind. Und das weißt du genau. Ausgenutzt werden wir von den Weibern, ganz gnadenlos. Erst machen sie dich an, und dann lassen sie dich eiskalt abblitzen.“ Er sackte in sich zusammen und starrte vor sich auf den Tisch.

Werner verschlug es die Sprache, und auch Kalli blieb einen Moment stumm. „Das ist doch alles Quatsch“, versuchte er, seinen Kumpel zu beruhigen. „Reiß dich gefälligst zusammen! Die meisten sind schon ganz in Ordnung.“

Lothar reagierte nicht.

Werner lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Seine neuen Kollegen benahmen sich ja äußerst seltsam. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Peinlich berührt stand er auf. „Ich muss jetzt erst mal meine Sachen auspacken“, murmelte er, nahm seine leere Kaffeetasse und ging zum Tresen, wo er einen Korb für gebrauchtes Geschirr gesehen hatte. Er war so durcheinander, dass er fast mit einem jungen Offizier in weißer Uniform zusammengestoßen wäre.

„Entschuldigung.“

Der maß ihn mit einem skeptischen Blick. „Neu hier?“

„Ja. Mein Name ist Werner Velten. Ich bin Gentleman Host.“

Der junge Mann verzog geringschätzig die Mundwinkel. „Ja, das habe ich mir schon gedacht.“

***

Daniel hopste fröhlich voraus durch den Gang. Schwer bepackt mit ihrer großen Handtasche und dem Rucksack ihres Enkels wankte Ursel Wagner hinterher. Was hatte dieser Junge bloß alles mitgenommen! Das Ding wog so viel, als habe Daniel sein halbes Kinderzimmer dabei. Sie hörte Felix keuchen. Zum wiederholten Mal knallte der große Trolley, den er hinter sich her zog, gegen eine Wand. Mit der anderen Hand balancierte er einen ganzen Berg Jacken und Anoraks, was sein Gesichtsfeld erheblich einschränkte. „Ist es noch weit?“, stieß er hervor.

„Opa, hier! Acht-Null-Drei-Vier.“ Der Junge, der als einziger nichts zu tragen hatte, war ein Stück weiter vor einer Tür stehen geblieben.

„Na Gott sein Dank. Diese langen Gänge sind ja schrecklich.“ Felix war die Erleichterung deutlich anzumerken.

Daniel drückte die Klinke herunter, aber es tat sich nichts. Die Bordkarte fiel ihm ein. Er fand den Schlitz zum Einstecken, fummelte mit dem Plastikkärtchen daran herum, und als sich die Tür immer noch nicht öffnen ließ, trat er ungeduldig dagegen. Dumpfe Schläge waren zu hören, aber die Tür bewegte sich nicht.

„Hey, hey!“, mahnte Felix.

Ursel war auch endlich angekommen und ließ Tasche und Rucksack auf den Boden sinken. „Gib mal her“, forderte sie. „Das muss man langsam machen, mit Gefühl.“ Sie steckte die Bordkarte ein und drückte die Klinke herunter. Die Tür war schwer, und Ursel musste sich ordentlich dagegen stemmen, um sie zu öffnen.

Sowie sich der erste Spalt im Türrahmen zeigte, drängelte sich Daniel auch schon an ihr vorbei. Und blieb wie angewurzelt stehen. „Och!“, rief er enttäuscht.

Sie kam hinterher und schaute sich um. Na, wirklich groß war die Kabine nicht, aber sie würden schon zurechtkommen.

„Das ist ja winzig. Hier haben wir keinen Platz.“ Daniel hatte sich blitzschnell seine Meinung gebildet und war schon wieder auf dem Rückzug, der allerdings von Felix gestoppt wurde. An Trolley und Klamotten kam selbst ein schmächtiger Junge nicht vorbei.

„Hiergeblieben. Auf einem Schiff hat man nicht viel Platz, das ist nun mal so.“ Der Mann versuchte, dem Kind die Sachlage mit Vernunft beizubringen.

„Aber es gibt nur zwei Betten“, stellte Daniel fest, womit er Recht hatte. „Ausziehcouch“, schnaufte Felix, dem allmählich der Geduldsfaden riss. „Und jetzt mach mal Platz, damit ich die Sachen abstellen kann. Meine Arme schleifen schon auf dem Boden.“

Der Junge lachte bei dieser Vorstellung und warf sich mit Karacho auf das Bett, das näher am Fenster stand. „Das ist meins“, verkündete er.

Felix ließ den Jackenberg auf das andere Bett fallen und stellte den Trolley in den schmalen Gang dazwischen.

Endlich hatte auch Ursel eine Chance, ihr Gepäck loszuwerden. Sie reichte Daniel seinen Rucksack. „Was hast du da eigentlich alles mitgenommen? Es ist das reinste Wunder, dass sie uns mit diesem Handgepäck in den Flieger gelassen haben.“

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Meine Sachen. Die brauche ich alle.“ Mehr gab es dazu nicht zu sagen.

„Hübsch“, stellte Ursel nach einem Rundblick fest. „Schöne, große Fenster.“

Das brachte Daniel gleich auf die nächste Idee. Er sprang auf und suchte nach einem Griff, um ein Fenster zu öffnen. Aber da war nichts. Verwirrt schaute er sich nach seiner Oma um.

„Hier gibt’s Klimaanlage, die Fenster gehen nicht auf.“ Im Tonfall von Felix lag eine deutliche Warnung, dass sein Geduldsfaden kurz vor dem Reißen war.

„Wieso haben wir keinen Balkon?“, wollte Daniel wissen.

„Weil wir sehr spät gebucht haben. Und weil wir da auch noch nicht wussten, dass du mitkommst“, kam es prompt zurück.

