Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 30 - Roy Palmer - Страница 5
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ОглавлениеErst in der vierten Woche der Fahrt ließ Philip Hasard Killigrew die sprichwörtliche Katze aus dem Sack. An diesem bedeutungsvollen Tag führte Ferris Tucker als „Kapitän“ das Oberkommando über die „Isabella“. Erst gegen Abend löste Hasard ihn ab und erteilte den Befehl, alle Männer sollten sich auf der Kuhl versammeln. Ferris Tucker entfernte sich ziemlich verlegen. Ganz geheuer war es ihm nicht gewesen, den Kapitän zu mimen. Gemeinsam mit Ben Brighton, Smoky und Karl von Hutten trommelte er die Crew zusammen. Hasard stand auf dem Quarterdeck, als sie sich am Großmast zusammendrängten und erwartungsvoll zu ihm aufschauten. Er blickte sie der Reihe nach an. Es waren 26 Mann, davon dreizehn Mitglieder der alten Stammcrew, seit auch Ed Carberry die „Golden Hind“ von Francis Drake verlassen hatte und zu dem Seewolf gestoßen war. Zwölf waren ehemalige Karibik-Piraten – mit Gordon Watts waren es dreizehn gewesen. Karl von Hutten, der sechsundzwanzigste, war eigentlich ein Außenseiter, jedoch nur seiner Herkunft nach. Er hatte sich binnen kürzester Zeit tadellos angepaßt und war wie alle anderen ein Mann, auf den Hasard nicht mehr verzichten mochte.
Hasard begann: „Ich glaube, ihr habt es verdient, eine Erklärung zu erhalten. Vorher möchte ich aber wissen, ob sich irgend jemand von euch schon mal präzise Gedanken darüber gemacht hat, warum wir uns auf Südkurs befinden.“
Karl von Hutten meldete sich zu Wort: „Meiner Meinung nach willst du das Schicksal herausfordern, Hasard. Angst habe ich nicht, wenn es darum geht, den verfluchten Philips eins zu verpassen. Nur will ich dir eins zu bedenken geben: Nach unserem Schlag gegen Panama muß bei den Spaniern nun wirklich allerhöchste Alarmstufe herrschen, ganz abgesehen davon, daß ja auch Francis Drake unablässig im Südmeer Beute gerissen hat. So wie ich die Spanier kenne – und ich kenne sie sehr gut –, lassen sie nichts unversucht, um uns zu fassen und zu vernichten. Vielleicht bist du so verwegen, durch die Magellanstraße nach England zurücksegeln zu wollen. Aber ich bin sicher, daß unser Gegner sie bereits abgeriegelt hat und auf uns lauert.“
„Mit anderen Worten“, rief Jean Ribault, „Karl ist der Ansicht, daß ein solcher Plan reiner Wahnsinn ist! Die Männer deiner alten Crew wissen im übrigen doch auch, was da unten für eine Hölle los war. Warum sollen wir unbedingt den Tod suchen?“
„Warum läßt du uns wie Fische am Haken zappeln?“ fragte Stenmark.
Hasard grinste. Es war schon einige Zeit her, daß er nicht mehr in ihrer Gegenwart gelächelt hatte. Manch einem fiel der berühmte Stein vom Herzen. Zum ersten Mal, seitdem sie Culebra verlassen hatten, schien Hasard sich wieder in den alten Seewolf zurückzuverwandeln. Er hatte die Crew fester in der Hand, hatte alle Zweifel ausgeräumt, die ihn wochenlang bewegt hatten. „Erinnert ihr euch noch an die ‚Victoria‘?“ fragte er.
Plötzlich lachten die Männer. Sie stießen sich an, tauschten Blicke aus und rissen Witze über jenen Raid, in dem sie Mitte März vor Panama die Galeonen der Spanier gekapert und ausgeplündert hatten. Und ob sie sich an die „Victoria“ erinnerten! Sie hatten sie um eine stattliche Ladung Perlen erleichtert, den gesammelten Reichtum in den Frachträumen der „Isabella“ verstaut und dann weitere spanische Galeonen versenkt. Die wenigen Besatzungsmitglieder, die sich an Bord befunden hatten, hatten sie auf den Panama vorgelagerten Inseln ausgesetzt.
