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2.

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Die Zeit verstrich quälend langsam, und Morgan Young spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren des Körpers trat und Hoffnungslosigkeit von ihm Besitz ergriff.

„Mein Gott, Romero“, flüsterte er. „Jesus, beeil dich, schlag kräftiger zu. Und wenn ich auch ein paar Kratzer dabei abkriege – es macht mir nichts aus.“

„Sei still“, zischte der junge Spanier ihm zu. „Ich bin fast soweit. Santa Madre, sage jetzt nichts.“

„Morgan“, flüsterte in diesem Moment Trench, einer von Youngs englischen Kameraden. „Die Zeit bis zur nächsten Wachablösung ist gleich um.“

„Nein!“

„Dann erscheint der Posten und überprüft unsere Ketten, dann …“

„Halt den Mund!“ unterbrach Young ihn scharf. So laut, daß seine Stimme das Heulen und Tuscheln des Windes fast übertönte.

„Madre de Dios“, flüsterte Romero. „Müßt ihr euch denn ausgerechnet jetzt herumzanken? Seid ihr des Teufels?“

„Ja“, murmelte Young. „Wir sind alle des Teufels. Wir sind Narren, die das kriegen werden, was alle Narren verdient haben: einen Gnadenschuß ins Genick oder sonstwohin.“

Romero hatte den einen Beinschäkel um Morgan Youngs Fußknöchel mit dem Scharfeisen aufgestemmt, so weit, daß der Engländer seinen Fuß jetzt herausziehen konnte. Jetzt arbeitete er an dem Schäkel des anderen, linken Beines, setzte das Auftreibwerkzeug an und schlug immer wieder mit dem kleinen Hammer zu, knapp, gezielt, mit verbissener Miene und aufeinandergepreßten Zähnen. Seine Hände und Arme schmerzten inzwischen heftig, er konnte es kaum noch aushalten.

Dann, als Young kaum noch mit einem Erfolg seiner Anstrengungen rechnete, wisperte der Spanier: „Es geht, Morgan. Versuch es. Es kommt jetzt auf dich ganz allein an.“

Morgan Young zog sofort die Beine an und zerrte sie aus den Beinschäkeln, die von Romero gerade weit genug aufgetrieben worden waren, daß er seine nackten Füße herausnehmen konnte. Von den Fußketten und dem schweren Eisengewicht befreit, vermochte Young nunmehr seinen ganzen Körper zum Pfahl hin zurückzuschieben und das Hinterteil durch die Öffnung seiner Arme zu pressen. Es war eine beinah akrobatische Verrenkung, die starke Schmerzen hervorrief, aber Young unterdrückte einen gequälten Laut, bezwang sich selbst, indem er sich innerlich wild als einen Schwächling und Dreckskerl beschimpfte, und arbeitete mit dem wütenden Eifer eines Besessenen weiter. Dabei kippte er um, weil die Pfahlkette ihn hemmte und ihm im Weg war.

Es gelang ihm aber tatsächlich, die Arme bis unter seine Oberschenkel zu schieben. Jetzt zog er seine Waden an und drückte sie mit den Füßen zusammen so fest unter seine Schenkel, daß er die kurze Kette, die seine Hände zusammenhielt, ganz unter den angewinkelten Beinen hindurchbefördern konnte. Ein Ruck noch – er glaubte, seine eigenen Knochen im Leib knacken zu hören – und er hatte die Arme mitsamt seinen Händen vorn.

Romero lag immer noch auf der Körperflanke, hatte ihn aber über die Schulter hinweg beobachtet. Er schob ihm jetzt den Schlegel und das Scharfeisen zu.

Morgan Young setzte sich auf und angelte sich die beiden Hilfsmittel mit den Füßen. Er zog sie so dicht zu sich heran, daß er sie greifen konnte, dann trieb er in aller Eile ein Glied der Kette auf, die ihn an den Pfahl gefesselt hielt.

Es war, wie er es sich ausgemalt hatte: Mit den Händen vor dem Körper konnte er problemlos arbeiten, obwohl die Handschellen und die kurze Kette ihn noch ein wenig behinderten.

Die Kette am Pfahl sprang unter seinen energischen Hieben auf, er war frei.