Ursel warf ihrem Mann einen warnenden Blick zu. Es hatte sie viel Überredungskunst gekostet, bis der Enkel schließlich mitfahren durfte. Mit Job und Haushalt und dazu diesem hyperaktiven Kind war ihre Tochter bis zum Anschlag gefordert, und eine Auszeit während der Ferien wäre eigentlich dringend nötig gewesen. Aber ihr Urlaub war kurzfristig wegen eines dringenden Projekts gestrichen worden. Und so wäre tagsüber niemand da gewesen, der auf das Kind hätte aufpassen können. Dass sich das alles erst im letzten Moment herausgestellt hatte, war natürlich sehr unglücklich.

Andere Großeltern wären begeistert, wenn sie mit ihren Enkeln verreisen könnten. So zumindest hatte Ursel es ihrem Felix ‚verkauft‘. Und es würde sicherlich der zarten Kinderseele schaden, wenn er erfuhr, dass man für ihn einfach einen Aufbewahrungsort gesucht hatte wie für ein unzustellbares Postpaket.

Stirnrunzelnd betrachtete sie die Couch, die zu einem Bett ausgezogen werden konnte. Felix würde ganz sicher nicht darauf schlafen wollen, also musste sie wohl in den sauren Apfel beißen. Denn ihr Liebling von Enkel hatte ja bereits seine Wahl getroffen, was die Schlafstätte betraf. Sie ließ sich auf die Couch plumpsen. Schon diese Anreise hatte sie völlig geschafft, und wenn sie ehrlich war, grauste es ihr, zwei ganze Wochen lang Daniel im Schlepptau zu haben. Nicht, dass sie ihn nicht lieb hatte, er war nur so… wie ein Gummiball, der einfach nicht zu bändigen war. Wenn sie an ihre eigene Kindheit dachte, sie wäre froh und glücklich gewesen über solch eine Kreuzfahrt und hätte mit der kleinsten Ecke vorliebgenommen. Nun ja, die Zeiten hatten sich geändert.

***

„Bitte begeben Sie sich zu Ihren Sammelstationen.“

Die Stimme aus dem Lautsprecher hatte einen beruhigenden Tonfall, als wolle sie jede aufkommende Panik schon im Keim ersticken. Gerlinde und Petra hatten ihre Rettungswesten angelegt und schoben sich nacheinander aus der plötzlich ziemlich engen Kabinentür.

„Das ist aber auch ein steifes Ding“, beschwerte sich Petra. „Da hätten die sich ruhig was Bequemeres einfallen lassen können.“

Gerlinde hörte nicht hin, sie hatte mit sich selbst genug zu tun. Seit der Alarmton losgegangen war, befand sie sich im Ausnahmezustand. Es war wie eine Art Tunnel, der sie direkt und unmittelbar zu einem Katastrophenszenario führte. Wie würde es sein, wenn das keine Übung wäre? Wenn tatsächlich das Schiff zu sinken drohte und sie sich jetzt auf den Weg zu ihrem Rettungsboot machten? Ein Schauder überlief sie. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, eine Kreuzfahrt zu machen? Ertrinken war sicher kein schöner Tod. Sie stellte sich vor, wie das salzig-bittere Wasser in ihren Mund schwappte. Ein paarmal würde sie es noch ausspucken, so lange, wie ihre Kräfte das zuließen. Aber irgendwann würde sie unweigerlich in die schwarze, kalte Tiefe hinabgleiten.

Sie zuckte zusammen, als jemand eine Hand auf ihren Rücken legte. „Bitte gehen Sie weiter, Madam.“

Das asiatisches Gesicht vor ihr war ernst und konzentriert. Mittlerweile waren sie im Treppenhaus angekommen. Hier stand ein ganzes Spalier von Leuten in orangeroten Warnwesten, die die Passagiere in die richtige Richtung dirigierten. Niemand lächelte. War das tatsächlich nur eine Übung? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Aber dann fiel ihr ein, dass sie ja noch vertäut im Hafen lagen, und sie kam sich sehr dumm vor. Gut, dass Petra nichts von ihrer Hysterie mitbekommen hatte.

Reihe um Reihe füllte sich das Theater mit grellrot bewesteten Passagieren. Das ganz in Weiß gekleidete Personal stach heraus wie Markklößchen in einer Tomatensuppe. Gerlinde schaute sich um. Du meine Güte, es war unfassbar, dass diese Menschenmassen alle auf dem Schiff wohnten. Und dies hier war ja nur eine Musterstation von mehreren, an denen man sich jetzt zeitgleich versammelte.

Aufmerksam lauschte sie den Erläuterungen, die von einem Tonband kamen. Frauen und Kinder zuerst, das galt wohl immer noch in der Seefahrt. Aber sie mochte sich nicht vorstellen, wie es im Ernstfall zugehen würde. Wahrscheinlich würde sie von diesem übergewichtigen Typ, der in der Reihe vor ihr saß und fast anderthalb Sitze einnahm, einfach niedergetrampelt werden.

Petra, die neben ihr saß, seufzte vernehmlich. „Hoffentlich ist das hier bald zu Ende. Ich hatte gehofft, dass wir vor dem Essen noch Zeit für einen Aperitif haben.“

„Aber wir müssen doch nicht um Punkt achtzehn Uhr im Restaurant sein.“ Gerlinde fand es sehr angenehm, ihre Essenszeit selbst wählen zu können.

Petra warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Ach du Unschuldslämmchen! Wenn du später kommst, sind die besten Tische weg. Was glaubst du denn? Die Hardcoreleute stehen schon zehn Minuten früher an, nur damit sie ihren Stammplatz ergattern. Das ist wie früher beim Sommerschlussverkauf vor dem Hertie.“

„Und das jeden Tag?“ Gerlinde war entsetzt. Sie hatte wahrhaftig keine Lust, sich ständig im Kriegszustand zu befinden. Und im Dauerlauf zum Speisesaal zu traben, womöglich noch bei Seegang.