„Also“„ meinte Ben Brighton, „entweder bin ich ein bißchen schwer von Begriff, oder ich habe heute meinen schlechten Tag – jedenfalls hab ich immer noch nicht kapiert, auf was du hinauswillst.“
Hasard grinste immer noch, in seinen Augen tanzten plötzlich tausend Teufel. Er sah Dan O’Flynn an, aber in dem Gesicht des Bürschchens verriet noch keine Regung, daß er endlich verstanden hatte. Dabei hätte er der erste sein müssen, der begriff!
Hasard sagte gelassen: „Ich habe die ‚Victoria‘ von oben bis unten durchsucht, wie ihr wißt. Was euch nicht bekannt ist: In der Kapitänskammer stieß ich auf einen Mann, der gerade eine Truhe durchwühlte. Der Kapitän Juan Bravo de Madinga war ja nicht an Bord, sondern befand sich auf Landgang mit dem Hafenkommandanten und Konsorten. Ich knöpfte mir also den Eindringling vor. Erst wollte er nicht mit der Wahrheit rausrücken. Aber dann stellte sich heraus, daß er ein Spitzel des Vizekönigs von Peru war. Er hatte den Auftrag, de Madinga zu beschatten. De Madinga stand in dem Verdacht, seit ungefähr zwei Jahren von allen Schatzladungen, die er nach Panama bringen sollte, eine ganz gehörige Portion für sich abzuzweigen.“
„Also ein windiger Hund wie dieser Hafenkommandant de Roja und der Präfekt de Villanueva“, warf Jean Ribault ein. „Gibt es denn keinen Don, der nicht an Unterschlagungen und Betrug denkt? Die kennen keine Loyalität und gegenseitiges Vertrauen, sondern jeder denkt nur an seinen persönlichen Vorteil. Meiner Ansicht nach sind das glatte Dekadenzerscheinungen.“
„Was ist das Dekadenz?“ wollte Nils Larsen wissen.
„Verfall“, gab Karl von Hutten zurück.
„Der Spion heißt Sancho Ortiz“, fuhr Hasard fort. „Ich beutelte ihn ordentlich durch und klopfte noch aus ihm heraus, daß er bereits mehr in Erfahrung gebracht hatte, als er zugeben wollte. De Madinga hatte seine Privatschätze in einer kleinen Bucht südlich von Callao verborgen. Die ‚Victoria‘ hatte als Heimathafen ja Callao, wenn ihr euch erinnert. Das geheime Versteck hatte de Madinga auf einer Seekarte mit einem Kreuz bezeichnet.“
„Ha!“ stieß Dan mit einem Mal aus. „Jetzt geht mir ein ganzer Kerzenleuchter auf! Ich war ja dabei, als du diesen Ortiz aushorchtest, Hasard. Wir haben ihn zusammen mit den anderen Besatzungsmitgliedern auf der Insel Taboga ausgesetzt, wo er noch schmort, wenn ihn keiner gefunden hat.“
„Ich untersuchte die Truhe und fand eine braune Mappe aus Schweinsleder“, sagte Hasard. Er sah, wie sich die Augen der Männer weiteten, wie hier und dort Münder aufklappten. Geradezu genüßlich berichtete er weiter: „Darin steckte eine Küstenkarte des Gebietes um Callao. Etwa neun Meilen südöstlich von der Stadt ist eine Bucht mit einem Kreuz markiert. Die Bucht liegt oberhalb von Chorillos, einem winzigen Hafenort – etwa zwei Meilen davon entfernt.“
„Mannmann!“ rief Dan O’Flynn. „Du hast also vor, hinzusegeln und den Schatz zu heben? Daß ich nicht eher darauf gekommen bin!“
Hasard zog etwas aus der Tasche hervor: die Schweinsledermappe. Er rollte demonstrativ die Küstenkarte auf. Seine Männer begannen zu jubeln. Die Stimmung an Bord war vollends wiederhergestellt. Die Aussicht auf neue Beute brachte die Crew wieder ordentlich in Schwung.