„Morgan“, raunte Romero. „Laß jetzt die Handschellen. Du kannst sie später öffnen. Hilf mir.“

„Ja“, sagte der Engländer leise. Auf etwas unsicheren Beinen hastete er zu dem Kameraden hinüber, kniete sich neben ihn hin und erlöste ihn zuerst von dem Kugelgewicht und der Kette an den Beinen. Dann öffnete er auch die Pfahlkette. Dies alles ging viel schneller vonstatten als das, was der junge Spanier zuvor vollbracht hatte, denn Young befand sich ja in einer viel günstigeren Arbeitsposition.

„Ich habe einen Glockenschlag gehört!“ zischte plötzlich einer der Männer. Es war Sullivan, auch einer von Youngs Freunden von der „Balcutha.“

„Das ist die Wachablösung!“ flüsterte Jonny. „Morgan!“

„Ja, ich höre dich, Jonny.“

„Scheiß auf dein Ehrenwort – du kannst mich hinterher befreien!“

„Hinterher?“ stammelte Young verdattert.

„Ihr müßt erst diesen elenden Hundesohn von einem Don überwältigen!“ zischte Jonny ihm im Dunkeln zu. „Beeilt euch! Zum Tor! Er tritt gleich ein, und dann fallt ihr über ihn her!“

„Wir könnten uns auch hinhocken und so tun, als wären wir noch gefesselt“, flüsterte Romero. „Wenn er zu uns tritt, springen wir auf und …“

„Er schießt, bevor ihr auf den Beinen seid!“ schnitt Jonny ihm das Wort ab. „Glaub es mir, ihr müßt ihn am Tor packen! Schlagt ihn mit euren Handketten nieder! Das könnt ihr schaffen!“

Morgan Young hatte seine Fassung wiedererlangt. Er richtete sich auf und lief geduckt los. Romero folgte ihm. Sie gelangten beim Tor an und hatten kaum zu beiden Seiten des einzigen großen, grob zusammengezimmerten Flügels Aufstellung genommen, da wurde von außen der Riegel zurückgeschoben.

Sie hielten den Atem an.

Das Tor schwang spaltbreit auf, eine Gestalt trat ins Innere der Palisade. Nur schemenhaft war sie in der Finsternis zu erkennen, aber doch gerade gut genug, um ein Angriffsziel zu bieten.

Der Soldat zog das Tor hinter sich zu – dann stutzte er. Er hatte Morgan Young entdeckt, der sich von rechts her auf ihn zubewegte. Romero handelte jedoch geistesgegenwärtig. Er sprang den Spanier von hinten an und schlang ihm blitzschnell die Kette um den Hals, die auch seine Hände immer noch zusammengebunden hielt.

Der Spanier taumelte, drohte in den Knien einzuknicken und zusammenzubrechen und gab einen röchelnden Laut des Entsetzens von sich. Er hielt aber seine Muskete noch fest in beiden Händen und trachtete in diesem Augenblick, den Abzug zu betätigen.

Morgan Young griff ebenfalls an und stellte fest, daß der Hahn der Muskete bereits gespannt war. Sofort packte er zu und versuchte, dem Gegner die Waffe zu entreißen, während Romero die Kette fest um die Gurgel des Mannes zusammenzog.

Der Wachtposten konnte nicht mehr schreien, nur ein ersticktes Gurgeln drang noch über seine Lippen. Doch trotz Youngs verzweifelter Bemühungen, ihm die Muskete zu entwinden, konnte er seinen Zeigefinger doch noch um den Abzug krümmen.

Dröhnend löste sich der Schuß, überlaut in der dramatischen Szene des Ringes um Leben und Tod. Pulverqualm hüllte die Gestalten der drei Männer ein. Romero begann zu husten.

Young riß die Muskete noch an sich, jetzt, da es zu spät war. Der Soldat sank zu Boden. Romero ließ von der schlaffen, jetzt reglosen Gestalt ab, bückte sich und brachte die Pistole in seinen Besitz, die der Soldat im Gurt trug.

Young warf die Muskete fort, bemächtigte sich des Säbels und des Messers des Spaniers und wollte zu den Kameraden zurückeilen, die darauf warteten, befreit zu werden. Doch vor den Palisaden ertönten das Rufen von Stimmen und das Herantrappeln eiliger Schritte.

„Wir können die anderen nicht mitnehmen!“ stieß Romero in höchster Erregung aus. „Wir können sie nicht befreien, wir …“

„Morgan! Romero!“ rief Jonny ihnen zu. „Haut ab! Haltet euch nicht auf und rettet wenigstens eure Haut! Von draußen könnt ihr später immer noch was für uns tun! Los, verschwindet!“

Young und der junge Spanier zögerten nicht länger, sie drückten das Tor wieder auf und liefen ins Freie.