„Nun hab dich nicht so, das kriegen wir schon.“ Petra schob das Kinn vor, ein untrügliches Zeichen von Missbilligung.

Ihre Nachbarn erhoben sich, und Gerlinde schaute sich verwirrt um. Was war jetzt wieder los? Vor lauter Schlussverkauf hatte sie nicht auf die Ansage geachtet. Sie ließ sich mitziehen von der Menschenmenge.

„Legen Sie den rechten Arm auf die linke Schulter Ihres Vordermannes. Bilden Sie eine Reihe und gehen Sie zügig. Den rechten Arm auf die linke Schulter…“ Gebetsmühlenartig wiederholte eine weiß uniformierte Frau am Anfang der Reihe ihre Anweisungen.

Gerlinde wurde es heiß. Rechts – links, das verwechselte sie schon mal gern. Aber schnell stellte sie fest, dass sie mit dem Problem nicht allein war.

Man schob und drängte die Stufen hinauf. Das unterschiedliche Lauftempo der Leute schob die Menschenschlange zusammen und auseinander wie eine Ziehharmonika.

„Bist du noch da?“ fragte Gerlinde nach hinten. Keine Antwort. Sie drehte sich um, aber die Hand, die schwer auf ihrer linken Schulter lag, gehörte nicht zu Petra sondern zu einem mürrisch dreinblickenden, älteren Herren mit Strohhut. Panisch überlegte sie, ob sie ihren kleinen Decksplan eingesteckt hatte, aber sie konnte sich nicht genau erinnern. Jetzt nachschauen kam nicht infrage, sie durfte den Kontakt zum Vordermann nicht abreißen lassen.

Die Polonaise ging hinaus aufs Deck. Wenigstens war hier frische Luft, Gerlinde atmete tief durch. Die Temperatur war immer noch angenehm, obwohl die Sonne fast untergegangen war. Sie riskierte einen Blick auf den Hafen. Der Kai, auf dem es vor kurzem nur so gewimmelt hatte von Passagieren und Ladearbeitern, lag verlassen da. Dahinter bereitete sich La Palma auf den Abend vor. Die Straßenbeleuchtung brannte schon, und sie stellte sich vor, wie die Menschen dort beim Abendessen saßen.

Autsch! Der Strohhut war ihr in die Hacken getreten. Empört drehte sie sich um.

„Sie sind zu langsam, wir verlieren den Anschluss“, kam es knurrig statt einer Entschuldigung.

Endlich war der Sammelplatz erreicht. Gerlinde starrte auf ein Rettungsboot, das hoch über ihnen festgemacht war. Sie mochte sich nicht vorstellen, neben diesem unfreundlichen Kerl auf engstem Raum festzusitzen und womöglich tagelang durch die aufgewühlte See zu treiben. Starr schaute sie geradeaus. Jetzt, da sie eng nebeneinander standen, war ihr der Ausblick auf die Stadt versperrt.

Die nächste Durchsage kam nacheinander auf Deutsch und Englisch. Unruhig wechselte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, die Übung zog sich hin.

Nun wurden die einzelnen Kabinennummern aufgerufen. „Einundachtzigvierzehn?“ Fast hätte sie ihren Einsatz verpasst. Ihr „Hier“ klang leise, während sie gleichzeitig versuchte mitzukriegen, woher Petras Stimme kam. Die Freundin musste irgendwo hinter ihr stehen, aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, sich umzudrehen. Die Menschen standen so eng zusammen wie Sardinen in einer Büchse.

„Das ist eine Zumutung, uns hier so lange stehen zu lassen“, beschwerte sich der Mann mit dem Strohhut. „Auf anderen Schiffen dauert so was höchstens zehn Minuten.“

Gerlinde fand die Prozedur auch etwas langatmig, andererseits hieß das aber auch, dass auf diesem Schiff die Sache ernst genommen wurde. Und das wiederum war ein durchaus beruhigender Gedanke.

***

Der junge Offizier war zur Überwachung des vorderen Treppenhauses eingeteilt. Er nahm seine Aufgabe ernst und beobachtete Personal und Passagiere mit Argusaugen. Die Türen zu den Außendecks standen auf, und ein steter Menschenstrom schob sich nach draußen. Nach einer Weile wurde der Andrang kleiner, bis nur noch wenigen Nachzüglern von der bereitstehenden Besatzung der Weg zu den Sammelplätzen gewiesen werden musste. Der Mann schaute auf die Uhr. Sie waren gut in der Zeit, der Kapitän würde zufrieden sein mit ihrer Leistung.

Er warf einen kurzen Blick auf die Checkliste in seiner Hand. Als nächstes musste die Meldung kommen, dass die Kabinen überprüft worden waren, und dass sich keine Passagiere mehr in diesem Bereich befanden. Sein Blick wanderte zu dem jetzt menschenleeren Gang. Da kam bereits die Frau, der diese Aufgabe zugeteilt worden war. Es war eine junge Philippinin, die zügig auf ihn zu schritt. Selbst unter der voluminösen Schwimmweste, die sie wie alle anderen auch tragen musste, konnte man ihre grazile Figur erkennen. Ihr junges, hübsches Gesicht wurde von langen, schwarzen Haaren eingerahmt. Sie wirkte konzentriert und ernst. „Kabinen auf Deck Sieben überprüft. Alles in Ordnung“, meldete sie ihm.

Seine strenge Miene entspannte sich, und er zwinkerte ihr zu. „Gut gemacht, Matrose!“

Sein Lob wurde mit einem strahlenden Lächeln quittiert.

Für einen Moment leuchtete es in seinen Augen auf. Er beugte sich zu ihr hinunter. „Nach dem Essen wie immer?“, flüsterte er.

Sie nickte kaum wahrnehmbar, trat schnell einen Schritt zurück und nahm wieder Haltung an.