„Das wird eine glatte Sache“ sagte Jeff Bowie. „Wir segeln in aller Ruhe dorthin, suchen den Schatz, reißen ihn uns unter den Nagel und hauen ab, ohne daß uns jemand in die Quere gerät.“
„Fast zu schön, um wahr zu sein“, meinte Matt Davies.
Hasard hob die Rechte, und die Männer verstummten sofort wieder. „Tut mir leid, aber ich muß euch einen Dämpfer aufsetzen. So einfach ist die Angelegenheit nun auch wieder nicht. Immerhin sind nicht nur wir allein auf den Schatz erpicht.“
„Wer denn noch?“ rief Dan. „De Madinga ist von mir im Duell getötet worden, als deine große Komödie beim Festbankett des Gouverneurs von Panama platzte und der Capitan euch den Weg verstellen wollte. Und dieser Sancho Ortiz wird seinem Auftraggeber wohl kaum bereits Bericht erstattet haben.“
Der Seewolf zog die Augenbrauen hoch. „Da würde ich mal nicht so sicher sein. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen, aber es könnte sein, daß der Schatz bereits gefunden worden ist. Unser einziger Trumpf ist die Karte, denn Ortiz hatte sie noch nicht betrachtet, als ich ihn in der Kapitänskammer der ‚Victoria‘ erwischte. Er weiß also nicht genau, wo der Schatz liegt.“
Ben Brighton trat neben ihn. „Dann also nichts wie nach Callao. Wir klüsen, was das Zeug hält, damit wir nicht aus der Übung kommen.“ Mit flüchtigem Grinsen blickte er auf Ferris Tucker. „Also, Männer, wer ist von jetzt ab wieder der Kapitän auf der ‚Isabella‘?“
„Hasard!“ brüllten die Männer. „Es lebe der Seewolf!“
Das einmastige Fischerboot dümpelte in Sichtweite der Küste rund zwanzig Meilen südlich von Callao dahin. Der einsame Mann an Bord hatte die Netze ausgeworfen, aber das nur zum Schein. Im Grunde war es ihm völlig gleichgültig, ob er etwas fing oder nicht. Denn seine Existenz hing nicht von ein paar armseligen Fischen und den Launen des Meeres, sondern von weitaus bedeutsameren Dingen ab.
Er war ein schlanker, dunkelhaariger Mann. Er hatte es sich gemütlich gemacht, indem er sich zwischen zwei Duchten gesetzt und mit dem Rücken gegen die Backbordwand gelehnt, die Beine nach Steuerbord ausgestreckt hatte. Seine Kleidung ähnelte der derben Kluft eines Fischers, doch auch sie war nur Tarnung. Seine Hände waren nicht schwielig und grob wie die eines an harte körperliche Arbeit gewöhnten Mannes. Sie waren feingliedrig und weich. Wer seine Gesten beobachtete, wußte, daß er nicht in den Spelunken winziger, unbedeutender Dörfer, sondern in vornehmen Kreisen verkehrte.
Seine Name war Sancho Ortiz.
Ortiz lauschte dem sanften Schmatzen, mit dem die Wellen des Ozeans an den Bordwänden des Einmasters entlangleckten, und gab sich dabei seinen Überlegungen hin. Er wußte nicht, wie der bärenstarke Mann hieß, der ihn an Bord der „Victoria“ überwältigt und zur Preisgabe seines Geheimnisses gezwungen hatte. Das einzige, was er über ihn wußte, war, daß er ein Engländer und damit in seinen Augen ein gottverfluchter Hundesohn war.
Ortiz wollte diesen Engländer überraschen, sich an ihm rächen und verhindern, daß ihm der Schatz des Juan Bravo de Madinga in die Hände fiel. Er war überzeugt, daß sie sich irgendwann treffen würden – Erzfeinde, die sich gegenseitig zu überlisten und umzubringen trachten würden. Ortiz’ Handeln seit dem Überfall auf die „Victoria“ wurde von diesen Gedanken bestimmt.
Manchmal führte er Selbstgespräche. Dann sagte er: „Warte nur, Ingles, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“ oder „Wir haben noch eine Rechnung miteinander zu begleichen“.