Dicht vor ihnen war das Geschrei der spanischen Posten, aus der Finsternis wurden Gestalten sichtbar. Young riß den Säbel hoch, um sie abzuwehren, aber Romero hatte bereits die Pistole in Anschlag auf die anstürmenden Männer gebracht und drückte auf den vordersten von ihnen ab.

Der Soldat brach mit einem Wehlaut zusammen. Die anderen stutzten, legten selbst mit ihren Musketen und Pistolen an und zielten auf die beiden Sträflinge, deren Körperkonturen sie vor der Palisade erkennen konnten.

Morgan Young rannte nach links davon, Romero folgte ihm.

Drei Musketenschüsse krachten, und Young war es so, als schlüge eine Kugel dicht hinter seinen Hacken in den Erdboden. Doch er wurde nicht verletzt, und auch Romero blieb unversehrt. Zu hastig gezielt waren die Schüsse der Soldaten, die alle fehlgingen, zu schlecht waren die Sichtverhältnisse.

Es krachte noch zwei- und dreimal, und die Kugeln bohrten sich mit plokkenden Lauten in die Pfähle der Palisadenwand, an der die beiden Flüchtlinge wie von tausend Teufeln gehetzt vorbeirannten.

„Zum Hafen!“ rief Romero seinem Begleiter auf englisch zu.

„Unmöglich!“ schrie Morgan Young über seine rechte Schulter zurück. „Sie sperren uns den Weg dorthin ab. Sie knallen uns ab, ehe wir eins der Boote erreichen!“

Er lief weiter, so schnell er konnte, quer über die Lichtung hinweg, die die Kettensträflinge hier in Airdikit dem Dschungel abgerungen hatten. Er hastete zwischen den Hütten hindurch, die das Gros der Offiziere und Soldaten beherbergten, blieb nicht stehen, warf nur noch einmal einen Blick zurück und registrierte, daß der junge Spanier ihm weiterhin folgte.

Tatsächlich wäre es heller Wahnsinn gewesen, den Durchbruch bis zum Hafen zu versuchen. Das erste, was die Spanier auf den alarmierenden Musketenschuß hin getan hatten, war, den Zugang zum Hafen abzuriegeln, denn sie konnten sich ja ausmalen, daß im Fall eines Ausbruchs die Sträflinge eine der Pinassen oder Schaluppen zu kapern versuchten, die an den hölzernen Anlegern vertäut lagen.

So blieb Young und Romero nur noch eine Möglichkeit, nämlich in den Busch zu fliehen.

Young fürchtete bei allem Schneid, den er zu beweisen vermochte, den Dschungel. Das hatte er auch seinen Freunden von der „Balcutha“, Romero, Jonny und den anderen Verschwörern gegenüber offen zugegeben. Denn Morgan Young wußte, welche Gefahren im Urwald von Sumatra lauerten, und jeder andere Mann, der ehrlich seine Meinung aussprach, mußte bestätigen, daß es nahezu Selbstmord bedeutete, hier in der Nacht unterzutauchen.

Hier, im Feuchtigkeit ausströmenden Dickicht, lauerten der Tiger und andere Raubkatzen, hier konnte ein Schlangenbiß dem menschlichen Leben ein jähes, schmerzhaftes Ende bereiten. Hier gab es Krokodile und andere grauenvolle Kreaturen. Und die Mangrovensümpfe zwischen der Strafkolonie und dem Meer, die sich bis in unendliche Weiten auszudehnen schienen, waren die Brutstätte für eine Anzahl abscheulicher Krankheiten, gegen die der Mensch machtlos war, wenn er einmal von ihnen befallen wurde.

Aber Young und Romero hatten keine andere Wahl. Wenn sie den Soldaten entkommen wollten, die jetzt ihre Verfolgung aufgenommen hatten, konnte dies nur im Dschungel geschehen.

Ohne zu zögern, sprang Young deshalb in das Dickicht jenseits der Hütten, durchtrennte mit raschen Säbelhieben ein paar Lianen und widerspenstiges Dornengerank und drang tief in das Gestrüpp vor. Romero schloß sich ihm ohne Widerworte an. Auch er hatte begriffen, daß im Urwald die einzige Chance lag, sich den Feinden zu entziehen.