Verstohlen schaute er sich um, aber der kleine Dialog war von niemandem bemerkt worden. Er zog ein Funkgerät aus der Tasche seines Hemdes. „Deck Seven clear“, meldete er knapp der Brücke.

„Okay, Roger“, kam prompt die Antwort, überlagert von leisen Störgeräuschen. „Gute Arbeit, Thorsten“, kam es noch hinterher. „Sieht so aus, als habt ihr mal wieder die schnellste Zeit.“ Er lächelte zufrieden und schob das Funkgerät zurück in seine Brusttasche.

***

„Wo hast du bloß so lange gesteckt? Wir müssen sofort los“, empfing Petra Gerlinde in der Kabine.

Die zerrte an der sperrigen Schwimmweste. Endlich bekam sie den Gurt auf und fing an, die Weste ordentlich zusammenzulegen.

„Lass! Das können wir später machen“, fuhr Petra sie an.

Gehorsam legte Gerlinde die Weste aufs Bett und wollte ins Bad gehen, um noch kurz ihre Haare zu kämmen. Aber die Freundin hatte schon die Kabinentür geöffnet und war in den Flur getreten. „Jetzt komm endlich“, kommandierte sie.

Seufzend folgte Gerlinde. Im Moment war es ihr auch egal, ob sie ordentlich frisiert war. Sie hatte Hunger und Durst und freute sich schon auf die erste Mahlzeit an Bord. Sie stiegen in den Aufzug, dann ging es weiter durch einen Gang.

„Fotoshop“, las Gerlinde. „Schau mal, hier gibt’s die Fotos, die sie vorhin gemacht haben.“

Petra zuckte nur mit den Schultern und hastete weiter. Gerlinde nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit die Stelle auf dem kleinen Faltplan zu markieren, damit sie den Bordfotografen wiederfand. Eine Art Galerie folgte, moderne Gemälde in leuchtenden Farben. Dann gingen sie durch eine Bar, die sehr modern und ganz in Weiß eingerichtet war. Vielleicht ein bisschen kühl für ihren Geschmack, aber es gab bestimmt noch andere Orte, wo man sich gemütlich hinsetzen konnte.

Als sie einen Blick durch die großen Fenster warf, sah sie plötzlich die Kaimauer und blieb wie angewurzelt stehen. „Wir fahren ja schon!“, rief sie verzweifelt. „Das Schiff hat abgelegt, und ich habe es gar nicht mitgekriegt.“ Das Gesicht ganz nahe an der Scheibe versuchte sie, nach unten aufs Wasser zu schauen. Aber die Wölbung des Glases ließ das nicht zu.

Petra war auch stehengeblieben und warf einen flüchtigen Blick nach draußen. „Das wirst du noch öfter sehen“, meinte sie gleichgültig, aber Gerlinde fand, dass das allererste Ablegen in ihrem allerersten Hafen schon etwas Besonderes war.

„Kommt man hier irgendwo raus aufs Deck?“ Sie schaute sich um, konnte aber nirgends eine Tür entdecken, die ins Freie führte.

Seufzend zog Petra den kleinen Plan heraus. „Deck Elf, das Pooldeck. Aber wir sind jetzt auf Sechs, da müssten wir wieder hoch. Das dauert zu lange, bis dahin sind die besten Tische weg.“ Sie stopfte den Plan wieder in das schwarze Abendtäschchen, das an einer Goldkette von ihrer Schulter baumelte. „Wenn du jetzt nicht mitkommst, gehe ich allein. Ich hab keine Lust, nur noch einen Katzentisch zu bekommen.“

Gerlindes Blick wanderte zwischen der sich langsam entfernenden Kaimauer und der Freundin hin und her. Vermutlich hatte Petra Recht, es war höchste Zeit für das Restaurant. Und bis sie auf diesem verwirrend großen Schiff eine Tür nach draußen gefunden hatte, waren sie bestimmt schon meilenweit weg vom Hafen. „Das ist aber auch schlecht organisiert“, fand sie. „Es blieb ja kaum Zeit, die Schwimmwesten loszuwerden. Wann hätte man denn noch das Ablegen beobachten sollen?“ Ob sie sich hier jemals zurechtfinden würde? Und ohne Petra losmarschieren konnte, ganz gemütlich und ohne Hetze?

„Du hast Hunger, das ist alles. Wenn du was Gescheites gegessen hast, geht es dir gleich besser.“

Petras Diagnose hatte etwas für sich, mit leerem Magen konnte man schlecht auf Erkundungstour gehen. Wenn sie sich richtig erinnerte, war morgen Seetag. Sie würde sich schon früh auf den Weg machen und nach und nach alle Decks durchwandern. Bedauernd warf sie dem Kai, gegen den jetzt schmutziggraue Wellen klatschten, einen letzten Blick zu. „Ich komm ja schon.“

Wie von Petra vorausgesagt hatte sich bereits eine Traube von Menschen vor den noch geschlossenen Türen des Restaurants versammelt. Gerlindes gemurmeltes „Guten Abend“ fand keine Beachtung. Man übte sich in der Kunst zu drängeln, ohne dass es so aussah. Zentimeterweises Verschieben der Füße oder auch nur die Gewichtsverlagerung des Körpers brachten kleine, raumstrategische Vorteile, die man in der Summe zum unauffälligen Überholen des Vordermannes ausbauen konnte. Gerlinde stellte fest, dass Petra eine wahre Meisterin in dieser Technik war. Während sie einfach stehenblieb, trippelte die scheinbar gelangweilt hin und her – und befand sich plötzlich vor einer Gruppe von vier Personen, hinter der sie sich anfangs angestellt hatte.