Was geschehen war, konnte jener verhaßte englische Freibeuter nicht einmal ahnen. Ortiz grinste bei dem Gedanken, daß jener vielleicht meinte, die Besatzungsmitglieder der versenkten Galeone säßen noch auf den Inseln vor Panama fest. Aber sie hatten sich schon bald nach ihrer unfreiwilligen Landung auf Taboga durch Rauchzeichen bemerkbar gemacht. Eine Galeone aus Guayaquil war aufgekreuzt und hatte sie nach Panama gebracht, wo sie den Überfall in allen Einzelheiten geschildert hatten. Sie hatten auch von dem Aufruhr vernommen, den es dort wegen der verdammten Engländer noch gegeben hatte – daß der Hafenkommandant und der Polizeipräfekt entführt worden waren zum Beispiel.
Er, Sancho Ortiz, hatte all diesen Dingen nur noch relativ wenig Bedentung beigemessen. Er war verschlagen, skrupellos, wendig und nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Dank seiner blendenden Umgangsformen hatte er es verstanden, sich sehr schnell aus der ganzen Affäre zu ziehen, überflüssige Vernehmungen zu vermeiden und sich als Geheimagent des Vizekönigs von Peru auszugeben.
Von da an hatte ihn praktisch niemand mehr aufhalten können. Er hatte sich an Bord der Galeone zurückbegeben und war mit ihr nach Guayaquil gesegelt. Von dort aus war er auf dem Landweg nach Callao gereist. Anfang Mai war er eingetroffen, hatte sich aber nicht bei Don Francisco de Toledo, dem Vizekönig von Peru, zurückgemeldet, sondern einen kühnen Entschluß gefaßt.
Er wollte allein nach dem versteckten Schatz de Madingas suchen! Weshalb sollte er dem Vizekönig überbringen, was mit ein bißchen Geschick durchaus ihm allein zufallen konnte? In Panama hatte Ortiz erfahren, daß de Madinga tot aufgefunden worden war. Folglich waren die verborgenen Reichtümer also „herrenlos“ geworden.
„Es gibt nur noch ein Problem“, sagte Sancho Ortiz zu sich selbst. „Wo liegt das genaue Versteck des Schatzes – wo? Madre de Dios, ich muß es herausfinden – so oder so.“ Ihm war lediglich bekannt, daß sich der geheime Platz südlich von Callao in einer kleinen Bucht befinden sollte. Der Engländer, der die Meute der Korsaren befehligte, hatte ihn daran gehindert, die Seekarte von de Madinga zu ergattern und einzusehen. Sancho Ortiz hatte sich genügend darüber geärgert und seinem Bezwinger die Pest auf den Hals gewünscht. Inzwischen aber war seine Wut vernunftsmäßigen Erwägungen gewichen.
Er rechnete fest damit, daß der schwarzhaarige Teufel von einem Engländer mit seinem Schnellsegler aufkreuzen würde. War ihm nicht selbst daran gelegen, den Schatz zu annektieren? Gewiß, er hatte mit seinen Männern auf der Reede von Panama aufgeräumt und große Beute geschlagen. Sie mußten eine Menge Gold, Silber und Perlen auf ihren Zweimaster geschafft haben, diese wilden Kerle!
Aber die verfluchten Engländer konnten seiner Ansicht nach den Hals nicht voll genug kriegen. Was sie an sich reißen konnten, das nahmen sie sich. Auf jeden Fall würden sie versuchen, das Versteck des de-Madinga-Schatzes zu finden. Wenn die Dinge tatsächlich so lagen, wie er sie sich ausmalte, brauchte Sancho Ortiz nur zu warten und zu beobachten.
Seit Tagen strich er nun schon mit seinem Fischerboot an der Küste auf und ab. Dann kehrte er wieder um und legte die Strecke in entgegengesetzter Richtung zurück. Auf die Dauer wurde ihm dieser Törn langweilig, aber er redete sich Mut zu, indem er sich immer wieder sein Ziel vor Augen hielt.
„Der Zweck heiligt die Mittel“, murmelte er. In etwas abgewandeltem Sinn traf dieser Satz auch auf sein Unterfangen zu. Ein Italiener hatte diese Maxime erhoben, ein gewisser Niccolo Macchiavelli, der 1469 geboren und 1527 gestorben war und die Staaten einem Kreislauf von Blüte und Verfall unterworfen glaubte.