Wenn das halbwegs mißglückte Unternehmen doch noch gelingen sollte, dann konnte es nur auf diese Weise geschehen.

Young drehte sich kurz zu seinem Begleiter um und gab ihm das Messer des Soldaten. Er selbst fuhr fort, sich mit dem Säbel einen Weg durch das dichte, verfilzte Gesträuch zu bahnen, und Romero unterstützte ihn dabei, so gut es mit dem Messer ging. Sie sprachen nicht miteinander, sondern hackten und schnitten mit ihren Beutewaffen nur schwitzend auf Zweige, Blätter und Luftwurzeln ein.

Über ihnen rumorte der stürmische Wind in den Wipfeln der gigantischen Bäume, hinter ihnen war das wütende Geschrei der Verfolger. Natürlich hatten die spanischen Soldaten gesehen, wie die beiden im Dikkicht verschwunden waren. Sie waren ihnen nah genug auf den Fersen, verließen ebenfalls die Lichtung und benutzten den Pfad, den Morgan Young mit dem Säbel geschaffen hatte.

Es war mehr eine Bresche als ein Pfad, aber sie erlaubte doch ein erheblich schnelleres Vorankommen. Daß er den Gegnern ungewollt geholfen hatte, ging Morgan Young erst auf, als er ihre Stimmen ganz dicht hinter seinem Rücken vernahm.

Er verstand inzwischen genug Spanisch, um zu begreifen, was sie riefen.

„Bleibt stehen, oder wir schießen euch nieder!“

„Ergebt euch!“

„Ihr seid verloren!“

Young achtete nicht darauf. Nichts konnte ihn dazu veranlassen, sich den Feinden freiwillig zu stellen. Nur der Tod konnte seiner Flucht ein Ende bereiten. Wenn der eisige Hauch des Todes ihnen beiden schon im Nacken saß, so zog er das schnelle Sterben doch einer Rückkehr ins Gefangenenlager vor. Dort würde man ohnehin Gericht über sie halten, dort wartete am Ende der Henker auf sie, denn sie waren ja nicht nur aus dem Palisadenlager ausgebrochen, sondern hatten auch einen Soldaten getötet. Daß Romero ihn mit der Kette erwürgt hatte, stand für Young außer Zweifel.

Wieder krachten Schüsse. Sirrten die Kugeln links und rechts an Young und dem jungen Spanier vorbei – oder täuschten sie sich? War es vielmehr der Wind, der ihnen mit seinem Pfeifen und Heulen etwas vorgaukelte?

Young hörte auf, mit dem Säbel wie mit einer Machete auf das Dikkicht einzuhauen. Er ließ die Waffe sinken, duckte sich tiefer und schlüpfte in ein dorniges, hartes Gebüsch, das auf morastigem Boden wuchs.

Romero war immer noch dicht hinter ihm.

Das Gebüsch ritzte mit seinen Dornen Youngs Haut, und er drohte, darin steckenzubleiben. Verbissen arbeitete er sich jedoch weiter voran und ließ sich sogar auf alle viere nieder, um besser voranzukommen. Er schob den Säbel vor sich her und robbte durch den schwarzen Schlamm, der ihn von oben bis unten beschmutzte.

Plötzlich krachte wieder ein Schuß, und er hörte Romero hinter sich aufschreien.

Er stieß einen Fluch aus und wandte den Kopf. Hinter sich konnte er den jungen Mann gerade noch zusammenbrechen sehen, dann schien Romeros Gestalt eins zu werden mit dem Dickicht und dem Morast.

Romero bewegte sich nicht mehr.

Morgan Young wollte zu ihm zurückkriechen, aber wieder blitzte es in der Dunkelheit auf, und eine Kugel schwirrte heran. Der Engländer ließ sich in den Schlamm fallen. Das Geschoß flog über seinen Rücken weg.

Im Mündungsfeuer der Muskete hatte er Romero genau erkennen können. Der Zufall hatte gewollt, daß er auch gleich das Loch gesehen hatte, das in dem Schädel des Jungen klaffte.

Romero war tot.

Und jetzt nahten die Verfolger – ein Trupp, der gut vierzehn, fünfzehn Mann zählen mochte. Sie drangen in das Dornengestrüpp ein, um auch Youngs Flucht ein Ende zu setzen.

Wieder blaffte ein Schuß.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 204

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