Während Gerlinde noch überlegte, wie sie ihr möglichst unauffällig folgen konnte, kam Bewegung in die Menge. „Es geht los“, raunte man. Und tatsächlich: Wie durch das gebündelte ,Simsalabim‘ der hungrigen Meute herbeigewünscht öffneten sich die Flügeltüren des Lokals. Ein Herr in weißer Uniform und eine Dame in ebensolchem Kostüm flankierten den Eingang und murmelten unablässig ein „Guten Abend“, das sich jedoch weniger nach höflicher Begrüßung als nach einer Beschwörungsformel anhörte. Es war der vergebliche Versuch, die beginnende Stampede einzudämmen. Der Menschenstrom drängte sich in den schmalen Eingang des Restaurants, was nicht ohne Rempeln und Stoßen abging.

Da, ein neues Hindernis in Form eines - dieses Mal in schönstem Marineblau gekleideten – jungen Mannes, der etwas hilflos neben einem Plastikbehälter stand.

„Bitte desinfizieren Sie Ihre Hände!“, bat er.

Die meisten Vorbeischiebenden würdigten ihn keines Blickes. Seine resignierte Miene zeigte, dass er sich der Aussichtslosigkeit seines Postens absolut bewusst war. Auf dem Weg zum Essen stellte er nur einen weiteren Stolperstein dar, den es zu umrunden galt. Die Wenigen, die brav ihre Hände unter eine Sprühdüse hielten, die er mit einem kurzen Fingerdruck auf eine Taste auslöste, zogen sich sofort den Unmut der Nachrücker zu.

Gerlinde zögerte, was allein schon genügte, um sich einen Stoß in den Rücken einzuhandeln. Das war ja tatsächlich wie im Schlussverkauf! Nun wurde es ihr aber doch zu bunt. Demonstrativ strahlte sie den Blaubetuchten an und hielt eine Hand unter das Ventil. Eine farblose, kühle Flüssigkeit sprühte über ihre Finger. Sie nickte dankend und rieb sich beide Hände damit ein. Ein dezenter Geruch machte sich breit, und die Feuchtigkeit zog sofort in die Haut ein. Was die Leute nur hatten, das war doch wirklich nicht schlimm und nur Sekundensache gewesen. Aber als sie wieder hoch schaute, musste sie feststellen, dass Petra gänzlich aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

Der Gang öffnete sich zu einem Raum, nein, einem riesigen Saal, der sich über zwei Etagen ausbreitete. Eine geschwungene Freitreppe verband die beiden Ebenen, neben der ein leibhaftiger Konzertflügel stand. Entzückt schaute Gerlinde dem Pianisten in Smoking und Fliege zu, der inbrünstig die Tasten bearbeitete. Ein beschwingtes Potpourri von Walzern erklang und gab der Atmosphäre etwas Festliches. Aber auch so war Gerlinde völlig geblendet von dem Bild, der sich ihr bot. Makellos weiße Tischdecken leuchteten im der angenehmen indirekten Beleuchtung. Zwischen blank poliertem Besteck thronten kunstvoll gefaltete Servietten. Und im weichen Licht der vielen Lampen spiegelten sich die Gläser, die in verwirrender Vielfalt vor jedem Gedeck standen. Weinrotes Polster lud zum Sitzen ein, es gab bequeme Sessel und Bänke mit hohen Lehnen. Sie wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Solch ein Restaurant hatte sie noch nie betreten, und erst nach einer Weile kam ihr wieder in den Sinn, dass sie sich ja zudem auf einem Schiff befand. Sie stellte sich an den Rand des Mahlstroms, um einen Moment lang alles in Ruhe betrachten zu können.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie für so eine Umgebung überhaupt nicht richtig angezogen war. Aufgeregt schaute sie an sich herunter, wie sah sie nur aus! Mit ihrer schlichten schwarzen Hose, einem dezent gemusterten Top und einer leichten Jacke sah sie alles andere als festlich aus. Sie hatte vorher nicht auf die Kleidung der Leute um sich herum geachtet, aber jetzt warf sie einen prüfenden Blick auf die Massen, die immer noch in Wellen hereinströmten. Da war alles vertreten, sogar Jeans entdeckte sie. Ganz klar hatten sich die Damen mit ihrer Garderobe mehr Mühe gegeben, während der eine oder andere Herr mit Jeans und kariertem, kurzärmligen Hemd doch eher zu einem Stadtbummel gepasst hätte als zu diesem eleganten Dinner. Die Weiblichkeit hatte ganz entschieden aufgerüstet. Glitzer, Pailletten, Dekolletés mit teurem Schmuck, es gab so einiges zu sehen, das durchaus auch in die Oper gepasst hätte. Mit ihrer Kleidung lag sie aber im guten Mittelfeld.

Es war höchste Zeit, sich endlich nach Petra umzusehen. Sie versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, was die Freundin anhatte. Es war ja alles so hektisch gewesen vorhin, dass sie nicht darauf geachtet hatte. Suchend schaute sie sich um.

Da näherte sich ein Kellner, jedenfalls nahm sie an, dass es einer war. Er trug keine Uniform sondern eine schwarze Kombination mit blütenweißem Hemd und einer adrett gebundenen Fliege. Sein asiatisch-rundes Gesicht strahlte freundliche Gelassenheit aus. „Ein Platz für Sie, Madam?“

Gerlinde schüttelte den Kopf. „Ich suche meine Freundin. Wir haben uns vor dem Eingang verloren. Es waren so viele Leute…“

Er nickte verstehend und schaute sich nun ebenfalls um, obwohl er natürlich keine Ahnung haben konnte, wie ihre Freundin aussah. Gerlinde musste lächeln. So viel Hilfsbereitschaft und so viel Naivität, erfrischend und gleichzeitig rührend in seiner Sinnlosigkeit! „Ich gehe einfach einmal durch. Irgendwo werde ich sie schon entdecken“, erklärte sie ihm ihren Plan.