Ja, Ortiz war ein belesener und eigentlich gebildeter Mann. Man hatte ihm die abendländische Kultur in Klosterschulen eingetrichtert, als er noch in der spanischen Heimat gelebt hatte. In der neuentdeckten Welt hatte er bisher immer nur einen Nutzen aus all diesem Wissen gezogen: die Mitmenschen übers Ohr zu hauen und sich selbst zu bereichern. Seine praktisch angewandte Lebensphilosophie nannte er das. Wegen seiner Gerissenheit war ihm die Aufgabe eines Spions des Vizekönigs gleichsam wie auf den Leib geschneidert. Jetzt, vor der entscheidendsten Phase seines Lebens, glaubte er, sich selbst zu übertreffen.
Selbstverständlich hatte er sich in Callao umgehört, bevor das Fischerboot genommen hatte und zu seinem Unternehmen aufgebrochen war. Für einen Mann seines Schlages war es nicht sonderlich schwer gewesen, gewisse Details über de Madingas heimliche Tätigkeit herauszubekommen. Der Kapitän der „Victoria“, so hatten Männer aus dem Hafenviertel beobachtet, war manchmal abends verschwunden und am darauffolgenden Morgen zu seinem Schiff zurückgekehrt, wenn dieses vor Callao zur Übernahme der wertvollen Ladungen bereitlag.
Ortiz erschien es wegen dieser Zeitspanne logisch, daß sich de Madinga keinesfalls mehr als zwanzig Meilen von Callao entfernt haben konnte. Immer hatte er sich in südlicher Richtung davongestohlen, nur war nie festgestellt worden, wo sein genaues Ziel lag. Sancho Ortiz hatte nichts unversucht gelassen, um genauere Informationen zu erhalten. Er hatte mit Schmiergeldern nicht gespart, doch die Leute von Callao hatten ihm nicht mehr berichten können.
Natürlich war nicht bekannt, daß Jean Bravo de Madinga Raubgut fortgeschafft hatte, und Ortiz hatte sich gehütet, auch nur ansatzweise etwas darüber verlauten zu lassen. Sonst hätte er bald sämtliche Abenteurer aus Callao auf dem Hals gehabt.
Mysteriös nahm sich aus, daß de Madinga Callao nicht nur auf dem Landweg verlassen hatte, sondern sich bisweilen auch mit einem Boot südwärts gewandt hatte. Noch wußte sich Ortiz keinen Reim auf diesen Umstand zu bilden. Aber er hoffte, auch hier bald klarer zu sehen.
Am frühen Nachmittag glaubte der Spion des Vizekönigs im Südwesten etwas zu erkennen. Er setzte sich auf, nahm ein Spektiv zur Hand und zog es auseinander. Durch die Optik erkannte er Mastspitzen über der Kimm. Er fuhr erregt hoch, hielt unausgesetzt Ausschau und versuchte, Genaueres zu erspähen.
Zuerst dachte er, den verhaßten Engländer entdeckt zu haben. Aber das stellte sich rasch als Irrtum heraus. Die Maststengen und Flögel, die sich da allmählich aus der See hervorzuschieben schienen, gehörten eindeutig spanischen Schiffen! Ortiz erblickte zeitweilig ihre vollständigen Umrisse und begriff, daß es sich um einen Verband von Kriegsgaleonen handelte.
Er kämpfte seine Unruhe nieder und konzentrierte sich dann darauf, etwas über den Bestimmungsort und die Aufgabe des Verbandes zu erfahren. Gegen Abend hatte er sich wieder Callao genähert und ergründet, daß die Galeonen die Küste unterhalb der Stadt gewissermaßen abschirmten. Die Schlußfolgerungen, die sich aus diesem Tun ziehen ließen, lagen auf der Hand.
Ortiz war sicher, daß der Vizekönig Don Francisco de Toledo den Verband geschickt hatte. Der alte Fuchs hat sich auch auf die Lauer gelegt, dachte er grimmig, das war ja zu erwarten!