Er nickte, machte aber keine Anstalten, ihr von der Seite zu weichen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, vor ihm an den Reihen der Tische vorbeizugehen. Der Kellner folgte ihr wie ein Schatten, und sie spürte, wie sie Blicke auf sich zog. Es war ihr unangenehm, aber was sollte sie machen? Es konnte ja nicht so schwer sein, Petra aufzuspüren, auch wenn der Raum ziemlich groß war, und es bestimmt mehr als hundert Tische gab.

„Gerlinde!“

Erleichtert drehte sie sich in die Richtung, aus der der Ruf kam. Dass sie ihn über die dezent murmelnde, in der Summe aber trotzdem laute Geräuschkulisse gehört hatte, kam ihr fast wie ein Wunder vor. Da stand Petra und winkte ihr zu. Sie hatte einen Zweiertisch belegt und für sich den Platz auf der Bank gewählt, von dem aus man einen guten Blick in den Raum hatte.

Erleichtert wandte sich Gerlinde an ihren Schatten. „Da ist sie.“ Sie bedankte sich mit einem Lächeln und steuerte auf Petra zu. Aber noch ehe sie nach der Lehne des Stuhls greifen konnte, um ihn unter dem Tisch hervorzuziehen, hielt sie ein schwarzbetuchter Arm zurück.

„Madam?“ Ihr hartnäckiger Schatten rückte das Möbel zurecht und wartete, bis sie darauf Platz genommen hatte. Dann griff er mit einer schwungvollen Bewegung nach der Serviette vor ihr auf dem Tisch. Im Bruchteil einer Sekunde war die kunstvolle Blüte, die jemand in mühevoller Handarbeit gefaltet haben musste, zerstört. Mit leichter Hand wurde die Serviette auf Gerlindes Schoss gelegt.

Starr vor Staunen hatte sie zugeschaut. Wie schade, sie hätte gerne herausgefunden, wie diese Blüte gemacht war, sie langsam auseinandergefaltet und die Technik genau studiert. Eine Speisekarte wurde ihr gereicht, und jemand schenkte Wasser aus einer Karaffe in eines der drei Gläser vor ihr.

Petra weidete sich an ihrem verdutzten Gesichtsausdruck. „Nicht schlecht, gell? Das hat Stil. Daran kann man sich gewöhnen.“

Gerlinde konnte nur den Kopf schütteln. „Das ist ja unglaublich.“

„Hab ich dir zu viel versprochen?“ Petra triumphierte. „Schau erst mal in die Speisekarte. Du kannst alles haben, was du willst. Und wenn du nicht satt bist, kriegste Nachschlag.“

Gespannt schlug sie die Karte auf und stellte fest, dass es zwei verschiedene Menüs mit jeweils fünf Gängen gab. Man konnte auch alles mit einander kombinieren. Die erste Speisenfolge las sich toll, aber die zweite stand ihr in nichts nach und bestand aus leichteren und zum Teil vegetarischen Gerichten. Schon das Lesen der Karte war ein Genuss, auf den sie sich jetzt ganz konzentrierte.

„Wein, Madam?“

Sie hatte den Kellner überhaupt nicht bemerkt, der sich ihr von der Seite genähert hatte. Automatisch nickte sie.

„Weißwein?“, fragte er nach.

„Ja, bitte.“

Petra hatte bereits entschieden, was sie essen wollte. Sie legte die Speisekarte beiseite. „Ich hab einen guten Tisch ergattert, von hier aus kann man alles sehen.“

Das stimmte, jedenfalls was Petras Platz betraf. Gerlinde saß mit dem Rücken zum Raum und hatte als Ausblick nur ihre Tischpartnerin. Und die weinrote Bank, auf der die saß. Sie unterdrückte einen Kommentar. Vielleicht konnten sie ja am nächsten Abend die Plätze wechseln, so dass sie auch einmal in den Genuss kam, dem Ballett der Kellner zuzusehen.

Sie drehte sich auf ihrem Stuhl herum, um wenigstens einen kurzen Blick auf den Raum werfen zu können. Viele Tische waren inzwischen besetzt, Petra hatte durchaus Recht gehabt mir ihrer Eile.

Da spürte sie eine Bewegung neben sich. Ein Kellner schenkte ihr Weinglas voll, während sich ein zweiter von der anderen Seite näherte. In der Hand hielt er eine Art Handy bereit und wollte offensichtlich ihre Bestellung entgegennehmen. Vor lauter Schauen und Staunen hatte sie noch nichts ausgewählt. Petra diktierte dem Mann, der eifrig auf seinem Handy herumtippte. Dann schaute er Gerlinde fragend an.

„Für mich dasselbe bitte“, murmelte sie der Einfachheit halber. Wieder markierte er auf seinem Gerät die einzelnen Posten und verschwand dann.

Sofort hob Petra ihr Glas. „Prost! Auf einen schönen Urlaub!“

Der Wein war angenehm kühl, nicht zu trocken und gefährlich süffig.

„Hab ich doch gut gemacht, oder?“ Petra forderte das Lob ein, das ihr sicher auch zustand. Ihr war es schließlich zu verdanken, dass sie hier saßen. Dieses tolle Schiff, die Aussicht auf ein fünfgängiges Abendessen in luxuriöser Umgebung, Gerlinde schüttelte den Kopf. Ach Henry, dachte sie und wusste selbst nicht, ob sie traurig darüber war, dass er das nicht mehr erleben konnte. Oder ob die Freude überwog, weil sie selbst alles genießen konnte, was ihr so überreich geboten wurde.

Verstohlen warf sie einen Blick auf den Nachbartisch, an dem ein älteres Paar saß. Die Art, wie sie sich anschwiegen, zeugte von einer langen Ehe und großer Vertrautheit. Ein Kloß setzte sich in ihrer Kehle fest, den sie tapfer mit einem weiteren Schluck Wein hinunterspülte. Sentimentalität nützte keinem was, und sie wollte sich doch nicht selbst diesen tollen Abend verderben.