Der Vizekönig hatte mittlerweise natürlich von den furchtbaren Ereignissen in Panama erfahren – wenn auch nicht aus erster Hand durch den Spion, den er ausgeschickt hatte. Er wußte, daß Juan Bravo de Madinga im heldenhaften Kampf gegen den schwarzhaarigen englischen Bastard und dessen Leute sein Leben gelassen hatte und würde diese Tatsache gewiß durch eine offizielle Verlautbarung zu würdigen wissen. De Madinga, der Sohn des Vaterlandes, hatte sich bedingungslos geopfert! Ortiz grinste säuerlich, er glaubte zu hören, wie der betreffende Text am Hofe verlesen wurde. Hätte de Madinga durch seinen Einsatz eine Wende herbeigeführt und die Engländer zurückgeworfen, dann hätte man ihm jetzt bestimmt ein Denkmal errichtet!
Der Vizekönig wußte, daß die „Victoria“ ausgebeutet und versenkt worden war – genauso wie alle übrigen Galeonen auf der Reede von Panama. Insgesamt waren es zwölf gewesen! Voll überschäumender Wut hatte er weiter gehört, daß der Übeltäter wahrscheinlich ein Kumpan von „El Draque“, also Francis Drake, war.
Sancho Ortiz fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schnitt eine grüblerische Miene. Wie war dieser schwarzhaarige Bastard doch in Panama genannt worden? Ja, jetzt fiel es ihm wieder ein: „El Lobo del Mar“ – der Seewolf. Don Francisco de Toledo hatte sich ausgerechnet, daß der Seewolf nach der Durchsuchung der „Victoria“ Kenntnis von der Lage des Schatzversteckes erhalten hatte. So war sein Plan gereift: durch den Einsatz des Verbandes von Kriegsgaleonen hoffte er, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Die Korsaren, so glaubte er, würden bald erscheinen und den Schatz holen. Dann brauchte er ihnen diesen Schatz nur noch abzunehmen und konnte sich im übrigen für den tolldreisten Überfall auf Panama „revanchieren“, indem er den Seewolf und seine Besatzung mitsamt ihrem kleinen Zweimaster zusammenschoß.
Sancho Ortiz begann, die Netze einzuholen. Ein bitterer Zug überschattete sein Gesicht. Für ihn war diese Erkenntnis nicht gerade erheiternd. Er mußte sehr vorsichtig zu Werke gehen. Wurde er von „El Lobo del Mar“, geschnappt, konnte er sein letztes Gebet sprechen. Dann wurde er an der nächsten Rahnock aufgehängt, bis kein Leben mehr in ihm war, und anschließend den Haien zum Fraß vorgeworfen.
Und wenn die Besatzungen der Kriegsgaleonen auf ihn aufmerksam wurden? Wahrscheinlich hatten sie die Anweisung, ihn dem Vizekönig vorzuführen. Mißtrauisch war Don Francisco allemal geworden, und ertappte er seinen Spion bei Nachforschungen vor Callao, konnte er sich den Rest denken. Es gehörte keine besondere Intelligenz dazu. In dem Fall fackelte er genausowenig wie der Seewolf.
Ortiz hielt in seiner Tätigkeit inne und griff sich unwillkürlich an den Hals. Er würgte einen Kloß herunter, der sich in der Kehle geformt hatte.
Er stand zwischen zwei Feuern, spekulierte aber darauf, als der lachende Dritte aus der Schatzsuche hervorzugehen.
„Es kommt einzig und allein auf deine Klugheit an, Sancho“, sagte er sich.
Er holte das Netz ein und betrachtete den Fang, der da munter auf den Planken zwischen den Duchten seines Einmasters zappelte. Er bückte sich und zog das größte Exemplar hervor. Plötzlich grinste er. Mit einer Hand hielt er den Fisch, einen schweren Umber, an den Kiemenöffnungen fest, mit der anderen griff er nach dem Messer, das er im Gurt stecken hatte. Er schlitzte das Tier auf und weidete es aus. Er arbeitete mit grimmiger Genugtuung, denn die ganze Zeit über stellte er sich vor, wie es war, wenn ihm erst der „Lobo del Mar“ in die Fänge ging.