Aber Moment mal, die Gäste kannte sie doch! Ja genau, die beiden hatte sie beim Einschiffen an der Rezeption gesehen. Das feuerrote Haar der Frau schimmerte im weichen Licht. Auch jetzt war sie wieder sehr extravagant gekleidet. Sie trug ein langes Kleid in changierenden Grüntönen. Über ihren Schultern lag eine dunkelblaue Stola mit langen Fransen. Sehr aufrecht saß sie am Tisch, hob ihr Glas und prostete ihrem Mann zu. Die Blicke, die sie austauschten, waren so intensiv, dass es Gerlinde ganz warm wurde. Verlegen schaute sie weg.

Der Kellner ordnete das benötigte Besteck entsprechend den von den Damen gewählten Gängen. Und dann ging es los. Wie im Schlaraffenland wurden die Speisen auf den Tisch gebracht, in zügigem Ablauf, aber doch nicht so schnell, dass man sich gehetzt fühlte. Wie schafften es die Kellner bloß, den Überblick zu behalten? Fasziniert beobachtete Gerlinde, dass auch an einem Vierertisch allen Personen gleichzeitig der nächste Gang serviert wurde.

„Die Küche ist hier unten drunter. Und es gibt eine Rolltreppe für die Kellner, damit es schneller geht“, berichtete Petra. „Hab ich neulich im Fernsehen gesehen, da gab es eine Doku über das Schiff.“

„Ach komm!“ Gerlinde war nicht sicher, ob ihr die Freundin nicht einen gewaltigen Bären aufbinden wollte. Eine Rolltreppe, das wurde ja immer toller! Sie linste zu einer Tür, die sich automatisch öffnete und schloss, und immer wieder Kellner mit einer neuen Ladung hübsch dekorierter Teller ausspie. Aber es war unmöglich zu sehen, was sich dahinter verbarg.

„Schnapsi-Taxi!“, tönte es durch den Raum. Ein Servierwagen, der unter der Last der Flaschen und Gläser fast zusammenbrach, wurde von zwei offensichtlich blendend gelaunten Kellnern vorbeigeschoben. Sie lachten und scherzten mit den Gästen, hielten an, um etwas auszuschenken, und fuhren dann weiter zum nächsten Tisch. Als sie bei dem älteren Paar am Nachbartisch angelangt waren, schaute Gerlinde neugierig hinüber. Die zwei waren mit dem Essen fertig und genossen gerade die letzten Schlucke Wein aus ihren Gläsern. Die redseligen Kellner schienen von der außergewöhnlichen Frau völlig fasziniert zu sein.

„Ein kleiner Cognac für Madam?“, fragte der eine und hielt einladend eine Flasche hoch.

Die Frau zuckte zusammen, offenbar hatte sie die beiden mit ihrem Wagen vorher nicht bemerkt. Sie schaute hilfesuchend zu ihrem Mann. Der sprang auf und stellte sich zwischen sie und die beiden Kellner, als gelte es, sie mit seinem Leben zu verteidigen. „Nein, wir möchten nichts. Lassen Sie uns in Ruhe!“ Er versuchte, den einen Kellner wegzuschieben.

Das eben noch lächelnde Gesicht des Asiaten wurde besorgt. „Nein, nein“, wehrte er ab. „Ich wollte doch nur…“ Hilflos brach er ab und zuckte mit den Schultern. Dann sagte er etwas zu seinem Kollegen, und gemeinsam schoben sie ihren Wagen weiter zum Tisch von Gerlinde und Petra. Auch die beiden waren inzwischen mit dem Essen fertig und bei einem Espresso angelangt.

„Magst du was zur Verdauung?“, fragte Petra.

Gerlinde schüttelte den Kopf. „Ich platze gleich. Das war viel zu viel. Und dann auch noch abends. Morgen muss ich mir das besser einteilen.“

Petra zuckte mit den Schultern. „Ich nehm‘ alles mit, was reingeht. Hab das ja schließlich auch bezahlt. Abnehmen kann ich zu Hause. Du kannst dir das ja sowieso leisten, so dünn, wie du bist“, fügte sie mit vorwurfsvollem Unterton hinzu.

„Dafür kann ich doch nichts“, verteidigte sich Gerlinde, aber Petra war mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders. Sie zog das Tagesprogramm aus ihrer Tasche und studierte es eingehend. Dann checkte sie ihre Armbanduhr.

„Wir haben eine halbe Stunde Zeit bis zur Farewellparty. Das reicht zum Frischmachen.“ Sie stand auf und schaute Gerlinde auffordernd an. „Wollen wir?“

Der Rückweg zur Kabine kam Gerlinde bereits vage bekannt vor, auch wenn sie sich noch nicht zugetraut hätte, sich alleine im Gewirr der Decks und Gänge zurechtzufinden. Nach der Geräuschkulisse im Restaurant war die Ruhe in der Kabine eine Wohltat.

„Aha, die waren schon da“, bemerkte Petra.

„Wer?“ Aber gleich darauf entdeckte Gerlinde, dass die Betten aufgedeckt waren. Auf jedem Kopfkissen lag eine hübsch eingewickelte Praline als Betthupferl. „Ach, wie nett!“, sagte sie total überwältigt. Man kam sich hier wirklich vor wie in einem Luxushotel, die vielen Aufmerksamkeiten, die Freundlichkeit des Personals und überhaupt: die tolle Umgebung – nie hätte sie das erwartet.

Vorsichtig setzte sie sich auf den Rand ihres Bettes, während Petra im Bad verschwand. „Dauert nur eine Minute!“

Am Fußende lag ein Blatt Papier, es war das Programm für morgen. Du meine Güte, das ging ja schon morgens um sieben los mit Frühgymnastik. Und davor gab es sogar ein ,Frühstück für Frühaufsteher‘. Sie hatte sich vorgenommen, in aller Ruhe durch das Schiff zu schlendern und alles genau in Augenschein zu nehmen. Aber ihr schwante, dass Petra so viele Programmpunkte wie möglich abarbeiten wollte. Es war aber auch sagenhaft, was so alles geboten wurde. Am Vormittag gab es einen Vortrag über die Kanaren. Gleichzeitig aber auch einen Malkurs. Die Boutiquen hatten geöffnet und boten Sonderangebote an. Um elf Uhr konnte man bei einem Auftritt des bordeigenen Balletts einen Cocktail auf dem Sonnendeck genießen. Und so ging es weiter bis zum späten Abend. Uff, das wird ein Arbeitsurlaub, dachte sie, innerlich seufzend. Und Petra schien einen schier unerschöpflichen Vorrat an Energie zu besitzen. Sehnsüchtig schaute sie auf das Kopfkissen, das einladend weich vor ihr lag. Aber es nützte nichts, Petra schoss schon wieder aus dem Bad heraus. „Zieh dir was Warmes über, auf dem Sonnendeck wird es kühl sein“, riet sie und riss schwungvoll die Tür des Kleiderschranks auf.

„Ich würde lieber hier bleiben“, wagte Gerlinde einen zaghaften Vorstoß.

Petra drehte sich zu ihr um. „Du willst doch nicht etwa die Farewellparty verpassen? Das kommt überhaupt nicht infrage.“

Aber Gerlindes Gesicht zeigte deutliche Spuren von Müdigkeit, die selbst Petra nicht übersehen konnte. „Wir trinken einen Sekt und bleiben eine halbe Stunde, okay?“, schlug sie vor. Gerlinde nickte ergeben.

Gemeinsam stemmten sie sich gegen die Tür, die zum Außendeck führte, und bekamen sie nur mit viel Mühe auf. Sofort blies ihnen ein strammer Wind entgegen, und Gerlinde war Petra dankbar für den Tipp, warme Kleidung anzuziehen. Sie arbeitete sich zur Reling vor und hielt sich am Geländer fest. Die Nacht war tiefschwarz, hier draußen auf dem Meer gab es außer dem hell erleuchteten Schiff keine anderen Lichtquellen. Staunend entdeckte sie am Himmel eine große Zahl von Sternen, und ein noch nicht ganz runder Mond zauberte glitzernde Punkte auf die See. Fasziniert schaute sie auf das Wasser, und für einen Moment vergaß sie alles um sich herum. Der Ozean strömte eine große Ruhe aus, die sich auf sie übertrug. Sie atmete die salzige Luft ein und hatte das Gefühl, hier ewig stehen zu können, nur um zu schauen und dieses Gefühl von Frieden zu genießen. Selbst den Wind, der ihre Haare zerzauste, nahm sie kaum wahr. Ihr Blick schweifte zurück. Von Gran Canaria war fast nichts mehr zu sehen, nur ganz schwach konnte sie winzige Lichtpunkte erkennen, die am Horizont zu tanzen schienen.

„Wir sind ein Deck zu weit oben.“ Petra war neben sie getreten und zeigte hinunter auf das hell erleuchtete Pooldeck. „Da unten gibt’s den Sekt.“

Widerstrebend drehte sich Gerlinde um. Eine ansehnliche Menschenmenge hatte sich da versammelt, der lange Tisch mit den Sektgläsern war regelrecht umzingelt. Erst jetzt bekam sie die Partymusik mit, die sich hier oben unter dem weiten Himmel verlor. Petra war schon auf dem Weg zur Treppe, und sie musste ihr folgen, wenn sie sie nicht im Gewühle verlieren wollte.

„Y-M-C-A“, der Partyhit dröhnte in den Ohren, und die meisten Leute machten die Tanzbewegungen mit, die ein Mann auf der erhöhten Plattform vorgab. Petra war sofort dabei. Es war ihr ein Leichtes gewesen, sich durch die Menschenmenge bis zum Sektstand vorzuarbeiten und zwei Gläser zu ergattern.

„Das ist ja Plastik“, stellte Gerlinde verwundert fest.

„Ja klar, an Deck gibt es kein echtes Glas. Viel zu gefährlich wegen der Scherben.“ Wie so oft hatte Petra auch jetzt eine einleuchtende Erklärung parat.

Es war ihnen gelungen, zwei Plätze an einem der Stehtische zu ergattern, wo sie ihre Getränke abstellen konnten. Und dann gab es für Petra kein Halten mehr, sie musste einfach tanzen und zog die widerstrebende Gerlinde mit.

Das wundervolle Schiff, diese unwirkliche Atmosphäre, alles, was sie heute schon erlebt hatte, plötzlich lösten sich diese ganzen Eindrücke auf in einem Gefühl unbändiger Lebensfreude. Wie alle anderen begann nun auch Gerlinde, ihre Arme hin und her zu schwenken. Ihre Füße bewegten sich im Takt der Musik, und sie ertappte sich dabei, dass sie sogar mitsang. Sie war weit weg von zu Hause, von allen Sorgen und Problemen, und hatte den ganzen Urlaub noch vor sich. Erst nach einer ganzen Weile kam sie wieder herunter von ihrer Euphorie. Was war nur in sie gefahren, so kannte sie sich ja gar nicht. Doch sie hatte sich so gut dabei gefühlt wie schon lange nicht mehr.

Der Sekt war längst ausgetrunken, aber Petra organisierte Nachschub. „Na endlich, ich dachte schon, ich krieg dich überhaupt nicht locker!“ Sie nahm Gerlinde in den Arm und drückte sie. „Und? Gefällt’s dir?“

Gerlinde nickte strahlend, griff nach ihrem Sektglas und trank es in einem Zug aus.

WIndstärke 4 mit leichter Dünung

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